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[1085] Das Streben nach Auszeichnung. – Das Streben nach Auszeichnung hat fortwährend ein Augenmerk auf den Nächsten und will wissen, wie es ihm zumute ist: aber die Mitempfindung und das Mitwissen, welche dieser Trieb zu seiner Befriedigung nötig hat, sind weit davon[1085] entfernt, harmlos oder mitleidig oder gütig zu sein. Man will vielmehr wahrnehmen oder erraten, wie der Nächste an uns äußerlich oder innerlich leidet, wie er die Gewalt über sich verliert und dem Eindrucke nachgibt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen; und selbst wenn der nach Auszeichnung Strebende einen freudigen, erhebenden oder erheiternden Eindruck macht und machen wollte, so genießt er diesen Erfolg doch nicht, insofern er dabei den Nächsten erfreute, erhob, erheiterte, sondern insofern er sich der fremden Seele eindrückte, deren Formen veränderte und nach seinem Willen über ihr waltete. Das Streben nach Auszeichnung ist das Streben nach Überwältigung des Nächsten, sei es auch eine sehr mittelbare und nur gefühlte oder gar erträumte. Es gibt eine lange Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung, und ein vollständiges Verzeichnis derselben käme beinahe einer Geschichte der Kultur gleich, von der ersten noch fratzenhaften Barbarei an bis zur Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Idealität hinauf. Das Streben nach Auszeichnung bringt für den Nächsten mit sich – um nur einige Stufen dieser langen Leiter mit Namen zu nennen –: Martern, dann Schläge, dann Entsetzen, dann angstvolles Erstaunen, dann Verwunderung, dann Neid, dann Bewunderung, dann Erhebung, dann Freude, dann Heiterkeit, dann Lachen, dann Verlachen, dann Verspotten, dann Verhöhnen, dann Schläge-austeilen, dann Martern-antun: – hier am Ende der Leiter steht der Asket und Märtyrer, er empfindet den höchsten Genuß dabei, eben das als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der Barbar, dem anderen zu leiden gibt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will. Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Außenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch eine Person gibt, welche in sich selber verkohlt, – das ist der würdige Abschluß, der zu dem Anfange gehört: beidemal ein unsägliches Glück beim Anblick von Martern! In der Tat, das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht gedacht, ist vielleicht auf der Erde nirgendwo größer gewesen[1086] als in den Seelen abergläubischer Asketen. Dies drücken die Brahmanen in der Geschichte vom König Viçvamitra aus, der aus tausendjährigen Bußübungen eine solche Kraft schöpfte, daß er es unternahm, einen neuen Himmel zu erbauen. Ich glaube in dieser ganzen Gattung innerer Erlebnisse sind wir jetzt grobe Neulinge und tastende Rätselrater: vier Jahrtausende früher wußte man mehr von diesen verruchten Verfeinerungen des Selbstgenusses. Die Schöpfung der Welt: vielleicht, daß sie damals von einem indischen Träumer als eine asketische Prozedur gedacht worden ist, welche ein Gott mit sich vornimmt! Vielleicht, daß der Gott sich in die bewegte Natur wie in ein Marterwerkzeug bannen wollte, um dabei seine Seligkeit und Macht verdoppelt zu fühlen! Und gesetzt, es wäre gar ein Gott der Liebe: welcher Genuß für einen solchen, leidende Menschen zu schaffen, an der ungestillten Marter im Anblick derselben recht göttlich und übermenschlich zu leiden und sich dergestalt selber zu tyrannisieren! Und gar gesetzt, es wäre nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Heiligkeit und Sündlosigkeit: welche Delirien des göttlichen Asketen sind zu ahnen, wenn er Sünde und Sünder und ewige Verdammnisse und unter seinem Himmel und Throne eine ungeheure Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens schafft! – Es ist nicht ganz unmöglich, daß auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihresgleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind; – und angesichts solcher Seelen kann man fragen: ja, ist denn wirklich der Kreislauf im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt und in sich abgerollt? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang an durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen und zugleich des mitleidenden Gottes? Also anderen wehe tun, um sich dadurch wehe zu tun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphieren und in der äußersten Macht zu schwelgen! – Verzeihung für die Ausschweifung im Nachdenken über alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1085-1087.
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