V.
Melancholie des Jünglings. Karl Immermann.

[141] Die Reise nach Göttingen hatte mir einen großen Stoff neuer Anschauungen gegeben, den ich aber damals nicht weiter verarbeitete. Ich verfiel in eine ganz melancholische Stimmung. Buschmann war Ostern nach Berlin, Nöldechen, Volk und Oppermann nach Göttingen abgegangen. Eben hierhin ging Michaelis auch Klee ab. Ich fühlte mich mit Simon vereinsamt. Das Pädagogium war in einem tiefen Verfall. Hennig liebte es, statt mit uns hebräisch zu treiben, den größten Theil der Stunde mit uns über die andern Lehrer zu sprechen und uns durch seine hämisch witzige Kritik zu corrumpiren. Er erschütterte unsere Achtung und unser Vertrauen allmälig bis dahin, daß wir uns recht mißbehaglich fühlten und uns danach sehnten, aus diesem Zustand herauszukommen. Ich halte diese Bekrittelung der anderen Lehrer von einem Lehrer mit Schülern, welche er durch seinen Vorgang auffordert, ihm alle von ihnen ausgespäheten Schwächen und Lächerlichkeiten seiner Collegen zuzutragen, für eine pädagogische Sünde. Selbst wenn sie die Wahrheit trifft, nützt sie dem Schüler nichts. Wohl aber raubt sie ihm die Ehrfurcht vor aller Autorität und reizt ihn zu einem falschen Uebermuth.

Ich suchte nach einem höheren Anhalt, als mir die Schule bot. Ich war von der Lectüre und Nachahmung Ernst Schulze's zu Schiller fortgeschritten. Cotta veranstaltete in jener Zeit die erste Gesammtausgabe seiner Werke in Duodez. Mein Vater pränumerirte sofort darauf. Es war ein nationales Ereigniß, von welchem man jetzt, wo Schiller's Werke für ein paar Thaler zu kaufen sind, gar keine Vorstellung[142] hat. Ein Schauspiel: die Bürgschaft, hatte ich nach Schiller's Ballade in drei Acten schon hinter mir. Buschmann war schon zur Tragödie vorgeschritten. Ich wollte nicht zurückbleiben und nichts Geringeres, als eine Nachahmung des Wallenstein versuchen. Wo aber den Stoff hernehmen? Da für mich die germanischen Stämme der Völkerwanderung damals so hoch standen, so ist es nicht zu sehr zu verwundern, daß ich darauf kam, die Geschichte des westgothischen Königs Wamba zu dramatisieren. Der Contrast dieses tapfern und edlen Mannes mit seinem pietistischen Vorgänger Reckared, sein Kampf gegen die Saracenen, welche Spanien schon mit einer Landung bedrohten, sein früher Untergang, schienen mir sehr günstige Momente darzubieten. Ich fing im Herbst 1822 mit einem Vorspiel an: das Lager der Westgothen vor Toledo. Es war ein Abklatsch des Schiller'schen Wallensteinschen Lagers. Ein Volkssänger, welcher die Thaten des jugendlichen Ostgothen Theodorich gegen Byzanz pries, und ein Soldatenlied, als Pendant zu dem Schiller'schen Reiterliede, fehlte natürlich auch nicht. Das Stück selbst aber bekam ich nicht fertig, weil ich noch nicht hinlängliche Erfahrung für dramatische Arbeit hatte. Da es im Drama vor Allem auf Handlung ankommt, so muß der Dichter den Plan des Ganzen, Act vor Act, Scene vor Scene, fertig machen, bevor er an die Ausführung geht. Diese muß er in continuirlicher Folge niederschreiben, weil immer Scene aus Scene entspringen soll. Jedes Wort, das gesprochen wird, gestaltet sich zu einer Bedingung für den weiteren Verlauf. Nun entwarf ich auch einen Plan, ließ mich aber verführen, diejenigen Scenen, die eine vorzügliche Wirkung versprachen, außer dem Zusammenhang zu bearbeiten. Ich fing die Ausführung z.B. mit einem, nach meinem Sinne, prachtvollen Monolog Wamba's an, der den Schluß des dritten Actes ausmachen sollte. Wenn ich ihn mir mit wanderschütterndem Pathos vordeklamirt hatte, bildete ich mir ein, die Zuhörer müßten ebenso davon ergriffen werden, als ich es selbst war. Im weiteren Verlauf der Arbeit stockte ich jedoch so oft, daß ich sie zuletzt aufgab.

