XVIII.
Märchenhafte Zustände. Die Bergstadt Eisleben. Der Beuchlitzer Weinberg. Die Pfarre in Giebichenstein. Secretariat des thüringisch-sächsischen Alterthumsvereins. Neue Zeitschrift für die Geschichte der Germanischen Völker. Hofrath Dorow. Die Gesellschaft vom ungelegten Ei. Studentencultur.

[442] Diese der Religionswissenschaft gewidmeten Studien wurden von neuen Umgestaltungen meiner geselligen Verhältnisse begleitet, die zuletzt in eine bedenkliche Breite ausliefen. Sie waren sehr mannichfaltig. Genthe[442] hatte sich Ostern 1831 mit meiner Schwester verheirathet. Ich war zur Hochzeit nach Magdeburg gefahren. Zu Pfingsten wanderte ich, angethan mit meiner grünen Studentenblouse, über den süßen und salzigen See am Fuß des alten Schlosses Seeburg nach Eisleben und wurde in der alten Lutherstadt, da ich diese kleine Reise auch schon das Jahr zuvor, zum ersten Mal noch als Student 1826 gemacht hatte, sie auch noch einige Male wiederholte, sehr einheimisch. Mit Bequemlichkeit konnte ich auch einer näheren Kenntnißnahme des Berg- und Hüttenwesens mich hingeben. Unter der Stadt Eisleben selber zieht sich ein langer Schacht hin, der bis auf siebenhundert Fuß Tiefe geht. – Umgekehrt besuchte mich auch Genthe, theils allein, theils mit meiner Schwester in Halle, da meine gefällige Wirthin Raum zum Logiren bot. Auch Freund Bohtz wohnte bei mir, wenn er von Göttingen, wo es ihm nach Wunsch erging, zu seinem jährlichen Besuch der Seinigen in Dresden durch Halle kam. Ich ließ dann sofort Besser und Hinrichs von seiner Anwesenheit benachrichtigen, und Bohtz belustigte uns nun wie sonst mit seiner unerschöpflichen Komik und mit seiner Kunst, Personen zu copiren und zu carikiren. Es waren noch harmlose, glückliche Tage! Einmal fuhr ich auch mit Hinrichs und Besser auf einige Tage nach Leipzig, lediglich, um dort das Gefühl eines eleganten Comforts zu genießen, woran damals in Halle noch großer Mangel war. Wir logirten im Birnbaum (Hôtel de Pologne), machten an der Wirthstafel die Bekanntschaft der Leipziger Journalisten, unter denen Herloszon besonders hervorstach, tranken mit ihnen Kaffee im Rosenthal, besahen die Gemäldegallerie des Barons von Speck, schlenderten auf der Esplanade umher und schlossen am Abend im Theater. Wir suchten eben Alles auf, was uns, im Gegensatz zu Halle, die Empfindung großstädtischer Existenz geben konnte. – Ein andermal wanderten Hinrichs, Besser, Lorentz, Scherk, der Mathematiker, Wilhelm Weber, der Physiker, und meine Wenigkeit über den Kamm der fetten Henne nach Naumburg, wo wir den schönen Dom besahen, dann nach Schulpforta, wo Professor Koberstein uns zu Mittag bei sich behielt. Ueber Kösen ging es hierauf nach Freiburg an der Unstrut. Unterwegs hatten wir ein furchtbares Gewitter zu bestehen, das uns bis auf die Haut durchnäßte. Im Gasthof zu Freiburg mußte der Wirth uns[443] Pantoffeln und alte Röcke und Mäntel borgen, um unsere Kleider am Feuer zu trocknen. Wir nahmen uns in den Trachten, die uns schlottrig um den Leib hingen, drollig genug aus und geriethen in die tollste Ausgelassenheit, in welcher Scherk es uns Allen zuvorthat und selbst seinen Freund, den sonst so gesetzten Weber, mit fortriß. Andern Tags kehrten wir über Merseburg nach Halle zurück.

