Zweites Buch

[97] Mit Beginn der zweiten Lebensperiode, in welche jetzt das Kind eintritt, hat eigentlich die Kindheit schon ihr Ende erreicht, denn die Wörter infans und puer sind nicht gleichbedeutend. Das erstere ist unter dem zweiten mit einbegriffen und bedeutet ein Kind, welches noch nicht sprechen kann, weshalb auch der Ausdruck des Valerius Maximus »puer infans« seine volle Berechtigung hat. Allein ich werde mich unserem Sprachgebrauch anschließen und mich des Wortes Kindheit nach wie vor bis zu dem Lebensalter bedienen, für welches unsere Sprache bezeichnender Benennungen hat.

Wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger. Dieser Fortschritt ist natürlich; eine Sprache verdrängt die andere. Warum sollten sie wohl, wenn sie mit Worten auszudrücken vermögen, daß sie leiden, zum Schreien ihre Zuflucht nehmen, falls ihre Schmerzen nicht zu heftig sind, als daß sie sich durch Worte ausdrücken lassen? Fahren sie dann doch noch zu weinen fort, so liegt die Schuld an den Personen ihrer Umgebung. Hat Emil erst einmal gesagt: »Mir ist unwohl,« so werden ihm fortan nur die heftigsten Schmerzen Tränen auszupressen imstande sein.

Wenn das Kind schwächlich und empfindlich ist, so daß es von Natur um nichts in Geschrei ausbricht, so suche ich diese Tränenquelle dadurch zu verstopfen, daß ich es sich vergeblich abschreien lasse. Solange es weint, gehe ich unter keinen Umständen zu ihm; ich eile aber zu ihm,[97] sobald es sich beruhigt hat. Bald wird es sein Betragen ändern und mich durch Schweigen oder höchstens dadurch rufen, daß es einen einzigen Schrei ausstößt. Nur nach der wahrnehmbaren Wirkung beurteilen die Kinder die Bedeutung der Zeichen, für sie gibt es keine andere Art und Weise. Mag sich ein Kind noch so wehe tun, so wird es doch, wenn es allein ist und keine Hoffnung hat, gehört zu werden, in höchst seltenen Fällen weinen.

Wenn es fällt, sich eine Beule an den Kopf stößt, Nasenbluten bekommt oder sich in die Finger schneidet, werde ich ihm durchaus nicht mit bestürzter Miene sofort zu Hilfe eilen, sondern mich wenigstens eine Zeitlang ruhig verhalten. Das Uebel ist einmal geschehen, das Kind muß den Schmerz aushalten; all mein Eifer würde nur dazu dienen, es noch mehr zu erschrecken und seine Empfindlichkeit zu vermehren. Im Grunde genommen wird der Schmerz, den man bei einer Verletzung empfindet, weniger von der Wunde, als von der Furcht erregt, die uns der Anblick derselben einflößt. Diese letztere Bangigkeit werde ich ihm wenigstens ersparen; denn sicherlich wird es sich in der Beurteilung seines Schadens nach mir richten. Sieht es mich unruhig herbeieilen, um es zu trösten und es zu beklagen, so wird es sich für verloren halten; sieht es mich dagegen meine Kaltblütigkeit bewahren, so wird es auch die seinige bald wiedergewinnen und den Schaden für geheilt halten, sobald es den Schmerz nicht mehr empfindet. Unter solchen Erfahrungen entwickelt sich schon in diesem Alter in der Brust des Kindes Mut und Unerschrockenheit; durch furchtloses Ertragen leichterer Schmerzen lernt man stufenweise auch die großen ertragen.

Weit entfernt, meinen Emil sorgfältig vor jeder Verletzung, die er sich zufügen könnte, zu behüten, würde es mir vielmehr höchst unlieb sein, wenn er sich niemals wehe täte und aufwüchse, ohne den Schmerz kennen zu lernen. Leiden und Dulden ist das erste, was er lernen muß, und[98] was zu verstehen ihm am nötigsten sein wird. Es hat fast den Anschein, als ob die Kinder nur klein und schwach wären, um diesen wichtigen Unterricht ohne Gefahr erhalten zu können. Fällt das Kind der ganzen Länge nach hin, so bricht es sich doch nicht das Bein; schlägt es sich mit einem Stock, so bricht es sich doch nicht den Arm, greift es nach einem scharfen Messer, so packt es doch nicht fest zu und verwundet sich deshalb auch nicht tief. Mir ist kein Beispiel bekannt, daß man je ein sich selbst überlassenes Kind sich hat töten, zum Krüppel machen, oder einen erheblichen Schaden zu fügen sehen, vorausgesetzt, daß man es nicht leichtsinnigerweise an erhöhte Plätze oder ohne Aufsicht in die Nähe des Feuers gesetzt oder gefährliche Instrumente in seinem Bereich gelassen hat. Was soll man wohl zu diesem Arsenal künstlicher Mittel sagen, mit denen man ein Kind umschanzt, um es auf alle Weise gegen den Schmerz zu waffnen, und durch die man nichts anderes erreicht, als daß es, wenn es erwachsen ist, ihm ohne Mut und ohne Erfahrung preisgegeben ist, sich beim ersten Nadelstich schon für eine Beute des Todes hält und ohnmächtig wird, sobald es einen einzigen Blutstropfen vergießt?

Ein Beleg für unsere pedantische Lehrwut ist der leidige Umstand, daß wir uns nicht einmal enthalten können, den Kindern selbst das beizubringen, was sie aus sich selbst weit besser lernen würden, und daß wir darüber das verabsäumen, was wir allein sie lehren können. Gibt es wohl etwas Törichteres als die Mühe, die man sich gibt, sie gehen zu lehren? Hat man etwa je einen Erwachsenen gesehen, der deshalb nicht hätte gehen können, weil ihn seine Wärterin einst vernachlässigt hatte? Wie viele Leute sieht man dagegen, die lebenslang einen schlechten Gang behalten, den man ihnen schon am Gängelband beigebracht hat.

Emil wird weder Fallhüte noch Laufkörbe noch Kinderwagen noch solche Gängelbänder bekommen; von dem Augenblick an, wo er einen Fuß vor den andern setzen kann, wird[99] man ihn nur noch an gepflasterten Stellen halten und ihm schnell darüber hinweghelfen.33 Anstatt ihn in ungesunder Stubenluft verkümmern zu lassen, wird man ihn täglich mitten auf eine Wiese führen. Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln; meinetwegen mag es alle Tage hundertmal dabei hinfallen, das ist nur desto besser, denn dadurch wird er um so eher wieder aufstehen lernen. Das wohltuende Gefühl der Freiheit wiegt viele Wunden auf. Mein Zögling wird sich gewiß oft stoßen, aber gleichwohl wird er immer fröhlich und guter Dinge sein. Wenn die eurigen sich weniger oft wehe tun, so sind sie dafür auch nie Herren ihres eigenen Willens, sind stets gefesselt, fühlen sich stets gedrückt. Ich zweifle, daß der Vorteil auf ihrer Seite liegt.

Auch noch ein anderer Fortschritt, nämlich die Entwicklung und Zunahme ihrer eigenen Kräfte, nötigt sie jetzt weniger oft zum Weinen. Da sie jetzt mehr durch sich selbst vermögen, bedürfen sie fremder Hilfe desto weniger. Mit ihrer Kraft entwickelt sich gleichzeitig die Einsicht, die ihnen die Fähigkeit verleiht, dieselbe richtig zu leiten. Auf dieser zweiten Stufe beginnt eigentlich erst das individuelle Leben; nun erst gelangt das Kind zum Bewußtsein seiner selbst. Die Erinnerung erweitert die Empfindung der Identität über alle Augenblicke seines Daseins; es wird nun in Wirklichkeit ein einheitliches Wesen, das sich stets als dasselbe fühlt, und wird folglich jetzt erst des Glückes und Elendes fähig. Es ist deshalb von Wichtigkeit, daß man es von nun an als ein moralisches Wesen betrachte.

Obgleich man über das äußerste Ziel des menschlichen Lebens, sowie über die Wahrscheinlichkeit, die man in jedem[100] Lebenshalter hat, dieses Ziel zu erreichen, annähernde Berechnungen besitzt, so ist doch nichts ungewisser als die Lebensdauer jedes einzelnen Menschen; dieses höchste Lebensziel erreichen nur sehr wenige. Gerade bei seinem Beginn ist das Leben den größten Gefahren ausgesetzt; je kürzere Zeit man gelebt hat, desto weniger darf man hoffen, sein Leben zu erhalten. Von allen Kindern, die geboren werden, erreicht höchstens die Hälfte das Jünglingsalter, und euer Zögling wird also wahrscheinlich das Mannesalter nicht erreichen.

Was soll man also von der jetzigen barbarischen Erziehung denken, welche die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die einem Kind allerlei Fesseln anlegt und es gleich vom ersten Augenblick an unglücklich macht, um ihm in weiter Ferne ich weiß nicht was für ein vermeintliches Glück zu bereiten, das es vermutlich nie genießen wird? Wie könnte man, selbst für den Fall, daß diese Erziehung hinsichtlich ihres Zweckes vernünftig wäre, es ohne Unwillen mit ansehen, wie diese armen unglücklichen Wesen einem unerträglichen Joch unterworfen und gleich Sträflingen zu ununterbrochenen Arbeiten verurteilt sind, ohne sich der sicheren Hoffnung hingeben zu können, daß sie dereinst aus diesen vielen Mühen auch Nutzen ziehen werden? Die Jahre des Frohsinns vergehen ihnen unter Tränen, Züchtigungen, Drohungen – kurzum in voller Sklaverei. Man peinigt das unglückliche Kind um seines Wohles willen und will nicht einsehen, daß man dadurch den Tod herbeiruft, dessen Beute es mitten unter diesen traurigen Vorkehrungen werden wird. Wer vermag zu berechnen, wie viel Kinder als Schlachtopfer der überspannten Weisheit eines Vaters oder eines Lehrers dahinsterben? Glücklich sind alle zu preisen, welche solcher Grausamkeit entgehen! Der einzige Vorteil, den sie aus den ihnen zugefügten Leiden ziehen, liegt darin, daß sie sterben, ohne den Verlust eines Lebens zu beklagen, von dem sie nur die Qualen kennen gelernt haben.[101]

Menschen, seid menschlich, das ist eure erste Pflicht; seid es gegen alle Stände, gegen alle Lebensalter, gegen alles, was der menschlichen Natur eigen ist. Kennt ihr noch eine Weisheit außer der Humanität? Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinkt. Wer von euch hätte sich nicht bisweilen nach diesem glücklichen Alter zurückgesehnt, wo das Lächeln stets auf den Lippen schwebt und Ruhe und Frieden die Seele erfüllt? Weshalb wollt ihr diese kleinen Unschuldigen und den Genuß einer Zeit, die so flüchtig ist und eines so kostbaren Gutes, das sie nicht mißbrauchen können, rücksichtslos bringen? Weshalb wollt ihr ihnen diese ersten, so schnell entfliehenden Jahre, die ihnen nie wiederkehren werden, um deswillen mit Bitterkeit und Schmerzen vergällen, weil sie euch nicht wiederkehren können? Väter, kennt ihr den Augenblick, wo der Tod eure Kinder wartet? Hütet euch, daß ihr nicht einst bereuen müßt, ihnen die kurzen Augenblicke, welche die Natur ihnen schenkt, geraubt zu haben; tragt Sorge, daß sie die Freude des Daseins, sobald sie dieselbe empfinden können, auch unverkürzt genießen; tragt Sorge, daß sie, zu welcher Stunde Gott sie auch abrufen möge, nicht sterben, ohne das Glück des Lebens gekostet zu haben.

Wie viele Stimmen werden sich gegen mich erheben! Ich höre schon von weitem den Schrei der Entrüstung, den jene falsche Weisheit ausstoßen wird, welche uns unaufhörlich nur außer uns liegende Ziele vorsteckt, die Gegenwart beständig für nichts achtet und unablässig einer Zukunft nachjagt, die bei jedem Fortschritt, den wir machen, nur desto weiter vor uns flieht. Sie hat es stets mit Verhältnissen zu schaffen, die den unsrigen ganz fremd sind, und macht uns nur mit solchen vertraut, in denen wir uns nie befinden werden.

Man wird mir dagegen einwenden, daß gerade diese Lebensperiode die richtige Zeit sei, die bösen Neigungen des[102] Menschen zu verbessern; in dem Alter der Kindheit, wo die Strafen weniger fühlbar seien, müsse man sie gerade vervielfältigen, um ihrer im Alter der Vernunft überhoben zu sein. Allein wer bürgt euch denn dafür, daß die Ausführung dieses Planes auch völlig euren Wünschen entspricht, und daß alle diese schönen Lehren, mit denen ihr den schwachen Geist eines Kindes überladet, ihm dereinst nicht mehr Schaden als Nutzen bereiten werden? Wer bürgt euch dafür, daß ihr ihm durch all das Weh, das ihr ihm so häufig zufügt, irgend etwas erspart? Weshalb bereitet ihr ihm mehr Leiden, als sein Zustand zuläßt, ohne sicher zu sein, daß diese gegenwärtigen Leiden den zukünftigen vorbeugen? Und wie wollt ihr mir beweisen, daß diese bösen Neigungen, von denen ihr es heilen zu wollen vorgebt, sich bei ihm nicht gerade erst durch eure übel angebrachten Sorgen herausgebildet haben, anstatt eine Mitgift der Natur zu sein? Unheilvolle Fürsorge, die ein Wesen in der wohl oder übel gegründeten Hoffnung, es einst glücklich zu machen, es für die Gegenwart unglücklich macht! Wenn diese oberflächlichen Schwätzer jedoch Zügellosigkeit mit Freiheit, und ein Kind, das man glücklich zu machen strebt, mit einem Kinde, welches man verzieht, verwechseln, so will ich ihnen die Unterschiede klarmachen.

Um nicht Hirngespinsten nachzujagen, dürfen wir nicht vergessen, was uns in unserer Eigenschaft als Menschen zusagt und dienlich ist. Die Menschheit hat ihren Platz in der Ordnung der Dinge; die Kindheit hat wieder den ihrigen in der Ordnung des menschlichen Lebens. Man muß im Manne und im Kinde das Kind betrachten. Jedem seinen Platz anweisen und auf demselben befestigen, die menschlichen Triebe in Bahnen lenken, die der Natur des Menschen nicht zuwiderlaufen, ist alles was wir für sein Wohlsein zu tun vermögen. Das übrige hängt von Zufälligkeiten ab, die nicht in unserer Gewalt stehen.[103]

Absolutes Glück oder Unglück kennen wir nicht. Alles ist in diesem Leben gemischt; man genießt darin kein Gefühl ganz rein, verharrt nicht zwei Augenblicke in demselben Zustand. Geistig wie körperlich befinden wir uns in fortwährenden Schwankungen. Gutes wie Böses ist unser gemeinsames Erbteil, wenn auch in verschiedenem Maße. Der Glücklichste ist derjenige, welcher am wenigsten Not und Sorgen zu erfahren hat, der Unglücklichste, wer am wenigsten Freude empfindet. Trotz aller Verschiedenheit des Erdenloses ist es doch darin bei allen gleich, daß wir mehr bittere als freudvolle Stunden durchzumachen haben. Hienieden ist deshalb das Glück des Menschen nur ein negativer Zustand; man kann es lediglich nach der geringeren Anzahl der zu erduldenden Uebel bemessen.

Von jedem Schmerzgefühl ist der Wunsch, davon erlöst zu werden, unzertrennlich; mit jeder Vorstellung eines Vergnügens geht der Wunsch, es zu genießen, Hand in Hand. Jeder Wunsch setzt eine Entbehrung voraus, und alle Entbehrungen deren man sich bewußt wird, sind schmerzlich; aus diesem Grunde besteht unser Unglück in dem Mißverhältnis zwischen unseren Wünschen und unserer Fähigkeit, dieselben zu befriedigen. Ein empfindendes Wesen, das die Fähigkeit besäße, alle seine Wünsche zu erfüllen, würde ein absolut glückliches Wesen sein.

Worin besteht also die menschliche Weisheit oder der Weg zum wahren Glück? Nicht etwa darin, unsere Wünsche herabzustimmen, denn wenn dieselben nicht bis zu unserem Vermögen, sie zu befriedigen, gingen, würde ein Teil unserer Kräfte müßig bleiben, und wir würden uns unseres Seins nicht nach jeder Richtung hin erfreuen können; auch nicht darin, unsere Fähigkeiten zu erweitern, denn wenn sich damit gleichzeitig unsere Wünsche in noch höherem Grade steigerten, würden wir nur desto elender werden; sondern darin, daß wir unsere Wünsche, wenn sie das gehörige Maß zu überschreiten beginnen, ganz unserer Fähigkeit sie zu[104] befriedigen, anpassen und unser Wollen mit unserem Können in völligen Einklang bringen. Deshalb wird die Seele nur dann ruhig bleiben und der Mensch sich wohlbefinden, wenn alle Kräfte gleichmäßig in Tätigkeit sind.

So hat es die Natur, die alles aufs beste macht, von Anfang an eingerichtet. Unmittelbar flößt sie uns nur die zu unserer Erhaltung notwendigen Triebe ein und rüstet uns mit den zu ihrer Befriedigung hinreichenden Kräften aus. Alle übrigen hat sie im Grund unserer Seele gleichsam aufgestellt, um sie sich dort je nach Bedürfnis entwickeln zu lassen. Nur in diesem primitiven Zustand stehen Wollen und Können im richtigen Gleichgewicht. Sobald indes die virtuellen Kräfte des Menschen allmählich in Tätigkeit treten, erwacht die Einbildungskraft, die lebhafteste und tätigste von allen, und eilt ihnen allen vorauf. Die Einbildungskraft erweitert für uns im guten wie im bösen die Grenzen der Möglichkeit und erregt und unterhält folglich die Begierden durch die Hoffnung ihrer Befriedigung. Aber das Ziel derselben, das man anfangs schon erfassen zu können glaubt, flieht schneller, als man ihm zu folgen vermag; sobald man es erreicht zu haben glaubt, verwandelt es sich unter den Händen und zeigt sich in noch weiterer Ferne. Der durchmessenen Strecke schenken wir, da sie sich unseren Blicken entzieht, keine Beachtung, und die, welche wir noch zurückzulegen haben, vergrößert sich und dehnt sich unaufhörlich weiter aus. So muß man sich erschöpfen, ohne je das Ziel erreichen zu können, und je mehr wir der Genußsucht fröhnen, desto mehr flieht uns das wahre Glück.

Je weniger sich dagegen der Mensch von seinem natürlichen Zustand entfernt hat, desto geringer ist der Unterschied zwischen seinen Wünschen und seinen Fähigkeiten, sie zu befriedigen, und desto weniger ist er folglich vom wahren Glück entfernt. Er wird nie weniger unglücklich sein, als wenn er von allem entblößt scheint, denn nicht im Mangel[105] an sich besteht das Unglück, sondern darin, daß man sich des Mangels bewußt wird.

Die wirkliche Welt hat ihre Grenzen, die nur in der Einbildung bestehende ist unbegrenzt. Da wir nun die erstere nicht zu erweitern vermögen, so laßt uns die letztere einengen, denn allein aus dem zwischen ihnen herrschenden Zwiespalt entstehen alle die Leiden, die uns wahrhaft unglücklich machen. Mit Ausnahme der Kraft, der Gesundheit und eines guten Gewissens beruhen alle Güter dieses Lebens auf Ansichten; mit Ausnahme der körperlichen Schmerzen und der Gewissensbisse beruhen alle Uebel in der Einbildung. Das ist, wird man sagen ein allgemein anerkannter Satz; ich räume es ein; allein die praktische Anwendung desselben ist nicht allgemein, und gerade um die praktische Verwertung handelt es sich hier ausschließlich.

Was will man mit der Behauptung sagen, der Mensch sei schwach? Das Wort Schwäche bezeichnet eine Beziehung, eine Beziehung des Wesens, auf welche man es anwendet. Dasjenige Wesen, dessen Kraft größer ist als seine Bedürfnisse erheischen, ist stark, und wäre es nur ein Insekt oder ein Wurm; dasjenige dagegen, dessen Bedürfnisse größer sind als die zu ihrer Befriedigung erforderliche Kraft, ist ein schwaches Wesen, und wäre es ein Elefant oder ein Löwe, ein Eroberer oder ein Held, ja wäre es sogar ein Gott. Der abtrünnige Engel, welcher seine Natur verkannte, war schwächer als der glückliche Sterbliche, der seiner Natur gemäß in Frieden lebte. Der Mensch ist sehr stark, sobald er sich damit begnügt, nur das zu sein, was er ist; er ist sehr schwach, wenn er sich über die Menschheit erheben will. Bildet euch deshalb nicht etwa ein, daß ihr durch Ausbildung eurer Fähigkeiten auch gleichzeitig eure Kräfte erhöht; ihr schwächt sie im Gegenteil, wenn sich euer Stolz höhere Ziele steckt, als sie zu erreichen vermögen. Laßt uns den Radius unseres Kreises genau abmessen und im Mittelpunkt desselben wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes[106] bleiben; dann werden wir uns immer selbst genug sein und uns nicht über unsere Schwäche zu beschweren brauchen, weil wir sie nie empfinden werden.

Alle Tiere haben genau die zu ihrer Erhaltung nötigen Fähigkeiten; der Mensch allein ist mit höheren Kräften ausgerüstet. Ist es nicht eigentümlich, daß gerade diese höhere Begabung die Wurzel seines Unglücks ist? Noch in jedem Lande haben die Arme eines Menschen mehr als die notdürftigsten Subsistenzmittel zu erwerben vermocht. Wäre der Mensch weise genug, diesem Ueberschuß gar keinen Wert beizulegen, so würde er stets das Notwendige haben, da er niemals zuviel hätte. Die großen Bedürfnisse, behauptet Favorin, seien eine Folge der großen Besitztümer, und oft sei das beste Mittel, sich das, woran man Mangel leide, zu verschaffen, daß man das wieder hingebe, was man besitze.34 Dadurch, daß wir uns ewig abmühen, unser Glück zu erhöhen, verwandeln wir es selbst in Unglück. Jeder Mensch der nur den Wunsch, zu leben hätte, würde glücklich leben, und folglich würde er auch gut und rechtschaffen sein, denn welchen Vorteil könnte es ihm wohl bringen, schlecht zu sein?