In eben jener Zeit war ich auch mit Novalis bekannt geworden Galt er doch in der romantischen Schule für den Propheten, in welchem Philosophie, Religion und Poesie sich auf das Tiefste vereinigten.[143] Die Hymnen an die Nacht, die Lehrlinge von Sais und Heinrich von Ofterdingen übten auf mich einen grenzenlosen Zauber. Auch die schwärmerische Mystik der religiösen Lieder Hardenbergs ging mir zu Herzen. Die Fragmente desselben beschäftigten mich dermaßen, daß ich nach meiner encyklopädischen Art später damit umging, aus ihnen die verschiedenen Wissenschaften herzustellen. Ich kaufte mir Novalis Werke und fing an, die Fragmente mit Nummern und mit Buchstaben zu versehen, welche die jedesmalige Wissenschaft bezeichnen sollten, wohin das Fragment gehörte. Bald aber zeigten sich unerwartete Schwierigkeiten. Einmal wußte ich oft nicht in welche Kategorie ein Satz eigentlich zu bringen sei. Novalis durchbrach mit seinem Standpunkt die Grenzen, welche die Wissenschaft der Aufklärung für die verschiedenen Gebiete des menschlichen Erkennens gezogen hatte, mit revolutionärer Ahnung. Sodann aber zeigte es sich, daß ich die Fragmente, die ich einer gewissen Provinz als gemeinsam zuweisen konnte, unter sich selbst wieder ordnen mußte, wenn sie einen Zusammenhang gewinnen sollten.

Hier befand ich mich in größter Verlegenheit, weil ich offenbar noch nicht gebildet genug war, das Rechte zu treffen.

Ich wußte ja noch gar nicht, daß ich hier mit Schelling'scher Naturphilosophie zu thun hatte. Das bloße Zusammenstellen der Sätze gab auch noch nicht, was ich eigentlich in einem dunklen Drange ersehnte, nämlich eine Erkenntniß, denn es fehlte die Entwickelung. Ich hatte in den Sätzen mit lauter Resultaten zu thun, die mich unendlich frappirten, mir in ihrem Ursprung jedoch unklar blieben. Z.B. Novalis sagt: »Das Thier ist eine brennende Pflanze«. Ungefähr verstand ich dies, aber ich wußte doch nicht, was ich wissenschaftlich daraus machen sollte. Ich wurde leider bei diesem Mysticismus durch gar manche Einwirkungen lange festgehalten.

In damaliger Zeit war es ein Amtmann Eisfeld, der wegen eines Staatsvergehens auf der Citadelle saß, jedoch die Stadt besuchen durfte und meinem Vater empfohlen war. Dieser Mann kam nun öfter Sonntags zu uns und ließ sich auch mit mir ein. Seine Hauptidee war, in den Tönen einer Sprache auch die Bedeutung der Wörter wiederzufinden, d.h. das sogenannte onomatopoetische Prinzip auf die gesammte Wortbildung auszudehnen. Dies ist ein Irrthum, der sich[144] von Zeit zu Zeit immer wieder erneuerte. Die Versuchung im einzelnen Laut als dem einfachsten Element des Wortes eine Verwandtschaft mit dem Inhalt der Vorstellung zu finden, welche das Wort bezeichnet, liegt nahe. Schon zu Plato's Zeit, wie uns sein Dialog Kratylos zeigt, hat es nicht an solchen Experimenten gefehlt. Innerhalb einer einzelnen Sprache, oder, wenn man weiter gehen will, innerhalb eines Sprachstammes, der sich in mehrere Sprachen verzweigt, wird sich eine gewisse Analogie der Lautgestaltung für gewisse Gruppen von Vorstellungen befestigen können, allein in anderen Sprachen werden dieselben Vorstellungen durch ganz andere, oft entgegengesetzte Laute ausgedrückt werden. Die Klangnachahmung selber hat nur einen beschränkten Umfang für alles Hörbare. Das Sichtbare, welches nicht zugleich hörbar ist, wie die Farbe oder die in sich ruhende Gestalt, geht schon über die Klangnachahmung hinaus. Der noch höhere Kreis aber von rein psychischen Affecten und der noch abstractere von reinen Verstandesbegriffen ist schon völlig gleichgültig gegen seine Lautform. Der Amtmann Eisfeld hatte sich aus einem beschränkten Sprachgebiet einen Vorrath von Wörtern gesammelt, mit dem er mir zuerst imponirte; weil mir überhaupt der ganze Gedanke durch ihn als ein neues Problem entgegengebracht wurde. Ich ward ihm bald unbequem, weil ich etwas Hebräisch wußte; während er nur die alten Sprachen, das Romanische und Deutsche zur Beweisführung verwenden konnte. Wären die Vorstellungen mit gewissen Lauten ursprünglich homogen, so müßten folgerecht alle Sprachen im Grunde die nämlichen Laute für die nämlichen Vorstellungen erzeugen, was keineswegs der Fall ist.