Mit Hinrichs setzte ich meine Gänge in die Umgebungen von Halle fort. Es blieb wohl kein Punkt von uns unbesucht, und die Namen Trotha, Giebichenstein, Kröllwitz, Bardt'scher Weinberg, Rabeninsel, Diemitz, klingen noch heute süß in meinen Ohren. Unser Hauptgang aber war zur Sommerzeit nach dem Weinberge von Beuchlitz, eine Meile vor dem Clausthor. Man kann dahin die Chaussee über Niedleben oder die Wiese über Passendorf gehen. So lange die Jahreszeit es erlaubte, schlugen wir diesen Weg ein. Erst wenn wir die Pulverweiden und die lange Saalbrücke mit ihrem Wahrzeichen, dem Saalaffen, hinter uns hatten, wurde uns ganz wohl. Der Braunkohlenstaub und die Salzdampfatmosphäre Halle's lagen hinter uns. Kein Mensch störte uns nun weiter in unsern rücksichtslosen Gesprächen. Der Weinberg liegt auf einer Anhöhe, die sich in ein kleines Plateau fortzieht, das sich nach hinten zu in eine von Kaninchen bevölkerte Senke abdachte. Hier befand sich das mit großen rohen Steinen überdeckte Grab eines Herrn von Witzleben, der sich aus Melancholie selber getödtet hatte, unter einem Rund von Bäumen. Das Plateau enthielt einen Wein- und Gemüsegarten, woran sich nach der freien Feldseite Kartoffel- und Getreideäcker anschlossen. Vorne, nach der Kante des Hügels zu, stand ein einfaches Haus. Hierin wohnte der Weinbauer, der alte Günther. Er war ein Wittwer und hatte einen einzigen Sohn, Wilhelm, der sich, während wir dort verkehrten, mit einem schmucken Mädchen verheirathete. Eine Magd und ein paar Hunde vervollständigten das Hauswesen. Wilhelm war zugleich der Jäger der Frau von Witzleben auf dem Gute in Passendorf, von welcher Günther den Berg in Pacht hatte. Hier saßen wir denn in einer kleinen Laube, tranken Kaffee oder Erlanger Bier und lebten ein seliges Leben, denn wir schwebten in unserer Unterhaltung wie Olympische Götter, die von der Höhe des Ida bei Nektar und Ambrosia über die weite Erdscheibe[444] dahinschauen, wirklich im Aether der Ideen, als ächte Platonische Enthusiasten. O himmlische Stunden, in denen wir den buntesten Wechsel der Vorstellungen durchliefen! Je länger wir zusammen waren, um so unerschöpflicher schien uns, was wir durchzusprechen hätten. Zwischendurch belustigte sich Hinrichs auch damit, dem alten Günther von der Pracht und Herrlichkeit Wiens zu erzählen, wozu derselbe ungläubig den Kopf schüttelte. Ich ging auch wohl allein auf den Weinberg, wenn Hinrichs verhindert oder, was öfter vorkam, sehr unpäßlich war. Ach, wie fehlte er mir dann und wie wehmüthig sah ich dann die Sonne sinken! Ich nahm dann einen Band von einer Taschenausgabe Byron's mit, in der Laube zu lesen. Ich hatte Byron seit 1824 liegen lassen, aber nun ihn mit der innigsten Hingabe wieder aufgenommen. Nächst Homer und Shakespeare, nächst Göthe und Schiller, hat kein Dichter meine Seele so, wie Byron, ergriffen. Bei einer unendlich reichen, concreten Anschauung von Natur und Menschenleben besitzt er eine unvergleichlich metaphysische Tiefe, die alle Räthsel unseres Daseins durchwühlt.

Ich habe schon früher den Dualismus geschildert, der in Hinrichs waltete. Einerseits war er voll von den lebendigsten Anschauungen, andererseits, sobald er im engeren Sinne philosophirte oder schrieb, unterlag er einer Neigung zu einem methodischen Fanatismus, der von der Mannichfaltigkeit seines Innern wenig zu Tage kommen ließ. Er fühlte selber diese Doppelheit seines Wesens, die eine Folge seines eigenthümlichen Bildungsganges war, und suchte darüber hinauszukommen. Die kritischen Arbeiten, die er sehr fleißig für die Berliner Jahrbücher schrieb, wurden für ihn eine gute stylistische Schule, weil sie ihn zwangen, aus dem System herauszugehen, sich in andere Individualitäten zu vertiefen und auf die Lesbarkeit für das Publicum eine billige Rücksicht zu nehmen. Er machte darin mit der Zeit Fortschritte, die für ihn erstaunlich zu nennen waren. Für mich, einen polyhistorischen, zur Ausschweifung nach allen Seiten geneigten Geist, der im Grunde Alles interessant fand, sobald man sich nur genau damit befreunden wollte, war sein Dringen auf Festhalten der Methode wohlthätig. Umgekehrt wirkte die freie Beweglichkeit der Form, die mir eigen war, günstig auf ihn zurück. Während der Zeit, in welcher wir uns so innig in[445] einander hineinlebten, kam nun sein Dualismus in zwei Arbeiten zum Vorschein, mit denen er sich lange trug. Die eine war ein pures Gemächte der gewaltsamsten Abstraction. Hinrichs wollte eine Genesis des Wissens als ein Werk totaler Reform der Philosophie schreiben. Er wurde sich aber nicht klar, daß für das Hegel'sche System, dem er doch anhing, durch die Phänomenologie des Geistes dies bereits geschehen, ja von ihm selber theilweise schon im zweiten Abschnitt seiner Logik ausgeführt war. Was er hier das immanente Denken genannt hatte, war doch nichts, als der Nachweis, wie wir von der sinnlichen Gewißheit bis zum begriffsmäßigen Wissen gelangen. Jetzt wollte er das unmittelbare, das reflectirte und das absolute Wissen unterscheiden. Stellenweis kamen vortreffliche Expositionen darin vor, aber das Ganze blieb ein eben so mühsames, als todtes und unfruchtbares Product. Wenn ich ihm, sobald er mir von dem Fortgang seiner Arbeit Mittheilung machte, in aller Bescheidenheit opponirte, so behauptete er natürlich, daß ich ihn nicht genugsam verstände. Später würde ich es einsehen. Das Buch kam 1834 wirklich heraus, ohne in der Entwickelung der Wissenschaft die geringste Spur zu hinterlassen. Es ist diesem ersten Theil kein zweiter gefolgt. – Die andere Arbeit, welche Hinrichs damals unternahm, war eine Darstellung der Schiller'schen Dichtungen. Er trug sie in einem großen Publicum mit gutem Erfolge vor. Als ich nun 1833 von Halle wegging, schenkte er mir das Manuscript mit der Absicht, daß ich es stylistisch zurecht machen sollte. Das Heft war ein ganz kleines Format, mit ganz kleinen Buchstaben bis an den Rand beschrieben. Ich war gerührt von seinem Vertrauen, aber ich wußte nicht recht, was ich mit dem Geschenk anfangen sollte. Endlich ließ ich es in Folio mit breitem Rande abschreiben, versuchte hier und da eine formelle Aenderung und machte Anmerkungen auf dem breiten Rande. Aber eine gänzliche Umschreibung, wie Hinrichs sie sich als möglich vorstellte, konnte ich nicht erzwingen. Ich war ja eben eine ganz andere Individualität, und wenn ich über Schiller hätte schreiben wollen, würde es eben in ganz anderer Weise geschehen sein. Hinrichs meinte, er habe die Sache, d.h. die philosophische Durchdringung des Dichters, gelöst und für mich käme es nur darauf an, seine abstracten Gestalten mit warmem Colorit zu[446] illuminiren. Jetzt machte ich ihm nun wieder diese Abschrift mit ihren Noten zum Geschenk und forderte ihn auf zur größeren Belebung doch auch die Urtheile von Göthe, W.v. Humboldt, Tieck und Anderen heranzuziehen.