Wären wir unsterblich, würden wir höchst unglückliche Wesen sein. Es ist unzweifelhaft hart, zu sterben, allein süß ist es, die Hoffnung hegen zu dürfen, daß man nicht ewig leben, und daß ein besseres Leben die Leiden des gegenwärtigen enden werde. Wer35 würde wohl, wenn man ihm die Unsterblichkeit auf Erden anböte, dieses traurige Geschenk annehmen wollen? Welche Hilfe, welche Hoffnung, welcher Trost würden uns wohl gegen die Härte des Schicksals und gegen die Ungerechtigkeiten der Menschen noch bleiben? Der Unwissende, dem es an Voraussicht fehlt, fühlt den Wert des Lebens wenig und fürchtet ebensowenig,[107] es zu verlieren; der aufgeklärte Mensch kennt wertvollere Güter, welche er um deswillen dem Leben vorzieht. Nur die Halbwisserei und Afterweisheit stellen uns den Tod, indem sie unsere Blicke nur auf ihn, aber nicht auf das lenken, was hinter ihm liegt, als das größte aller Uebel dar. Die Notwendigkeit zu sterben ist für den Weisen nur ein Grund, die Leiden des Lebens zu ertragen. Wenn man nicht sicher wäre, es einmal zu verlieren, so würde sein Erhaltung fürwahr den Preis nicht wert sein, den man dafür zu zahlen hat.

Unsere moralischen Uebel beruhen alle, ein einziges, das Laster, ausgenommen, auf Einbildung, und dieses eine hängt von uns ab. Unsere physischen Uebel zerstören entweder sich selbst oder sie zerstören uns. Die Zeit oder der Tod sind unsere Heilmittel dagegen; aber wir leiden um so mehr, je weniger wir zu leiden verstehen, und wir bereiten uns durch das Bestreben, unserer Krankheiten zu heilen, mehr Qualen, als uns deren ruhige Erduldung zuzufügen im stande wäre. Lebe naturgemäß, sei geduldig und lasse dich nicht mit Aerzten ein! Du wirst dadurch zwar dem Tode nicht entfliehen, wirst aber auch nur einmal seine Schrecken empfinden, während jene deine Einbildungskraft täglich beunruhigen und ihre lügnerischen Künste dir allen Lebensgenuß rauben, anstatt deine Tage zu verlängern. Ich muß mir immer wieder die Frage vorlegen, welch wahres Gut die ärztliche Kunst dem Menschen eigentlich bereitet hat. Einige von denen, die sie heilt, würden sterben, das ist eine ausgemachte Wahrheit; dafür würden aber auch Millionen, die sie tötet, am Leben bleiben. Mensch, spiele, wenn du gescheit bist, nicht in dieser Lotterie, wo dir alle Aussichten fehlen! Leide, stirb oder genese, vor allem aber lebe bis zu deiner letzten Stunde.

Alle menschlichen Einrichtungen sind voller Narrheit und Widersprüche. Je mehr unser Leben an Wert verliert, desto mehr beunruhigen wir uns über dasselbe. Die Greise[108] beklagen seine Flüchtigkeit mehr als die jungen Leute; sie wollen die Früchte der Vorbereitungen nicht verlieren, welche sie getroffen haben, um es recht zu genießen. Es ist freilich ein grausames Schicksal, mit sechzig Jahren zu sterben, wenn man eigentlich noch gar nicht zu leben angefangen hat. Man ist der Ansicht, daß der Mensch einen lebhaften Erhaltungstrieb besitze, und das ist unleugbar; aber man will nicht begreifen, daß dieser Trieb in der Weise, wie wir ihn fühlen, großenteils das Werk der Menschen ist. Von Natur bemüht sich der Mensch um seine Erhaltung nur insoweit, als die Mittel dazu in seiner Macht stehen; sobald ihm diese ausgehen, wird er dagegen gleichgültig und gefühllos und stirbt, ohne sich vergeblich zu quälen. Die Natur selber predigt uns als erstes Gesetz die Ergebung in unser Schicksal. Die Wilden sträuben sich ebenso wie die Tiere nur in geringem Grade gegen den Tod und erdulden ihn fast ohne Klage. Ist dieses Gesetz aufgehoben, so entwickelt sich daraus ein anderes, welches wir mit unserer eigenen Vernunft daraus herleiten können; aber nur wenige verstehen die richtigen Schlüsse zu ziehen, und diese erkünstelte und unnatürliche Resignation ist niemals so völlig und entschieden als die erste.

Vorsorge! O diese Vorsorge, die uns unaufhörlich in fremde Bahnen leitet und uns oft für Lebensstellungen vorzubereiten sucht, die wir nimmermehr erreichen werden, sie ist gerade die wahre Quelle aller unserer Leiden. Welch eine Sucht für ein so vergängliches Wesen wie der Mensch, beständig in die Ferne zu schauen, in eine Zukunft, die sich nur selten wirklich so gestaltet, und darüber die Gegenwart zu vergessen, deren er doch sicher ist! Diese Sucht ist aber um so trauriger, als sie mit dem Alter stetig wächst, und die beständig mißtrauischen, vorsorglichen und geizigen Greise lieber für den Anblick auf das Notwendige verzichten, als in einem Alter von hundert Jahren das Ueberflüssige entbehren. Deshalb hat alles in unseren Augen Wert,[109] deshalb klammern wir uns an alles an. Zeiten und Orte, Menschen und Dinge, kurz, alles, was ist, und alles, was sein wird, hat für jeden von uns eine gewisse Wichtigkeit. Die Folge davon ist denn, daß unser eigenes Ich nur den kleinsten Teil unseres Selbst bildet. Jeder dehnt sich gleichsam über die ganze Erde aus und wird im Verhältnis zu dem Umfang dieser ganzen großen Oberfläche entsprechend reizbar und empfindlich. Ist es deshalb zu verwundern, wenn sich unsere Leiden auf allen verletzbaren Punkten vervielfältigen? Wie viele Fürsten geraten doch über den Verlust eines Landes, welches sie niemals gesehen haben, fast in Verzweiflung! Wie viele Kaufleute braucht man nur in Indien anzurühren, um in Paris ein allgemeines Klagegeschrei hervorzurufen!

Ist es etwa die Natur, die den Menschen ihrem Wesen so fremde Bahnen vorzeichnet? Ist sie es, welche will daß jeder sein Schicksal von anderen erfahre und er bisweilen erst zuletzt erfahre, so daß schon mancher glücklich oder elend gestorben ist, ohne je gewußt zu haben, daß er es war? Ich sehe einen frischen, heiteren, kräftigen, gesunden Mann vor mir; man fühlt sich in seiner Gegenwart froh und glücklich; Zufriedenheit und Wohlsein lacht uns aus seinen Augen entgegen, als ein verkörpertes Bild des Glückes steht er da. Plötzlich langt ein Brief mit der Post an; der glückliche Mann betrachtet ihn; der Brief trägt seine Adresse, er öffnet, liest ihn. Mit einem Male verändert sich seine Mienen; er erblaßt, er fällt in Ohnmacht. Wieder zu sich gekommen, weint, tobt, seufzt er, reißt sich das Haar aus, bricht in lautes Klagen aus und scheint von krampfartigen Zuckungen befallen. Törichter, welches Leid kann dir dieses Papier bereitet haben? Welches Gliedes hat es dich beraubt? Zu welchem Verbrechen hat es dich verführt? Kurz, welche Veränderung hat es in dir bewirkt, um dich in den Zustand, in welchem ich dich erblickte, versetzen zu können?[110]

Wenn dieser Brief sich verirrt, wenn eine wohlmeinende Hand ihn in das Feuer geworfen hätte, so würde meiner Ansicht nach das Schicksal dieses zugleich glücklichen und unglücklichen Menschen ein eigentümliches Problem sein. Sein Unglück, werdet ihr sagen, war ein wirkliches. Nun gut, aber er fühlt es nicht. Worin bestand es also? Sein Glück, wendet ihr ein, war ein eingebildetes. Ich verstehe; nach eurer Meinung sind also Gesundheit, Heiterkeit, Wohlsein, Seelenfrieden nichts als Gebilde der Phantasie! Dann freilich ist die Wirklichkeit aus unserem Dasein verbannt und wir stehen nur unter der Herrschaft des Scheins. Verlohnt es sich dann der Mühe, sich in so hohem Grad vor dem Tode zu fürchten, vorausgesetzt, daß das bleibt, worin wir leben und werden?

O Mensch, suche dein wahres Glück in dir selbst, und du wirst dich nicht mehr elend fühlen! Halte an dem Platz aus, den dir die Natur in der Kette anweist, dann wird nichts dich aus demselben zu entfernen vermögen. Sträube dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit und erschöpfe nicht im törichten Versuch, ihr Widerstand entgegenzusetzen, die Kräfte, die dir der Himmel nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Erhaltung deines Daseins, wie es ihm gefällt und so lange es ihm gefällt, gegeben hat. Deine Freiheit und deine Macht erstrecken sich nur über das Gebiet deiner natürlichen Kräfte und nicht darüber hinaus, alles übrige ist nur Sklaverei, Illusion, Blendwerk. Sogar die Herrschaft trägt einen knechtischen Charakter, sobald sie sich auf Vorurteile gründet, denn dann hängst du wieder von den Vorurteilen derer ab, die du durch Vorurteile beherrschest. Um sie nach deinem Gefallen zu lenken, mußt du dich auch von ihrem Gefallen und Bedünken lenken lassen. Sie brauchen nur einmal ihre Denkweise zu ändern, und du wirst dann sofort deine Handlungsweise ändern müssen. Die Personen, welche in deiner Nähe leben, brauchen nur zu verstehen, die Meinungen des[111] Volkes, das du beherrschen sollst, oder der Günstlinge, die dich wirklich beherrschen, oder die deiner Familie, oder deine eigenen zu leiten, und diese Wesire, diese Höflinge, diese Priester, diese Soldaten, diese Diener, diese Klatschschwestern, ja die ganze Stufenleiter bis zu den Kindern hinab, werden dich, und wenn du an Geist ein Themistokles wärst,36 inmitten deiner Legion wie ein Kind leiten. Trotz aller Anstrengungen wird deine wirkliche Autorität nie weiter als deine wirkliche Macht reichen. Sobald du durch die Augen anderer sehen mußt, so muß sich auch folgerecht dein Wille in ihren Willen fügen. Meine Völker sind meine Untertanen, sagst du stolzen Gefühls. Aber was bist denn du? Der Untertan deiner Minister. Und was sind deine Minister ihrerseits? Die Untertanen ihrer Beamten, ihrer Mätressen, die Diener ihrer Diener. Erobert alles, raubet alles und streuet dann das Geld mit vollen Händen aus, laßt Batterien auffahren, errichtet Galgen und Räder, erlasset Gesetze und Verordnungen, vermehrt die Spione, die Söldlinge, die Henker, die Gefängnisse und die Ketten – und doch, wozu nützt euch dies alles, ihr armen Menschenkinder? Ihr werdet deshalb nicht besser bedient noch weniger bestohlen oder hintergangen, nicht unumschränkter werden. Ihr werdet beständig sagen: »Wir wollen«, und trotzdem beständig das tun, was andere wollen.

Der allein führt seinen Willen aus, welcher sich zur Vollstreckung desselben nicht fremder Arme zu bedienen braucht, woraus folgt, daß das höchste aller Güter nicht die Autorität, sondern die Freiheit ist. Der wahrhaft freie Mann will nur, was er vermag, und handelt nach eignem[112] Gefallen. Das ist mein Fundamentalgrundsatz. Es handelt sich dabei nur darum, ihn auf die Kindheit anzuwenden, und alle Regeln der Erziehung lassen sich daraus ableiten.

Die Gesellschaft hat die Schwäche des Menschen vergrößert, nicht allein dadurch, daß sie ihm das Verfügungsrecht über seine eigenen Kräfte entzogen hat, sondern vor allem dadurch, daß dieselben durch ihre Schuld unzulänglich für ihn geworden sind. Aus diesem Grund vermehren sich seine Wünsche mit seiner Schwäche, und dies ist es auch, was die Schwäche der Kindheit, mit dem Mannesalter verglichen, so grell hervortreten läßt. Wenn der Mann ein starkes und das Kind ein schwaches Wesen ist, so liegt die Ursache nicht etwa darin, daß ersterer mehr absolute Stärke als letzteres besitzt, sondern einfach darin, daß jener sich natürlich selbst genug sein kann, dieses aber nicht. Der Mann muß demnach mehr Willen, das Kind mehr Phantasie haben, unter welchem Wort ich alle Wünsche verstehe, welche nicht auf wahren Bedürfnissen beruhen, sondern sich nur mit fremder Hilfe befriedigen lassen.

Ich habe die Ursache dieses Schwächezustandes angedeutet. Hier greift nun die Natur durch die Liebe der Eltern ein; allein diese Liebe tritt sehr verschieden auf; bald zeigt sie sich in übertriebener, bald in ungenügender, bald in verkehrter Weise. Eltern, welche in bürgerlichen Verhältnissen leben, versetzen ihr Kind vor dem dazu geeigneten Alter in dieselben. Dadurch daß sie es an Bedürfnisse gewöhnen, die ihm noch fremd sind, unterstützen sie nicht seine Schwäche, sondern vermehren sie. Sie vermehren sie ferner dadurch, daß sie Leistungen von dem Kinde fordern, welche die Natur noch keineswegs verlangte, daß sie die geringe Kraft, welche es besitzt, um nach seinem Willen zu leben, dem ihrigen unterwerfen, daß sie die gegenseitige Abhängigkeit, in der sie beiderseits durch die kindliche Schwachheit, wie durch die elterliche Liebe voneinander erhalten werden, in Sklaverei des einen oder des andern Teils verwandeln.[113]

Der vernünftige Mann versteht sich in seiner Stellung zu behaupten; das Kind jedoch, welches die seinigen nicht begreift, würde sich nicht durch sich selbst in derselben erhalten können. Es findet unter uns tausend Wege, sich aus ihr zu entfernen. Es ist nun die Aufgabe derer, die seine Leitung unternommen haben, es darin zu erhalten, und diese ist fürwahr nicht leicht. Es soll weder einen tierischen noch einen männlichen Charakter zeigen, sondern es soll ein Kind sein; es muß seine Schwäche fühlen, und darf doch nicht darunter leiden; es muß abhängig sein und doch frei von knechtischem Gehorsam, es soll bitten und nicht befehlen. Es ist andern nur infolge seiner Bedürfnisse unterworfen und weil sie eine bessere Einsicht von dem besitzen, was ihm dienlich oder schädlich, für seine Erhaltung zuträglich oder nachteilig ist. Niemand, nicht einmal der Vater, hat das Recht, dem Kinde zu befehlen, was nicht zu seinem Besten dient.

Bevor die Vorurteile und die menschlichen Einrichtungen unsere natürlichen Neigungen verderbt haben, besteht das Glück der Kinder ebenso wie das der Erwachsenen in dem unbeschränkten Genuß der Freiheit; allein diese Freiheit wird bei den ersteren durch ihre Schwäche beschränkt. Wer tut, was er will, ist glücklich, sobald er sich selbst genug ist; das wird stets bei dem Menschen der Fall sein, welcher im Naturzustand lebt. Wer dagegen tut was er will, während doch seine Bedürfnisse seine Kräfte übersteigen, der ist nicht glücklich; das ist bei dem Kinde der Fall, trotzdem es sich in dem nämlichen Zustand befindet. Sogar da genießen die Kinder nur einer unvollkommenen Freiheit, derjenigen ungefähr ähnlich, welche ein Erwachsener im bürgerlichen Leben genießt. In dieser Beziehung verfällt jeder von uns, da wir einander einmal nicht entbehren können, wieder in Schwäche und Elend. Wir sind geschaffen, Männer zu werden; die Gesetze und die Gesellschaft haben uns aber wieder in den Zustand der Kindheit zurückversetzt. Die[114] Reichen, die Großen, die Könige, die sind alle nichts weiter als Kinder, welche, da sie sehen, daß sich jeder bemüht, auch die kleinste Unannehmlichkeit von ihnen fernzuhalten, dadurch allmählich wahrhaft kindisch eitel werden, und die förmlich stolz auf Dienstleistungen sind, die man ihnen, wenn sie echte Männer wären, nimmermehr erweisen würde.

Diese Betrachtungen dürfen nicht unterschätzt werden; sie sind ganz dazu geeignet, alle Widersprüche der sozialen Ordnung zu lösen. Es gibt zwei Arten von Abhängigkeit: die von den Dingen herrührende oder die natürliche, und die von den Menschen ausgehende oder die gesellschaftliche. Da die Abhängigkeit von den Dingen den sittlichen Charakter unberührt läßt, so erwächst der Freiheit daraus kein Nachteil, noch erzeugt sie Laster; dagegen bilden diese sich sämtlich aus der Abhängigkeit von den Menschen, weil dieselbe an keine bestimmte Regel geknüpft ist,37 und durch sie allein verderben sich Herren und Knechte gegenseitig. Wenn es überhaupt ein Mittel gibt, diesem Uebel in der Gesellschaft abzuhelfen, so kann es nur darin gefunden werden, daß man ohne Rücksicht auf den einzelnen Menschen allein das Gesetz walten läßt und den allgemeinen Willen mit einer wirklichen Gewalt ausrüstet, die der Aeußerung jedes Einzelwillens überlegen ist. Besäßen die Gesetze der Völker gleich den Naturgesetzen eine Unbeugsamkeit, welche keine menschliche Kraft je zu überwinden vermöchte, so würde die gesellschaftliche Abhängigkeit wieder der natürlichen ähnlich werden; man würde dann im Staat alle Vorteile des Naturzustandes mit denen des bürgerlichen Lebens vereinigen; man würde mit der Freiheit, die den Menschen von Lasten frei erhält, die Sittlichkeit verbinden, die ihn zur Tugend erhebt.[115] Erhaltet das Kind lediglich in der Abhängigkeit von den Dingen, dann werdet ihr bei seiner Erziehung die Gesetze der Natur befolgen. Setzt den launenhaften Kundgebungen seines Willens nur physische Hindernisse oder solche Strafen entgegen, die als Folgen seiner Handlungen zu betrachten sind, und deren es sich bei gegebener Gelegenheit wieder erinnert. Haltet euch nicht lange mit dem Verbot, etwas Böses zu tun, auf; es genügt, es daran zu verhindern. Seine Erfahrung oder seine Ohnmacht muß ihm als alleiniges Gesetz dienen. Erfüllt seine Wünsche nicht deshalb, weil es nach den verbotenen Gegenständen Begehren trägt, sondern nur weil es ihrer bedarf. Weder sei es sich bei seinem eigenen Tun des Gehorsams noch bei den Bemühungen anderer um seinetwillen des Rechts zu befehlen bewußt. Es empfinde seine Freiheit bei seinen wie euren Handlungen. Fehlt es ihm an Kraft, so ergänzt sie ihm nur so weit, als es derselben bedarf, um frei zu sein, nicht aber, um sich zu eurem Herrn zu machen. Möge es dadurch, daß es eure Dienstleistungen mit einer gewissen Demut annimmt, zu erkennen geben, wie sehr es den Augenblick herbeisehnt, wo es derselben wird entbehren können, und wo es die Ehre haben wird, sich selbst zu bedienen.

Zur Kräftigung des Körpers und zur Beförderung seines Wachstums besitzt die Natur Mittel, welche man nicht hinderlich in den Weg treten darf. Man darf ein Kind, wenn es gehen will, nicht zum Stillsitzen, noch, wenn es ruhig auf seinem Platze will, zum Gehen zwingen. Ist der Wille der Kinder nicht durch unsere eigene Schuld verdorben, so äußern sie denselben nie unnützerweise. Sie müssen springen, laufen, schreien dürfen, so oft sie Lust dazu verspüren. Bei allen ihren Bewegungen folgen sie den Bedürfnissen ihrer Natur, die sich zu stärken sucht; sehr achtsam muß man aber sein, sobald sich bei ihnen Wünsche regen, die sie nicht selbst zu befriedigen vermögen, sondern bei deren[116] Erfüllung sie auf fremde Hilfe angewiesen sind. Alsdann muß man zwischen dem wahren, dem natürlichen Bedürfnis, und dem eingebildeten, welches sich zu regen beginnt, oder jenem, welches in der strotzenden Lebensfülle seine Wurzel hat, wovon bereits die Rede gewesen ist, sorgfältig unterscheiden.

Ich habe mich oben schon darüber geäußert, was man zu tun hat, wenn ein Kind weint, um dadurch dies oder jenes zu erlangen. Ich will hier nur noch hinzufügen, daß man ihm, sobald es sein Begehren auszusprechen vermag und trotzdem zu Tränen seine Zuflucht nimmt, sei es nun, um seinen Zweck schneller zu erreichen, oder sei es um eine Weigerung zu besiegen, unter allen Umständen seine Bitte abschlagen muß. Hat ihm eurer Ueberlegung nach das Bedürfnis seine Bitte entlockt, so müßt ihr sein Begehren sofort erfüllen; aber seinen Tränen gegenüber den Nachgiebigen spielen, heißt ihn nur zu immer erneuten Tränengüssen anspornen, heißt ihm Zweifel an eurem guten Willen und den Glauben einflößen, daß bei euch Ungestüm wirksamer als Freundlichkeit sei. Hält es euch nicht für gütig, wird es bald unartig werden; erscheint ihr ihm schwach, werdet ihr bald unter seinem Eigensinn zu leiden haben. Hierbei ist es von Wichtigkeit, daß man ihm das, was man ihm nicht versagen will, regelmäßig auf das erste Zeichen gewährt. Haltet im Verweigern Maß, lasset euch aber nie dazu bewegen, eine einmal ausgesprochene Weigerung wieder zurückzunehmen.