Eisfeld legte einen großen Nachdruck auf die Vocale. Gerade für sie aber konnte ich ihm aus dem Hebräischen nachweisen, daß der Vocal gegen die Bestimmtheit des Consonanten als ein sehr flüssiges, verwandelbares Moment untergeordnet ist. Die Vocale schwanken in einander hinüber. Ich brachte schließlich aus diesen Sonntagsunterhaltungen, die sich einige Monate hindurch erneuerten, nichts als eine geschärfte Aufmerksamkeit auf die musikalische Seite der Sprache heraus. Die Art und Weise aber, wie Eisfeld seine Ansicht vortrug, hatte etwas Geheimnißvolles, was mit den Mysterien des Novalis sich sehr wohl vertrug.[145]

Da Novalis selber für die Fortsetzung seines Heinrich von Ofterdingen ein Programm hinterlassen hatte, so stand der Entschluß, diesen Roman fortzusetzen, sehr bald bei mir fest. Es fiel mir gar nicht ein, daran zu zweifeln, daß ich dies vermöchte. Da ich mich so viel mit dem Mittelalter beschäftigte, so schien mir diese Aufgabe recht für mich gemacht, mein Wissen vom Orient und Occident an den Mann zu bringen und in eben so schönen Worten und Perioden, wie Novalis, Begebenheiten, Charaktere und Gegenden zu schildern. Ich wollte die Fortsetzung gleich im Morgenlande beginnen lassen. Das Kaschemirthal war damals der Ort, wohin man den paradiesischen Anfang der Menschheit zu verlegen pflegte. Diese Scenerie wurde auch ausgeführt, da ich in Reisebeschreibungen wohl bewandert war. Ich ließ Ofterdingen hier, an den Ufern des Behatstromes, in dem Palast eines indischen Fürsten als Gefangenen auftreten und hier mit der uralten Weisheit des Morgenlandes, von welcher ich durch Friedrich Schlegel's Buch von der Weisheit und Sprache der Inder, die höchste Vorstellung hegte, mit Brahmanen in Verkehr treten. Ueber diesen glänzenden Anfang kam ich aber nicht hinaus. Novalis hatte seinen Heinrich zu einem idealen Culturmenschen machen wollen, der auch dem Handel, überhaupt dem werkthätigen Leben, nicht fremd bleiben sollte. Auch die Arbeit sollte als ein priesterliches Amt idealisirt werden. So sollte nun Heinrich bei mir mit einer Karavane als der Urform des orientalischen Völkerverkehrs weiter gelangen, ich weiß nicht mehr wohin, aber dabei blieb es auch.

Es war dies im Herbst 1822 nach meiner Krankheit. Die weiche Stimmung, welche ihre Schwäche bei mir zurückgelassen hatte, harmonirte mit der Sehnsüchtigkeit der romantischen Muse. Es war mir aber fast gleichzeitig noch ein anderes Element eingeimpft worden, welches sich mit dem Mystischen und Orientalisirenden von Novalis nicht vertrug. Dies war das Heinse'sche. Heinse war von Wieland ausgegangen. Von diesem hatte ich Oberon, Idris und Zenide, Geron den Adlichen, Pervonte, Musarion und noch einiges Andere gelesen, weil es mit meiner Vorliebe für die mittelalterliche Dichtung zusammenhing.