Nun warf sich Hinrichs mit Eifer in diese Lectüre und schrieb ein dreibändiges Werk über Schillers Dichtungen, das er mir am Schluß der Vorrede zum ersten Bande widmete. Hierin finden sich nun sehr gelungene Untersuchungen in einer bereits vom Schuljargon emancipirten Sprache, aber eine gewisse Unfreiheit und Sonderbarkeit der Behandlung blieb doch noch zurück. Wie ist es möglich, ein Werk über Schiller mit den Worten anzufangen: »Die Liebe ist die Rosenzeit der Jugend« und zu glauben, damit auf populäre Weise die Gedichte, welche Laura feiern, eingeleitet zu haben! Hinrichs sehnlichster Wunsch war immer, mit mir eine Reise über Wien nach Konstantinopel, von da nach Athen und zurück über Venedig und Innsbruck zu machen. Das Stange'sche Reisebüreau, mit welchem heut zu Tage eine solche große Tour so bequem und wohlfeil gemacht wird, existirte noch nicht. Es gehörten bedeutende Mittel dazu. Der berühmte Reisende Seetzen war Hinrichs Oheim gewesen. Er war in Syrien ermordet. Seine Papiere waren gestohlen und verschleppt. Hinrichs, als Erbe, bemühte sich Jahre lang um ihre Wiederentdeckung und es gelang endlich der Oestereichischen Polizei, sie ausfindig zu machen. Hinrichs kannte meine Vorliebe für Geographie und meine Belesenheit in Reisebeschreibungen. Er sandte mir die Manuscripte nach Königsberg, weil er ohne Weiteres annahm, daß ich dieselben für den Druck bearbeiten und mit einer Biographie Seetzen's einleiten könnte. Für das Geld, was das Unternehmen abwerfen müßte, sollte dann jene Reise von uns gemacht werden. Allein abgesehn von dem Zeitaufwande, den eine solche Arbeit erforderte und den ich in meinen damaligen Verhältnissen und Studien nicht aufbringen konnte, fehlte es mir auch an den dazu nothwendigen exacten historischen und geographischen Kenntnissen. Hinrichs war schwer zu überzeugen, daß ich der Redaction nicht gewachsen sei. Er hat sich dann an den Professor Kruse in Dorpat gewendet und mit ihm die Manuscripte herausgegeben. Als er in vorgerückten Jahren schwere häusliche Leiden durchzukämpfen[447] hatte, munterte ich ihn auf, sich in eine große Arbeit zu stürzen, die ihn aus sich herauszugehen zwänge. Ich schlug ihm die von der Hegelschen Schule so sehr vernachlässigte Naturphilosophie vor. Er ging auch darauf ein. Wie er aber statt einer Religionsphilosophie nur ein Buch über das Verhältniß von Religion und Wissenschaft, statt einer Psychologie eine Genesis des Wissens, statt einer Philosophie der Geschichte ein Buch der Könige schrieb, so auch statt einer Naturphilosophie zunächst eine kleine Schrift über die Entwicklung von Pflanze, Thier und Mensch und sodann ein Buch, das er, im Gegensatz zu Humboldt's Kosmos, Tellus benannte. Im Grunde mußte er doch dabei alle Hauptpunkte der Naturphilosophie berühren, aber er verzwergte gleichsam die Natur in die Entwicklung nur unsres Planeten. Es kamen, wie in allen Arbeiten von Hinrichs, angezeichnete Momente darin vor, aber zweierlei machte das Ganze unzugänglich. Das Eine war ein stetes Reflectiren auf den Gegensatz von Empirie und Spekulation, das Andre eine Vermischung von Resten der alten Schelling'schen Naturphilosophie, von der auch Hegel noch nicht ganz frei war, mit den Resultaten der neuern Forschungen, die er sich gewissenhaft anzueignen trachtete. Er schickte mir nun sein Werk zweimal nach Königsberg zur Revision. Ich verfolgte das erste Mal die Punkte, die ich in thatsächlicher Hinsicht für irrig oder für wenigstens bedenklich hielt und rieth ihm, die Einleitung über die Methode, die einen heutigen Leser nur abschrecken würde, ganz fortzulassen. Er hatte die Ausdauer, das ganze Werk umzuschreiben. Ich empfing es zum zweiten Mal. Jetzt konnte ich mich mehr auf die Formseite beschränken. Er ging nun an eine theilweise Umgestaltung über die er leider plötzlich dahin starb. Ich bekam nun nach seinem Tode die Arbeit zum dritten Mal, ob ich sie druckfertig machen könnte, allein ich überzeugte mich bald, daß es nicht möglich war. Meine Schreibart war zu disparat mit der seinigen, als daß ich stückweise Einschaltungen und Aenderungen hätte vornehmen können. Die Geologie aber ist bei uns in einer so heftigen und rapiden Umgestaltung begriffen, daß die Abführungen von Hinrichs veraltet erscheinen mußten, bevor sie zum Druck gelangten. Ich konnte, bei der Zwiespältigkeit meiner Ansichten, die Redaction nicht übernehmen. Ich war mit Hinrichs 1859 eine Woche hindurch in[448] Marienbad zusammen, wohin ich gereist war, uns noch einmal wiederzusehen und ungestört zu sprechen. Hier ging ich eines Tages mit ihm nach dem Podhorn, in welchem, wie im Kammerbühl bei Franzensbad, der Granit und Basalt in so merkwürdiger Weise neben einander auftreten. Hier kam denn die Unvereinbarkeit unserer Meinungen ganz klar zum Vorschein.