Vor allem hütet euch, das Kind an leere Höflichkeitsformeln zu gewöhnen, deren es sich nötigenfalls als Zauberworte bedienen könnte, um seine ganze Umgebung seinem Willen zu unterwerfen und augenblicklich seine Wünsche befriedigt zu sehen. Bei der nur auf den äußeren Schliff angelegten Erziehung der Reichen begeht man stets den Fehler, ihnen ein gebieterisches Wesen einzuimpfen, welches auch unter den seinen und höflichen Formen stets hervortritt.[117] Man schreibt ihnen die Ausdrücke vor, die sie anwenden müssen, damit ihnen zu widerstehen wage. Bei den Kindern der Reichen stehen deshalb Mienen und Ton nie mit ihren bittenden Worten in Einklang; bei ihren Bitten treten sie mit gleicher, ja noch mit größerer Anmaßung als bei ihren Befehlen auf, da sie dessen völlig sicher sind, unbedingten Gehorsam zu finden. Man fühlt sofort hindurch, daß die Ausdrücke: »Wenn es Ihnen gefällig ist« und »Ich bitte Sie«, in ihrem Munde: »Es ist mir gefällig« und »Ich befehle es Ihnen« bedeuten. Eine vortreffliche Höflichkeit, die bei ihnen nur darauf hinausläuft, den Worten einen andern Sinn unterzulegen und stets gebieterisch zu reden! Ich meinesteils, der ich bei meinem Emil einen geringeren Uebelstand darin erkennen würde, wenn er sich unhöfliche Formen als ein anmaßendes Wesen aneignete, würde es lieber sehen, daß er bittend sagte: »Tue das,« als befehlend: »Ich bitte Sie.« Nicht die angewendeten Worte, sondern der damit verbundene Sinn ist von Wichtigkeit.

Es gibt sowohl in der Strenge wie in der Nachsicht eine Grenze, die man nicht überschreiten darf. Laßt ihr die Kinder leiden, so gefährdet ihr ihre Gesundheit, ja ihr Leben, und macht sie dadurch wirklich elend; haltet ihr dagegen mit übertriebener Vorsicht jede Art von Unbehaglichkeit von ihnen fern, so legt ihr dadurch den Grund zu großen Leiden, verhätschelt und verzärtelt sie und entfremdet sie dem menschlichen Standpunkt, auf den sie wider euren Willen doch eines Tages wieder zurückkehren werden. Um sie möglicherweise vor einigen Leiden zu behüten, die aus der Natur hervorgehen, schafft ihr ihnen künstliche, die nicht in derselben ihre Wurzel haben. Ihr werdet mir dagegen einwenden, daß ich in den Fehler jener schlechten Väter verfalle, welchen ich den Vorwurf machte, daß sie das Glück der Kinder auf eine ferne Zukunft, welche vielleicht nie eintreten wird, opferten.[118]

Allein mit Unrecht, denn die Freiheit, die ich meinem Zögling einräume, entschädigt ihn reichlich für die leichten Unbequemlichkeiten, denen ich ihn bloßgestellt lasse. Ich sehe kleine Jungen im Schnee spielen, förmlich blaurot, vor Kälte erstarrt und kaum imstande, die Finger zu bewegen. Sie brauchen nur hineinzugehen und sich zu wärmen, aber sie tun es nicht. Zwänge man sie dazu, würden sie die Strenge des Zwanges hundertmal härter als die Kälte empfinden. Worüber beklagt ihr euch also? Werde ich etwa euer Kind elend machen, indem ich es nur solchen Unannehmlichkeiten aussetze, welche es gern leiden will? Dadurch, daß ich ihm die Freiheit lasse, gründe ich sein Glück nicht nur für die Gegenwart, sondern befestige es auch für die Zukunft, indem ich es gegen die Uebel waffne, welche es ertragen muß. Wenn ihm die Wahl freistände, mein oder euer Zögling zu sein, meint ihr wohl, daß es einen Augenblick schwanken würde?

Glaubt ihr, daß irgendein Wesen außerhalb den seiner Natur entsprechenden Verhältnissen wahrhaft glücklich sein kann? Und heißt es nicht den Menschen diesen seinen Verhältnissen entfremden, wenn man alle Uebel seines Geschlechts gleichmäßig von ihm fernhalten will? Ja, ich behaupte geradezu, er muß, um die großen Güter würdigen und genießen zu können, vorher die kleinen Uebel kennen lernen; das liegt in seiner Natur begründet. Wenn es uns in physischer Beziehung zu wohlgeht, werden wir in sittlicher Beziehung rückwärts schreiten. Ein Mensch, den nie ein Schmerz berührt hätte, würde weder die Regung der Menschenliebe noch die Wonne des Mitgefühls kennen; sein Herz würde gegen alle Eindrücke unempfindlich sein; ein Feind aller Geselligkeit, wäre er ein Ungeheuer unter seinesgleichen.

Wißt ihr, welches das sicherste Mittel ist, euer Kind unglücklich zu machen? Daß ihr es daran gewöhnt, alles zu erlangen; denn seine Wünsche werden infolge der Leichtigkeit[119] ihrer Befriedigung unaufhörlich wachsen, und deshalb wird euch wider euren Willen euer Unvermögen früher oder später zwingen, seinen Bitten eine Weigerung entgegenzusetzen; und diese ungewohnte Weigerung wird ihm mehr Pein verursachen als die Entbehrung des ersehnten Gutes selbst. Anfangs wird es nur den Stock verlangen, den ihr gerade in der Hand habt; bald darauf wird es eure Uhr haben wollen; dann wird es den Vogel begehren, der vorüberfliegt, und nun wieder den Stern, den es leuchten sieht, kurz es wird alles verlangen, worauf sein Blick fällt. Wie werdet ihr es nun zufriedenstellen können, wofern ihr nicht Gott seid?

Der Mensch besitzt von Natur die Neigung, alles was in seiner Gewalt ist als sein Eigentum zu betrachten. In diesem Sinn ist der Grundsatz Hobbes: »Vermehrt zugleich mit unsern Wünschen auch die Mittel zu ihrer Befriedigung, und ein jeder wird sich zum Herrn von allem machen«, bis zu einem gewissen Grade wahr. Dennoch hält sich das Kind, das nur zu wollen braucht, um sofort zu erhalten, für den Besitzer des Weltalls; es betrachtet alle Menschen als seine Sklaven, und wenn man sich schließlich einmal genötigt sieht, ihm irgend etwas zu verweigern, ihm welches alles für möglich hält, sobald es seine Befehle erteilt, so faßt es diese Weigerung als einen Akt von offener Auflehnung gegen seinen Willen auf; alle Gründe, die man ihm in einem Alter, das noch einer vernünftigen Anschauung verschlossen ist, entgegenhält, gelten in seinen Augen nur als Vorwände. Es sieht überall nur den bösen Willen, und da das Gefühl einer vermeintlichen Ungerechtigkeit sein Gemüt verbittert, so faßt es gegen alle Welt, und während es jede Gefälligkeit ohne den geringsten Dank hinnimmt, erregt jeder Widerstand seinen Unwillen.

Wie ließe sich nun denken, daß ein derartig vom Zorne beherrschtes und von unzähmbaren Leidenschaften verzehrtes Kind je glücklich sein könnte? Glücklich! Ein solches Kind![120] Es vereinigt in sich einen Despoten und zugleich den verächtlichsten Sklaven und die elendste Kreatur! Ich habe so erzogene Kinder gesehen, welche in allem Ernst verlangten, man sollte das Haus umstoßen, ihnen den Wetterhahn holen, den sie auf einem Turm wahrnahmen, ein Regiment im Marsch aufhalten, um die Trommel länger zu hören, und welche, ohne auf jemand zu hören, ein durchdringendes Geschrei erhoben, sobald man ihnen zu gehorchen säumte; alles beeiferte sich vergeblich um sie, und da die Leichtigkeit, mit der sie bisher alle ihre Wünsche hatten erfüllen sehen, ihre Begehrlichkeit nur immer mehr gesteigert hatte, so bestanden sie hartnäckig auf unmöglichen Dingen, und stießen überall nur auf Widerspruch, Hindernisse, Sorgen und Schmerzen. Beständig zänkisch, beständig eigensinnig, beständig ärgerlich, schrien und klagten sie tagelang. Waren das etwa glückliche Wesen? Schwäche mit Herrschaft vereint erzeugt nur Torheit und Elend. Von zwei verzogenen Kindern schlägt das eine den Tisch und das andere läßt das Meer geißeln; sie werden viel zu geißeln und zu schlagen haben, ehe sie zufrieden leben.

Wenn dergleichen Anschauungen von Herrschaft und Tyrannei sie schon in früher Jugend elend machen, was wird dann erst geschehen, wenn sie heranwachsen und ihre Beziehungen zu den anderen Menschen sich zu erweitern und zu vervielfältigen beginnen? Welche Ueberraschung für sie, die daran gewöhnt sind, sich alles vor ihnen beugen zu sehen, bei ihrem Eintritt in die Welt wahrzunehmen, daß sie überall auf Widerstand stoßen, und sich von der Wucht dieses Weltalls, welches sie nach Belieben in Bewegung zu setzen gedacht, niedergeschmettert zu fühlen! Ihr übermütiges Benehmen und ihre kindische Eitelkeit ziehen ihnen nur Demütigungen, Spott und Verachtung zu; überall sehen sie sich Kränkungen ausgesetzt. Peinliche Erfahrungen bringen sie nur zu bald zu der Einsicht, daß sie weder ihre Stellung noch ihre Kräfte kennen. Da sie nicht alles vermögen,[121] bilden sie sich schließlich ein, gar nichts zu vermögen. So viele ungewohnte Hindernisse entmutigen sie, so viele ihnen an den Tag gelegte Verachtung raubt ihnen alles Selbstvertrauen; sie werden feige, furchtsam, kriechend und sinken um so tiefer, je mehr sie sich überhoben hatten.

Kommen wir jedoch wieder auf unsere Grundregel zurück. Die Natur hat sie so geschaffen, daß sie sich auf unsere Liebe und Pflege angewiesen sehen; oder hat sie sie etwa dazu bestimmt, daß wir ihnen gehorchen und sie fürchten sollen? Hat sie ihnen ein achtunggebietendes Aussehen, einen strengen Blick, eine barsche und drohende Stimme gegeben, um uns Furcht einzuflößen? Ich finde es verständlich, daß das Brüllen eines Löwen den Tieren Schrecken einjagt, daß sie Zittern überfällt, wenn sie seinen entsetzlichen Kopf erblicken; allein will man je ein die Gefühle empörendes, verächtliches und lächerliches Schauspiel genießen, so betrachte man eine Schar Beamten, wie sie, den Vorsteher an ihrer Spitze, in vollem Galaanzug sich vor einem Wickelkind niederwerfen und an dasselbe eine feierliche Ansprache in den schwülstigsten Ausdrücken richten, auf die es keine andere Antwort als Schreien und Geifern findet.

Gibt es wohl, wenn wir die Kindheit an und für sich selbst betrachten, auf der Welt ein schwächeres, elenderes, von der Willkür seiner Umgebung abhängigeres Wesen als ein Kind, ein Wesen, das in so hohem Grade des Mitleids, der Pflege und des Schutzes bedarf? Scheint es nicht, als ob es deshalb eine so zarte und liebliche Gestalt und so rührende Züge er halten habe, damit jeder, der in seine Nähe kommt, ihm in seiner Schwäche beispringe und sich beeifere, ihm zu helfen? Gibt es etwas Abstoßenderes und Unnatürlicheres als den Anblick eines gebieterischen und eigensinnigen Kindes, welches seiner ganzen Umgebung Befehle erteilt und denen gegenüber, die es nur zu verlassen brauchen, um es umkommen zu lassen, ungescheut den Ton des Herrn annimmt?[122]

Wer wollte anderseits nicht einsehen, daß die Schwäche des ersten Alters die Kinder schon dergestalt hemmt und behindert, daß es wahrhaft barbarisch wäre, diesem Zwang noch den unserer Launen hinzuzufügen, indem wir ihnen eine so beschränkte Freiheit entziehen, die sie so wenig mißbrauchen können und deren Entziehung ihnen ebensowenig Vorteil bringt als uns? Wenn es nichts gibt, was mehr unsern Spott herausfordert, als ein hochmütiges Kind, so gibt es auch nichts, was so sehr unser Mitleid erregt, als ein eingeschüchtertes. Warum wollen wir, da mit dem Alter der Vernunft doch schon die bürgerliche Sklaverei beginnt, derselben noch die Privatsklaverei vorausgehen lassen? Wir wollen es ruhig mit ansehen, daß von diesem Joch, das die Natur uns nicht auferlegt hat, doch ein Augenblick des Lebens befreit sei, und den Kindern den Gebrauch der natürlichen Freiheit gestatten, die sie wenigstens eine Zeitlang von den Lastern fernhält, die man unter der Sklaverei an nimmt. Mögen doch diese strengen Lehrer, mögen doch diese ihre Kinder in knechtischer Furcht erhaltenden Väter mit ihren kleinlichen und nichtigen Einwürfen hervortreten und einmal die Methode der Natur kennen lernen, bevor sie ihre eigenen herausstreichen.

Ich kehre zur Praxis zurück. Ich habe bereits ausdrücklich gesagt, daß euer Kind nie deshalb etwas erhalten darf, weil es dasselbe verlangt, sondern nur, weil es dessen bedarf,38 ferner daß es nichts bloß aus Gehorsam tun[123] soll, sondern weil es die Notwendigkeit erheischt. Deshalb müssen die Wörter gehorchen und befehlen und noch mehr die Ausdrücke Pflicht und Schuldigkeit aus seinem Wörterbuch gestrichen werden; dagegen muß den Wörtern Kraft, Notwendigkeit, Ohnmacht und Beschränkung darin ein großer Platz eingeräumt werden. Vor dem Alter der Vernunft vermag man mit Ausdrücken wie »moralische Wesen« oder »gesellschaftliche Beziehungen« keinen richtigen Begriff zu verhindern. Man muß deshalb die Anwendung solcher Wörter, die dergleichen Ideen ausdrücken, möglichst vermeiden, weil zu befürchten ist, daß das Kind denselben anfangs falsche Idee unterlege, die später wieder auzurotten es uns an Einsicht und Macht gebricht. Die erste falsche Idee, die es in sich aufnimmt, bildet in ihm den Keim des Irrtums und des Lasters; gerade auf diesen ersten Schritt muß man demnach vorzugsweise sein Augenmerk richten. Sorget dafür, daß, solange es nur unter den Eindrücken sinnlicher Gegenstände steht, sich auch alle seine Ideen nur in der Sinnenwelt bewegen; sorget daß es rings um sich her, nach allen Richtungen hin, nur die physische Welt wahrnehme; sonst könnt ihr dessen sicher sein, daß es entweder gar nicht auf euch hören oder sich von der moralischen Welt, von der ihr zu ihm redet, völlig phantastische Vorstellungen machen wird, Vorstellungen, die ihr nie wieder bei ihm werdet verwischen können.

In den Forderungen, durch Vernunftgründe auf die Kinder einzuwirken, gipfelt sich Lockes Hauptgrundsatz, welchem man heutzutage vielfach huldigt. Der Erfolg desselben scheint mir jedoch wenig zu seinen Gunsten zu sprechen; und mir wenigstens ist nie etwas Einfältigeres vorgekommen als ein in dieser Weise erzogenes Kind. Von allen Fähigkeiten des Menschen entwickelt sich die Vernunft, die gleichsam nur der Inbegriff aller anderen ist, am schwierigsten und spätesten, und nun will man sich dieser bedienen, um die ersteren zu entwickeln! Das Meisterstück einer guten Erziehung besteht[124] in der Bildung eines vernünftigen Menschen, und trotzdem vermeint man das Kind durch die Vernunft erziehen zu können! Das heißt beim Ende anfangen, das heißt das Werk zum Werkzeug machen wollen. Wenn die Kinder auf vernünftige Vorstellungen hörten, brauchten sie nicht erzogen zu werden; redet man aber von ihrem zartesten Alter an mit einer ihnen unverständlichen Sprache zu ihnen, gewöhnt man sie daran, sich mit Worten abspeisen zu lassen, an allem, was man ihnen sagt, zu mäkeln, sich für ebenso weise als ihre Lehrer zu halten, streitsüchtig und eigensinnig zu werden, und bei allem dem verlangt man, was man bei ihnen durch Vernunftgründe zu erlangen denkt, doch nur durch Erregung ihrer Lüsternheit, ihrer Furcht oder ihrer Eitelkeit, ohne welche Mittel man nicht zum Ziele kommt.

Ich füge hier ein Schema bei, auf welches sich fast alle moralischen Belehrungen, die man den Kindern gibt oder geben kann, zurückführen lassen.

Der Lehrer. Das darf man nicht tun.

Das Kind. Und warum darf man es nicht tun?

Der Lehrer. Weil es unrecht ist.

Das Kind. Unrecht? Was heißt unrecht tun?

Der Lehrer. Tun was man dir verbietet.

Das Kind. Was kann mir's denn schaden, wenn ich tue, was man mir verbietet?

Der Lehrer. Du erhältst Strafe, weil du ungehorsam gewesen bist.

Das Kind. Ich werde es schon so einrichten, daß man es nicht erfährt.

Der Lehrer. Man wird dich beobachten.

Das Kind. Ich werde mich verstecken.

Der Lehrer. Man wird dich befragen.

Das Kind. Ich werde lügen.

Der Lehrer. Man darf nicht lügen.

Das Kind. Weshalb darf man nicht lügen?

Der Lehrer. Weil es unrecht ist, usw.[125]

In diesem unvermeidlichen Zirkel wird man sich stets bewegen müssen. Sobald ihr euch aus demselben entfernt, versteht euch das Kind nicht mehr. Sind das nicht sehr nützliche Lehren? Ich wäre in der Tat gespannt zu erfahren, was man an die Stelle dieses Gesprächs setzen könnte? Sogar Locke würde dabei unfehlbar in Verlegenheit geraten sein. Das Gute und das Böse zu unterscheiden, den Grund der menschlichen Pflichten zu erkennen, übersteigt die Fähigkeiten eines Kindes.

Die Natur will, daß die Kinder, ehe sie Männer werden, Kinder sein sollen. Wenn wir diese Ordnung umkehren wollen, so bringen wir vorzeitige Früchte hervor, denen es an gehörigen Reife wie am rechten Geschmack fehlt und in kurzem verderben. Die Kindheit hat eine nur ihr eigene Art und Weise, zu sehen, zu denken, zu empfinden; nichts kann ungereimter sein als das Bemühen, ihr dafür die unsrige unterzuschieben; ich könnte von einem zehnjährigen Kind ebensogut verlangen, daß es fünf Fuß groß wäre, als daß ich von ihm ein richtiges Urteil begehrte. Wozu sollte ihm auch die Vernunft in diesem Alter dienen? Sie ist der Zügel der Kraft, und das Kind bedarf dieses Zügels nicht.

Indem ihr eure Zöglinge von der Pflicht des Gehorsams zu überzeugen sucht, begnügt ihr euch doch mit dieser angeblichen Ueberzeugung nicht, sondern nehmt noch zu Gewalt und Drohungen, oder was schlimmer ist, zu Schmeicheleien und Versprechungen eure Zuflucht. Obgleich sie also eigentlich nur ihr eigenes Interesse dabei im Auge haben oder durch Gewalt gezwungen werden, stellen sie sich gleichwohl, als ob sie sich durch Vernunftgründe hätten überzeugen lassen. Sie sehen sehr wohl ein, daß ihnen Gehorsam vorteilhaft und Widersetzlichkeit nachteilig ist, sobald ihr das eine oder das andere bemerkt. Allein da ihr nichts von ihnen verlangt, was ihnen nicht unangenehm wäre, und da es außerdem immer peinlich ist, sich nach dem[126] Willen anderer richten zu müssen, so führen sie den ihrigen im geheimen doch aus, in der vollen Ueberzeugung recht zu handeln, wenn ihr Ungehorsam nur verschwiegen bleibt, aber auch zugleich bereit, im Fall der Entdeckung ihr Unrecht einzugestehen, aus Furcht, sonst eine härtere Strafe zu erhalten. Da sich in ihrem Alter die Pflicht nicht durch Vernunftgründe klarmachen läßt, so wird es auch keinen Menschen auf der Welt geben, dem es gelingen würde, sie in Wahrheit für dieselbe empfänglich zu machen. Trotzdem wird ihnen die Furcht vor Strafe, die Hoffnung auf Verzeihung, fortwährendes Bestürmen mit Fragen, Verlegenheit beim Antworten jedes Geständnis entreißen das man nur verlangt, und man glaubt sie überzeugt zu haben, während man sie nur ermüdet oder eingeschüchtert hat.

Was folgt daraus? Zunächst flößt ihr ihnen dadurch, daß ihr ihnen eine Pflicht auferlegt, die sie als solche nicht empfinden, Widerwillen gegen eure Tyrannei ein, und verscherzt ihre Liebe; sodann lehrt ihr sie heucheln, lügen und trügen, um dadurch von euch Belohnungen zu erpressen oder sich Strafen zu entziehen; endlich liefert ihr ihnen dadurch, daß ihr sie gewöhnt, einen geheimen Beweggrund durch einen scheinbaren zu verdecken, selbst das Mittleid, euch unaufhörlich zu hintergehen, euch in Unkenntnis ihres wahren Charakters und euch und andere gelegentlich mit leeren Worten abzuspeisen. Die Gesetze werdet ihr entgegnen, üben, obgleich sie für das Gewissen verbindlich sind, bei den Erwachsenen ebenfalls einen Zwang aus. Das räume ich ein. Aber was sind denn diese Menschen anders als durch die Erziehung verdorbene Kinder? Und das ist es gerade, was man verhüten muß. Kindern gegenüber geziemt sich Gewalt, Männern gegenüber Vernunft; das bringt die Ordnung der Natur mit sich; der Weise bedarf keine Gesetze.