Auch von seinen Nachahmern, Müller und Alxinger, hatte ich die Rittergedichte gelesen. Daß sie mich im Innersten recht ergriffen hätten,[146] müßte ich lügen. Nun gerieth ich aber auf Heine's Briefwechsel mit Gleim und Wieland. Der wilde Drang dieses Kraftgenies entzückte mich. Seine Beschreibung der Bilder der Düsseldorfer Gallerie namentlich der Amazonenschlacht von Rubens, seine Schilderung des Rheinfalls u.s.w. rissen mich hin. Als ich daher auf einer Auction Ardinghello in der Originalausgabe kaufen konnte, zögerte ich nicht. Ich verschlang seine Lectüre. Der Erdgeist fuhr in alle meine Sinne. Die Macht der bildenden Kunst, die Schönheit der antiken Statuen, entschleierte sich zuerst meinem Blick, aber auch der Genuß, welchen der Reiz der nackten Gestalt gewährt. Heinse unterrichtete mich, hier mit ganz anderen Augen zu sehen, als ich bis dahin gewohnt war, wo ich entweder ganz unbefangen geblieben war, oder dem weiblichen Geschlecht gegenüber bei näherer Berührung mit ihm, z.B. beim Tanz, mich mit Verschämtheit benommen hatte. Er malte nicht mit schelmischer Lüsternheit, wie Wieland, sondern predigte das Naturevangelium mit einer gewissen Andacht und Kühnheit, die mich verwirrte. Er machte nicht viel Worte, aber er entflammte die Sinnlichkeit durch die Offenheit und Keckheit seiner üppigen Situation. In den vielen Betrachtungen über die Sculptur, welche seinem Ardinghello einverleibt sind, zog er das Winkelmann'sche Kunstideal zu einem naturalistischen Zerrbilde herunter. Er trat aber mit einer solchen Sicherheit, ich möchte sagen, Unschuld und Begeisterung auf, daß ich ihn damals weit über Wieland stellte, dessen Agathon ich wiederholt angelesen hatte, ohne ihn je zu Ende zu bringen.

Man kann sich vorstellen, in welche Kämpfe ich verstrickt wurde. Heinse predigte Natur, Novalis predigte Natur. Bei jenem aber wurde sie Fleisch in der schönen Göttin der Liebe, während sie bei diesem in einer mir zwar unbegreiflichen, eben deswegen aber um so spannenderen Verklärung endigen sollte. Ich schwankte zwischen dem sanften Druck einer warmfühlenden Mädchenhand und zwischen dem ekstatischen Seherblick der Augen der himmlischen Sophie unglückselig hin und her. Jetzt ist es mir nicht mehr zweifelhaft, daß in der Religion, wie Novalis sie faßt, auch die Wollust, selbst in der Form des Schmerzes, ein sehr bedeutender Factor ist. Seine Hymnen an die Nacht, die ich so oft mit tausend unbestimmten Ahnungen las, ohne sie je recht verstehen[147] zu können, athmen eine ungeheure Wollust, die sich nur im Zeugen von Welten, wie eine indische Gottheit, genug thun könnte.

In dieser Noth erschien mir eine außerordentliche Hülfe. Es war die nähere Bekanntschaft mit Göthe's Schriften. Von diesen hatte ich bis dahin nur oberflächlich Notiz genommen. Der Cultus unseres ganzen Hauses war Schiller zugewendet, der uns auch auf dem Theater zugänglich war, wohingegen von Göthe auf einer Provinzialbühne, wie die Magdeburger, damals gar nichts aufgeführt wurde. Volk hatte sich den Faust gekauft, eine auf schlechtem Papier mit lateinischen Lettern schlecht gedruckte Originalausgabe von 1809 in Duodez. Kurz zuvor, ehe er nach Göttingen abging, borgte er sie mir Ende April 1823, nachdem er mir Wunderdinge von dem Gedicht mitgetheilt hatte. Ich brachte zwei Tage hinter einander an der Lectüre zu, die mich, wie auf Flügeln, in eine neue Welt erhob. Ohne, daß ich ein Bewußtsein darüber gehabt hätte, ergriff mich die Situation, von welcher Faust ausgeht, die Verzweiflung des Idealismus, dessen Magie Geister beschwört, und der Uebergang von hier zum Realismus der Wirklichkeit, wie sie einmal ist, auf das Tiefste. Hier schlugen Worte an mein Ohr, die mich ermuthigten, durch äußerste Entzweiung hindurch Versöhnung zu hoffen. Von hier ab habe ich, wie man weiter sehen wird, der ganzen Faustliteratur eine stete Aufmerksamkeit zugewendet.

