Erstes Buch.
Ueber den Begriff des lebenden Wesens
und den Begriff des Menschen

1. Lust und Traurigkeit, Furcht und Muth, Begierde und Abscheu und der Schmerz: wo haben sie ihren Sitz? Sicherlich entweder in der Seele allein oder in der Seele, die sich des Leibes bedient, oder in einem Dritten aus beiden. Auch im letztern Falle ist ein doppeltes möglich: denn entweder ist dies eine Mischung oder etwas anderes, das aus der Mischung hervorgeht. In ähnlicher Weise verhält es sich auch mit den Folgen, Handlungen und Meinungen auf Grund dieser Affectionen. Man muss also auch hinsichtlich der Verstandesthätigkeit und der Meinungen die Frage aufwerfen, ob sie derselben Quelle angehören wie die Affecte, und wenn das, ob die einen auf diese, die andern auf andere Weise; desgleichen muss man hinsichtlich der Gedanken das Wie und die Zugehörigkeit betrachten, ja auch hinsichtlich dieses Betrachtungsvermögens selbst, welches über diese Fragen eine Untersuchung anstellt und eine Entscheidung trifft, wie es eigentlich beschaffen sei; und zuvor fragt es sich, wem das Wahrnehmen angehört. Hiervon nämlich muss man anfangen, da ja die Affecte entweder gewisse Wahrnehmungen oder nicht ohne Wahrnehmung sind.

2. Zuerst aber müssen wir die Seele vornehmen und untersuchen, ob ein Unterschied sei zwischen ›Seele‹ und ›Wesen der Seele‹. Ist nämlich dies der Fall, so ist die Seele etwas Zusammengesetztes und es kann nicht mehr auffallen, dass sie Eindrücke empfängt und dergleichen Affecte ihr angehören (falls auch so die Vernunft es zulassen wird) und überhaupt bessere und schlechtere Zustände und Stimmungen. Wenn dagegen ›Seele‹ und ›Wesen der Seele‹ dasselbe ist, so dürfte die Seele eine Form sein, unempfänglich für alle diese Seinsthätigkeiten, die sie einem Andern zubringt, während sie die ihr eigenthümliche Thätigkeit in sich selbst hat, welche die Vernunft aufweisen wird. So ist es denn auch wahr sie unsterblich zu nennen, wenn anders das Unsterbliche und Unvergängliche[3] keinen Störungen unterworfen sein darf, welches einem Andern irgendwie von sich giebt, selbst aber von einem Andern nichts haben darf ausser etwa von dem Früheren und Höheren, von welchem es als dem Besseren nicht abgeschnitten ist. Was wollte wohl ein so beschaffenes Etwas bei seiner Unempfänglichkeit für alles ausserhalb Befindliche fürchten? Das hingegen mag sich fürchten, was afficirt werden kann. Ebensowenig ist es muthig, denn dasjenige hat Muth, dem das Furchtbare nichts anhaben kann. Und die Begierden, welche durch Entleerung und Anfüllung des Körpers befriedigt werden, gehören einem Andern an, welches eben angefüllt und entleert wird. Wie soll es an einer Mischung Theil haben? Das Wesenhafte ist doch unvermischt. Wie an einer Zuführung von gewissen Dingen? So würde es ja zum Gegentheil von dem hinstreben was es ist. Auch der Schmerz liegt ihm fern. Denn wie oder worüber sollte es sich betrüben? Selbst genug ist sich ja das seinem Wesen nach Einfache, insofern es in seinem eigensten Wesen verharrt. Ueber welchen Zuwachs sollte es sich denn freuen, da nichts, nicht einmal etwas Gutes zu demselben hinzutritt? Denn was es ist, ist es immer. Aber auch wahrnehmen wird es nicht einmal, noch kommen ihm Verstandesthätigkeit und Meinung zu; denn Wahrnehmung ist Aufnahme einer Form oder eines affectionslosen Körpers, Verstandesthätigkeit aber und Meinung gehen auf die Wahrnehmung. Aber wie es sich mit dem Denken verhält, müssen wir untersuchen und zusehen, ob wir ihr dasselbe belassen wollen; desgleichen hinsichtlich der reinen Lust, ob sie ihr zukommt, wenn sie allein bei sich ist.