Behandelt euren Zögling, wie es sein Alter verlangt. Weist ihm von Anfang an seine Stellung an, und haltet[127] ihn so fest darin, daß er nicht einmal den Versuch wagt, aus derselben herauszutreten. Bevor er weiß, was Weisheit heißt, wird er dann schon die wichtigste Lehre derselben ausüben. Befehlt ihm nie etwas, was in aller Welt es auch sein möge, durchaus gar nichts. Laßt nicht einmal die Vorstellung in ihm aufkommen, daß ihr beanspruchtet, irgendeine Autorität über ihn zu besitzen. Er braucht nur das Bewußtsein zu haben, daß er schwach ist und ihr dagegen stark seid, daß er infolge seiner, von der eurigen so wesentlich verschiedenen Lage notwendigerweise von euch abhängig ist. Dies muß er wissen, muß er lernen, muß er empfinden. Frühzeitig schon fühle er auf seinem stolzen Haupte das schwere Joch, welches die Natur dem Menschen auferlegt, das drückende Joch der Notwendigkeit, unter welches sich jedes endliche Wesen beugen muß. Er erblickte diese Notwendigkeit aber in den Verhältnissen, nie in den Launen der Menschen;39 zum Zügel, der ihn in Schranken hält, diene die Kraft, nicht die Autorität. Verbietet nicht erst lange, was er unterlassen soll, sondern hindert ihn einfach an der Ausführung desselben ohne weitläuftige Auseinandersetzungen und Erörterungen. Was ihr ihm erlaubt, erlaubt ihm auf sein erstes Wort, ohne euch erst dazu auffordern und bitten zu lassen, vor allem aber ohne sie an Bedingungen zu knüpfen. Er merke es euch an, daß ihr ihm eine Erlaubnis mit Freunden erteilt, ihm aber nur mit Widerstreben etwas abschlagt. Alle eure Verweigerungen müssen jedoch unwiderruflich sein; keine unausgesetzte Bestürmung mit derselben Bitte darf euch schwankend machen; das einmal ausgesprochene Nein muß dem Kind als eine eherne Mauer gelten, welche es, hat es dagegen seine Kräfte erst fünf- oder sechsmal erschöpft, nicht mehr niederzureißen versuchen wird.[128]

Auf diese Weise werdet ihr es geduldig, sanft, gelassen und ruhig machen, selbst wenn es seinen Wunsch nicht erfüllt sieht; denn es liegt in der Natur des Menschen, zwar die durch die Verhältnisse bedingte Notwendigkeit, nicht aber den Eigenwillen anderer geduldig zu ertragen. Die Erklärung »Es ist nichts mehr da« ist eine Antwort, der gegenüber sich ein Kind noch nie widerspenstig gezeigt hat, falls es dieselbe nicht etwa für eine Lüge hielt. Uebrigens gibt es dabei keinen Mittelweg: entweder muß man gar keine Anforderungen an das Kind stellen, oder es von Anfang an an unweigerlichen Gehorsam gewöhnen. Die schlechteste Erziehung besteht in der gewährten Freiheit, zwischen seinem und eurem Willen zu schwanken, und in einem unaufhörlich zwischen ihm und euch stattfindenden Kampf um Herrschaft. Hundertmal lieber würde es mir sein, wenn das Kind dieselbe beständig ausübte.

Sehr eigentümlich ist es, daß man, seitdem man sich mit der Erziehung der Kinder beschäftigt, noch kein anderes Mittel zu ihrer Leitung gefunden hat als den Wetteifer, die Eifersucht, den Neid, die Eitelkeit, Erregung der Begierde, knechtische Furcht – lauter höchst gefährliche Leidenschaften, die ihre Seele in fortwährender Gärung erhalten und sie zu verderben vermögen, sogar noch ehe der Körper sich vollständig entwickelt hat. Mit jeder vorzeitigen Belehrung, mit der man die Köpfe der armen Kinder beschweren will, pflanzt man ein Laster in den Grund ihrer Herzen. Unverständige Lehre glauben Wunder zu leisten, wenn sie alle möglichen Unarten in ihnen hervorrufen, um ihnen den Begriff des Gutseins beizubringen, und dann sagen sie uns gravitätisch: »So ist der Mensch!« Ja, so ist der Mensch, welchen ihr gebildet habt!

Man hat alle Mittel versucht, eins ausgenommen, und zwar gerade das einzige, welches imstande ist, ein glückliches Resultat herbeizuführen: die zweckmäßig geregelte Freiheit. Man darf nicht das Amt, ein Kind zu erziehen, übernehmen[129] wenn man nicht versteht, es durch die bloßen Gesetze des Möglichen und Unmöglichen zu leiten, wohin man will. Da ihm die Grenze des einen ebenso ist wie die des anderen, so kann man sie rings um sich her nach Belieben erweitern oder verengern. Man fesselt es, treibt es vorwärts, hält es zurück allein durch das Band der Notwendigkeit, ohne daß es darüber murrt; durch die bloße Macht der Verhältnisse macht man es fügsam und willig, ohne daß je ein Laster Gelegenheit fände, in ihm emporzukeimen; denn nie entzünden sich die Leidenschaften, wenn sie erfolglos bleiben.

Erteilt eurem Zögling keine Art mündlicher Belehrung, die Erfahrung allein muß sie ihm geben; belegt ihn mit keiner Art Strafe, denn er weiß nicht, was es heißt, ein Versehen begangen zu haben; laßt ihn niemals um Verzeihung bitten, denn er vermag euch nicht zu beleidigen. Sich keines moralischen Gesetzes bei seinen Handlungen bewußt, kann er auch nichts tun, was moralisch schlecht wäre und Strafe oder Verweis verdiente.

Ich sehe schon, wie der erschreckte Leser dieses Kindes nach den unsrigen beurteilt. Er irrt sich. Der fortwährende Zwang, in welchem ihr eure Zöglinge erhaltet, erregt ihre Lebendigkeit noch mehr; je gezwungener sie sich unter euren Augen fühlen, desto wilder sind sie von dem Augenblick an, wo sie sich selbst überlassen sind; sie müssen sich doch für den harten Zwang, in welchem ihr sie haltet, wenn sie irgend können, entschädigen. Zwei Stadtkinder werden auf dem Lande mehr Schaden anrichten als die Dorfjugend. Schließt ein junges Herrchen und einen Bauernjungen zusammen in ein Zimmer ein; bevor sich noch letzterer von der Stelle bewegt hat, wird der erstere schon alles auf die Erde geworfen, alles zerbrochen haben. Der Grund kann nur darin liegen, daß der eine sich beeilt, den seltenen Augenblick völliger Freiheit zu mißbrauchen, währen der andere, der seine Freiheit stets sicher ist, keine Ursache findet,[130] sofort Gebrauch davon zu machen. Und gleichwohl sind die Bauernkinder, bei deren Erziehung oft Liebkosungen und Härte wechseln, noch weit von dem Zustand entfernt, in welchem man, wenn es nach mir geht, die Kinder halten muß.

Stellen wir als unbestreitbaren Grundsatz auf, daß die ersten natürlichen Triebe stets gut sind; es gibt im menschlichen Herzen keine angeborene Verderbtheit; kein einziger Fehler findet sich darin, von dem sich nachweisen ließe, wie und wodurch er in dasselbe eingedrungen ist. Die einzige Leidenschaft des Menschen, welche als eine Mitgift der Natur betrachtet werden kann, ist die Selbstliebe oder die Eigenliebe im weiteren Sinn. Diese Eigenliebe an sich oder in Beziehung auf uns ist gut und nützlich, und da mit ihr durchaus keine notwendige Beziehung auf andere verbunden ist, so ist sie in dieser Hinsicht von Natur indifferent. Nur durch die Anwendung, welche man von ihr macht, und durch die Beziehungen, welche man ihr gibt, wird sie gut oder böse. Bis zu dem Moment, wo der Führer der Eigenliebe, nämlich die Vernunft, hervorzutreten vermag, ist es sogleich von Wichtigkeit, daß ein Kind nichts deshalb tue, weil es gesehen oder gehört werden kann, mit einem Wort nichts aus Rücksicht auf andere tue, sondern lediglich das, was die Natur von ihm verlangt, und dann wird es nur Gutes tun.

Es wird kaum vorkommen, daß ein Kind nie einmal Schaden und Unordnung anrichtet, sich nicht verletzte, oder ein wertvolles Stück zerbräche, das sich in seinem Bereich findet. Es könnte viel Schlimmes anrichten ohne Böses zu tun, der bösen Tat liegt die Absicht zugrunde, Schaden zu tun. Hätte es diese aber auch nur ein einziges Mal, so wäre schon alles verloren: dann wäre es unverbesserlich böse.

In den Augen des Geizes gewinnt manches einen bösen Anstrich, was in den Augen der Vernunft nicht böse ist. Läßt man der Ausgelassenheit der Kinder völlig freien Lauf,[131] so ist es freilich ratsam, alles aus ihrer Nähe zu verbannen, wodurch sie teuer zu stehen kommen könnte, und nichts Zerbrechliches und Kostbares in ihrem Bereich zu lassen. Ihre Stube muß mit starken und dauerhaften Möbeln ausgestattet sein; kein Spiegel, kein Porzellan, keine Luxusgegenstände darf man darin antreffen. Was meinen Emil anlangt, den ich auf dem Lande erziehe, so wird sein Zimmer nichts enthalten, was es von einer Bauernstube unterscheiden könnte. Zu welchem Behuf es mit so großer Sorgfalt ausschmücken, da er sich nur so wenig Zeit darin aufhalten darf? Allein ich irre mich; er wird es selbst ausschmücken, und wir werden bald sehen womit.

Hat das Kind, aller eurer Vorsichtsmaßregeln ungeachtet, einige Unordnung hervorgebracht oder irgendein nützliches Stück zerbrochen, so straft es nicht für eure eigene Nachlässigkeit und scheltet es nicht aus; kein einziges Wort des Vorwurfs darf es von euch vernehmen; laßt es nicht einmal ahnen, daß es euch Verdruß bereitet hat; tut gerade so, als ob das Gerät von selbst zerbrochen wäre; mit einem Wort, seid überzeugt, viel getan zu haben, wenn ihr euch überwinden könnt, nichts zu sagen.

Soll ich es wagen, an diese Stelle die erste, wichtigste und nützlichste Regel aller Erziehung auseinanderzusetzen? Sie besteht nicht darin, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Verzeiht mir, ihr oberflächlichen Leser, meine Paradoxien; unwillkürlich muß man bei reiflichem Ueberlegen welche machen, und was ihr auch dazu sagen mögt, ich will lieber für einen paradoxen Mann gelten, als ein Mann voller Vorurteile sein. Die gefährlichste Zeit des menschlichen Lebens ist die von der Geburt bis zum Alter von zwölf Jahren. Das ist die Zeit, in welcher Irrtümer und Laster emporkeimen, ohne daß man bis dahin ein Mittel besäße, sie wieder auszurotten, und wenn sich das Mittel dann endlich findet, so wurzeln dieselben schon so tief, daß man sie nicht mehr herauszureißen vermag. Wenn die[132] Kinder plötzlich von der Brust der Mutter in das Alter der Vernunft hinübersprängen, dann könnte die Erziehung, die man ihnen heutzutage gibt, angemessen sein; nach dem natürlichen Entwicklungsgang bedürfen sie aber eine gerade entgegengesetzte. Erst wenn ihre Seele im Vollbesitz aller ihrer Kräfte wäre, sollten die Kinder eine Betätigung derselben verlangen, denn unmöglich kann sie, solange sie noch blind ist, den Schein der Fackel, die ihr derselben darbietet, wahrnehmen, und in dem unermeßlichen Reich der Ideen einen Weg verfolgen, den die Vernunft nur so flüchtig andeutet, daß kaum die schärfsten Augen imstande sind, ihn zu erkennen.

Die erste Erziehung muß demnach rein negativ sein. Sie besteht nicht in Belehrungen über Tugend und Wahrheit, sondern in der Bewahrung des Herzens vor Lastern und in der Abwehr aller dem Verstand nachteiligen Irrtümer. Wenn ihr bei der Erziehung nichts tätet und auch andere nichts tun ließet, wenn ihr euren Zögling gesund und kräftig bis zum zwölftem Jahre bringen könntet, ohne daß er imstande wäre, seine rechte Hand von der linken zu unterscheiden, so würde sich ihm vom Beginn eures Unterrichts an die Augen seines Verständnisses der Vernunft öffnen. Da er ohne Vorurteile, ohne angenommene Gewohnheiten wäre, würde er nichts an sich haben, was dem Erfolg eurer Bemühungen hinderlich entgegentreten könnte. Bald würde er unter euren Händen der weiseste der Menschen werden, und obgleich ihr anfänglich nichts getan hättet, würdet ihr trotzdem in erziehlicher Hinsicht ein wahres Wunder getan haben.

Tut das gerade Gegenteil der herkömmlichen Erziehung und ihr werdet fast immer das Richtige treffen. Da man aus einem Kinde nicht ein Kind, sondern einen Gelehrten bilden will, so meinen Väter und Lehrer nicht früh genug damit anfangen zu können, es ausschelten, zu bekritteln, zu tadeln, zu liebkosen, zu bedrohen, ihm Versprechungen[133] zu geben, Leben zu erteilen und Vernunft zu predigen. Macht es besser. Seid vernünftig und sucht euren Zögling nicht mit Vernunftgründen zu überreden, vor allem nicht, um ihm Gefallen an dem einzuflößen, was ihm mißfällt; denn wenn man in solcher Weise in alle Angelegenheiten, welche ihn unangenehm berühren, stets die Vernunft mit hineinzieht, so macht man sie ihm dadurch schließlich langweilig und lästig und schwächt ihr Ansehen schon frühzeitig bei einem Geiste, der noch nicht imstande ist, sie zu verstehen. Uebt seinen Körper, seine Organe, seine Sinne, seine Kräfte, aber seine Seele erhalten so lange wie möglich in Untätigkeit. Hütet euch, ihn mit Ansicht bekanntzumachen, ehe er Verstand genug besitzt, sie zu würdigen. Tretet fremden Eindrücken entgegen und haltet sie von ihm fern, und sucht, um der Entstehung des Bösen vorzubeugen, das Wachstum des Guten nicht allzusehr zu beschleunigen, denn das kann erst dann erreicht werden, wenn die Vernunft ihn erleuchtet. Haltet jeden Aufschub für einen Vorteil; es ist ein großer Gewinn, wenn man sich ohne zu straucheln dem Ziel nähert. Lasset die Kindheit in den Kindern erst die volle Reife erreichen. Kurz, welche Belehrung sich auch immer bei ihnen herausstellen wird, hütet euch, sie ihm heute zu geben, wenn ihr sie ohne Gefahr bis morgen aufschieben könnt.

Eine Bestätigung der Nützlichkeit dieser Methode ergibt sich aus der weiteren Betrachtung der besonderen Geistesanlagen des Kindes, welche man entschieden kennen muß, um bestimmen zu können, welche moralische Ueberwachung und Führung ihm angemessen sei. Jeder Charakter hat seine eigentümliche Haltungsweise, nach der er gelenkt werden muß, und es ist im Hinblick auf den glücklichen Erfolg der Mühe, die man aufwenden muß, von Wichtigkeit, daß er gerade in dieser und keiner anderen Weise gelenkt werde. Als ein verständiger Mann mußt du deshalb lange Zeit die Natur belauschen, mußt deinen Zögling genau beobachten,[134] bevor du das erste Wort zu ihm sprichst. Laß erst den Keim seines Charakters in voller Freiheit sichtbar werden, lege ihm nach keiner Richtung hin einen Zwang auf, damit du ihn von Grund aus kennen lernst. Denkst du etwa, diese Zeit der Freiheit sei für ihn verloren? Völlig im Gegenteil, so wird sie am besten angewandt werden, denn nur so wirst du lernen, in einer weit kostbareren Zeit nicht einen einzigen Augenblick zu verlieren. Statt dessen wirst du, wenn du zu handeln beginnst, ehe du dir klar bist, was zu tun ist, dich blindlings vom Zufall leiten lassen; mancherlei Täuschungen ausgesetzt, wirst du stets von neuem anfangen müssen und weiter vom Ziele entfernt sein, als wenn du gesucht hättest, es mit weniger Eile zu erreichen. Handle deshalb nicht wie der Geizhals, der, weil er nichts verlieren will, alles verliert. Bringe im frühesten Alter eine Zeit zum Opfer, welche du in einem vorgerückteren Alter mit Zinsen wiedergewinnen wirst. Ein verständiger Arzt gibt nicht gleich beim ersten Anblick des Kranken in unüberlegter Hast Arzneien, sondern er studiert erst seine Natur, bevor er ihm etwas verordnet. Er läßt sich mit der Behandlung Zeit, heilt ihn aber auch dafür, während der zu schnell einschreitende Arzt ihn tötet.

Wohin in aller Welt sollen wir aber dies Kind versetzen, um es gleichsam als ein unempfindliches Wesen, als eine Art Automaten zu erziehen? Sollen wir es auf den Mond, auf eine wüste Insel bringen? Sollen wir es von allen menschlichen Wesen entfernt halten? Wird es in der Welt nicht unausgesetzt den Augenblick und das Beispiel der Leidenschaften an derer vor Augen haben? Wird es niemals andere Kinder seines Alters sehen? Wird es nicht seine Eltern, seine Amme, seine Wärterin, seinen Diener, vor allem seinen Erzieher sehen, der doch schließlich auch kein Engel sein wird?

Dieser Einwurf ist nicht zu unterschätzen. Habe ich euch denn aber gesagt, daß eine natürliche Erziehung ein[135] so leichtes Unternehmen sei? O ihr Menschen, liegt die Schuld denn etwa an mir, wenn ihr allem, was an sich gut ist, Schwierigkeiten hinzugefügt habt? Ich kenne dieselben wohl, ich gebe sie zu; vielleicht sind sie unübersteiglich; aber so viel steht doch immer fest, daß man bei dem ernsten Streben, sie zu überwinden, sie auch in der Tat bis zu einem gewissen Punkte besiegt. Ich zeige nur das Ziel, das man sich stellen muß, ich behaupte nicht, daß derjenige, welcher ihm am nächsten kommt, das glücklichste Resultat erzielt hat.40

Seid dessen eingedenk, daß man, ehe man wagen darf, die Bildung eines Menschen zu übernehmen, sich erst selbst zu einem Menschen gebildet haben muß. Man muß in sich selbst das Muster finden, das jener sich stets vorhalten soll. Solange das Kind noch ohne Bewußtsein ist, hat man hinreichend Zeit, alles was in seine Nähe kommt, zuzubereiten, damit seine ersten Blicke nur auf solche Gegenstände fallen, deren Anblick ihm dienlich ist. Macht euch in aller Augen achtungswert, sucht euch zuerst die allgemeine Liebe zu erwerben, damit sich jeder bemüht, euch zu gefallen. Ihr werdet nicht des Kindes Vorbild und dadurch sein Meister sein, wenn ihr nicht zugleich Vorbild und Meister seiner ganzen Umgebung seid, und dazu wird euer Ansehen nie hinreichend sein, wenn es nicht auf der Tugend gebührende Hochachtung gegründet ist. Es ist nicht die Rede davon, seine Börse zu erschöpfen und Geld mit vollen[136] Händen auszustreuen, ich habe noch nie gesehen, daß sich Liebe erkaufen ließe. Vor Geiz und Härte muß man sich hüten und das Elend, welches man zu lindern vermag, darf man nicht bloß beklagen; aber vergeblich werdet ihr eure Kästen öffnen, denn öffnet ihr nicht zugleich auch euer Herz, so werden die Herzen anderer euch immer verschlossen bleiben. Eure Zeit, eure Sorgen, eure Zuneigung, euch selbst müßt ihr geben, denn sonst wird man, was ihr auch immer tun möget, doch stets herausfühlen, daß euer Herz an dem Geldgeschenk keinen Anteil hat. Es gibt Beweise von Teilnahme und Wohlwollen, die eine größere Wirkung hervorbringen und in der Tat mehr Nutzen stiften als alle Geschenke. Wie viele Unglückliche, wie viele Kranke bedürfen weit eher Trost als Almosen! Wie viele Unterdrückte gibt es, denen mit einem wirksamen Schutze mehr gedient ist als mit Geld! Versöhnet alle, die in Unfrieden leben; beugt Prozessen vor; haltet die Kinder zur Pflicht, die Väter zur Nachsicht an; begünstigt glückliche Heiraten; wehrt den Verfolgungen, bedient euch des Ansehens, in welchem die Eltern eures Zöglings stehen, überall zugunsten des Schwachen, welchem man Gerechtigkeit verweigert und den der Mächtige bedrückt. Erklärt euch laut für den Beschützer der Unglücklichen. Seid gerecht, menschlich, wohltätig! Gebt nicht nur Almosen, sondern verrichtet auch Liebeswerke; die Werke der Barmherzigkeit lindern mehr Leiden als das Geld. Liebt die anderen, und sie werden euch lieben, dient ihnen, und sie werden euch dienen; tretet ihnen als Bruder entgegen und sie werden eure Kinder sein.