Hinrichs fühlte sich in Halle nie glücklich. Er sehnte sich nach dem deutschen Süden, besonders nach Wien, das er leidenschaftlich liebte. Er hat auch viel dort gelebt, zumal seine Frau eine sehr angesehene und ansehnliche Verwandtschaft in Wien besaß. Er machte aber auch längere Aufenthalte in Paris, London und Italien. So wie die Sommerferien kamen, litt es ihn nicht mehr in Halle und doch mußte er sein ganzes Leben darin zubringen.

Die Erinnerung läßt mir den Beuchlitzer Weinberg wie ein Märchen in der sonstigen Halleschen Prosa erscheinen. Aber auch auf der andern Seite der Saale, in Giebichenstein sollte sich für mich unerwartet eine märchenhafte Welt aufthun. Unter den Studirenden, die sich mir anzuhängen pflegten, war ein Schweizer, Rudolph Müller aus Lenzburg im Aargau. Er schwärmte für mich und hat dies noch 1836 öffentlich in einer Widmungsepistel an mich ausgesprochen, die er einer Schrift: Studien im Fache der Dramatik, vorsetzte. Er war ein großer, hagrer Mensch mit einem Knebelbart. Er trug eine Brille, weil er sehr kurzsichtig war. Er war ein edles Gemüth, aber nicht ohne eine gewisse krankhafte Reizbarkeit, die ihn später in den Parteikämpfen der Schweiz zu einem wechselvollen, oft sehr kümmerlichen Leben verdammte, in dessen kleinlichen Reibungen sein an sich großer Sinn die schmerzlichsten Qualen erduldete. Dieser Müller also kam eines Morgens zu mir, und brachte mir von dem Pfarrer Neide und seiner Familie in Giebichenstein Grüße mit einer Aufforderung zum Besuch. Wie Müller dort bekannt geworden war, habe ich vergessen. Ich hatte nichts davon gehört, daß mein alter Rector aus Magdeburg als Pfarrer nach Giebichenstein versetzt war. Das erste Mal ging ich am Abend mit Müller zusammen hinaus. Ja, es war mein alter Rector, den ich so oft durch mein schlechtes Rechnen geärgert hatte. Er hatte sehr gealtert, schnupfte noch mehr Tabak als sonst und[449] brachte, wie sonst, den größten Theil des Tages in seiner Studirstube zu. Dagegen waren die Kinder, die ich ganz klein gekannt hatte, herangewachsen. Die älteste Tochter, Luise, war ein schönes, höchst anziehendes Mädchen geworden. Ihre Schwestern, Marie und Sophie, befanden sich in jenem reizenden Stadium zwischen Kindhaftigkeit und Damenhaftigkeit, welches man das Backfischalter zu nennen pflegt. Der älteste Bruder August, mit dem ich 1826 in Halle noch zusammen studirt hatte, war bereits in Magdeburg als praktischer Arzt etablirt. Aber es war noch ein jüngerer Bruder, das jüngste Kind, ein ganz pudelnärrisches Subject mit den drolligsten Einfällen, vorhanden. Die Frau Pfarrer war eine stattliche, heitere Frau. Da ich nun von der Schule her mit den früheren Zuständen der Familie bekannt war, da wir außerdem über Magdeburg und viele seiner Inwohner reden konnten, so kamen wir dadurch bald in eine große Vertraulichkeit des Umgangs. Der Hund wedelte mir entgegen, die Kinder sprangen mit Halloh auf mich zu, wenn ich gegen Abend eintraf. Dann wurden von uns die tollsten Scherze getrieben, in deren kräuselnder Fluth besonders die beiden Backfische sich als in ihrem rechten Element mit Uebermuth tummelten. Die Mutter hielt uns, ohne uns in unsern schlechten Witzen zu hindern, in Ordnung und die schöne Luise war gewöhnlich die heimliche Anstifterin der Richtung, welche wir einschlugen. Oft lachten wir über eine Hecke von Unsinn, sogar über ein Nichts, aber wir lachten mit einer unbeschreiblichen Seligkeit. War dies nicht märchenhaft? Da oben über uns in seiner Stube saß mein alter Rector, vor dem ich gebebt hatte, wenn er meine Rechentafel in die Hand nahm. Hier, dicht neben mir, saß die gute Luise, die ich als kleines Mädchen mit dem Korb an dem wohlgerundeten Arm so oft hatte zur Schule wandern sehen. Da saß auf dem Sopha die Mutter, vor welcher ich sonst die Mütze in scheuer Ehrfurcht abgezogen, und ermuthigte mich, mich als ein Glied der Familie, als ein Kind unter Kindern zu fühlen. Wie aus dieser heitern Geselligkeit, die im herbstlichen Wurstfest culminirte, endlich auch sehr elegische Laute hervorbrechen sollten, das zu erzählen ist mir unmöglich. Der alte Herr starb schon nach einigen Jahren. Die Mutter zog mit den Kindern in die Stadt. Hier besuchte ich sie auf einer Reise 1838. Die Backfische[450] waren nun zu jungen Damen herangewachsen, Luise war die Verlobte eines Candidaten geworden; die Mutter hatte mit manchen Sorgen zu kämpfen. Ein ernster Ton überschwebte jetzt das ganze Familiengemälde. Wir brachen alle in Thränen aus, als wir uns unwillkürlich der glücklichen Stunden in Giebichenstein erinnerten. Zwanzig Jahre später war ich wieder auf einer Reise in Halle. Jetzt war die ganze Familie zerstoben. Mit welchen Empfindungen schlich ich den Weg am Pfarrhause hin, dessen mir ganz fremde Insassen nicht ahnen konnten, was mir das Herz bewegte, als ich einen Augenblick in Wehmuth verloren vor der kleinen Pforte still stand, wo die drei Mädchen mir so manchmal die freundliche, liebe Hand zum Abschied gereicht hatten.

