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[1100] Zwecke? Willen? – Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne daß jemand sagen könnte, weshalb? wozu? – Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der großen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, daß es in die andre Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache und uns irgendeinen schönen Zweck totschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft totgetreten – aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die[1100] schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Untiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist, und geben eine erhabene Diversion, dadurch, daß ihre Hand einmal das ganze Netz zerreißt – nicht daß sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht daß sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. – Die Griechen nannten dies Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Borniertheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch -sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, daß man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom Opfer der Sterblichen denkt, so daß die Sterblichen schlimmstenfalls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man wie der harte, melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuß der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christentum mit seinem weder indischen noch persischen noch griechischen noch skandinavischen Grundgefühle, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hieß: dies gab zu verstehen, daß jenes allmächtige »Reich der Dummheit« nicht so dumm sei, wie es aussehe, daß wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, daß hinter ihm – der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch alles »herrlich hinausführe«. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes – so daß sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müßten –, diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, daß die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht erraten kann, woher erriet er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit[1101] von Gottes Verstande? – In der neueren Zeit ist in der Tat das Mißtrauen groß geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der »göttlichen Liebe« herabgeworfen werde, – und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugeraten. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsre Zwecke und unsre Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsre eignen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger alles Wille, was Wille heißt! Und, wenn ihr schließen wolltet: »es gibt also nur ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?« – so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht gibt es nur ein Reich, vielleicht gibt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsre Willensakte, unsre Zwecke nichts anderes als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsre äußerste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, daß wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, daß wir selber in unsern absichtlichsten Handlungen nichts mehr tun als das Spiel der Notwendigkeit zu spielen. Vielleicht! – Um über dies Vielleicht hinauszukommen, müßte man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1100-1102.
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