Ich fing aber auch an, ruckweise mehr von Göthe zu lesen. Es mag das auch ganz gut gewesen sein, da er mir viel schwerer als Schiller zu fassen war. Göthe's Productionen sind von einer so großen Mannichfaltigkeit, daß ein Gymnasiast, der noch dazu, wie ich, durch tausend andere Eindrücke zerstreut wurde, sie sich nur im geringen Grade aneignen kann. Zu Göthe's Romanen kam ich erst in Berlin. Bald nach dem Faust las ich in einer alten Ausgabe von 1787 Gedichte, die Mitschuldigen, Iphigenie, den Triumph der Empfindsamkeit und im Herbst die Elegien. Was mir sogleich auffiel, war die ganz andere Behandlung der griechischen Mythologie, als bei Schiller. Bei diesem ist sie zur höchsten denkbaren Wiedergeburt durch das Humanitätsideal gelangt.

Noch jetzt, in meinem Greisenalter, kann mich die malerische und zugleich seelenvolle Weise, wie Schiller die griechischen Götter uns vergegenwärtigt,[148] mit einer unaussprechlichen Wonne erfüllen. Bei tausend Anlässen kommen mir seine Worte in's Gedächtniß. Auch ein Gymnasiast, welcher mit der Ilias und Odyssee viel Arbeit hat, wird überwältigt und auf die Höhen der Menschheit gerissen, wenn er den Schluß des Spazierganges liest:

»Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns.«

Die melancholische Stimmung, von der ich oben sprach, wurde durch unsere häuslichen Zustände sehr gefördert. Meine gute, geliebte Mutter war immer kränklich gewesen. Wir waren daran gewöhnt. Ihr Geist erhob sich immer siegreich über ihre Leiden. Sie las viel; zuletzt einen Roman von Benzel-Sternau: der alte Adam, eine neue Familiengeschichte. Um sich mit uns darüber unterhalten zu können, mußten wir Kinder ihn auch lesen. Der Jesuitismus, dessen Schleichwege darin mit großer Sachkenntniß geschildert werden, interessierte sie auf das Lebhafteste. Wir sprachen von dem Jesuiten Bleimann endlich wie von einer Person, die wir selber gekannt hätten. Der Haß, mit welchem ich stets gegen die Jesuiten erfüllt gewesen bin, hat bei mir hier seine ersten kräftigen Wurzeln geschlagen. Die Mutter wurde nun so krank, daß sie das Bett nicht mehr verlassen konnte. Sie litt an einem Blutkrebs in der Milz. Ich ziehe einen Schleier über die schrecklichen Stunden, die wir voll Angst und Sorgen verlebten. Meine Schwester und eine Wartefrau nahmen nun mit der Kranken die eine Hälfte der Wohnung ein, ich mit dem Vater die andere. Unsere ganze Hausordnung änderte sich nun, bis die arme Dulderin Ende Januar 1824 erlöst wurde. Sie war um Mitternacht gestorben. Der am Morgen herbeigerufene Arzt erklärte, daß sie wirklich todt sei. Am Nachmittag trug ich mit der Frau Torges, der Wärterin, den Leichnam aus dem Wohnzimmer in eine große anstoßende Stube, wo wir ihn auf eine große Matratze legten und mit einer weißen Decke umhüllten. O, wie furchtbar war mir dieser Gang! Ich hatte den Leichnam am Kopfende gefaßt und blickte nun auf die lieben Augen hinunter, die sich für immer geschlossen hatten auf die lieben Lippen, die für immer verstummt waren. Nie habe ich später in Kirchen oder Bildergalerien Gemälde von der Grablegung Christi sehen können, ohne an diese schmerzliche Scene erinnert zu werden. Die Mutter hatte stets eine[149] große Angst vor dem lebendig Begrabenwerden geäußert. Als nun die Nacht kam, befiel mich in den schlaflosen Stunden der Zweifel, ob die Mutter auch wirklich todt sei, obwohl der Arzt sie dafür erklärt hatte. Ich schlief mit dem Vater in derselben Stube. Ich wagte aber nicht, ihm meine Besorgniß zu äußern. Oft war ich versucht, eine Lampe zu ergreifen, die wir schwachbrennend in eine Ecke gestellt hatten. Ich hätte aber durch mehrere Zimmer oder durch die Küche über den Hausflur gehen müssen und damit Alles allarmirt. So lag ich denn, bis der Morgen dämmerte. Kaum hörte ich aber, daß meine Schwester und die Magd aufgestanden waren, so litt es mich nicht mehr im Bett. Ich stand auf und schlich mich so unbemerkt als möglich nach dem Leichenzimmer. Mit Bangigkeit und Schaudern trat ich ein. Mit Thränen näherte ich mich dem Leichnam. Bebend erfaßte ich die Decke, die wir über ihn gebreitet hatten und hob sie zitternd ab. Nun beugte ich mich, Augen und Lippen, sowie die Finger der hingestreckten Hände ganz genau zu untersuchen, ob auch nicht irgend eine Bewegung der Lage sichtbar wäre, die eine Regung des Lebens verriethe. Außer einer Veränderung der Farbe des Gesichts, die noch bleicher geworden war, konnte ich aber nichts entdecken, was mich beunruhigt hätte. Nachdem ich der Mutter zum leßten Mal die kalte Hand geküßt, die mich ja oft gestreichelt hatte, deckte ich den Leichnam wieder zu und schlich mich wieder zur Hinterstube zurück. Dem Vater sagte ich nie etwas von diesem fürchterlichen Gange, und meiner Schwester erst, nachdem der Tag des Begräbnisses vorüber war.