Außer mit den Familien Hinrichs und Neide habe ich in Halle keinen Familienumgang und daher auch weder mit Frauen noch mit Mädchen einen genaueren Verkehr gehabt. Da man wußte, daß ich verlobt war, so war ich für alle Mütter im Besitz heirathsfähiger Töchter kein Gegenstand. Nur Eine Frau war es, mit welcher mich allmälig innige Freundschaft verband. Es war die Frau Hofräthin Karoline Pfaff, die Wittwe des Mathematikers, die Mutter des Historikers Karl Pfaff, von welchem früher die Rede gewesen ist und der auch das Leben seines Vaters ausführlich beschrieben hat. Karoline Pfaff stammte aus dem Würtembergischen Adel. Ein Bruder von ihr, der General von Brandt, war eine Zeitlang Würtembergischer Kriegsminister. In dieser Frau habe ich alle vorzüglichen Eigenschaften des Schwäbischen Naturells im Verein mit einer seltenen Bildung des Geistes und Herzens lieben gelernt. Als ich mich verheirathete, war es mir sehr angenehm, daß meine Frau, obwohl eine prononcirte Berlinerin, sich unwiderstehlich von ihr angezogen fand. Ich stand noch Jahre lang mit ihr von Königsberg aus in brieflichem Verkehr, bis derselbe, wie die meisten meiner persönlichen Verhältnisse zu Deutschland, bei der Weite der Entfernung und dem immer größeren Auseinandergehen unserer Schicksale allmälig abstarb.

Ich übergehe eine Menge von untergeordneten oder vorübergehenden Beziehungen, wie sie von einem akademischen Lehramt unzertrennlich zu sein pflegen. Man hatte mich, ohne daß ich irgend darum[451] angesucht hätte, am 18. Juli 1831 zum außerordentlichen Professor mit zweihundert Thalern Gehalt ernannt. Heffter, der Professor des Staats- und Völkerrechts, mit welchem ich 1848 zu Berlin unter ganz anderen Verhältnissen wieder zusammentreffen und auf dem Leipziger Platz nachbarlich wohnen sollte, vereidigte mich. Auch Freund Ritschl wurde zum Professor ernannt und die Fakultät wählte uns Beide als Commissarien für die Erledigung der Gesuche von Studirenden um Stundung der Honorare, denn sie that jetzt erst den Schritt, nach dem Beispiel der theologischen Fakultät, sich ebenfalls der Quästureinrichtung anzuschließen, während man bis dahin das widrige Geschäft der Honorarerlegung und des dabei vorkommenden Marktens persönlich hatte durchmachen müssen. Ich erwähne diese Thatsache, weil sie beweist, daß wir jungen Leute bei aller Excentricität, welche unser Treiben für die älteren Professoren haben mochte, doch eines sehr soliden Rufes uns erfreuen mußten, wenn man uns das Vertrauen schenkte, ein solches Finanzgeschäft mit Einsicht, Billigkeit und Gerechtigkeit zu verwalten.

Es entstand damals überhaupt eine Bewegung, die man als das Vorspiel der späteren ansehen kann, die sich unter Arnold Ruge und den von ihm redigirten Halleschen Jahrbüchern vollzog.