Das ist zugleich ein neuer Grund, aus dem ich Emil auf dem Lande zu erziehen gedenke, fern von dem Bedientenpack, den niedrigsten Kreaturen nach ihren Herren; fern von jenen abscheulichen Sitten der Städter, deren gleißnerischer Firnis, mit dem man sie übertüncht, sie für die Kinder verführerisch und ansteckend macht, während auf der anderen Seite die Lastern der Bauern, die in ungeschminkter Nacktheit[137] und Roheit auftreten, eher geeignet sind, abzustoßen als zu verführen, sobald nicht etwa ihre Nachahmung irgendeinen besonderen Vorteil verschafft.

Auf dem Land wird ein Erzieher in weit höherem Grad Herr der Gegenstände sein, welche er dem Kind vorzeigen will; sein Ruf, seine Unterredungen, sein musterhaftes Beispiel werden ihm ein Ansehen verschaffen, das sie ihm in der Stadt nicht würden verleihen können. Da er auf jedermanns Vorteil bedacht ist, so wird sich auch wiederum jeder beeifern, sich ihm gefällig zu erweisen, nach seiner Achtung zu streben und sich dem Schüler gegenüber so zu zeigen, wie man nach dem Wunsche des Lehrers wirklich sein sollte; und selbst wenn man seine Fehler nicht ablegt, wird man sich doch vor jedem öffentlichen Aergernis hüten, und das ist ja alles, was wir zur Erreichung unseres Zweckes bedürfen.

Hört auf, andere für eure eigenen Fehler verantwortlich zu machen; das Böse, welches die Kinder sehen, verdirbt sie weit weniger als das Böse, welches ihr selbst ihnen einimpft. Denn gerade ihr unvermeidliche Sittenprediger, Moralisten und Pedanten flößt ihnen für eine Idee, die ihr für gut haltet, gleichzeitig zwanzig andere ein, die schädlich sind. Erfüllt von den Gedanken, die euren Kopf durchkreuzen, bemerkt ihr die Wirkung nicht, welche ihr in dem ihrigen hervorbringt. Denkt ihr, daß unter dem langen Strom von Worten, mit dem ihr sie unaufhörlich langweilt, nicht ein oder das andere mit unterläuft, das sie falsch auffassen? Denkt ihr, daß die eure langatmigen Erklärungen nicht in ihrer Weise auslegen, und daß ihnen nichts darin aufstößt, woraus sie sich ein ihrer Fassungskraft entsprechendes System bilden können, das sie euch bei gegebener Gelegenheit entgegenstellen werden?

Hört einmal ein Jüngelchen, welches man so dressiert hat! Laßt es plaudern, Fragen stellen, alle seine Faseleien nach Belieben auskramen, und ihr werdet euch über die sonderbaren Verdrehungen wundern, welche eure Reden in[138] seinem Hirn erfahren haben. Ein solcher Knabe verwechselt alles, dreht alles um, langweilt euch und kann euch bisweilen durch seine unvorhergesehenen Einwürfe wahrhaft zur Verzweiflung bringen. Er zwingt euch zu schweigen oder ihm Schweigen zu gebieten. Und was muß er dann wohl über das Schweigen seitens eines Mannes denken, der sich ihm gegenüber immer redselig gezeigt hat? Erringt er je diesen Vorteil über euch und wird er seines Sieges inne, dann ist es mit der weiteren Erziehung vorbei; von diesem Augenblick an ist alles zu Ende; er sucht sich nicht länger zu unterrichten, sondern euch nur noch zu widerlegen.

O ihr übereifrigen Lehrer, seid einfach, maßvoll, vorsichtig; beeilt euch niemals handelnd einzugreifen, es sei denn, daß es darauf ankommt, das unberechtigte Handeln anderer verhindern. Ich werde es immer von neuem wiederholen: schiebt, wenn es möglich ist, einen guten Unterricht auf das Besorgnis, einen schlechten zu geben. Bebt vor dem Gedanken zurück, auf dieser Erde, welche die Natur zum ersten Paradies des Menschen gemacht hatte, dadurch die Rolle des Versuchers zu spielen, daß ihr der Unschuld die Erkenntnis des Guten und Bösen beibringen wollt! Da ihr doch nicht verhindern könnt, daß sich das Kind durch Beispiele, welche ihm vor Augen treten, belehre, so beschränkt eure ganze Wachsamkeit darauf, diese Beispiele seinem Geist unter dem Bild einzuprägen, welches ihm am wenigsten Nachteil bereitet.

Die heftigen Leidenschaften machen auf das Kind, das Zeuge der von ihnen hervorgerufenen wilden Szenen ist, einen gewaltigen Endruck, weil die Symptome, in denen sie sich zu erkennen geben, sehr in die Augen fallen und deshalb die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Namentlich machen sich die Aufwallungen des Zorns in einer so lärmenden Weise Luft, daß man unbedingt etwas davon bemerken muß, wenn man sich in der Nähe befindet. Man[139] braucht nicht erst lange zu fragen, ob sich hier für einen Pädagogen eine Gelegenheit zeigt, eine hübsche Rede zu halten. Aber nur beileibe keine solchen feierlichen Reden! Gar nichts, auch nicht ein einziges Wort darf darüber fallen! Laßt das Kind selbst kommen! Verwundert über die lärmenden Szenen, wird es nicht ermangeln, euch zu fragen. Die Antwort ist einfach: es muß sie aus seinen Wahrnehmungen folgern. Es sieht ein erhitztes Gesicht, blitzende Augen, drohende Gebärden, es vernimmt heftiges Geschrei, lauter Zeichen, daß sich der Mensch nicht in seinem gewöhnlichen Gemütszustand befindet. Sagt ihm ernst, ohne Uebertreibung, ohne Geheimniskrämerei: der arme Mann ist krank, er hat einen Fieberanfall. Ihr könnt dabei die Gelegenheit benutzen, ihm, indes nur in kurzen Worten, eine Idee von den Krankheiten und ihren Wirkungen beizubringen, denn auch diese ruft ja die Natur hervor, und sie bilden eines der Bande der Notwendigkeit, welchen es sich unterworfen fühlen muß.

Wird sich nicht des Kindes bei dieser durchaus richtigen Vorstellung wahrscheinlich schon frühzeitig ein gewisser Widerwille bemächtigen, sich den Ausbrüchen der Leidenschaften, welche es als Krankheiten betrachten wird, zu überlassen? Und glaubt ihr nicht, daß eine solche bei passender Gelegenheit ihm beigebrachte Vorstellung eine ebenso heilsame Wirkung hervorrufen wird als die langweilige Moralpredigt? Und nun macht euch die Folgen dieser Vorstellung für die Zukunft klar! Ihr erlangt dadurch die Berechtigung, falls ihr je dazu gezwungen werdet, ein eigensinniges Kind als ein krankes zu behandeln, es sein Zimmer, ja wenn es nötig ist, sein Bett hüten lassen, ihm Diät vorzuschreiben, es durch seine sich bildenden Fehler in Schrecken zu setzen und sie ihm verhaßt und furchtbar zu machen, ohne daß es je die Strenge, die ihr vielleicht zu seine Heilung anwenden müßt, als Strafe ansehen kann. Ja, wenn es euch selbst einmal in einem Augenblick der Hitze begegnet, eure Kaltblütigkeit[140] und Mäßigung, deren ihr euch befleißigen müßt, zu verlieren, so gebt euch keine Mühe, euren Fehler zu verhehlen, sondern sagt ihm freimütig, mit einem sanften Vorwurf: »Mein Lieber, du hast mich krank gemacht!«

Außerdem ist es von Wichtigkeit, daß die naiven Aeußerungen, welche ein Kind bei den einfachen Vorstellungen, über die es verfügt, mitunter zum Vorschein bringt, niemals in seiner Gegenwart gelobt, noch in einer Weise erwähnt werden, daß dasselbe es wieder erfahren kann. Ein dem Kinde grundlos erscheinendes Gelächter kann die Arbeit von sechs Monaten vernichten und einen Schaden anrichten, der im ganzen Leben nicht wieder gutzumachen ist. Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß man, um des Kindes Meister zu sein, sich selbst bemeistern muß. Ich stelle mir meinen kleinen Emil vor, wie er sich mitten in einem Streit, der zwischen zwei Nachbarinnen stattfindet, der wütendsten nähert und im Ton des höchsten Mitleids zu ihr sagt: »Liebe Frau, Sie sind krank, es tut mir sehr leid!« Unfehlbar wird dieser glückliche Einfall nicht ohne Wirkung bleiben, ja ihn vielleicht auch auf die streitenden Parteien nicht verfehlen. Ich aber werde ihn dann, ohne zu lachen, ohne ihn auszuschelten, ohne ihn zu loben, mit oder ohne Anwendung von Gewalt hinwegbringen, ehe er die er zielte Wirkung wahrnehmen vermag oder wenigstens ehe er darüber nachdenkt, und werde mich beeilen, seine Gedanken durch andere Gegenstände, die es ihn schnell wider vergessen lassen, davon abzulenken.

Es liegt nicht in meinem Plan, auf alle Einzelheiten einzugehen, sondern nur die allgemeinen Grundsätze darzulegen und sie in schwierigen Fällen, durch Beispiele zu erläutern. Ich halte es für unmöglich, daß man ein Kind im Schoß der Gesellschaft bis zum Alter von zwölf Jahren bringen kann, ohne ihm eine Vorstellung von den Beziehungen des Menschen zum Menschen und von dem sittlichen Werte der menschlichen Handlungen beizubringen.[141]

Es genügt, daß man sich die Mühe gibt, es mit diesen notwendigen Begriffen so spät wie möglich bekanntzumachen, und daß man sie, wenn sie unvermeidlich werden, auf das beschränkt, was für den Augenblick vorteilhaft ist, nur damit es sich nicht für den Gebieter über alles halte und anderen nicht gewissenlos oder unwissend Böses zufüge. Es gibt sanfte und ruhige Charakter, die man ohne Gefahr lange in ihrer kindlichen Unschuld erhalten kann; aber es gibt auch heftige Naturen, deren Wildheit sich schon früh entwickelt und deren Ausbildung man beschleunigen muß, um nicht gezwungen zu werden, sie mit Gewalt in Unterwürfigkeit zu halten.

Unsere erste Pflichten sind gegen uns selbst. Auf uns selbst laufen unsere ersten Gefühle und Empfindungen zurück; alle unsere natürlichen Triebe beziehen sich zunächst auf unsere Erhaltung und auf unser Wohlsein. Demnach regt sich das erste Gerechtigkeitsgefühl in uns nicht infolge der Gerechtigkeit, die wir unserer Umgebung schuldig sind, sondern infolge der, die man uns schuldig ist, und es gehört ebenfalls zu den Verkehrtheiten unserer gewöhnlichen Erziehung, daß man mit den Kindern zuerst immer von ihren Pflichten und nie von ihren Rechten spricht, daß man also damit beginnt, ihnen das gerade Gegenteil von dem, was nötig wäre, zu sagen, Dinge die sie nicht verstehen und welche ihnen kein Interesse einflößen können.

Wenn ich also ein solches Kind, wie ich es mir denke, zu leiten hätte, so würde ich mir sagen: Ein Kind vergreift sich nie an Personen,41 sondern nur an Dingen, und bald[142] lernt es durch die Erfahrung jeden achten, dem es an Alter und Kraft nachsteht; aber die Dinge verteidigen sich nicht selbst. Die erste Idee, die man in ihm erwecken muß, ist deshalb nicht sowohl in der Freiheit als die des Eigentums, und damit es sich diese Idee aneignen könne, muß es selbst etwas besitzen. Ihm nur zu sagen, daß dies seine Kleidungsstücke, sein Hausgerät, seine Spielsachen seien, ist völlig bedeutungslos, da es trotzdem es über alle diese Sachen frei verfügt, doch weder weiß warum, noch wie es sie bekommen hat. Ihm zu sagen, daß es sie besitze, weil man sie ihm geschenkt habe, ist auch nicht besser; denn um zu verschenken, muß man sich seines Besitzes bewußt sein. Es gibt also ein Eigentumsrecht, das sich aus früherer Zeit, als das seinige, beschreibt, und doch will man ihm gerade den ersten Beginn und den Grund des Eigentumsrechtes erklären. Dazu rechne man noch, daß das Schenken ein Vertrag ist, und daß das Kind doch unmöglich wissen kann, was ein Vertrag ist.42 Leser, erseht, ich bitte euch, aus diesem und hunderttausend anderen Beispielen, wie man sich stets einbildet, die Kinder gut erzogen zu haben, trotzdem man ihnen nur den Kopf mit Wörtern vollstopft, welche bei ihrem dermaligen Fassungsvermögen gar keinen Sinn für sie haben.

Es gilt also, bis auf den Ursprung des Eigentums zurückzugehen; denn daraus muß sich die erste Idee desselben entwickeln. Das Kind, welches auf dem Lande lebt,[143] wird sich ein Begriff von den ländlichen Arbeiten gebildet haben. Es bedarf dazu nur der Augen und einiger Muße; beides wird es haben. In jedem Alter, vor allen Dingen aber in dem seinigen regt sich die Lust zu schaffen, nachzuahmen, hervorzubringen, Proben seiner Kraft und Tätigkeit zu geben. Ehe es einen Garten zweimal hat bestellen, besäen und die Gemüse aufgehen und wachsen sehen, wird es seinerseits Gartenbau treiben wollen.

Den bereits entwickelten Grundsätzen zufolge kämpfe ich gegen diese Neigung nicht an; ich begünstige sie im Gegenteil, teile sein Interesse, arbeite mit ihm, nicht ihm, sondern mir zuliebe; wenigstens glaubt es das Kind. Ich werde sein Gärtnerhilfe; bis es seine eigenen Arme gebrauchen lernt, bestelle ich für dasselbe das Land. Es nimmt darauf Besitz davon, indem es eine Bohne pflanzt; und sicherlich ist diese Besitznahme heiliger und ehrwürdiger als die Besitzergreifung von Südamerika durch Nunez Balbao, welcher im Namen des Königs von Spanien seine Fahne an der Küste der Südsee aufpflanzte.

Täglich kommen wir nun, die Bohnen zu begießen, und sehen sie mit innigster Freude aufgehen. Ich erhöhe diese Freude noch dadurch, daß ich zu ihm sage: »Dies ist dein Eigentum«; und indem ich ihm dabei den Ausdruck Eigentum erkläre, rufe ich in ihm das Bewußtsein hervor, daß es seine Zeit, seine Arbeit, seine Mühe, ja selbst seine Person daran gewendet habe, daß in diesem Land also gleichsam etwas von ihm selbst liege, das es gegen jeden, wer es auch immer sei, mit demselben Recht für sich in Anspruch nehmen könne, wie es seinen Arm aus der Hand eines anderen, der diese wider seinen Willen zurückhalten wolle, zurückziehen dürfe.

Eines schönen Tages kommt Emil wieder ganz eilfertig an, die Gießkanne in der Hand. O, welch ein Anblick bietet sich ihm dar! Welch ein Schmerz erfüllt seine Seele! Alle[144] Bohnen sind ausgerissen, das ganze Beet ist umgewühlt; kaum ist der Platz noch wiederzuerkennen. »Ach, was ist aus meiner Arbeit, meinem Werk, was aus der süßen Frucht meiner Mühen und meines Schweißes geworden? Wer hat mir mein Gut geraubt? Wer hat mir meine Bohnen genommen?« Das junge Herz empört sich. Das erste Gefühl erlittenen Unrechts hat seine Seele in bitteren Schmerz versenkt. Stromweise rinnen ihm Tränen über die Wangen. Das trostlose Kind erfüllt die Luft mit Seufzen und Wehgeschrei. Man nimmt Anteil an seiner Trauer und Entrüstung, man forscht nach, zieht Erkundigungen ein, stellt genaue Untersuchungen an. Endlich entdeckt man, daß der Gärtner den Streich verübt hat. Man läßt ihn kommen.

Aber hier haben wir die Rechnung ohne Wirt gemacht! Kaum erfährt der Gärtner den Grund unserer Klage, als er noch weit gewaltiger als wir zu klagen beginnt. »Wie, meine Herren, Sie sind es also, die alle meine Arbeit vereitelt haben? Ich hatte hier ein Beet maltesischer Melonen angelegt, deren Kerne mir als ein kostbarer Schatz geschenkt worden waren, und mit deren Früchten ich Sie, wenn sie reif sein würden, zu bewirten gehofft hatte. Aber nun sehen Sie, was Sie angerichtet haben! Bloß um Ihre elenden Bohnen zu pflanzen, haben Sie mir meine Melonen, die schon aufgegangen waren, und die ich nie wieder ersetzen kann, zerstört. Sie haben mir einen unersetzlichen Schaden zugefügt und sich selber des Vergnügens beraubt, ausgezeichnete Melonen zu essen,«

Johann Jakob. Entschuldige uns, mein armer Robert. Du hast deine Arbeit, deine Mühe darauf verwendet. Ich sehe ein, daß wir unrecht getan haben, dein Werk zu vernichten; indes wollen wir dir andere Kerne aus Malta kommen lassen, und kein Stück Land wieder bearbeiten, bevor wir erfahren haben, ob nicht schon vor uns irgendein anderer Hand daran gelegt hat.

[145] Robert. Nun, meine Herrn, dann werden Sie sich für immer der Ruhe hingeben können, denn unbebautes Land gibt es nirgends mehr. Ich bearbeite das, was mein Vater urbar gemacht hat; jeder handelt seinerseits ebenso, und alle Ländereien, die Sie sehen, befinden sich längst in bestem Besitz.

Emil. Gehen Ihnen denn oft, Herr Robert, Melonenkerne auf solche Weise verloren?

Robert. Bitte um Verzeihung, junger Herr; es geraten nicht oft solche Herrchen darüber, die so unbesonnen sind wie Sie. Niemand vergreift sich an dem Garten seines Nachbars; jedermann nimmt auf die Arbeit anderer Rücksicht, damit seine eigene verschont bleibe.

Emil. Aber ich habe keinen Garten!

Robert. Was geht mich das an? Wenn Sie in dem meinigen Schaden anrichten, so werde ich Ihnen nicht mehr erlauben, darin spazierenzugehen, denn sehen Sie, ich will den Lohn meiner Mühe nicht verlieren.

Johann Jakob. Könnten wir mit dem guten Robert nicht einen Vergleich abschließen? Vielleicht überließe er uns, meinem kleinen Freunde und mir, einen Winkel seines Gartens unter der Bedingung zur Bearbeitung, daß er die Hälfte des Ertrages erhält.

Robert. Darauf gehe ich ohne Bedingung ein. Seien Sie dessen aber eingedenk, daß ich Ihnen Ihre Bohnen umwühlen werde, sobald Sie noch einmal Hand an meine Melonen legen.

Aus dieser Probe hinsichtlich der Art und Weise, den Kindern die ersten Begriffe beizubringen, sieht man wie der Begriff des Eigentums naturgemäß auf das Recht des zuerst durch seine Arbeit davon Besitz Ergreifenden zurückführt. Das ist klar, bestimmt, einfach und stets dem kindlichen Fassungsvermögen entsprechend. Von hier bis zu dem Eigentumsrecht und dem Austausch desselben ist dann[146] nur noch ein Schritt, über welchen man nicht hinausgehen darf.

Man wird ferner begreifen, daß einer Erklärung, die ich hier auf zwei Druckseiten zusammenfasse, bei der praktischen Ausführung vielleicht ein ganzes Jahr verlangt, denn bei der stetigen Entwicklung sittlicher Ideen kann man nicht langsam genug fortschreiten, damit man bei jedem neuen Schritt auch immer festeren Grund und Boden unter sich fühlt. Ihr jungen Lehrer, schenkt, ich bitte euch darum, diesem Beispiel eure Aufmerksamkeit, und seid dessen eingedenk, daß jedweder Unterricht mehr in Handlungen als in Reden bestehen muß, denn die Kinder vergessen gar leicht, was sie selbst gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen getan hat.

Aehnliche Belehrungen müssen, wie ich schon auseinandergesetzt habe, früher oder später erteilt werden, je nachdem die ruhige oder stürmische Natur des Zöglings Beschleunigung oder Verzögerung erforderlich macht. Ihr Nutzen ist einleuchtend. Um aber bei so schwierigen Sachen nichts Wichtiges zu verabsäumen, will ich noch ein Beispiel hinzufügen.