3. Man muss indessen annehmen, dass die Seele sich im Leibe beendet, sei's über ihm sei's in ihm, woher auch das Ganze derselben ›lebendiges Wesen‹ genannt wird. Indem sie sich nun des Leibes wie eines Werkzeuges bedient, wird sie nicht gezwungen die körperlichen Affectionen anzunehmen, sowenig wie der Künstler die Affectionen der Werkzeuge; wohl aber die Wahrnehmung, da sie ja doch, wenn sie die äussern Affectionen in Folge einer Wahrnehmung erkennt, sich des Werkzeugs bedienen muss; heisst doch auch die Augen gebrauchen Sehen. Aber es finden auch Schaden beim Sehen statt, daher auch Unlust, Schmerz, kurz alles was dem Leibe zuzustossen pflegt; so denn auch Begierden, indem sie die Heilung des Werkzeuges sucht. Aber wie werden die Affecte vom Leibe aus in sie hineinkommen? Denn ein Körper wird zwar einem Körper von dem Seinigen mitheilen, wie[4] aber der Körper der Seele? Das wäre ja gerade so als wenn jemand leiden sollte, während ein anderer leidet. So lange nämlich das eine das Gebrauchende ist, das andere aber das Gebrauchte, besteht jedes von beiden für sich; wenigstens trennt es derjenige, der das Gebrauchende als ein solches annimmt. Aber wie verhielt es sich damit vor der begrifflichen Trennung? Es war ein Gemischtes. Aber wenn es gemischt war, so fand entweder eine Vermischung statt, oder die Seele war wie durchflochten mit dem Leibe, oder wie eine nichtgetrennte Form oder eine Hand anlegende Form wie der Steuermann, oder ein Theil war getrennt, eben das Gebrauchende, ein Theil irgendwie gemischt und doch selbst auf der Stufe dessen befindlich, wovon es Gebrauch macht, damit dieses die Philosophie gleichfalls dem Gebrauchenden zuwende und das Gebrauchende, soweit es nicht unumgänglich nothwendig, von demjenigen wovon es Gebrauch macht abziehe, so dass es durchaus nicht immer Gebrauch macht.

4. Nehmen wir also an, sie sei gemischt. Aber wenn sie gemischt ist, so wird das Schlechtere besser sein, das Bessere schlechter; und zwar besser der Leib als am Leben, schlechter die Seele als an Tod und Unvernunft Theil nehmend. Was nun irgendwie dem Leben entzogen ist, wie mag das wohl das Wahrnehmen als Zugabe empfangen? Umgekehrt dürfte der Leib, der Leben empfangen, dasjenige sein was an der Wahrnehmung und den Affectionen in Folge der Wahrnehmung Theil nimmt. Er also wird auch begehren; denn er wird ja auch einen Genuss haben von dem wonach er begehrt und wird um seinetwillen in Furcht gerathen; desgleichen wird es vorkommen, dass er sein Verlangen nicht befriedigt, auch wird er der Vernichtung anheimfallen. Aber man muss auch die Art der Mischung untersuchen, ob sie nicht vielleicht gar unmöglich ist, wie wenn jemand sagen wollte, es sei eine Linie mit dem Weissen gemischt, zwei ganz heterogene Dinge. Bei der Annahme, dass sie eingeflochten sei, braucht das Eingeflochtene nicht denselben Affectionen unterworfen zu sein, sondern es ist möglich, dass das Verflochtene unafficirt bleibt; ebenso ist es möglich, dass die durchdringende Seele keineswegs die Affectionen jenes erduldet, wie etwa das Licht, und unter dieser Voraussetzung recht eigentlich durch das Ganze wie verflochten ist. Nicht deswegen also wird sie die Affectionen des Körpers dulden, weil sie mit ihm verflochten ist; vielmehr wie Form in der Materie wird sie im Leibe sein. Aber zuerst wird sie es als eine trennbare Form sein, wenn[5] anders sie Wesenheit ist, und zwar namentlich als ein Gebrauchendes; wenn sie es aber ist wie etwa bei einer Axt, wo die am Eisen haftende Form und somit beides zusammen [Form und Eisen] hervorbringen wird was das also gestaltete Eisen hervorbringt; nach der Form natürlich: so mussten wir wohl mehr dem Leibe alle gemeinsamen Affecte beilegen, versteht sich einem so und so gestalten, organischen, das Leben potentiell in sich tragenden Leibe. Denn Plato nennt es ungereimt von der Seele zu sagen, sie webe, also auch, sie begehre und betrübe sich; dies thut vielmehr das lebende Wesen.

