Vierter Abschnitt.
Allgemeine Kenntniss des Menschen.
1.

[118] Das Erste, was sich dem Menschen darbietet, wenn er sich betrachtet, ist sein Leib, d.h. ein gewisser Theil der Materie, der ihm eigen zugehört. Aber um zu verstehn, was derselbe ist, muß er ihn mit allem vergleichen, was über ihm und was ihm steht, damit er seine rechten Grenzen erkenne.[118]

Er bleibe also nicht dabei stehn einfach die Gegenstände, die ihn umgeben, zu betrachten, er beobachte, die ganze Natur in ihrer hohen und vollen Majestät, er beschaue jenes stralende Licht, das wie eine ewige Lampe hingestellt ist das Universum zu erleuchten, die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleich mit der ungeheuern Bahn, welche dies Gestirn umschreibt, und er erstaune, daß diese ungeheure Bahn selbst nur ein sehr seiner Punkt ist von der Bahn, auf welcher die Gestirne am Firmament rollen. Aber wenn unser Blick hier anhält, so gehe die Einbildungskraft darüber hinaus. Sie wird eher müde werden zu fassen als die Natur zu geben. Alles, was wir von der Welt sehen, ist nur ein unbemerkbarer Punkt im weiten Reich der Natur. Kein Gedanke kommt der Ausdehnung ihrer Räume nach. Vergebens dehnen wir unsre Gedanken aus, wir bringen nichts hervor als Atome im Vergleich mit der Wirklichkeit der Dinge. Das ist eine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Umkreis nirgend ist. Genug, es ist einer der größten merklichen Züge der Allmacht Gottes, daß unsre Einbildungskraft sich in diesem Gedanken verliert.[119]

Möge der Mensch in sich selbst zurück kehren und betrachten was er ist im Vergleich mit dem, was ist: er sehe sich an als verirrt in diesem abgelegenen Bezirk der Natur und wie ihm dieser kleine Kerker, in welchem er sitzt, nämlich diese sichtbare Welt erscheint, lerne er daraus die Erde, Die Reiche, die Städte, sich selbst und seinen wahren Werth schätzen.

Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann ihn begreifen? Aber um ihm ein anders eben so staunenswerthes Wunder zu zeigen, suche er in dem, was er kennt, die geringfügigen Dinge auf. Eine Milde z.B. mag ihm in der Kleinheit ihres Körpers noch unvergleichlich kleinere Theile darbieten, Beine mit Gelenken, Adern in diesen Beinen, Blut in diesen Adern, Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen in diesem Feuchtigkeiten, Dünste in diesen Tropfen, nun theile er noch er noch diese letzten Dinge und erschöpfe seine Kräfte und Gedanken und der letzte Gegenstand, wohin er gelangen kann, sei nun das, wovon wir reden wollen. Vielleicht wird er meinen, das sei die äußerste Kleinheit der Natur. Ich will ihm darin einen neuen Abgrund zeigen. Ich will ihm ausmalen nicht nur das fühlbare Universum, sondern auch alles, was er im Stande ist zu fassen von der Unermeßlichkeit der Natur im Umfang dieses unbemerkten Atoms. Er sehe darin eine Unzahl von Welten, von denen jede ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat in gleichem Verhältniß wie die fühlbare Welt, auf dieser Erde Thiere und wieder Milben, in denen er wieder findet, was er in den ersten fand und auch in den andern findet er eben dasselbe ohne Ende und ohne Aufhören.

Er verliere sich in diesen Wundern, eben so erstaunenswerth[120] durch ihre Kleinheit als die andern durch ihre Ausdehnung. Denn wer bewundert nicht, daß unser Leib, der eben erst nicht bemerkbar war in dem Universum, das selbst unbemerkbar ist im Schloß des Alls, jetzt ein Koloß ist, eine Welt oder vielmehr ein All im Betracht der letzten Kleinheit, wohin man nicht gelangen kann?

Wer sich auf diese Art betrachtet, wird erschrecken, sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben hat, gleichsam schweben zu sehen zwischen den beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts, von denen er gleich weit entfernt ist. Er wird zittern beim Anblick dieser Wunder und ich glaube: seine Neugier wird sich in Bewunderung verwandeln und mehr sein sie still zu beschauen als sie hochmüthig zu untersuchen.

Denn genug, was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen Beiden. Er ist unendlich fern von den beiden Extremen und sein Wesen ist nicht weniger entfernt vom Nichts, woraus er gezogen ist, als vom Unendlichen, worin er sich verliert.

Seine Vernunft steht in der Reihe der erkennbaren Dinge auf derselben Stufe als sein Körper in der weiten Natur und alles, was sie vermag, ist, daß sie einigen Schein von der Mitte der Dinge bemerkt, in ewiger Verzweiflung weder ihren Anfang noch ihr Ende zu kennen. Alle Dinge sind hervor gegangen aus dem Nichts, und streben nach dem Unendlichen. Wer kann diese erstaunlichen Schritte verfolgen? Der Urheber dieser Wunder faßt sie, kein andrer kann das.