Euer eigensinniges Kind verdirbt alles, was es berührt. Werdet darüber nicht böse, sondern entfernt nur alles aus seiner Umgebung, was es verderben könnte. Zerbricht es die Geräte, deren es sich stets bedient, so beeilt euch nicht, ihm andere anzuschaffen; laßt es die nachteiligen Folgen des Entbehrens fühlen. Zerbricht es die Fenster seines Zimmers, so laßt es Tag und Nacht ruhig vom Wind umwehen, ohne danach zu fragen, daß es sich dadurch vielleicht den Schnupfen zuzieht, denn es ist besser, daß es den Schnupfen bekommt, als daß es ein Narr bleibe. Beklagt euch nie über die Unbequemlichkeiten, die es euch verursacht, sorgt aber dafür, daß es diese zuerst empfinde. Endlich laßt, ohne das geringste Wort drüber zu äußern, die[147] Scheiben wieder einsetzen. Zerschlägt es sie jedoch abermals, dann ändert sofort die Methode. Sagt ihm ganz trocken, aber ohne jegliche Aufregung: »Die Fenster gehören mir, auf meine Kosten sind sie eingesetzt worden; ich werde sie vor künftiger Beschädigung schützen.« Sperrt es hierauf in eine dunkle, fensterlose Kammer ein. Bei diesem gänzlich neuen Verfahren beginnt es zu schreien und zu lärmen. Niemand achtet darauf. Bald wird es dessen überdrüssig und schlägt einen anderen Ton an: es klagt und seufzt. Ein Diener erscheint, der Trotzkopf bittet, ihn zu befreien. Jener erwidert, ohne irgendeinen anderen Grund vorzuschützen: »Ich habe auch Fenster zu schützen!« und geht seiner Wege. Endlich, nachdem das Kind einige Stunden darin zugebracht hat, lange genug also, um sich zu langweilen und es aus der Erinnerung zu verlieren, bringt es jemand auf den Gedanken, euch einen Vergleich anzubieten, laut welchem ihr es wieder in Freiheit setzt und es hinfort keine Scheiben mehr zerbrechen darf. Es wird nichts Besseres verlangen und die Bitte an euch richten lassen, zu ihm zu kommen. Ihr kommt. Es wird euch nun seinen Vorschlag machen, und ihr nehmt ihn augenblicklich an, indem ihr zu ihm sagt: »Das ist ein glücklicher Gedanke von dir, wir werden alle beide dabei gewinnen. Weshalb bist du nicht früher auf diesen glücklichen Einfall geraten!« Und darauf werdet ihr es, ohne von ihm eine neue Beteuerung und Bekräftigung seines Versprechens zu verlangen, voller Freude umarmen und es sofort auf sein Zimmer zurückführen. Vor allem aber müßt ihr diesen Vertrag für ebenso heilig und unverletzlich ansehen, als wäre er durch einen Eid bekräftigt. Welch eine Idee von der Verbindlichkeit übernommener Verpflichtungen und des Vorteils derselben muß sich nicht das Kind nach einem solchen Vorgang bilden! Ich müßte mich sehr täuschen, wenn es auf der Erde auch nur ein einziges, noch nicht völlig verdorbenes Kind gäbe, welches nach Anwendung[148] dieser Methode sich je wieder beikommen ließe, absichtlich eine Scheibe zu zerbrechen. Laßt die Verkettung und den Zusammenhang alles dessen nicht außer acht! Der kleine Uebeltäter dachte, als er ein Loch grub, um seine Bohne zu pflanzen, wohl schwerlich daran, daß er sich damit zugleich das Fundament zu einem Gefängnis ausgrübe, in welches ihn seine dabei erlangte Erkenntnis bald einschließen sollte.43

Damit sind wir denn nun in der moralischen Welt angekommen, damit ist auch dem Laster die Tür geöffnet. Mit Verträgen und Pflichten entstehen gleichzeitig Betrug und Lüge. Sobald man tun kann, was man nicht tun darf, sucht man zu verbergen, was man nicht hätte tun sollen. Sobald uns ein Interesse ein Versprechen entlockt, kann uns ein größeres Interesse dazu bewegen, das Versprechen zu brechen. Nun handelt es sich nur noch darum, es straflos zu tun; das Mittel, welches, sich dazu darbietet, ist sehr natürlich; man begeht sein Vergehen im[149] geheimen und lügt. Dadurch, daß wir das Laster nicht zu verhüten vermochten, sind wir nun schon in die Lage geraten, es bestrafen zu müssen. Das sind die Leiden des menschlichen Lebens, welche gleichzeitig mit den Irrtümern beginnen.

Ich habe schon zu Genüge darauf hingewiesen, daß man über die Kinder keine Strafe als solche verhängen soll, sondern daß dieselbe sie stets als eine Folge ihrer bösen Handlungen ereilen müsse. Ihr dürft deshalb auch nicht gegen die Lüge deklamieren, dürft auch nicht lediglich aus dem Grund die Strafe eintreten lassen, weil eine Lüge ausgesprochen ist; aber müßt es so einrichten, daß alle schlimmen Folgen der Lüge – wie zum Beispiel die, daß man dem Lügner nicht glaubt, selbst wenn er die Wahrheit spricht, daß man ihn einer schlechten Tat zeiht, trotzdem er sie nicht getan hat und sich dagegen verteidigt – über sie hereinbrechen, sobald sie gelogen haben. Indes bleibt uns noch zu erörtern übrig, was in bezug auf die Kinder Lügen heißt.

Es gibt zwei Arten von Lügen: eine, welche Tatsachen betrifft und damit in die Vergangenheit zurückweist, und eine andere, bei welcher es sich um Versprechungen für die Zukunft handelt. Die erstere findet statt, wenn man leugnet, das getan zu haben, was man doch wirklich getan hat, oder wenn man behauptet, das getan zu haben, was man eben nicht getan hat, überhaupt also, wenn man in betreff bestimmter Tatsachen wissentlich die Unwahrheit sagt. Die letztere dagegen findet statt, wenn man ein Versprechen abgibt, welches man nicht zu halten beabsichtigt, überhaupt, wenn man eine andere Gesinnung zur Schau trägt, als man wirklich hegt. Beide Arten von Lügen können sich bisweilen in einer und derselben vereinigen,44 indes behandle ich sie hier nur in bezug auf ihre Unterschiede.[150] Wer das Bedürfnis fremder Hilfe fühlt und unaufhörlich die Beweise des Wohlwollens seiner Umgebung erfährt, hat kein Interesse, dieselbe zu täuschen, im Gegenteil hat er ein sehr fühlbares Interesse, daß sie die Dinge sieht wie sie sind, aus Besorgnis, sie könne sich zu seinem Nachteil täuschen. Es ist demnach klar, daß die Lüge in bezug auf Tatsachen den Kindern nichts Natürliches ist; sondern das Gesetz des Gehorsams ruft bei ihnen die Notwendigkeit zu lügen hervor. Weil nämlich der Gehorsam etwas lästiges ist, so sucht man im geheimen die Fesseln desselben soviel wie möglich abzustreifen. Das naheliegende Interesse, der Strafe oder einem Verweis zu entgehen, erhält die Oberhand über das entferntere, die Wahrheit zu sagen. Weshalb sollte euch euer Kind bei einer natürlichen und freien Erziehung belügen? Was hat es euch wohl zu verbergen? Ihr macht ihm ja keine Vorwürfe, bestraft es nicht, verlangt nichts von ihm. Weshalb sollte es euch nicht alles, was es getan hat, mit derselben Offenherzigkeit wie seinem kleinen Spielkameraden sagen können? Bei diesem Geständnis kann es auf der einen Seite keine größere Gefahr laufen als auf der anderen.

Die Lüge bei Versprechungen ist noch weniger natürlich, weil die Versprechungen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen, konventionelle Akte sind, welche vom Naturzustand entfernen und die Freiheit schmälern. Ja noch mehr, alle von Kindern eingegangenen Verbindlichkeiten sind an und für sich null und nichtig, da ihr beschränkter Blick nicht über die Gegenwart hinausreicht, und sie folglich bei der Uebernahme von Verpflichtungen gar nicht wissen, was sie tun. Man kann deshalb nicht füglich den Ausdruck Lüge anwenden, wenn ein Kind sich verpflichtet; denn da es nur darauf sinnt, sich für den Augenblick aus der Verlegenheit zu ziehen, so gilt in seinen Augen jedes Mittel, welches keine augenblickliche Wirkung hervorruft, gleich viel. Indem es ein Versprechen für die Zukunft ablegt, verspricht es[151] im Grunde genommen nichts; seine noch schlummernde Einbildungskraft vermag noch nicht zu fassen, daß es mit seinem Wesen zwei verschiedenen Zeiten angehört. Wenn es der Rute entgehen oder eine Zuckertüte dadurch erlangen könnte, daß es das Versprechen ablegte, sich morgen aus dem Fenster zu stürzen, so würde es keinen Augenblick Bedenken tragen, es zu versprechen. Aus diesem Grund nehmen auch die Gesetze auf die Verbindlichkeiten der Kinder keine Rücksicht, und wenn strengere Väter und Lehrer dieselben dennoch verlangen, so darf sich dies doch nur auf solche Dinge erstrecken, die das Kind auch ohne abgelegtes Versprechen tun müßte.

Da demnach das Kind nicht weiß, was es tut, wenn es eine Verbindlichkeit übernimmt, so kann es auch bei Ablegung eines Versprechens nicht lügen. Etwas anderes ist es, wenn es sein Versprechen nicht hält, was auch eine Art rückwirkender Lüge ist, denn es erinnert sich seines gegebenen Versprechens sehr wohl. Allein die Wichtigkeit, es zu halten, leuchtet ihm nicht ein. Außerstande in der Zukunft zu lesen, kann es die Folgen seiner Handlungsweise nicht vorhersehen. Hält es seine Versprechung nicht, so tut es nichts gegen die Einsicht seines Alters.

Hieraus folgt, daß die Lüge der Kinder allein der Erziehung der Lehrer zuzuschreiben sind, und daß die Anleitung, die man ihnen gibt, nur die Wahrheit zu sagen, eigentlich eine Anleitung zur Lüge ist. Bei dem Eifer, den man entwickelt, sie zu bevormunden, zu leiten, zu unterrichten, findet man nie Mittel genug, um zum Ziel zu gelangen. Man will ihren Geist durch unbegründete Regeln und unvernünftige Vorschriften immer mehr beherrschen, und hält es für besser, daß sie ihre Aufgabe lernen und lügen, als daß sie unwissend und wahr bleiben.

Was uns dagegen betrifft, so unterrichten wir unsere Zöglinge nur auf praktischem Weg und wollen sie lieber zu guten als zu gelehrten Menschen erziehen; wir verlangen nicht ausdrücklich von ihnen Wahrheit, weil wir Besorgnis[152] hegen, sie möchten dieselbe zu umgehen suchen, und nehmen ihnen kein Versprechen ab, das sie sich versucht fühlen könnten, nicht zu halten. Wenn in meiner Abwesenheit irgend etwas Unrechtes vorgefallen ist, dessen Täter ich noch nicht kenne, so werde ich wohl auf meiner Hut sein, Emil zu beschuldigen, oder zu ihm zu sagen: »Bist du es gewesen?«45 Denn das würde ich damit anderes tun, als daß ich selbst ihn gerade zum Leugnen aufforderte? Zwingt mich etwa sein eigensinniger Charakter, mit ihm irgendeine Uebereinkunft abzuschließen, so werde ich meine Maßregeln dergestalt treffen, daß, der Vorschlag dazu stets von ihm, nie von mir ausgeht, damit er, sobald er sich einmal zu etwas verpflichtet hat, nun auch stets ein naheliegendes und fühlbares Interesse habe, seine übernommene Verbindlichkeit zu erfüllen, und damit ferner, wenn er es je verabsäumt, diese Lüge ihm solche Uebel zuzieht, die er aus dem natürlichen Laufe der Dinge selbst hervorgehen sieht und nicht als einen Racheakt seines Lehrers betrachten kann. Aber weit davon entfernt, zu so grausamen Mitteln meine Zuflucht zu nehmen, halte ich es fast für eine unumstößliche Gewißheit, daß Emil erst spät lernen wird, was Lügen heißt, und daß er nach dieser gewonnenen Einsicht sehr überrascht sein und nicht begreifen wird, wozu das Lügen frommt. Es ist völlig einleuchtend, daß ich, je unabhängiger ich ihn, sei es nun von dem Willen, sei es von den Urteilen anderer mache, desto mehr auch das Interesse am Lügen in ihm ertöte.

Wenn man sich mit dem Unterricht nicht übereilt, so übereilt man sich auch nicht, Anforderungen zu stellen, sondern[153] wartet seine Zeit ab, um nichts Unbilliges zu verlangen. Alsdann geht die Entwicklung des Kindes vor sich, ohne daß es verdorben wird. Wenn aber ein ungeschickter Lehrer, der es nicht zu behandeln versteht, ihm jeden Augenblick bald dieses, bald jenes Versprechen abnimmt, ohne Unterschied, ohne Wahl, ohne Maß, so wird das Kind, gelangweilt und mit solchen Versprechungen förmlich überladen, diese vernachlässigen, vergessen, ja sie endlich sogar verabscheuen, und da es sie nun als leere Formeln betrachtet, sein Spiel damit treiben, sie zu geben und zu brechen. Wollt ihr, daß es treu und ehrlich sein Wort halte, nun, so seid vorsichtig im Fordern und Versprechungen.

Die Einzelheiten, die ich hier in bezug auf die Lüge weitläufig erörtert habe, können in vieler Beziehung auch auf alle übrigen Pflichten Anwendung finden, welche man den Kindern in einer Form vorschreibt, daß sie ihnen nicht nur verhaßt, sondern auch unausführbar werden. Unter dem Schein, ihnen die Tugend zu predigen, flößt man ihnen Liebe zu allen Lastern ein. Man impft sie ihnen ein, während man sie von denselben warnt. Um sie fromm zu machen, müssen sie sich in der Kirche langweilen. Dadurch, daß man sie unaufhörlich Gebete hermurmeln läßt, zwingt man sie, sich nach dem Glück zu sehnen, nicht mehr zu Gott beten zu brauchen. Um ihnen Mildtätigkeit einzuflößen, läßt man sie Almosen geben, als ob man verschmähe, sie selbst zu geben. Nein, nicht das Kind muß sie geben, sondern der Lehrer! Wie lieb er seinen Zögling auch immer haben möge, diese Ehre muß er ihm doch streitig machen. Er muß ihm begreiflich machen, daß man in seinem Alter derselben noch nicht würdig sei. Almosengeben gebührt dem Mann, der den Wert seiner Gabe und das Bedürfnis seines Nächsten kennt. Da das Kind weder das eine noch das andere zu ermessen versteht, kann es beim Geben auch kein Verdienst für sich in Anspruch nehmen; es gibt ohne Mildtätigkeit, ohne Wohltätigkeitssinn; es schämt sich fast zu[154] geben, wenn es, auf sein und euer Beispiel gestützt, zu dem Wahne kommt, daß es sich nur für Kinder zieme, Almosen zu spenden, aber nicht für Erwachsene.

Erwägt auch, daß man durch das Kind immer nur solche Dinge verschenken läßt, deren Wert es nicht kennt, Stückchen Metall, die es nur zu diesem Zweck in seiner Tasche trägt. Ein Kind würde lieber hundert Goldstücke als einen Kuchen fortgeben. Fordert aber einmal einen solchen freigiebigen Almosenverteiler auf, Dinge wegzuschenken, die ihm lieb sind, Spielzeug, Bonbons, sein Vesperbrot, und wir werden bald zu sehen bekommen, ob es euch in der Tat geglückt ist, das Kind freigiebig zu machen.

Man bedient sich in diesem Punkt auch wohl noch eines anderen Auskunfstmittels; man erstattet nämlich dem Kinde das, was es fortgegeben hat, schleunigst wieder. Auf diese Weise gewöhnt es sich freilich daran, wenigstens das zu verschenken, wovon es weiß, daß es dasselbe wiedererhalten wird. Ich habe bei Kindern kaum je eine andere als eine von diesen beiden Arten von Freigebigkeit gefunden, das nämlich fortzuschenken, was für sie keinen Wert hat, oder das, wovon sie sicher sind, es wiederzuerhalten. Sorgt dafür, sagt Locke, sie durch die Erfahrung davon zu überzeugen, daß der Freigebige stets den größten Lohn davonträgt. Das heißt denn doch nichts anderes, als das Kind nur scheinbar freigebig, in Wahrheit aber geizig machen. Er fügt hinzu, daß den Kindern dadurch die Freigebigkeit zur zweiten Natur werden würde. Unstreitig aber nur jene wucherische Freigebigkeit, die ein Ei hingibt, um ein Rind dafür zu erhalten. Gilt es jedoch einmal im Ernst zu geben, dann fahre hin, Gewohnheit! Sobald man aufhören wird, ihnen für das Verschenkte Ersatz zu leisten, werden sie auch aufhören zu spenden. Darauf muß man sein Augenmerk richten, daß die Freigebigkeit eher der Gewohnheit der Seele als der der Hände entspringe. Aehnlich wie mit dieser Tugend verhält es sich mit allen übrigen, welche man die[155] Kinder lehrt. Gerade dadurch, daß man ihnen diese echten Tugenden nur fortwährend predigt, verbittert man ihnen ihre jungen Jahre. Ist das nicht eine weise Erziehung?

Lehrer, unterlaßt dergleichen Firlefanzereien! Seid tugendhaft und gut, damit euer Beispiel sich dem Gedächtnis eurer Zöglinge einpräge, bis es in ihre Herzen dringen kann. Anstatt mich zu beeilen, von dem meinigen Werke der Mildtätigkeit zu verlangen, halte ich es für geeigneter, selbst in seiner Gegenwart zu tun und ihm sogar die Mittel zu entziehen, mir darin nachzueifern, damit er darin eine Ehre erkenne, die seinem Alter noch nicht gebührt, denn es ist von Wichtigkeit, daß er sich nicht daran gewöhne, die Menschenpflichten nur als Kinderpflichten aufzufassen. Sieht mich mein Zögling Arme unterstützen und befragt mich darüber, so werde ich falls es an der Zeit ist, ihm zu antworten,46 sagen: »Mein Freund, als die Armen gestatteten, daß es Reiche gäbe, haben die Reichen alle diejenigen zu ernähren versprochen, welche sich weder durch ihren Besitz noch durch ihre Arbeit Unterhalt zu verschaffen vermögen.« – »Haben Sie es denn auch versprochen?« wird er entgegnen. »Unzweifelhaft; nur unter dieser Bedingung, die an jeden Besitz geknüpft ist, bin ich Herr der Güter, die meiner Verwaltung anvertraut sind.«

Ein anderer als Emil würde, wenn er diese Unterredung verstanden hätte – und man wird sich dessen noch erinnern, wie man nach meiner Methode ein Kind zum Verständnis bringen kann – sich versucht fühlen, mir nachzuahmen und sich als reicher Herr zu gebaren. In diesem Fall würde ich mich wenigsten zu verhindern bemühen, daß es in prahlerischer Weise hervortrete. Da würde mir[156] noch angenehm sein, daß er sich mein Recht anmaßte und heimliche Geschenke machte. Es wäre ein in seinem Alter liegender Betrug, und auch der einzige, den ich ihm verzeihen würde.

Ich weiß, daß alle diese den Nachahmungstrieb hervorgerufenen Tugenden weiter nichts als Affentugenden sind, und daß eine gute Tat nur dann sittlich gut genannt werden kann, wenn man sie um ihrer selbst willen vollbringt, und nicht, weil andere sie tun. Indes in einem Alter, wo das Herz noch nichts empfindet, muß man die Kinder wohl Handlungen nachahmen lassen, die ihnen zur zweiten Natur werden solle, bis sie dieselben später aus eigener Ueberlegung und aus Liebe zum Guten zu vollbringen. Dem Menschen, je selbst dem Tier ist der Nachahmungstrieb angeboren. Diese Sucht zur Nachahmung ist von der Natur weislich geordnet. Der Affe ahmt dem Menschen nach, welchen er fürchtet, nicht aber den Tieren, welche er verachtet; er erkennt das für gut an, was ein höherstehendes Wesen tut. Unter und dagegen ahmen die Lustigmacher jeglicher Gattung des Schöne nach, um es herabzuwürdigen und es lächerlich machen. In dem Gefühl ihrer Niedrigkeit suchen sie das, was besser ist als sie, zu sich herabzuziehen, oder man erkennt, wenn sie sich die Gegenstände ihrer wirklichen Bewunderung nachzuahmen bemühen, an der Wahl der Gegenstände den schlechten Geschmack der Nachahmer. Sie geben weit mehr darauf aus, andere zu täuschen oder ihre Talente bewundern zu lassen, als besser und weiter zu werden. Der tiefere Grund der Nachahmung unter uns entspringt der Sucht, beständig aus sich herauszutreten. Gelingt mir die Erziehung Emils, so wird er sicherlich diese Stufe nicht teilen. Wir wollen deshalb auf das scheinbare Gute, was sie möglicherweise hervorbringen könnte, gern verzichten.

Wenn ihr alle eure Erziehungsregeln einmal gründlich untersuchen wollet, würdet ihr sie alle gleich widersinnig[157] finden, besonders aber inwieweit sie Tugend und Sittlichkeit betreffen. Die einzige sittliche Lehre, welche für die Kindheit geeignet und gleichzeitig für jedes Lebensalter von höchster Wichtigkeit ist lautet: Füge niemals irgend jemand etwas Böses zu. Selbst die Vorschrift, Gutes zu tun, ist, wenn sie jener nicht untergeordnet wird, gefährlich, falsch und voller Widerspruch. Wer täte denn durchaus nichts Gutes? Jedermann kann sich wenigstens auf einzelne gute Handlungen berufen, der Böse ebensogut wie alle übrigen. Er macht aber auf Kosten von hundert Unglücklichen nur einen einzigen glücklich, und ebendaher stammt all unser Elend. Gerade die erhabensten Tugenden sind negativer Natur und außerdem auch die schwierigsten, weil sie die Oeffentlichkeit nicht lieben und sogar über das dem menschlichen Herzen so süße Vergnügen erhaben sind, unseren Nächsten befriedigt von uns scheiden zu sehen. O, zu wie größerem Segen muß nicht derjenige seinen Mitmenschen gereichen, der ihnen nie etwas zuleide tut, wenn es überhaupt einen solchen gibt! Welcher Unerschrockenheit der Seele, welcher Charakterstärke bedarf er zu diesem Zweck! Aber nicht durch Anstellung gelehrter Untersuchungen über diesen Grundsatz, sondern durch den Versuch, ihn zur Ausführung zu bringen, lernt man erst, wie groß und schwer es ist, hierin Erfolge zu erzielen.47[158]

Das sind einige flüchtige Andeutungen über die Vorsicht, welche ich bei Erteilung solcher Verhaltungsregeln für Kinder berücksichtigt zu sehen wünsche, die man zuweilen nicht umgehen kann, ohne sie der Gefahr auszusetzen, sich oder anderen Schaden zuzufügen, und vorzüglich schlimme Gewohnheiten anzunehmen, die man späterhin nur mit Mühe würde wieder ausrotten können. So viel können wir uns aber versichert halten, daß sich diese Notwendigkeit bei Kindern, die erzogen sind, wie sie sein sollen, nur selten herausstellen wird, da sie unmöglich eigensinnig, boshaft, lügnerisch, habsüchtig werden können, wenn man die Laster, die sie dazu machen, nicht selbst in ihre Herzen gesät hat. Demnach bezieht sich das, was ich über diesen Punkt gesagt habe, mehr auf die Ausnahme als auf die Regeln, aber diese Ausnahmen werden um so häufiger sein, je mehr Gelegenheit die Kinder haben, aus ihrem Kreis herauszutreten und die Laster der Erwachsenen anzunehmen. Notwendigerweise bedürfen solche Kinder, die ihre Erziehung inmitten der großen Welt erhalten, eines früheren Unterrichts als diejenigen, welche man in der Einsamkeit erzieht. Diese Erziehung in stiller Zurückgezogenheit würde demnach schon aus dem Grunde den Vorzug verdienen, weil sie der Kindheit die zur Reife nötige Zeit gewährt.