Während der monatelangen Dauer der Krankheit der Mutter war von außen her eine ganz neue Anregung an mich gekommen. Der Klosterpforte gegenüber in der Klosterstraße war das Haus des Kriegsraths Immermann. Dieser treffliche Mann hatte drei Söhne. Mit dem jüngsten, Hermann, rückte ich von Klasse zu Klasse. Der mehrere Jahre ältere Bruder Ferdinand war in der oberen Klasse einer der ausgezeichnetsten Schüler, zu dem wir mit Bewunderung emporblickten. Er machte seine Studien in Halle, kam zurück und wurde noch in Prima unser Lehrer für das Deutsche. Auch das Hebräische überkam er. Der älteste Bruder, Karl, war Auditeur in Münster. Hier hatte er 1822 drei Trauerspiele herausgegeben, die sofort eifrig von uns[150] Schülern gelesen wurden. Es war: »Die Schlacht von Ronceval«, »Laura und Petrarca«, »Edwin«; das letztere ein Stoff aus der Angelsächsischen Geschichte. Man konnte unschwer die Muster auffinden, denen Immermann nachgestrebt hatte. Das Thal oder die Schlacht von Ronceval war im Styl von Ludwig Tieck's Romantik, Laura und Petrarca nach Göthe's Tasso, Edwin nach Shakespeare's historischen Dramen gedichtet. Daß aber ein Magdeburger, ein ehemaliger Schüler des Pädagogiums, sich mit solchen Productionen hervorwagte, war eine für uns ganz außerordentliche Thatsache. Das prosaische Magdeburg hatte einen Dichter hervorgebracht. Ein Vetter von mir, Heinrich Zschokke, war freilich auch ein Magdeburger. Er hatte einen Abellino, ein Seitenstück zu Schiller's Räubern, drucken lassen. Dieser Abellino, der große Bandit, wie er im Nebentitel hieß, wurde sogar noch zuweilen gegeben. Aber Zschokke war lange schon seiner Vaterstadt entfremdet. Er war Schweizer Bürger geworden. Dieser Carl Immermann dagegen kam jetzt von Münster als Criminalrath nach Magdeburg und wohnte wieder bei seinem Vater, dem Kloster gegenüber; wir sahen ihn bei seinem Bruder Ferdinand aus- und eingehen. Wir trafen ihn öfter, da dieser zu ebener Erde nach der Straße hinaus wohnte, im Zwiegespräch mit demselben vor dem Fenster; wir vernahmen von Hermann die Einzelheiten seiner Lebensweise und gelegentliche Aeußerungen. Er war sehr fleißig. Wenn ich Mittwoch und Sonnabend Morgens zwischen sechs und sieben Uhr in der Finsterniß des Winters zu seinem Bruder ging, die hebräische Bibel zu übersetzen, so sah ich schon immer sein Licht schimmern. Ich wußte, daß er dann, sich im Englischen zu üben, den Ivanhoe von Walter Scott übersetzte. Er dichtete auch zu einem Familienfeste ein kleines Lustspiel: »Die Prinzen von Syrakus«, worin er sich selbst mit seinen Brüdern schilderte. Es war ganz in der Art des Tieck'schen »Zerbino« mit der beliebten Ironie und mit ganz ungeheuerlichen Wortspielen componirt, deren wir uns alsbald bemächtigten. Die persönliche Erscheinung Immermann's hatte eine gewisse Herbheit an sich. Man fühlte, daß in dieser kräftigen Gestalt ein ernster Geist waltete, der alles Unbedeutende, Gemeine von sich abstieß und zum unerbittlichen Spott dagegen neigte.