Während des Sommers 1830 hatte Hinrichs mit Besser Mittags bei mir gegessen, weil seine Familie in Giebichenstein eine Sommerwohnung bezogen hatte. Von Michaelis 1830 hatte ich mich wieder zur Stadt Zürich gewendet und mit Rosenberger, dem Professor der Astronomie, mit Ritschl, Lorentz, Besser, Blasius, Professor der Chirurgie, und einem Mathematiker, Dr. Bahrt aus Königsberg, eine eigene Tischgesellschaft in einem großen, nach dem Hof zu gelegenen Zimmer gebildet. Scherk, Professor der Mathematik, Friedländer, Professor der Medicin – beide von Haus aus Königsberger – kamen häufig zu uns, wenn wir noch Kaffee tranken, eine Cigarre rauchten und plauderten. Dies gab Veranlassung, daß wir nun auch zuweilen Abendzusammenkünfte verabredeten, woran sich allmälig Leo, Meier, Ullmann, der Germanist Wilda, Dr. von Madai, ein Jurist, derselbe, der durch seine Ereignisse als Professor in Dorpat später bekannt wurde, Hinrichs, Rödiger, Ruge und ich weiß nicht, wer sonst noch, betheiligten. Als der Sommer kam, zogen wir schon als eine geschlossene Gesellschaft[452] alle zwei Wochen an einem bestimmten Tage nach dem Schmidt'schen Garten vor dem Ranschen Thore. Die Gesellschaft wählte mich zu ihrem Vorstande. Ich hatte den Umlauf zur Einladung und die Handhabung des Mechanismus der äußeren Ordnung zu besorgen. – Es wurden humoristisch sein sollende Vorträge gehalten und Jeder konnte, was er für besonders interessant hielt, mittheilen. Die Stadt gab uns den Spottnamen der »Gesellschaft vom ungelegten Ei.« Lorentz und Besser verloren wir leider bald, da sie als Professoren an das pädagogische Hauptinstitut nach Petersburg abgingen. Im Sommer 1832 siedelten wir die Gesellschaft nach dem Gasthaus »zur Traube« in Giebichenstein über. Als sich nun aber Leo, Blasius und ich verheiratheten, gab dies Veranlassung, im Sommer 1833 auch Damen zum Abendessen mitzubringen, und damit war die Gesellschaft, welche Ruge in seinen Memoiren der Burgundergesellschaft in der Sonne zu Jena verglichen hat, schon so gut als aufgelöst. Als ich im Sommer 1833 Halle verließ, kam zwar Herr von Madai an meine Stelle, aber die Epoche, welche jene sociale Welle erzeugt hatte, war vorüber, und es entstand eine ganz neue Parteibildung in Halle. Leo verfaßte einmal komische Statuten einer Verfassung der Gesellschaft vom ungelegten Ei, die er in alterthümlicher Weise mit einem Titel in rothen und schwarzen Buchstaben drucken ließ. Er faßte ihre Weisheit zuletzt in die Generalregel des alten Sprüchworts zusammen: O Jüngling, wasch den Pelz, doch mach' ihn dir nicht naß! Das konnte man von der Gesellschaft überhaupt sagen. Es herrschte in ihr eine dumpfe geistige Gährung, die zu keiner Klarheit gelangte, kein irgend bedeutendes Resultat ergab, doch aber Regsamkeit genug besaß, durch ihr Treiben die alten Herren zu beunruhigen. –

Ich war von dem Buchhändler Reineke mit meinem Verlag zu Anton übergegangen, dessen Laden am Markt, dicht neben der Waage lag und der selber noch ein junger, unternehmender Mann war. Er wurde auch der Verleger von Lorentz, Leo und Burmeister. Von Zeit zu Zeit lud er uns Sonntags zu kleinen Mittagessen ein, nach deren Beendigung wir zur sommerlichen Zeit den Kaffee bei ihm im Garten tranken. Dies waren oft sehr vergnügte Stunden, in denen es auch zu recht ernsten Gesprächen kam. Anton besaß auch eine schöne Muschelsammlung,[453] die mich, da ich selber Sammler in diesem Fach gewesen war, lebhaft interessirte, und Burmeister, obwohl er sich damals mehr mit den Insekten beschäftigte, zu manchen lehrreichen Auseinandersetzungen veranlaßte. Anton faßte eine große Neigung zu mir, die er mir durch sein ganzes Leben bewahrt und gelegentlich auch bethätigt hat. Als Lorentz nach Petersburg abging, überredete er mich, das Secretariat der Thüringisch-Sächsischen Alterthumsgesellschaft, das er bis dahin bekleidet hatte, zu übernehmen. Er schlug mich dem Präsidium vor, auf dessen Antrag ich einging. An der Spitze des Vereins stand als Protector der Kronprinz Friedrich Wilhelm. Dann folgte der Präsident, Oberberghauptmann von Veltheim; diesem der Vicepräsident Dr. Weber, ein Arzt. Unter mir hatte ich einen besoldeten Secretariatsadjuncten, einen alten Candidaten der Theologie, Wiltzsch, und eine Botenfrau Gesner, welche das Geschäft ihres verstorbenen Mannes für den Verein fort setzte. Auf einem langen Corridor der schon mehrfach erwähnten Residenz befand sich eine Reihe von Zimmern, in denen die Sammlungen des Vereins aufgestellt waren. Ein großes salonartiges Zimmer enthielt die Bibliothek, einige mittelalterliche Kunstwerke und einige Oelgemälde, unter denen – mir unerklärlich, wie sie dahin gekommen – sich auch eine Copie der Jo Coreggio's befand. Die kleinen Gemächer waren mit Repositorien angefüllt, auf deren Brettern die Aschenkrüge, Waffen, Zierrathen aufgestellt waren, die sich bei Ausgrabungen gefunden hatten. Es war die Romantik des Mittelalters, welche mich verführte, mich auf diese Welt einzulassen. Anfangs gab mir auch die Musterung der Bibliothek und der alterthümlichen Gegenstände eine anregende Unterhaltung. Ich fand den Verein in gänzlicher Verwahrlosung, die mich anreizte, ihn neu zu organisiren. Das Präsidium kümmerte sich um nichts. Es ließ mich schalten und walten, wie ich wollte. Dr. Weber bezeigte noch am meisten ein sachliches Interesse. Der Verein hatte früher unter dem Secretariat des Professors Kruse eine Zeitschrift herausgegeben. Mit seinem Abgang nach Dorpat hatte sie aufgehört, und seitdem war der Verein so verfallen, daß die spärlich einlaufenden Beiträge kaum hinreichten, die Kosten für Herrn Wiltzsch, Frau Gesner und die Bibliothek zu tragen. Ich beschloß also, den Verein durch ein neues Organ wieder[454] zu beleben und überredete Anton, dasselbe unter dem Titel: »Neu Zeitschrift für die Geschichte der Germanischen Völker« in vier jährlichen Heften herauszugeben. Im ersten Heft motivirte ich mein Vorhaben ausführlich. Sofort zeigte sich auch die Wirkung. Eine Menge von Vereinen – bis nach Kopenhagen hin – ernannte mich zu ihrem Ehrenmitglied.