Es gibt aber auch noch eine andere entgegengesetzte Art von Ausnahmen hinsichtlich derjenigen, welche glückliche Anlagen über ihr Alter befähigen. Wie es Menschen gibt, die nie das kindliche Wesen ablegen, so gibt es umgekehrt wieder andere, die sozusagen niemals Kinder gewesen, sondern beinahe unmittelbar von der Geburt an in das männliche Alter getreten sind. Leider sind diese letzteren Ausnahmen sehr selten und sehr schwer zu erkennen, und ein weiterer Uebelstand ist, daß fast jede Mutter, in der Einbildung,[159] es gebe Wunderkinder, nicht im geringsten daran zweifelt, das ihrige gehöre dazu. Ja, noch mehr, sie halten die ganze alltäglichen und gewöhnlichen Erscheinungen, wie Lebhaftigkeit, glückliche Einfälle, Flatterhaftigkeit, fesselnde Naivität, für etwas ganz Außerordentliches, während es doch nur die charakteristischen Merkmale dieses Alters sind, welche es am augenscheinlichsten beweisen, daß ein Kind eben nichts als ein Kind ist. Ist es wirklich etwas so Bewundernswertes, wenn derjenige, den man unaufhörlich reden läßt, welchem man alles zu sagen erlaubt, der sich um keine Rücksicht, um keine Anstandsregel zu kümmern braucht, zufälligerweise auch einmal einen guten Einfall hat? Es würde im Gegenteil weit verwundernswerter sein, wenn es nicht so wäre, gerade wie es dasselbe Staunen erregen müßte, wenn der Astrolog unter tausend Lügen nicht auch einmal eine Wahrheit vorhersagte. Sie werden noch so lange lügen, sagte Heinrich IV., bis sie endlich einmal die Wahrheit sagen werden. Wer nach Witzen hascht, braucht nur recht viele Albernheiten zu sagen. Gott beschütze die armen Gecken, die keinen anderen Verdiensten ihre Bewunderung zu verdanken haben!

Wie die kostbarsten Diamanten in die Hände der Kinder, so können auch die glänzendsten Gedanken in das Gehirn, oder vielmehr die witzigsten Worte in den Mund derselben kommen, ohne daß darum die Gedanken oder die Diamanten ihnen angehören. In keiner Beziehung gibt es für dieses Alter ein wahres Eigentum. Mit den Worten, die ein Kind spricht, verbindet es nicht dieselbe Bedeutung, die sie für uns haben; es legt ihnen nicht die gleichen Begriffe unter. Diesen Begriffen, wenn es überhaupt solche hat, fehlt es in seinem Kopf an logischer Ordnung und Zusammenhang; in allen seinen Gedanken findet sich nichts Festes, nichts Bestimmtes. Prüft einmal euer vermeintliches Wunderkind. In gewissen Augenblicken werdet ihr bei ihm allerdings den gewaltigsten Tätigkeitstrieb, eine[160] Geistesschärfe finden, welche die Wolken durchdringt; gewöhnlich aber wird euch derselbe Geist schlaff, matt und wie von dichtem Nebel umhüllt erscheinen. Bald eilt er euch vorauf, bald bleibt er unbeweglich. In dem einen Augenblick möchtet ihr ausrufen: »Es ist ein Genie!« und in dem nächsten: »Es ist ein Einfaltspinsel!« Ihr würdet euch beide Male täuschen; es ist eben nur ein Kind. Es ist ein junger Adler, der sich in einem Augenblick in die Lüfte emporschwingt und im nächsten wieder in sein Nest zurücksinkt.

Behandelt es deshalb, wie es euch auch in euren Augen erscheinen mag, seinem Alter gemäß, und hütet euch, seine Kräfte durch zu große Uebung und Anspannung derselben zu erschöpfen. Wenn sich das junge Gehirn erhitzt, wenn ihr gewahrt, daß es überzuschäumen beginnt, so laßt es anfangs in Freiheit ausgären, stachelt es aber niemals an, weil ihr sonst befürchten müßtet, daß es sich ganz verdunste; und wenn nun die überschüssigen Dünste verdampft sein werden, dann haltet den übriggebliebenen Geist zurück, zügelt ihn, bis daß mit den Jahren alles in belebende Wärme und wirkliche Kraft übergeht. Anderenfalls werdet ihr Zeit und Mühe umsonst verschwenden, euer eigenes Werk zerstören, und nachdem ihr euch unbesonnen an all diesen entzündlichen Dünsten berauscht habt, wird euch nichts übrigbleiben als ein kraftloser Bodensatz.

Vielversprechende, sich bemerkbar machende Kinder pflegen gewöhnliche Menschen zu werden, das ist ein anerkannter und richtiger Erfahrungssatz. Nichts ist schwieriger, als bei den Kindern die wirkliche Beschränktheit von der nur scheinbaren und trügerischen, welche das Anzeichen starker Seelen ist, zu unterscheiden. Es scheint anfänglich befremdend, daß diese beiden Extreme einander so ähnliche Kennzeichen haben, indes ist dies gar nicht anders möglich; denn in einem Alter, in welchem der Mensch noch keine wahren Ideen hat, besteht der ganze Unterschied zwischen dem Begabten und dem Beschränkten darin, daß sich der letztere nur falsche[161] Ideen aneignet, der erstere dagegen, da sich ihm keine anderen darbieten, lieber auf alle verzichtet. Sie ähneln einander also insofern, daß der eine zu nichts fähig ist, während dem anderen nichts gut genug scheint. Das einzige Kennzeichen, welches ihre Verschiedenheit hervortreten läßt, hängt vom Zufall ab. Er macht den letzteren vielleicht mit irgendeiner seine Fassungskraft nicht übersteigenden Idee bekannt, während der erstere beständig derselbe bleibt. Der junge Kato galt während seiner Kindheit in seiner ganzen Familie für ein Schwachkopf. »Er ist schweigsam und starrköpfig,« lautete das einstimmige Urteil. Erst in Vorzimmer des Sulla lernte ihn sein Onkel recht kennen. Wäre er nicht in dies Vorzimmer gekommen, so hätte er vielleicht bis zum Alter der Vernunft für ein Dummkopf gegolten. Hätte kein Cäsar gelebt, so hätte man vielleicht diesen nämlichen Kato, welcher das unheilvolle Genie desselben durchschaute und alle seine Pläne, wenn sie auch noch so weit ausgesponnen waren, voraussah, immer für einen Träumer gehalten. O wie leicht kann sich doch jeder täuschen, der so vorschnell über die Kinder aburteilt! Er ist oft mehr ein Kind als diese selbst. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ein Mann48 in schon vorgerückterem Lebensalter, der mich mit seiner Freundschaft beehrte, bei seiner Familie wie bei seinen Freunden in dem Ruf eines beschränkten Kopfes stand; in der Stille reifte hier aber ein ausgezeichneter Geist heran. Plötzlich enthüllte er sich als hervorragender Philosoph, und ich zweifle nicht, daß ihm die Nachwelt einen ehrenvollen und glänzenden Platz unter den tüchtigsten Philosophen und tiefsten Metaphysikern seines Jahrhunderts anweisen wird.

Achtet die Kinder und urteilt nicht vorschnell über sie, weder im guten noch im bösen. Glaubt ihr, daß ihr es mit Ausnahmen zu tun habt, so laßt sich diese erst lange zeigen, bewähren und bestätigen, ehe ihr ihrethalben zu[162] einer besonderen Methode greift. Gewährt der Natur einen langen Spielraum, bevor ihr an ihrer Stelle handelnd auftretet, und hütet euch, ihre Wirkungen zu verhindern. Ihr behauptet, den Wert der Zeit zu kennen, und wollt keine Zeit verlieren. Ihr seht aber nicht ein, daß eine schlechte Anwendung der Zeit ein weit größerer Zeitverlust ist als eine vollkommene Untätigkeit, und daß ein schlecht unterrichtetes Kind der Weisheit weit ferner ist als ein solches, das man noch gar nicht unterrichtet hat. Ihr fühlt euch beunruhigt, wenn ihr es seine frühesten Jahre in voller Untätigkeit hinbringen seht! Wie? Dünkt euch Glücklichsein nichts? Haltet ihr es für nichts, daß ein Kind den ganzen Tag fröhlich umherspringt, läuft und spielt? In seinem ganzen Leben wird es nicht wieder so beschäftigt sein. Plato erzieht in seiner Republik, deren Bestimmungen man gewöhnlich für so hart und streng hält, die Kinder unter lauter Festlichkeiten, Spielen, Gesängen und Zeitvertreib. Man könnte sagen, daß er alles getan zu haben glaubt, wenn er sie in der Kunst, sich zu belustigen, unterrichtet hat; und Seneca sagt an der Stelle, wo er von der alten römischen Jugend redet: »Sie war unaufhörlich auf den Beinen, man lehrte sie nichts, was sie hätte sitzend lernen müssen.«49 Hatte diese aber deshalb einen geringeren Wert, wenn sie das männliche Alter erreicht hatte? Hegt also keine Furcht wegen dieses sogenannten Müßiggangs. Was würdet ihr wohl von einem Mann sagen, der, um das Leben völlig auszunützen, niemals schlafen wollte? Ihr würdet sagen: »Dieser Mann ist ein Tor; er gewinnt dadurch nicht an Zeit, sondern beraubt sich derselben vielmehr; um dem Schlaf zu entfliehen, läuft er dem Tod entgegen.« Bedenkt nun, daß es sich hier um denselben Fall handelt, indem die Kindheit die Zeit ist, in welcher die Vernunft noch im Schlafe liegt.[163]

Aus der scheinbaren Leichtigkeit, mit welcher Kinder lernen, entspringt ein offenbarer Nachteil für sie. Man übersieht, daß eben diese Leichtigkeit der Beweis dafür ist, daß sie nichts lernen. Ihr glattes und noch ungetrübtes Gehirn wirft wie ein Spiegel die Objekte, die man ihm vorhält, wieder zurück; aber nichts haftet, nichts dringt ein. Das Kind behält nur die Worte; die Ideen werden zurückgestrahlt. Wer nun das Kind diese Worte wiederholen hört, versteht sie, das Kind allein versteht sie nicht.

Obgleich Gedächtnis und Urteilskraft zwei wesentlich verschiedene Fähigkeiten sind, so entwickelt sich in Wahrheit die eine doch nur mit anderen. Vor dem Alter der Vernunft nimmt das Kind keine Ideen, sondern nur Bilder auf, und der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die Bilder nur absolute Abbildungen sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, die Ideen dagegen Begriffe der nach ihren Beziehungen bestimmten Gegenstände sind. Ein Bild kann sich in dem Geiste, der es sich vorstellt, ganz allein vorfinden, aber gleiche Idee setzt andere voraus. Wenn man sich etwas vorstellt, sieht man nur; wenn man dagegen begreift, vergleicht man. Die Eindrücke, welche wir empfangen, sind lediglich passiver Natur, während sich alle unsere Begriffe oder Ideen aus einem aktiven urteilenden Prinzipe bilden. Dies werde ich weiter unten beweisen.

Ich behaupte demnach, daß die Kinder, da in ihnen die Urteilskraft noch nicht geweckt ist, auch kein wirkliches Gedächtnis haben. Es behalten Töne, Figuren, Eindrücke, aber selten Ideen, noch seltener Ideenverbindungen. Man wird meinen, mich durch den Einwand, daß sie doch einige Elemente der Geometrie lernen, widerlegen zu können; aber gerade dieser Umstand spricht für die Wahrheit meiner Behauptung; man beweist damit nur, daß sie, weit davon entfernt, sich selbst ein Urteil zu bilden, nicht einmal die Schlüsse anderer zu behalten vermögen; denn wenn ihr die Methode dieser kleinen Mathematiker aufmerksam beobachtet,[164] werdet ihr bald bemerken, daß sie nur den genauen Eindruck der Figur und die Ausdrücke des Beweises behalten haben. Bei dem geringsten neuen Einwurf wissen sie nicht aus und ein; dreht die Figur um, und sie wissen sich ebensowenig zu helfen. Ihr ganzes Wissen besteht aus aufgenommenen Eindrücken, nichts ist Eigentum ihres Verstandes geworden. Selbst ihr Gedächtnis ist nicht vollkommener und entwickelter als ihre übrigen Fähigkeiten; denn fast immer müssen sie als Erwachsene die Dinge noch einmal lernen, von denen sie sich in der Kindheit nur die Worte angeeignet haben.

Trotzdem bin ich weit davon entfernt, mich dem Wahne hinzugeben, daß den Kindern jede Art von Urteilskraft fehle.50 Im Gegenteil habe ich die Bemerkung gemacht, daß sie über alles, wovon sie ein Verständnis haben, und was sich auf ihr augenblickliches und fühlbares Interesse bezieht, sehr richtig urteilen. Man täuscht sich nur über[165] ihre Kenntnisse, indem man ihnen solche zutraut, die sie nicht besitzen, und über Dinge urteilen läßt, die sie nicht zu fassen vermögen. In einen gleichen Irrtum verfällt man, wenn man ihre Aufmerksamkeit auf Betrachtungen lenken will, die sie noch in keiner Weise berühren, wie zum Beispiel auf ihr einstiges Interesse, auf ihr Glück, sich zur Menschheit zählen zu dürfen, auf die Achtung, in der sie als Erwachsene stehen werden – lauter Redensarten, die, weil sie an Wesen verschwendet werden, denen jegliche Voraussicht mangelt, völlig bedeutungslos für dieselben sind. Nun erstrecken sich aber alle erzwungenen Lernversuche dieser armen Unglücklichen auf Gegenstände, die ihrem Geiste völlig fremd sind. Man möge nun selbst beurteilen, wieviel Aufmerksamkeit sie denselben werden schenken können.

Die Pädagogen, welche uns die Kenntnisse, die sie ihren Schülern beibringen, mit großer Prahlerei vorzählen, werden bezahlt und sind deshalb gezwungen, eine andere Sprache zu führen; indes läßt ihre eigene Handlungsweise durchblicken, daß sie genau wie ich denken. Denn was bringen sie ihnen am Ende bei? Worte, nichts als Worte, und immer wieder Worte. Unter den verschiedenen Wissenschaften, in denen sie sich zu unterrichten rühmen, hüten sie sich, diejenigen auszuwählen, welche den Schülern zu einem wirklichen Nutze gereichen würden, weil es sich bei diesen um ein sachliches Wissen handelt, was sie ihnen niemals mitzuteilen imstande sind. Deshalb wählen sie nur solche, mit denen man vertraut zu sein scheint, wenn man sich ihre äußere Terminologie angeeignet hat, als Wappenkunde, Geographie, Chronologie, Sprache usw. – alles Studien, die dem Menschen überhaupt, und nun vorzüglich erst dem Kinde, so fernliegen, daß es ein Wunder wäre, wenn ihnen auch nur ein Gegenstand derselben ein einziges Mahl im Leben zum Nutzen gereichte.

Man wird sich wundern, daß ich das Studium der Sprachen in die Zahl der für die Erziehung unnützen[166] Gegenstände rechne. Indes möge man sich erinnern, daß ich hier nur vom Lernen im ersten Lebensalter rede, und was man auch immer sagen möge, so glaube ich nicht, daß die Wunderkinder natürlich ausgenommen, je ein Kind vor dem Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren wirklich zwei Sprachen gelernt habe.

Ich räume ein, daß das Studium der Sprache, wenn es nur in dem Erlernen von Worten, das heißt von einzelnen Wortbildern und Klängen bestände, für die Kinder angemessen wäre; da indes die Sprachen sich verschiedener Bezeichnungen bedienen, so modifizieren sie damit auch zugleich die Ideen, welche jene ausdrücken. Der Geist bildet sich nach der Sprache; die Gedanken nehmen unwillkürlich die Färbung des Idioms an. Die Vernunft allein ist etwas Gemeinsames, der Geist jeder Sprache prägt sich dagegen in einer besonderen Form aus, eine Verschiedenheit, welche wenigstens teilweise recht wohl die Ursache oder auch die Wirkung der einzelnen Nationalcharaktere sein könnte. Was diese Vermutung zu bestätigen scheint, ist der Umstand, daß die Sprache bei allen Völkern der Welt dem Wechsel der Sitten folgt und sich in Uebereinstimmung mit diesen erhält oder verändert.

Von diesen verschiedenen Formen wird durch den fortwährenden Gebrauch nur eine das ausschließliche Eigentum des Kindes, und diese allein bewahrt es sich bis zum Alter der Vernunft. Um zwei gleichzeitig zu beherrschen, müßte es die Ideen vergleichen können. Wie sollte es diese aber vergleichen, wenn es kaum imstande ist, sie zu fassen? Jeder Gegenstand kann für das Kind tausend verschiedene Kennzeichen, aber jede Idee nur eine einzige Form haben; es kann demnach auch nur eine Sprache lernen. Man wird mir einwenden, daß es trotzdem mehrere lernt. Ich stelle dies durchaus in Abrede. Ich habe freilich selbst solche kleine Wunderkinder gesehen, die fünf oder sechs Sprachen zu sprechen glaubten. Ich habe sie nacheinander[167] in lateinischen, französischen und italienischen Ausdrücken – aber immer nur deutsch reden hören. Sie waren in der Tat in fünf oder sechs Wörterbüchern zu Hause, was sie aber redeten, blieb stets deutsch. Mit einem Wort, gebt den Kindern so viel Synonymen als euch beliebt; ihr werdet ihnen wohl andere Worte beibringen, aber keine andere Sprache; sie werden stets nur eine einzige verstehen.

Um ihre Unfähigkeit nach dieser Richtung hin zu verbergen, treibt man mit ihnen vorzugsweise die toten Sprachen, in denen man jeden Richter im Notfall verwerfen kann. Da diese schon lange aufgehört haben, als Umgangssprachen zu dienen, begnügt man sich mit der Nachahmung der in den auf uns gekommenen Werken ausgebildeten Schriftsprache, und das nennt man sie sprechen. Ist nun schon das Griechische und Lateinische der Lehrer so beschaffen, so bilde man sich danach über das der Kinder ein Urteil. Kaum haben sie die Anfangsgründe, für die ihnen alles Verständnis fehlt, rein mechanisch auswendig gelernt, so richtet man sie ab, ein französisches Gespräch mit lateinischen Worten zu führen; haben sie dann wieder noch einige Fortschritte gemacht, so müssen sie ciceronianische Redensarten zu Prosa und Bruchstücke des Virgil zu Versen zusammenschweißen. Nun bilden sie sich ein, lateinisch zu sprechen, und wer wird sich darauf einlassen, ihnen zu widersprechen?

Bei jedem Studium, wie beschaffen es auch immer sein möge, sind die stellvertretenden Zeichen ohne den Begriff der durch sie dargestellten Dinge bedeutungslos. Dennoch beschränkt man das Kind auf diese Zeichen, ohne ihm jemals auch nur eines der Dinge, welche sie bezeichnen, verständlich machen zu können. Während man es mit der Erdkunde vertraut zu machen glaubt, lehrt man es nur die Karte kennen; man lehrt es die Namen von Städten, Ländern, Flüssen, welche nach seiner Auffassung nirgends anders als auf dem Papier existieren, auf dem man sie ihm zeigt. Ich erinnere mich, irgendwo ein Geographiebuch[168] gesehen zu haben, das mit der Frage begann: »Was ist die Erde?« Antwort: »Sie ist eine Kugel von Pappe.« Genau so verhält es sich mit der Geographie der Kinder. Für mich gilt es als eine ausgemachte Tatsache, daß kein zehnjähriges Kind nach einem zweijährigen Unterricht in der mathematischen und physischen Geographie sich nach den ihm erteilten Regeln auch nur von Paris bis nach St. Denis zu finden weiß. Ja, noch mehr, ich bin völlig sicher, daß es kein einziges Kind gibt, welches imstande wäre, nach einem Plan von dem Garten seines Vaters, ohne sich zu verirren, die Wege zu finden. So ist es mit diesen Gelehrten bestellt, die mit größter Genauigkeit anzugeben wissen, wo Peking, Ispahan, Mexiko und alle Länder der Erde liegen.

Es ist mir auch die Behauptung zu Ohren gekommen, man müsse die Kinder nur mit solchen Studien beschäftigen, zu denen sie bloß ihrer Augen bedürfen. Dies würde etwas für sich haben, wenn es irgendeine Wissenschaft gäbe, zu der die Augen ausreichten; aber ich kenne keine solche.

Aus einem noch lächerlicheren Irrtum hält man sie zum Studium der Geschichte an. Man meint, sie entspreche ihrem Fassungsvermögen, weil sie nur eine Sammlung von Tatsachen ist. Allein was versteht man unter diesem Worte Tatsachen? Glaubt man, daß die Beziehungen, welche, die historischen Tatsachen hervorrufen, so leicht faßbar sind, daß sich die Vorstellungen davon im kindlichen Geist ohne Mühe bilden? Glaubt man, daß die wahre Kenntnis der Begebenheiten von der Kenntnis ihrer Ursachen und Wirkungen getrennt könne, und daß der Historiker so wenig von der Moral abhänge, daß man ohne sie zum Verständnis der Geschichte gelange? Wenn ihr in den Handlungen der Menschen nur äußere und zwar rein physische Bewegungen seht, welche Lehre könnt ihr dann aus der Geschichte ziehen? Auch nicht eine einzige. Und dieses, auf solche Weise jedes Interesse entkleidete Studium[169] wird euch ebensowenig Vergnügen als Belehrung gewähren. Wenn ihr indes diese Handlungen nach ihren moralischen Beziehungen würdigen wollt, so versucht einmal, euren Zöglingen diese Beziehungen anschaulich zu machen, und ihr werdet alsdann, ob die Geschichte ihrem Alter angemessen ist.