Die Folge der so unmittelbaren Nähe dieses Mannes, mit welchem[151] ich weiterhin noch in engere Berührung kommen sollte, war, daß ich nun noch mehr Verse als sonst machte. Die Melancholie, die in mir brütete, lagerte sich auch um die Weihnachtszeit 1823 in einer Anzahl Elegien ab, worin sich der Ton des Schiller'schen Spaziergangs mit dem Ton der Göthe'schen Elegien vermischte. Als ich 1847 in einem Bande meiner Studien auch eine Auswahl aus meinen Gedichten unter dem Titel: »Metamorphosen des Herzens« drucken ließ, habe ich unter der Ueberschrift: »Antik-romantisches Aufdämmern« fünf von jenen Elegien aufgenommen.

Aber trotz dieser Elegien, trotz meiner melancholischen Stimmung, trotz des Kummers über die Todeskrankheit der lieben Mutter machte sich im Laufe des Winters bei mir auch die Lust am Komischen geltend. Ich schrieb eine Satire auf mich selbst. Ich hatte so Vieles angefangen und so Weniges vollendet. Jeder neue große Eindruck hatte mich zur Nachahmung gereizt. Ich hatte nach Voß Idyllen in Hexametern, Alcäische Oden nach Horaz, Stanzen und Sonette nach Schulze, eine nordische Erzählung mit eingemischten Versen, nach der Manier von Fouqué's Zauberring, gedichtet. Ich hatte die Hermannsschlacht in der Nibelungenstrophe besungen. Ich hatte im Winter ein Trauerspiel nach Schiller's Wallenstein angefangen. Ich hatte Novalis' Ofterdingen vollenden wollen. Und was hatte ich nicht außerdem von Arbeiten zur Geschichte der Völkerwanderung und unserer altdeutschen Literatur unternommen! Wenn nicht noch sauber geschriebene Trümmer aller dieser Tendenzen vor mir lägen, würde ich es jetzt kaum für möglich halten. Ich kann nur bedauern, so viel Kraft und Zeit an so unfruchtbare Themata verschwendet zu haben, aber der Wahn, in diesem Wust der Völkerwanderung und des Mittelalters den frischen Spuren des germanischen Geistes zu begegnen, ließ mich die Dürftigkeit des Inhalts übersehen. Ich gewann wenigstens die Freiheit, mein Treiben von seiner formellen Seite her zu verspottten. Ich dichtete nach der Art der kleinen Körner'schen, damals sehr beliebten Lustspiele auch ein solches: »Der Projectmacher«, in Alexandrinern. Ich theilte es meinem verehrten Lehrer Ferdinand Immermann mit. Und als dieser dasselbe recht beifällig aufnahm, bat ich ihn, es als Andenken von mir zu behalten, was er auch that.[152]

Es herrschte damals in Magdeburg, wie an so vielen anderen Orten, eine heftige Gährung, die nicht recht wußte, was sie wollte. Die Freiheitskriege waren vorüber, die Burschenschaft, die von einem deutschen Kaiser träumte, wurde polizeilich verfolgt; die weichlichste Empfindelei wucherte in aller Breite empor; Clauren und van der Velde wurden die Helden der Literatur, wenn auch Körner, Fouqué und Arnim neben ihnen noch viel gelesen wurden. Mein Freund Eduard Hänel, der älteste Sohn des Hofbuchdruckers in der Klosterstraße, wollte gern etwas für diejenigen thun, die höher hinausstrebten, als der Horizont des »Magdeburger Wochenblatts« damals der einzigen Zeitschrift neben der einzigen Zeitung, der Faber'schen, es erlaubte. Er begann eine Zeitschrift: »Phantasus«, gedruckt auf schönem Papier mit schöner Titelvignette. Aber bald zeigte sich, daß es an productiven Kräften in Magdeburg fehlte, das Unternehmen zu halten, und es ging nach einem halben Jahre wieder ein. Ich selbst habe nichts darin drucken lassen. In den letzten Monaten fristete das Blatt sich nur durch Auszüge aus andern Zeitschriften und aus Büchern.