Dieser Zustand, der die Mitte hält zwischen den Extremen, findet sich in allen unsern Kräften. Unsre Sinne fassen, findet sich in allen unsern Kräften. Unsre Sinne fassen nichts Extremes. Zu viel Lärm macht uns taub, zu viel licht blendet uns, zu viel Entfernung und zu viel Nähe[121] verhindern das Sehen, zu viel Länge und zu viel Kürze verdunkeln eine Rede, zu viel Freude wird lästig, zu viel Consonanzen mißfallen. Wir fühlen weder äußerste Hitze noch äußerste Kälte. Die übermäßigen Eigenschaften sind uns feindlich und nicht fühlbar; wir fühlen sie nicht mehr, wir leiden sie. Zu viel Jugend und zu viel Alter hindern den Geist, und zu viel und zu wenig Nahrung stören seine Verrichtungen, zu viel und zu wenig Unterrichtet macht ihn dumm. Die extremen Dinge sind für uns als wären sie nicht und wir sind nicht in Bezug auf sie. Sie entgehn uns oder wir ihnen.

Das ist unser wahrer Zustand. Dies schließt unsre Begriffe in gewisse Grenzen ein, die wir nicht überschreiten, unfähig alles zu wissen und alles nicht zu wissen. Wir sind auf einer ungeheuren weiter Mitte, immer ungewiß und schwebend der Unwissenheit und der Erkenntniß und wenn wir meinen weiter vorwärts zu gehen, so wankt unser Gegenstand und entwischt unsrer Fassungskraft; er entzieht sich und flieht in einer ewigen Flucht, nichts kann ihn aufhalten. Das ist unsre natürliche Lage, die jedoch unsrer Neigung am Meisten entgegen ist. Wir brennen von Verlangen alles zu ergründen und einen Thurm auf zu bauen, der sich bis zum Unendlichen erheben soll. Aber unser ganzer Bau kracht und die Erde öffnet sich bis zum Abgrund.


2.

Ich kann mir wohl einen Menschen vorstellen ohne Hände, ohne Füße und ich könnte ihn mir selbst ohne Kopf vorstellen, wenn nicht die Erfahrung mich lehrte, daß er damit denkt. Das Denken also ist es, was das Wesen des Menschen macht und ohne das man ihn sich nicht vorstellen kann. Was fühlt in uns Vergnügen? Ists die Hand?[122] der Arm? das Fleisch? das Blut? Man wird sehen, daß es etwas Immaterielles sein muß.


3.

Der Mensch ist so groß, daß seine Größe sich selbst darin zeigt, daß er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt nicht sein Elend. Freilich es ist wahr, das ist ein Elend sein Elend zu erkennen, aber es ist auch eine Größe zu erkennen, daß man elend ist. So beweist alle dieses Elend seine Größe, es ist ein Elend eines großen Herrn, eines entthronten Königs.


4.

Wer fühlt sich unglücklich nicht König zu sein als nur ein entthronten König? Fand man Aemilius Paulus unglücklich, weil er nicht mehr Consul war? Im Gegentheil, alle Welt fand, daß er glücklich war es gewesen zu sein, weil er es seinem Stande nach nicht immer sein konnte. Aber man fand Perseus so unglücklich nicht mehr König zu sein, weil er es seinem Stande nach immer sein konnte, so daß man es auffallend fand, daß er das Leben zu ertragen vermochte. Wer findet sich unglücklich nur einen Mund zuhaben und wer findet sich nicht unglücklich nur ein Auge zu haben? Man ist vielleicht noch nie auf den Einfall gekommen sich zu betrüben, daß man nicht drei Augen hat, aber man ist untröstlich, wenn man nur eins hat.


5.

Wir haben einen so großen Begriff von der menschlichen[123] Seele, daß wir es nicht ertragen können von ihr verachtet zu sein und nicht in der Achtung einer Seele zu stehn, und alle Glückseligkeit der Menschen besteht in dieser Achtung. Ist jene falsche Ehre, welche die Menschen suchen, von der einen Seite ein großes Zeichen ihres Elends und ihrer Niedrigkeit, so ist es auch ein Zeichen ihrer Vorzüglichkeit. Denn welche Besitzthümer ein Mensch auch der Erde habe, welcher Gesundheit und wesentlicher Bequemlichkeit er auch genieße, er ist nicht zufrieden, wenn er nicht in der Achtung der Menschen steht. Er achtet das Urtheil des Menschen so groß, daß er, welchen Vortheil er auch in er Welt habe, sich dennoch für unglücklich hält, wenn er nicht eben so vortheilhaft in dem Urtheil des Menschen gestellt ist. Das ist die schönste Stelle der Welt, nichts kann ihn von diesem Verlangen abziehen und das ist die unauslöschlichste Eigenschaft des menschlichen Herzens. Das geht so weit, daß die, welche am meisten die Menschen verachten, und sie den Thieren gleich stellen, doch von ihnen bewundert sein wollen und sich selbst widersprechen durch ihr eignes Gefühl. Die Natur, mächtiger als alle ihre Vernunft, überzeugt sie stärker von der Größe des Menschen als die Vernunft sie von seiner Niedrigkeit überzeugt.