Auch an Beiträgen fehlte es nicht, aber das Wenigste davon war zu gebrauchen. Aus Westphalen namentlich wurde ich mit Nachweisen von Pastoren und Gutsherren überschüttet, daß in ihrer Gegend die Hermannsschlacht stattgefunden haben müsse. Eine Hauptrolle spielt dabei der Name Blutbach (Blootbeek), welchen die Herren auf eine Stelle im Tacitus, auf das vom Blut der Kämpfenden geröthete Wasser bezogen. Allein dieser Name kommt oft vor, weil er von dem Blut der Opferthiere herrührt, das von einer Rinne am Altar in den nächsten Bach abfloß. Ohne Wasser in der Nähe war ein Opferplatz für Thiere nicht möglich. Viele Briefe forderten auch Unterstützung, um Hügel aufgraben zu lassen, in denen man Gräber vermuthete. Da der Verein aber so gut wie keine Mittel besaß, so verdroß es mich bald, immer ablehnend antworten zu müssen. Diese breite und inhaltlose Correspondenz, die oft vergeblichen Versuche zur Einziehung der restirenden Beiträge, die Anordnung und Correctur der Hefte der Zeitschrift nahmen mich so in Anspruch, daß ich nicht dazu kam, selber eine Arbeit beizusteuern, obwohl ich mich mit einigen sehr schönen Entwürfen, namentlich mit dem einer Archäologie des Deutschen Mittelalters, trug. Auch eine Vergleichung der noch vorhandenen Glaubensbekenntnisse der Germanischen Völker lag mir am Herzen.

Eines Morgens erschien im schwarzen Frack, einen Orden im Knopfloch, ein Herr von sehr eleganten, weltmännischen Manieren bei mir, mit der Bitte, ihm die Sammlungen des Vereins zu zeigen, was auch geschah, und wobei er vielerlei Kenntniß solcher Dinge an den Tag legte. Es war der Hofrath Dr. Dorow. Dieser Mann war aus Königsberg gebürtig, wo er mich auch späterhin noch besucht hat. Er hatte eine abenteuerliche Laufbahn durchmessen, halb Diplomat, halb Gelehrter. Er hatte sich immer auf Reisen in Europa umhergetrieben und überall, nach Oben wie nach Unten, Bekanntschaften gemacht.[455] Er war ohne alle Productivität, aber er verstand es, Briefe und Manuscripte zu sammeln und Andere arbeiten zu lassen. Diese Miscellen übergab er dann dem Druck und gelangte dadurch auch zu einem literarischen Rufe. So war er z.B. in Toscana gereist, hatte dort viele Gräber untersucht und beschrieben, die Berichte hierüber nebst den Zeichnungen, die er hatte machen lassen, an den berühmten Archäologen Raoul Rochette in Paris gesandt, und sie dann mit gelehrten Bemerkungen, sowie mit einem Heft von lithographirten Zeichnungen als eine Voyage en Etrurie drucken lassen. Dieser Mann nun lebte im Sommer 1832 zu Merseburg bei seinem Freunde, dem Hofrath Römer, mit welchem er unter Hardenberg's Ministerium gemeinschaftlich beschäftigt gewesen war. Im Schloßgarten von Merseburg befindet sich ein altes Grab, das auch schon viel gezeichnet und beschrieben war. Als Dorow es kennen lernte, verlieh er ihm eine ganz außerordentliche Wichtigkeit. Er bewog den Verein, eine neue, größere und vollständigere Zeichnung in farbigem Steindruck machen zu lassen und sandte sie an seinen Freund, Freiherrn August von Haxthausen in Westphalen. Dieser schrieb ihm darüber, daß das Grab kein Germanisches, sondern das eines Heerführers Attila's sei, als derselbe auf seinem Zug nach Frankreich durch Thüringen gekommen. Als Honorar für diese Arbeit, welche Dorow in meiner Zeitschrift herausgab, wurden hundert Separatabdrücke nebst den Zeichnungen ausbedungen, welche Dorow und Haxthausen in die weite Welt versandten. Auch hier hatte Dorow nur eine formelle Thätigkeit geübt, allein sein Name hatte sich wieder geltend gemacht. Da die Kosten dieses Unternehmens durch die Steindrücke zuletzt weit über die Mittel des Vereins hinausliefen, so war das Ende vom Liede, daß ich, um nur Frieden zu haben, noch einige sechszig Thaler aus meiner Tasche opferte.