In jene Elegien hauchte ich allen Schmerz einer redlich strebenden Jünglingsseele, welche mit Bangen in ihre Zukunft blickt. Einerseits lachte die Welt mich an. Ich sehnte mich, die Lust, welche sie bieten kann und welche ich so oft von den Dichtern geschildert gelesen hatte, selbst zu erfahren. Andererseits stieß mich der Zustand der Welt, so weit ich ihn schon in Erfahrung gebracht hatte, zurück. Er empörte mich durch die Niedrigkeit der Gesinnung, die ich bei so vielen Mitlebenden wahrzunehmen glaubte. Wie Hölderlin hielt ich die Griechen für das einzige Volk, welches frei und glücklich und in schöner Ausgestaltung seiner Sitte und Religion existirt habe. Dies war unstreitig eine Nachwirkung der Beschäftigung mit den alten Classikern, so wie der Lectüre der Gedichte Schiller's und seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. Vom Christenthum war nichts, als eine trübe Confusion in mir, die ich in einen Winkel meines Bewußtseins zurückschob. Ich war allerdings Romantiker, sofern ich mich für die Poesie des Mittelalters leidenschaftlich interessirte. Das Ritterthum war es, dessen Glanz mich anzog. Die Burgen und Dome wurden ästhetisch bewundert, aber es verstand sich so zu sagen von selbst, daß[153] der Glaube des Mittelalters mir als Aberglaube galt. Ein Magdeburger ist ein geborener Antipapist. Die Schriften von Herder, von Meiners, von Heeren, von Meusel ließen noch keine andere Auffassung bei mir aufkommen, trotzdem daß ich Calderon, Tasso und die Jesuiten Friedrich Spee und Jakob Balde als Poeten höchlich verehrte. Die Dogmen von der Trinität, die subtilen Unterscheidungen der Homoiusie und Homousie u.s.w. waren für mich ein undurchdringliches Dunkel. Ich hatte in der Kirchengeschichte alle dogmatischen Streitigkeiten als einen Kampf von Meinungen äußerlich in mein Gedächtniß aufgenommen, blieb aber im Innern vollkommen gleichgültig gegen sie. Als ich mich daher zum Abiturienten-Examen meldete und angeben sollte, was ich auf der Universität studiren wolle, erklärte ich mich für die Philologie. Ich staunte, daß ich trotz meiner Unsicherheit und Verworrenheit, wie ich sie wenigstens lebhaft genug emfand, aus der Prüfung mit einem glänzenden Zeugniß hervorging. Man beschenkte mich auch mit einer Prämie, welche mich in meinen philologischen Studien hülfreich und anspornend begleiten sollte. Es war die deutsche Uebersetzung von Dodwell's Reisen in Griechenland. Da ich ein Bücherliebhaber war, so erfreuten mich die beiden stattlichen Bände.

Ich muß aber das Geständniß ablegen, daß ich die selben, obwohl ich sie aus Pietät bis diesen Augenblick bewahrt habe, nie durchzulesen vermochte. Ich setzte gar manchmal an. Es schien mir eine Verpflichtung, die ich überkommen hätte. Allein die trockenen topographischen Untersuchungen, die von Hypothesen starrten und sich in's Kleine verloren, ermüdeten mich bald.

Man könnte nun nach dem Vorigen erwarten, daß ich, wie meine nächsten Freunde, nach Göttingen gegangen wäre, aber mein Vater schickte mich nach Berlin, weil dort ein Bruder meiner verstorbenen Mutter, Philipp Grüson, Professor war und weil er mich in dessen Hause am besten aufgehoben glaubte. Er bezahlte für mich ein Jahrgeld. So fuhr ich denn Ende April 1824, neunzehn Jahre alt, zwei Tage lang mit einem Hauderer, wie damals üblich, über Brandenburg, Potsdam nach der preußischen Hauptstadt.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 141-154.
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