5. Unter dem Begriff ›lebendes Wesen‹ aber muss man entweder den so oder so beschaffenen Leib verstellen oder das Gemeinsame oder ein anderes Drittes, das aus beiden hervorgegangen. Wie dem auch sei, man muss die Seele entweder unafficirt lassen, indem sie selbst einem andern die Ursache eines solchen Zustandes ist, oder sie selbst mit afficirt sein lassen und dabei annehmen, dass sie leidend entweder dieselbe Affection erdulde oder eine ähnliche, dass z.B. in anderer Weise das lebende Wesen begehre, in anderer das Begehrungsvermögen thätig sei oder leide. Ueber den so und so beschaffenen Leib wollen wir später unsere Betrachtungen anstellen. Wie ist aber die Verbindung von Leib und Seele im Stande Unlust zu empfinden? Etwa so, dass wenn der Leib irgendwie afficirt ist und die Affection bis zur Wahrnehmung durchdringt, die Wahrnehmung in die Seele ausläuft? Aber wie die Wahrnehmung entstellt, ist noch nicht klar. Oder sollte, wenn die Unlust von der Meinung und der Beobachtung, dass irgendein Uebel uns selbst oder einen unserer Angehörigen betrifft, ihren Anfang nimmt, alsdann von hieraus eine traurige Wendung sich auf den Körper und überhaupt auf das ganze lebende Wesen erstrecken? Aber auch hinsichtlich der Meinung ist nicht klar, wem sie angehört, ob der Seele oder beiden zusammen; ferner ist die Meinung in Betreff des Uebels nicht mit der Affection der Unlust unmittelbar verbunden; denn es ist ja möglich, dass selbst beim Vorhandensein der Meinung das Traurigwerden garnicht erfolgt, ebensowenig das Zürnen bei der Meinung, dass man verächtlich behandelt werde, oder auch die Begierde bei der Meinung von etwas Gutem. Wie entstehen nun diese als beiden gemeinsame Empfindungen? Nun, weil die Begierde dem Begehrungsvermögen, der Zorn dem Zornvermögen und überhaupt das Sichstrecken dem Streben angehört. Aber so[6] werden sie noch nicht gemeinsam sein, sondern der Seele allein angehören; oder auch dem Leibe allein, weil Blut und Galle kochen und der irgendwie afficirte Leib das Streben reizen muss, wie bei der Geschlechtsliebe. Das Streben nach dem Guten aber soll keine gemeinsame Affection sondern der Seele eigen sein, wie auch manches andere, und die Vernunft räumt nicht alles dem Gemeinsamen als zugehörig ein. Wenn aber der Mensch nach Geschlechtsgenuss strebt, wird zwar der Mensch der begehrende sein, in anderer Weise jedoch wird auch das Begehrungsvermögen begehrend sein. Und wie? Wird etwa der Mensch den Anfang machen mit der Begierde, das Begehrungsvermögen aber folgen? Doch wie kam der Mensch überhaupt zum Begehren, wenn das Begehrungsvermögen nicht gereizt war? Oder aber es wird das Begehrungsvermögen den Anfang machen. Aber wenn der Leib nicht zuvor so und so afficirt wurde, woher soll es anfangen?

6. Doch ist es vielleicht besser allgemein zu sagen: in Folge des Vorhandenseins der Kräfte ist dasjenige, was diese besitzt, das ihnen gemäss Handelnde, sie selbst aber sind unbewegt, während sie dem, was sie besitzt, das Vermögen zur Bewegung verleihen. Aber wenn dies ist, so muss nothwendig, während das lebende Wesen afficirt ist, diejenige Kraft, welche der Verbindung aus beiden die Ursache des Lebens giebt, selbst unafficirt sein, da die Affecte und die Thätigkeiten dem angehören was sie besitzt. Aber ist dem so, dann wird auch das Leben überhaupt nicht der Seele sondern der Verbindung aus beiden zukommen, oder das Leben jener Verbindung aus beiden wird nicht der Seele angehören, und das Wahrnehmungsvermögen wird nicht wahrnehmen, sondern dasjenige was dieses Vermögen hat. Aber wenn die Wahrnehmung als eine Bewegung durch den Körper in die Seele ausgeht, wie soll die Seele da nicht wahrnehmen? Gerade wird sie, da das Wahrnehmungsvermögen da ist, durch das Vorhandensein desselben wahrnehmen. Was also wird wahrnehmen? Das aus beiden Zusammengesetzte. Aber wenn das Vermögen sich nicht bewegt, wie soll dann noch das aus beiden Zusammengesetzte wahrnehmen ohne dass die Seele und das seelische Vermögen mit dazu gerechnet würde? Demnach mag das aus beiden Zusammengesetzte durch die Anwesenheit der Seele bestehen, nicht dass diese sich als solche an das aus beiden zugleich Bestehende oder an das eine davon hingäbe, sondern indem sie aus dem so und so[7] beschaffenen Leibe und einem gewissen von ihr ausgegebenen, ich möchte sagen Lichte die Natur des lebendigen Wesens zu einem Andern macht, dem das Wahrnehmen angehört und was sonst als Affecte des lebendigen Wesens bezeichnet werden.

7. Wir aber, wie nehmen wir wahr? Doch wohl weil wir von dem so und so beschaffenen lebenden Wesen nicht getrennt sind, auch wenn, das aus vielem bestehende Menschenwesen als ein Ganzes genommen, anderes Edleres in uns vorhanden ist. Das Wahrnehmungsvermögen der Seele jedoch darf nicht auf das Sinnliche gerichtet sein, sondern muss sich vielmehr der von der Wahrnehmung dem lebenden Wesen zugeführten Eindrücke zu bemächtigen suchen, denn dies ist bereits etwas Intelligibles; daher ist denn auch die äussere Wahrnehmung ein Schattenbild dieser, jene aber, dem Wesen nach wahrer, lediglich ein affectionloses Schauen von Formen. Von diesen Formen nun, mittelst deren die Seele nunmehr allein die Führung des lebendigen Wesens übernimmt, gehen die Verstandesthätigkeiten, die Meinungen und Gedanken aus; von da aus eigentlich fangen wir an. Was vor diesem liegt ist unser, wir aber beherrschen von da aus als das Höhere das lebende Wesen. Es wird uns nichts hindern das Ganze ›lebendes Wesen‹ zu nennen, das ein gemischtes ist nach unten zu, was aber von da aus anfängt das ist erst der wahre Mensch, jenes hingegen ist das Löwenartige, das durchweg vielgestaltige Thier. Da nämlich der Mensch mit der vernünftigen [Welt-] Seele zusammenhängt, so denken wir, wenn wir denken, dadurch dass die Gedanken Thätigkeitsäusserungen der Seele sind.

8. Wie aber verhallen wir uns zur Vernunft? Unter Vernunft verstehe ich nicht den Zustand der Seele wie sie ihn hat von dem, was von der Vernunft ausgeht, sondern die Vernunft an sich. Gewiss haben wir auch diese als ein höheres Princip in uns. Wir haben sie aber entweder als gemeinsame oder als besondere, oder auch als allen gemeinsame und besondere: als gemeinsame, weil sie untheilbar und eins ist und überall dieselbe, als besondere aber, weil auch jeder einzelne sie ganz in der ersten [d. i. vernünftigen] Seele hat. Wir haben auch die Ideen in doppelter Weise: in der Seele gleichsam losgewunden und getrennt, in der Vernunft dagegen alle zusammen. Wie aber haben wir Gott? Doch wohl als einen der über der intelligiblen Natur und der wahren Wesenheit schwebt, während wir uns von da aus auf der dritten Stufe befinden, hervorgegangen aus der ungetheilten, der obern Natur, sagt Plato, und[8] aus der im Bereich der Körperwelt getheilten, die man sich nämlich so in Bezug auf die Körperwelt getheilt denken muss, weil sie sich selbst den körperlichen Grossen hingiebt, soweit nämlich ein jedes ein lebendes Wesen ist, während sie in dem ganzen Universum allerdings eine ist; oder weil sie in den Körpern gegenwärtig vorgestellt wird als hineinleuchtend in dieselben und lebendige Wesen bildend, nicht etwa aus sich und dem Körper, sondern indem sie für sich bleibt, aber Bilder von sich mittheilt wie ein Gesicht in vielen Spiegeln. Das erste Bild ist die Wahrnehmung in dem Gemeinsamen [dem lebenden Wesen]; dann wiederum von dieser aus heisst alles andere Form der Seele, eins immer von dem andern ausgehend, und es läuft aus in dem Zeugungsvermögen und dem Wachsthum, überhaupt in dem was ein Anderes macht und zu Stande bringt, im Gegensatz zu der schöpferischen Kraft selbst, welche ihrerseits zu dem beabsichtigten Gebilde sich hinwendet.

9. Es wird uns also die Natur der so gefassten Seele frei sein von der Schuld des Bösen, so viel dessen der Mensch thut und leidet, denn dies findet statt bei dem lebendigen Wesen und dem Gemeinsamen, wie angegeben worden. Aber wenn Meinung und Verstandesthätigkeit der Seele angehören, wie ist sie sündlos? Denn es giebt eine falsche Meinung und viel von dem Bösen wird auf Grund derselben gethan. Doch aber wird das Böse wohl gethan, indem wir von dem Schlechteren überwunden werden (denn wir sind ein buntes Allerlei) sei es von der Begierde oder dem Zorn oder einer schlechten Vorspiegelung; die mit dem Falschen sich befassende sogenannte Verstandesthätigkeit aber, die Einbildung, wartete nicht die Prüfung vonseiten des Verstandesvermögens ab, sondern wir schritten zur That durch das Schlechtere überredet, wie z.B. im Gebiete der Wahrnehmung die gemeinsame Wahrnehmung [die des Körpers u. der Seele] in den Fall kommt Falsches zu sehen, bevor sie mit dem Verstandesvermögen eine nachträgliche Kritik geübt hat. Aber hat die Vernunft es denn ergriffen? Keineswegs, sie ist daher schuldlos. Vielmehr muss man sagen: wir haben das in der Vernunft enthaltene Intelligible erfasst oder nicht, denn es ist ja möglich es zu haben und nur nicht zur Hand zu haben. – Wir haben also das Gemeinsame und Besondere so geschieden, dass das eine leiblich und nicht ohne Leib, was aber zu seiner Thätigkeit des Leibes nicht bedarf der Seele eigenthümlich sei, und dass die Verstandesthätigkeit, indem sie eine Nachprüfung der von der Wahrnehmung ausgebenden Eindrücke anstellt, bereits Ideen schaut und sie gleichsam[9] durch Mitwahrnehmung schaut, wenigstens die eigentliche Verstandesthätigkeit der wahren Seele. Denn die wahre Verstandesthätigkeit ist eine Bethätigung von Gedanken und Aehnlichkeit und Gemeinschaft mit dem Aeussern und Innern. Nichtsdestoweniger also wird die Seele mit sich selbst und in sich selbst ruhig sein; denn die Strebungen und der Aufruhr in uns kommen von den angefügten [nicht ursprünglichen] Elementen und von den Affectionen des Gemeinsamen, wie gesagt, was dies auch sein mag.

