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[1264] Nicht die Leidenschaft zum Argument der Wahrheit machen! – O ihr gutartigen und sogar edlen Schwärmer, ich kenne euch! Ihr wollt recht behalten, vor uns, aber auch vor euch, und vor allem vor euch! – und ein reizbares und feines böses Gewissen stachelt und treibt euch so oft gerade gegen eure Schwärmerei! Wie geistreich werdet ihr dann, in der Überlistung und Betäubung dieses Gewissens! Wie haßt ihr die Ehrlichen, Einfachen, Reinlichen, wie meidet ihr ihre unschuldigen Augen! Jenes bessere Wissen, dessen Vertreter sie sind und dessen Stimme ihr in euch selber zu laut hört, wie es an eurem Glauben zweifelt, – wie sucht ihr es zu verdächtigen, als schlechte Gewohnheit, als Krankheit der Zeit, als Vernachlässigung und Ansteckung eurer eigenen geistigen Gesundheit! Bis zum Haß gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr müßt die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeugt, ihr müßt Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen! Farbige Bilder, wo Vernunftgründe not täten! Glut und Macht der Ausdrücke! Silberne Nebel! Ambrosische Nächte! Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu verdunkeln, und mit Licht zu verdunkeln! Und wirklich, wenn eure Leidenschaft ins Toben gerät, so kommt ein Augenblick, da ihr euch sagt: jetzt habe ich mir das gute Gewissen erobert, jetzt bin ich hochherzig, mutig, selbstverleugnend, großartig, jetzt bin ich ehrlich! Wie dürstet ihr nach diesen Augenblicken, wo eure Leidenschaft euch vor euch selber volles, unbedingtes Recht und[1264] gleichsam die Unschuld gibt, wo ihr in Kampf, Rausch, Mut, Hoffnung außer euch und über alle Zweifel hinweg seid, wo ihr dekretiert: »wer nicht außer sich ist wie wir, der kann gar nicht wissen, was und wo die Wahrheit ist!« Wie dürstet ihr darnach, Menschen eures Glaubens in diesem Zustande – es ist der der Lasterhaftigkeit des Intellekts – zu finden und an ihrem Brande eure Flammen zu entzünden! O über euer Martyrium! Über euren Sieg der heilig gesprochnen Lüge! Müßt ihr euch so viel Leides selber antun? – Müßt ihr?

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1264-1265.
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Morgenröte
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Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
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