6.

Der Mensch ist nichts als ein Rohr, das schwächste der Natur, aber ein denkendes Rohr. Es ist nicht nöthig, daß das ganze Universum sich rüste ihn zu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht hin ihn zu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht hin ihn zu tödten. Aber wenn das Universum ihn zermalmte, würde der Mensch noch edler sein als das, was ihn tödtet, weil er weiß, daß er stirbt und welchen Sieg das Universum über ihn hat, das Universum weiß nichts davon. Also alle unsre Würde besteht im Denken. Dessen müssen wir uns rühmen, nicht[124] des Raums und der Dauer. Wir müssen uns also bemühen gut zu denken, das ist die Grundlage der Moral.


7.

Es ist gefährlich dem Menschen es zu viel vor zu stellen, wie sehr er den Thieren gleich ist, ohne ihm seine Größe zu zeigen. Es ist aber auch gefährlich ihm zu viel seine Größe sehen zu lassen, ohne seine Niedrigkeit. Es ist noch gefährlicher ihn unbekannt zu lassen mit einem wie mit dem andern. Aber es ist sehr vortheilhaft ihm das eine wie das andre vor zu stellen.


8.

Der Mensch schätze denn seinen Werth. Er liebe sich, denn er hat in sich eine Natur, die des Guten fähig ist, aber darum liebe er nicht dies Niedrige, was darin ist. Er verachte sich, weil seine Fähigkeit leer ist, aber darum verachte er nicht jene natürliche Fähigkeit. Er hasse sich; er liebe sich. Er hat in sich die Fähigkeit die Wahrheit zu erkennen und glücklich zu sein; aber er hat keine Wahrheit weder bleibend noch genügend. Ich möchte also den Menschen dahin bringen, daß er verlangen sie zu finden, daß er bereit und frei von Leidenschaften sei um ihr zu folgen, wo er sie findet und da ich weiß, wie sehr seine Vernunft sich durch die Leidenschaften verdunkelt hat, möchte ich, daß er in sich die Begierde hassen, die jene nach sich selbst bestimmen, damit sie ihn nicht blind mache, wenn er seine Wahl trifft und ihn nicht aufhalte, wenn er gewählt hat.


9.

Ich tadle gleicher Weise so wohl die, welche den Entschluß fassen den Menschen zu loben als die, welche sich entschließen ihn zu tadeln als auch die, welche sich entschließen[125] ihn zu zerstreuen und ich kann nur die suchen mit Seufzen.

Die Stoiker sagen: Kehrt ein in euch selbst und da werdet ihr eure Ruhe finden und das ist nicht wahr. Andre sagen: Wendet euch nach und suchet das Glück in Zerstreuung und das ist nicht wahr. Die Krankheiten kommen, das Glück ist weder in uns noch außer uns, es ist in Gott und in uns.


10.

Die Natur des Menschen läßt sich auf zweierlei Art betrachten, nach seinem Zwecke, dann ist er groß, und unbegreiflich und nach der Erscheinung, gleich gleich wie man von der Natur des Pferdes und des Hundes urtheilt, nach der Erscheinung, wie sie sich im Lauf zeigen und im Muth zur[126] Vertheidigung, und dann ist der Mensch verworfen und schlecht. Das sind die beiden Arten, die so verschiedne Urtheile und so viele Streitigkeiten der Philosophen veranlassen. Denn einer leugnet die Voraussetzung des andern; der eine sagt: er ist nicht zu jener Bestimmung geboren, denn alle seine Handlungen widerstreiten dem, der andre sagt: er entfernt sich von seiner Bestimmung, wenn er jene niedrigen Handlungen thut. Zweierlei belehrt den Menschen über seine ganze Natur, der Institut und die Erfahrung.


11.

Ich fühle es, ich kann nicht gewesen sein, denn das Ich besteht in meinem Denken, mithin ich, der denkt, würde nicht gewesen sein, wenn meine Mutter getödtet worden wäre, ehe ich beseelt worden. Mithin bin ich nicht ein nothwendiges Wesen, ich bin auch weder ewig noch unendlich, aber ich sehe wohl, daß es in der Natur ein Wesen giebt, das nothwendig, ewig und unendlich ist.

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 118-127.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken über die Religion
Universal-Bibliothek Nr. 1622: Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen
Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen. (Reihe Reclam)

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon