Neuntes Buch.
Ueber die »Berechtigung des Selbstmordes«

[70] ›Er [der Weise] wird sie [die Seele] nicht hinaustreiben, damit sie nicht hinausgehe‹ – denn sie wird ›mit etwas behaftet‹ hinausgehen, wohin sie auch gehe, und hinausgehen heisst hinübergehen an einen andern Ort – sondern man wird warten, dass der Leib sich ganz von ihr trennt, wo sie dann nicht hinüberzugehen nöthig hat, sondern ganz ausserhalb ist. Wie trennt sich nun der Leib? Wenn kein Theil der Seele mehr durch ihn gebunden ist, indem der Leib nicht mehr im Stande ist sie festzubinden, weil seine Harmonie nicht mehr besteht, mit deren Besitz auch zugleich der Besitz der Seele verbunden war. Wie nun, wenn jemand es darauf anlegte den Körper aufzulösen? Aber dann brauchte er Gewalt und trennte sich selbst, nicht entliesse der Körper; und wenn er auflöst, ist es nicht frei von Leidenschaften, sondern entweder Unwille oder Trauer oder Zorn ist dabei; er darf aber nichts thun. Wenn er nun den Ausbruch des Wahnsinns merkte? Nun, vielleicht trifft er den Weisen und Tugendhaften nicht; sollte es auch der Fall sein, so setze man dies unter die nothwendigen Dinge, für die man sich unter Umständen, nicht schlechthin zu entscheiden hat. Auch die Anwendung von Giften zur Austreibung der Seele ist der Seele gewiss nicht zuträglich. Und wenn die einem jeden gegebene Zeit eine vom Schicksal bestimmte ist, so ist es vor deren Ablauf nicht wohlgethan, es müsste denn, wie gesagt, nothwendig sein. Wenn aber jeder eine seiner Beschaffenheit zur Zeit des Ausgangs entsprechende Stellung dort einnimmt, so darf man die Seele nicht austreiben, solange noch ein Zunehmen an Besserung möglich ist.[70]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 70-71.
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