10. Aber wenn das ›Wir‹ die Seele ist und wir dies leiden, so würde auch die Seele das leiden und ebenso wird sie thun was wir thun. Wir sagten aber auch, dass das Gemeinsame uns angehöre, namentlich solange Leib und Seele noch nicht unterschieden waren; sagen wir doch auch, dass wir leiden was unser Leib leidet. Das Wir also ist ein doppeltes, indem entweder das Thier mitgezählt wird oder nur das was bereits über diesem steht; Thier ist aber ein belebter Körper. Der wahre Mensch dagegen ist ein anderer, der rein von diesen Dingen die im Denken befindlichen Tugenden hat, die freilich auch in der getrennten Seele selber ihren Sitz haben, jener Seele, die getrennt ist und auch hier unten noch getrennt werden kann, da ja, wenn diese ganz und gar abfällt, auch die von ihr eingestrahlte Seele zugleich mit ihr dahin ist. Die Tugenden indessen, welche wir uns nicht durch Denken sondern durch Uebung und Gewohnheit erworben haben, gehören dem Gemeinsamen an, denn diesem gehören die Laster zu eigen, wie auch die Regungen des Neides, Eifers, Mitleids. Aber die Freundschaft, wem eignet sie? Theils diesem, theils dem inwendigen Menschen.

11. Solange wir Kinder sind, sind die Ausflüsse des Gemeinsamen thätig und wenig leuchtet von dem Oberen in dasselbe hinein. Wenn sie aber in Bezug auf uns unthätig sind, so sind sie thätig in Bezug auf das Obere; in Bezug auf uns aber sind sie thätig, wenn sie bis zur Mitte [Phantasie?] vorgedrungen sind. Wie min? Gehört zu dem Wir nicht auch das Höhere? Aber es muss ein Ergreifen stattfinden, nicht immer bedienen wir uns dessen was wir haben, sondern nur dann, wenn wir das mittlere Vermögen auf das Höhere richten oder auch auf das Gegentheil, und in allem was wir von der Möglichkeit oder blossen Anlage zur thätigen Wirklichkeit führen. Wie aber kommt den Thieren der Begriff ›lebendes Wesen‹ zu? Falls in ihnen, wie man sagt, sündige Menschenseelen sind, so gehört der trennbare Theil nicht den Thieren an; wenngleich gegenwärtig, ist er für sie nicht gegenwärtig, sondern die Mitwahrnehmung hält[10] das Bild der Seele mit dem Leibe zusammen, einem Leibe nämlich, der zu einer solchen Qualität durch das Bild der Seele geworden; ist aber keine Menschenseele in sie hinabgetaucht, so ist ein derartiges lebendes Wesen durch Einstrahlung der Weltseele entstanden.