Diese Erfahrung war nicht sehr ermuthigend. Anton kam mit dem Verlag auch auf keinen grünen Zweig. Aus den Sammlungen konnte ich auch keinen geistigen Gewinn ziehen. Da stand ich manchmal vor den Todtenurnen. Meine Hand hielt den Staub einer vor Jahrhunderten verbrannten Leiche zwischen den Fingern. Dieser Zusammenhang der Gegenwart mit einer weit entlegenen Vergangenheit war romantisch, aber inhaltlos. Ich nahm die Kopfringe und Spangen[456] in die Hand, welche das Haupt eines Priesters geschmückt haben konnten. Ich berührte die angebrannten Getreidekörner, die in den Spalten eines Altarsteins gefunden waren, mit Gedanken an die von mir beschriebene Naturreligion. Aber das war auch Alles. Die weißen oder rothen Streifen und Zickzacklinien auf den Aschenkrügen, aus denen Dorow so viel machte, ließen mich in ihrer Rohheit ganz kalt. Die Schlüsse, welche Dorow aus ganz kleinen Modificationen derselben für die Unterscheidung verschiedener Stämme ziehen wollte, schien mir äußerst problematisch. Wir treffen solche rohe Anfänge einer linearen Ornamentik auf einer gewissen Culturstufe in ganz ähnlicher Form bei allen Völkern.

Eine Zeitschrift, welche kein Honorar zahlt, sondern von zufälligen Beiträgen abhängt, kann nur unter sehr günstigen Umständen etwas Gutes leisten. Von allen namhaften Gelehrten, die mir zuerst ihre Theilnahme zugesagt hatten, war Freund Leo der einzige, der mir eine Abhandlung über die Ahnen Karl's des Großen beisteuerte. Ich verschwor es, je wieder die Redaction einer Zeitschrift zu übernehmen und habe von so vielen guten Vorsätzen, denen ich doch wieder untreu wurde, wenigstens diesen gehalten, obwohl mir später oft sehr lockende Anerbietungen gemacht wurden. Ich beschloß die Zeitschrift mit dem vierten Heft und legte auch das Secretariat am Ende des Jahres 1832 nieder. Indessen hatte mein Versuch wenigstens eine frische Anregung gegeben, so daß der Bibliothekar, Dr. Förstemann, der an meine Stelle trat, die Zeitschrift unter etwas veränderter Gestalt wieder aufnehmen konnte.

Halle sollte nun auch ein Universitätsgebäude erhalten. Die Feier seiner Grundsteinlegung habe ich noch mitgemacht. Der Bauführer Stapel, ein Berliner, ein sehr liebenswürdiger Mann, der auch ein guter Landschaftmaler war und von seinen Reisen ein interessantes Album zusammengebracht hatte, wurde mir und dann auch meiner Frau befreundet. Auch ein Museum mit einem Lese- und Sprechzimmer, wo auch das Rauchen erlaubt war, wurde durch Professor Blume, dem bekannten Juristen, eingerichtet. Auch Ballabende schlossen sich im Winter diesem geselligen Institute an. Das war für Halle, wo bis dahin der Berg an der Moritzburg der einzige Vereinigungspunkt der besseren Gesellschaft gewesen war, ein großer Fortschritt. Das Museum miethete die oberen Räume des Rathskellers und wir Jüngeren unterstützten[457] Blume aus allen Kräften. Er wollte auch die Studirenden zur Theilnahme heranziehen, stieß aber hier bei den Corps auf Widerstand, weil sie darin eine Absicht witterten, ihrem wilden Gebahren in Trinkgelagen und Raufereien entgegenzutreten. Blume sollte gesagt haben, er hoffe, daß das Museum die Sitten der Studirenden geschliffener machen würde. Die Corps ließen nun einen Pfeifenkopf mit einer Caricatur verfertigen. In der Mitte des Bildes stand ein Schleifstein. Links von ihm Blume im schwarzen Frack, hinter dem Schleifstein die Gesenia, d.h. die hübsche Tochter des Professors Gesenius, die eine sehr beliebte Tänzerin war. Rechts stand der Pedell Hänisch und bog einen Studenten im Flauschrock zum Schleifstein hinab. Sein Cereviskäppchen lag neben ihm auf dem Boden und seine langen Haare strudelten auf den Stein hinab. Fräulein Gesenius drehte die Kurbel desselben. Unter dem Bilde standen die Worte:


»Wie ein Hallenser Student geschliffener wird.«

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 442-458.
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