12. Aber wenn die Seele sündlos ist, wie stehts da mit den Strafen? Entschieden steht mit aller Lehre die Lehre im Widerspruch, wonach die Seele sündigt, ihre Sünde abbüsst, Strafe im Hades erleidet und einer erneuten Wanderung im Körper unterworfen ist. Mag nun ein jeder nach Belieben einer von diesen Lehren beistimmen, vielleicht macht es jemand auch ausfindig, in welcher Weise sie nicht miteinander in Widerspruch stehen. Die Lehre nämlich, welche der Seele Sündlosigkeit zuspricht, setzt sie schlechterdings als einfache Totalität und erklärt ›Seele‹ und ›Wesen der Seele‹ für identisch; jene dagegen, welche ihre Sündhaftigkeit behauptet, umfasst und rechnet mit zu ihr noch eine andere Art von Seele, die eben die furchtbaren Affecte hat. Zusammengesetzt ist also die Seele und wird selbst das aus allen Theilen Bestehende, und so leidet denn auch gemäss dem Ganzen und sündigt das Zusammengesetzte und dies ist es was nach jener Annahme Strafe leidet, nicht jenes. Daher sagt Plato: ›wir haben sie erblickt wie diejenigen, welche den Meer-Glaukos sehen‹. Will aber jemand, sagt er, ihre Natur sehen, so muss er die angesetzten Bestandtheile abstreifen und auf ihre Weisheitsliebe sehen, was sie ergreift und womit sie ihrem eigentlichen Wesen nach verwandt ist. Ein anderes also ist Leben, anderes Thätigkeiten, und was bestraft wird etwas Verschiedenes; das Zurückweichen aber und die Trennung erstreckt sich nicht bloss auf diesen Leib sondern auf alle ihr zugesetzten Bestandtheile. Denn schon bei der Zeugung findet der Zusatz statt, oder überhaupt gehört die Zeugung der andern Art der Seele an. Das Wie der Zeugung ist erwähnt worden, dass sie nämlich beim Herabsteigen der Seele vor sich geht, wobei etwas anderes von ihr ausgeht als was herabsteigt bei ihrer Hinneigung. Also hat sie doch wohl ein Trugbild von sich ausgehen lassen? Und die Hinneigung, wie wäre sie nicht Sünde? Aber wenn die Hinneigung eine Erleuchtung nach dem Untern zu ist, dann ist sie nicht Sünde, sowenig wie der Schatten, sondern schuld ist das Erleuchtete; denn wäre dies nicht, so hätte sie nichts zu erleuchten. Man sagt nun, sie steige herab und neige sich dadurch, dass das von ihr Erleuchtete mit ihr zusammenlebt. Sie lässt also das Trugbild ausgehen, wenn nichts in der Nähe ist was es aufnehmen kann;[11] sie entlässt es aber nicht insofern sie abgespaltet wird, sondern insofern sie garnicht mehr ist; sie ist auch nicht mehr, wenn sie ganz dorthin blickt. Es scheint dies der Dichter aber zu trennen beim Herkules, indem er dessen Schattenbild in den Hades, ihn selbst hingegen unter die Götter versetzt, wobei er beiden Vorstellungen Rechnung trägt, dass er unter den Göttern und dass er im Hades sei: er hat eben getheilt. Vielleicht lässt sich das auch so verstehen: Herkules, der praktische Tugend hatte und wegen seiner sittlichen Tüchtigkeit für werth gehalten wurde ein Gott zu sein, ist, weil er praktisch aber nicht theoretisch tugendhaft war, dort oben, wo er sonst ganz gewesen wäre, doch ein Theil von ihm ist auch noch unten.

13. Dasjenige aber welches hierüber Betrachtungen anstellte, sind wir es oder die Seele? Nun wir, aber vermittelst der Seele. Wie so vermittelst der Seele? Hat sie dadurch, dass wir sie haben, Betrachtungen angestellt? Gewiss, insofern sie Seele ist. Sie wird sich also nicht bewegen. Oder man muss ihr eine solche Bewegung leihen, welche nicht den Körpern zukommt, sondern ihr eigenthümliches Leben ist. Und das Denken kommt uns deshalb zu, weil die Seele denkend und das Leben ein besseres Denken ist, sowohl dann wenn die Seele denkt, als wenn die Vernunft ihre Thätigkeit auf uns erstreckt; denn auch sie ist ein Theil von uns und zu ihr steigen wir empor.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 1,12.
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