Die Leser mögen immer eingedenk sein, daß der, welcher hier zu ihnen spricht, weder ein Gelehrter noch ein Philosoph ist, sondern ein schlichter Mann, ein Freund der Wahrheit, ohne Partei, ohne System, ein Einsiedler, welcher, da er nur in geringem Verkehr mit den Menschen steht, auch weniger Gelegenheit hat, ihre Vorurteile anzunehmen, jedoch um so mehr Zeit, über das nachzudenken, was ihm im Umgange mit denselben auffällig erscheint. Meine Schlußfolgerungen gründen sich weniger auf Prinzipien als auf Tatsachen, und ich glaube meine Leser nicht besser in den Stand setzen zu können, sich selbst darüber ein Urteil zu bilden, als ich indem ich ihnen öfter Beispiele von Beobachtungen mitteile, denen ich sie zu verdanken habe.

Ich brachte einst einige Tage auf dem Lande bei einer braven Hausmutter zu, die sich in hohem Grade ihrer Kinder und deren Erziehung angelegen sein ließ. Als ich eines Morgens dem Unterricht des ältesten Knaben beiwohnte, besprach sein Lehrer, der ihm in der alten Geschichte einen guten Unterricht erteilt hatte, bei der Wiederholung der Geschichte Alexanders des Großen jenen bekannten Vorfall mit dem Arzte Philipp, welchen man schon öfter bildlich dargestellt hat und der auch sicherlich diese Ehre verdient.51[170] Der Lehrer, im übrigen ein recht verdienstvoller Mann, knüpfte einige Betrachtungen über die Unerschrockenheit Alexanders an, die mir nicht gefielen, die ich jedoch zu bekämpfen Bedenken trug, um den Lehrer nicht in den Augen seines Zöglings herabzusetzen. Bei Tische ließ man nach französischer Sitte das kleine Männchen unaufhörlich schwatzen. In der natürlichen Lebhaftigkeit seines Alters und in der Erwartung sicherlich nicht ausbleibenden Beifalls trug er tausenderlei Dummheiten vor, wobei denn von Zeit zu Zeit auch einige glückliche Einfälle zum Vorschein kamen, die das übrige in Vergessenheit brachten. Zuletzt gab er auch noch die Geschichte vom Arzte Philipp zum besten. Er erzählte sie recht geläufig und mit großer Gewandheit. Nachdem er die gewöhnlichen Lobsprüche eingeerntet hatte, zu denen die Mutter förmlich das Zeichen gab und die der Sohn allem Anschein nach erwartete, wurde das Vorgetragene weiter besprochen. Die Mehrzahl tadelte Alexanders Verwegenheit, einige bewunderten, dem Lehrer beipflichtend, seine Festigkeit, seinen Mut, woraus ich erkannte, daß auch kein einziger der Anwesenden begriff, worin eigentlich die wahre Schönheit dieses Zuges besteht. »Was mich anlangt,« ergriff ich das Wort, »so scheint es mir, daß, wenn sich in der Handlung Alexanders der geringste Mut, die geringste Festigkeit kundgäbe, sie nur einen hohen Grad von Ueberspanntheit verriete.« Sofort stimmten mir alle bei und räumten ein, es wäre eine Ueberspanntheit gewesen. Ich wollte antworten und begann schon in Hitze zu geraten, als eine Frau, die an meiner Seite saß und den Mund noch nicht geöffnet hatte, sich gegen mein Ohr neigte und mir leise zuflüsterte: »Schweige, Johann Jakob, sie werden dich doch nicht verstehen.« Ich schaute sie an, und stutzte und schwieg.

Da ich infolge mehrerer Umstände den Argwohn hegte, daß mein junger Gelehrter von der so schön erzählten Geschichte gar nichts verstanden hätte, so nahm ich ihn nach[171] Tische bei der Hand, promenierte mit ihm durch den Park und fand, nachdem ich ihn nach meiner Weise ausgefragt hatte, daß er mehr als irgend jemand den so gepriesenen Mut Alexanders bewunderte. Aber wißt ihr wohl, worin dieser Mut in seinen Augen bestand? Einzig und allein darin, daß jener einen widerlich schmeckenden Trank in einem Zug, ohne abzusetzen und ohne den geringsten Widerwillen zu zeigen, verschluckte. Das arme Kind, das vor noch nicht vierzehn Tagen Arznei hatte nehmen müssen, wozu es sich nur mit unendlicher Mühe verstanden hatte, fühlte den üblen Nachgeschmack noch immer auf der Zunge. Der Tod, die Vergiftung galten in seinem Geiste nur für unangenehme Empfindungen, und es konnte sich noch kein anderes Gift als Sennesblätter vorstellen. Indes muß ich gestehen, daß die Festigkeit des Helden einen großen Eindruck auf sein junges Herz hervorgebracht hatte, und daß es fest entschlossen war, bei der ersten Medizin, die es wieder einnehmen müßte, sich Alexanders würdig zu zeigen. Ohne mich weiter auf Erklärungen einzulassen, die augenscheinlich seine Fassungskraft überstiegen hätten, bestärkte ich es in seinem lobenswerten Entschluß und trat den Rückweg an, während ich bei mir selbst die hohe Weisheit der Väter und Lehrer belächelte, die sich einbilden, die Kinder Geschichte lehren zu können.

Es ist nicht schwer, den Kindern die Wörter »Könige, Reiche, Kriege, Eroberungen, Revolutionen, Gesetze« in den Mund zu legen, wenn es dann aber in Frage kommt, mit diesen Wörtern klare Ideen zu verbinden, so werden diese Erläuterungen mehr Mühe erfordern, als wir sie uns bei der Unterhaltung mit dem Gärtner Robert haben geben müssen.

Einige Leser, die mit dem »Schweige, Johann Jakob!« unzufrieden sind, werden mich, wie ich voraussehe, fragen, was ich denn nun eigentlich so Schönes in der Handlung Alexanders finde? Unglückliche! Wenn man es euch erst[172] sagen muß, wie wollt ihr es dann begreifen? Das ist das Schöne, daß Alexander an die Tugend glaubte, daß er auf Gefahr seines Kopfes, auf Gefahr seines Lebens an sie glaubte, daß seine große Seele fähig war, daran zu glauben. O, welch ein schönes Glaubensbekenntnis spricht sich in der Anwendung dieser Arznei aus! Nein, kein Sterblicher hat je ein erhabeneres abgelegt. Wenn unsere moderne Welt einen Alexander hervorgebracht hat, so möge man ihn mir an ähnlichen Zügen zeigen.52

Wenn es keine Wissenschaft gibt, die nur aus Wörtern besteht, so gibt es auch kein für Kinder geeignetes Studium. Wenn sie keine wirklichen Begriffe haben, so haben sie auch kein eigentliches Gedächtnis, denn mit diesem Namen vermag ich nicht die bloße Fähigkeit zu bezeichnen, erhaltene Eindrücke zu bewahren. Was für Nutzen bringt es, ihrem Kopf einen ganzen Katalog von Zeichen einzuprägen, mit denen sie keine Vorstellung verbinden? Werden sie nicht, wenn sie erst die Dinge selbst lernen, auch gleichzeitig die Zeichen lernen? Wozu ihnen die unnütze Mühe machen, sie zweimal zu lernen? Und was für gefährliche Vorurteile flößt man ihnen außerdem nicht gleich von Anfang an ein, wenn man ihnen Wörter, welche für sie keinen Sinn haben, für Wissenschaft ausgibt! Mit dem ersten Wort, mit dem das Kind sich abspeisen läßt, mit der ersten Sache, die es, ohne selbst den Nutzen einzusehen, auf das Wort anderer hinnimmt, ist seine eigene Urteilskraft dahin. Es wird lange in den Augen der Toren glänzen müssen, ehe es einen solchen Verlust wieder zu ersetzen vermag.53[173]

Nein, wenn die Natur dem Gehirn des Kindes solche Elastizität verleiht, die es befähigt, allerlei Eindrücke aufzunehmen, so liegt es sicherlich nicht in ihrer Absicht, daß man das Gehirn mit Königsnamen, Daten, Bezeichnungen aus der Heraldik, der Sphärik, der Geographie und mit all jenen Wörtern belasten soll, die für sein Alter keinen Sinn haben und überhaupt für jedes Alter ohne irgendeinen Nutzen sind, und wodurch man die Kindheit nur traurig macht und ihr die besten Kräfte raubt. Es liegt vielmehr in ihrer Absicht, daß alle Ideen, die das Kind zu fassen vermag und welche ihm zu Nutzen gereichen können, alle diejenigen, welche sich auf sein Glück beziehen und es eines Tages über seine Pflichten aufklären sollen, sich ihm frühzeitig mit unauslöschlichen Zügen eingraben und ihm dazu dienen, sich während seines ganzen Lebens dergestalt zu betragen, wie es seinem Wesen und seinen Fähigkeiten angemessen ist.

Ohne jegliches Bücherstudium bleibt doch die Art von Gedächtnis, welche ein Kind überhaupt besitzen kann, deswegen nicht müßig. Alles, was es sieht, alles was es hört, fällt ihm auf, und es erinnert sich dessen später. Es führt über die Handlungen, über die Reden der Menschen ein förmliches Register, und seine ganze Umgebung bildet das Buch, aus welchem es, ohne darüber Rechenschaft[174] abzulegen, sein Gedächtnis unaufhörlich bereichert, bis seine Urteilskraft dereinst imstande ist, daraus Nutzen zu ziehen. In der Wahl der Gegenstände, in der Bemühung, stets nur diejenigen in seine Nähe zu bringen, die es aufzufassen vermag, und ihm diejenigen fernzuhalten, die ihm unbekannt bleiben sollen, besteht die wahre Kunst, diese erste Fähigkeit in ihm auszubilden. Gerade hierdurch muß man ihm einen Schatz von Kenntnissen zuzuführen suchen, die zu seiner Erziehung in der Jugend und zu seinem Verhalten zu allen Zeiten beitragen werden. Diese Methode, das gestehe ich offen, bildet allerdings keine kleinen Wunderkinder und gibt den Gouvernanten und Lehrern keine Gelegenheit zu glänzen; dafür bildet sie aber verständige, kräftige, an Leib und Seele gesunde Menschen, welche, trotzdem daß sie in der Jugend keine Bewunderung erregen, sich als Erwachsene Ehre und Ansehen erwerben werden.

Emil wird nie etwas auswendig lernen, nicht einmal Fabeln, selbst die von Lafontaine nicht, so naiv, so reizend sie auch sind, denn die Worte der Fabeln sind ebensowenig die Fabeln selbst als die Worte der Geschichte die Geschichte selbst sind. Wie kann man bis zu dem Grade verblendet sein, daß man die Fabeln die Moral der Kinder nennt, wie kann man übersehen, daß die Fabel dieselben täuscht, während sie sie ergötzt; daß sich die Kinder, durch Lügen verführt, die Wahrheit entgehen lassen, und daß gerade das, was man hervorsucht, ihnen den Unterricht angenehm zu machen verhindert, aus ihm Nutzen ziehen? Die Fabeln können den Erwachsenen zur Belehrung dienen; Kindern dagegen muß man die nackte Wahrheit sagen. Sobald man dieselbe mit einem Schleier verhüllt, bemühen sie sich nicht mehr, ihn zu lüften.

Man läßt alle Kinder Lafontaines Fabeln lernen, und doch versteht sie kein einziges. Wenn sie sie verstünden, würde es noch schlimmer sein, denn deren Moral ist so eigentümlich und ihrem Alter so wenig angemessen, daß[175] sie die Kinder weit eher dem Laster als der Tugend zuführen würden. Das sind, wird man einwenden, abermals Paradoxien. Ich bestreite es nicht; aber laßt uns zusehen, ob es Wahrheiten sind.

Ich behaupte, daß ein Kind die Fabeln, welche man es lernen läßt, nicht versteht, weil trotz aller Bemühungen, sie zu vereinfachen, doch die Lehre, welche man daraus ziehen will, unwillkürlich dazu nötigt, sich auf Ideen zu berufen, die es nicht zu fassen imstande ist, und weil sogar die dichterische Form, obgleich sie ihm das Behalten erleichtert, ihm die Auffassung erschwert, so daß man der gefälligen Form zuliebe die Klarheit preisgibt. Ohne die Menge von Fabeln anzuführen, die für Kinder weder verständlich noch nützlich sind, und die man sie unbedenklich mit den übrigen lernen läßt, weil sie mit ihnen einmal in demselben Buche stehen, wollen wir uns auf diejenigen beschränken, welche der Verfasser ausdrücklich für Kinder gedichtet zu haben scheint.

Ich kenne in der ganzen Lafontaineschen Sammlung nur fünf oder sechs Fabeln, aus denen kindliche Naivität in besonders hohem Grade hervorleuchtet. Von diesen fünf oder sechs wähle ich die erste54 als Beispiel, weil ihre Moral noch am meisten jedem Alter angemessen ist, die Kinder sie am leichtesten begreifen und am liebsten lernen und weil sie deshalb der Verfasser wohl vorzugsweise an die Spitze seines Buches gestellt hat. Wenn man bei ihm wirklich die Absicht voraussetzt, sich den Kindern verständlich zu machen, ihnen zu gefallen und sie zu belehren, so ist diese Fabel sicherlich sein Meisterwerk. Man gestatte mir deshalb, sie Satz für Satz durchzugehen und einer kurzen Prüfung zu unterwerfen.


Der Rabe und der Fuchs

Eine Fabel

»Meister Rabe, auf einem Baume sitzend,«[176]

Meister! Welche Bedeutung verbinden wir mit diesem Worte an und für sich? Was bedeutet es vor einem Eigennamen? Was hat es hier für einen Sinn?

Was ist ein Rabe?

Was soll das heißen: auf einem Baume sitzend? Man sagt doch nicht: »Ein Rabe, auf einem Baume sitzend,« sondern ein auf einem Baume sitzender Rabe. Folglich muß man auf die abweichende Wortstellung in der Poesie aufmerksam machen, muß erklären, was Prosa und was Verse sind.

»Hielt in seinem Schnabel einen Käse.«

Was für einen Käse? War es ein Schweizer-, Brier-oder Holländischer Käse? Hat das Kind bisher keinen Raben gesehen, was werdet ihr dann mit euren Erzählungen über einen solchen gewinnen? Hat es jedoch schon welche gesehen, wie wird es sich dann zusammenreimen können, daß sie einen Käse in ihrem Schnabel halten? Die Bilder müssen stets aus der Natur genommen sein.

»Meister Fuchs, durch den Geruch herbeigelockt,«

Wieder ein Meister! Für diesen ist der Titel jedoch gut gewählt; er ist in der Tat ein mit allen Kunstgriffen seines Handwerks vertrauter Meister. Man muß nun wieder auseinandersetzen, was ein Fuchs ist, und seine wahre Natur von dem Charakter unterscheiden, den man ihm hergebrachtermaßen in den Fabeln beilegt.

»Herbeigelockt« Dies Wort ist im Französischen wenig gebräuchlich. Eine Erklärung kann deshalb nicht umgangen werden. Man muß darauf aufmerksam machen, daß man sich desselben nur in Versen zu bedienen pflegt. Das Kind wird fragen, weshalb man denn in Versen eine andere Sprachweise anwendet als in Prosa? Was wollt ihr ihm darauf antworten?

»Durch den Geruch eines Käses herbeigelockt!« Dieser Käse, den ein auf einem Baume sitzender Rabe im Schnabel hält, muß wirklich einen sehr starken Geruch haben, um[177] noch von dem Fuchs in einem Dickicht oder in seinem Bau gerochen werden zu können! Wollt ihr auf diese Weise in eurem Zögling den Geist einer verständigen Kritik hervorrufen und nähern, der sich nicht so leicht blenden läßt und in den Erzählungen anderer Wahrheit und Lüge wohl zu unterscheiden weiß?

»Hielt ungefähr folgende Anrede an ihn:«

»Folgende Anrede!« Die Füchse sprechen also? Sie sprechen demnach die nämliche Sprache wie die Raben? Weiser Lehrer, sei auf deiner Hut! Wäge deine Antwort, ehe du sie erteilst, wohl ab; sie ist wichtiger als du glaubst.

»Ei! Guten Tag, Herr Rabe!«

»Herr!« Ein Titel, den das Kind hier spottweise anwenden hört, noch ehe es weiß, daß es ein Ehrentitel ist. Diejenigen, welche, wie in den meisten Aussagen steht, »Herr von Rabe« lesen, würden sich noch weit mehr abmühe müssen, ehe es ihnen gelänge, dieses »von« nur einigermaßen zu erklären.

»Wie hübsch du bist! Wie schön du mir erscheinst!«

Ein Flickwort, ein überflüssiger Wortschwall! Dadurch, daß das Kind die nämliche Sache nur mit anderen Worten wiederholen hört, gewöhnt es sich selber eine nachlässige Sprache an. Wenn ihr den Einwurf macht, daß in dieser Weitschweifigkeit eine Kunst des Verfassers liege, daß er die Absicht des Fuchses hervorheben wolle, durch Anhäufung der Worte seine Schmeicheleien zu verstärken, so würde dies wohl für mich, aber nicht für meinen Schüler als Entschuldigung gelten können.

»Ohne zu lügen, wenn dein Gesang« usw.

»Ohne zu lügen!« Man lügt also mitunter? Was für Begriffe wird sich aber das Kind bilden, wenn ihr ihm erklärt, daß der Fuchs gerade aus dem Grund sagt »ohne zu lügen«, weil er lügt?

»Deinem Gefieder entspricht.«[178]

»Entspricht!« Was bedeutet dieses Wort? Lehret einmal das Kind, so verschiedenartige Eigenschaften wie Stimme und Gefieder miteinander zu vergleichen, und ihr werdet bald bemerken, ob es euch versteht.

»Du mußt der Phönix unter den Gästen dieses Waldes sein.«

»Der Phönix!« Was ist ein Phönix? Plötzlich sehen wir uns durch diesen Ausdruck in das verlogene Altertum, beinahe in die Mythologie versetzt.

»Diese Gäste des Waldes!« Welche bildliche Redeweise! Der Schmeichler veredelt seine Sprache und gibt ihr, um sie verführerischer zu machen, mehr Würde. Wird ein Kind diese Freiheit herausfühlen? Weiß es nur, ja kann es überhaupt nur wissen, was ein edler und ein niederer Stil ist?

»Bei diesen Worten kennt sich der Rabe vor Freude nicht.«

Man muß schon sehr heftige Leidenschaften empfunden haben, um diese sprichwörtliche Redensart richtig aufzufassen.

»Und um seine Stimme zu zeigen,«

Vergeßt nicht, daß das Kind, wenn es anders diesen Vers und die ganze Fabel verstehen soll, schon wissen muß, wie es mit der schönen Stimme des Raben bestellt ist.

»Sperrt er seinen Schnabel weit auf und läßt seine Beute fallen.«

Dieser Vers verdient in der Tat Bewunderung; schon der Klang der Worte allein gibt ein anschauliches Bild. Ich sehe im Geist diesen großen häßlichen Schnabel weit aufgerissen vor mir, ich höre, wie der Käse prasselnd durch die Aeste hindurchfällt; allein für Kinder sind dergleichen Schönheiten verloren.

»Der Fuchs erhascht ihn und spricht: Mein guter Herr!«

Hier deutet also schon das »Gutsein« des angeredeten Herrn nichts weiter als »Dummsein«. Sicherlich wird man hierbei keine Zeit verlieren, um dies den Kindern deutlich zu machen.

»Lerne, daß jeder Schmeichler«[179]

Eine allgemeine Regel; das ist eine allbekannte Sache.

»Auf Kosten dessen lebt der ihm Gehör schenkt.«

Noch nie hat ein zehnjähriges Kind diesen Vers verstanden.

»Unzweifelhaft ist diese Lehre einen Käse wert.«

Dies ist verständlich, und der Gedanke ist sehr gut. Gleichwohl wir es wohl nur höchst wenige Kinder geben, die einen Käse mit einer Lehre zu vergleichen vermöchten und die nicht den Käse der Lehre vorzögen. Man muß ihnen daher verständlich machen, daß dies nur ein scherzhafter Ausdruck ist. Was für eine Freiheit für Kinder!

»Der Rabe, beschämt und bestürzt,«

Wieder ein Pleonasmus, und noch dazu ein unverzeihlicher.

»Schwor, allein etwas spät, daß man ihn nie wieder überlisten sollte.«

Schwor! Welcher Lehrer könnte so töricht sein, daß er einem Kinde zu erklären wagte, was ein Schwur ist.

Das sind eine Menge Einzelheiten, aber noch lange nicht genug, um alle Begriffe dieser Fabel zu analysieren und sie auf die einfachen und elementaren zurückzuführen, aus denen jeder wieder zusammengesetzt ist. Aber wer hält solche Analyse wohl für notwendig, um sich der Jugend verständlich zu machen? Keiner unter uns ist Philosoph genug, um sich ganz auf den Standpunkt eines Kindes versetzen. Laßt uns jetzt aber auch noch auf die Moral der Fabel übergehen.

Ich frage, ob man wohl schon sechsjährige Kinder darauf aufmerksam machen darf, daß es Menschen gibt, welche um ihres Vorteils willen schmeicheln und lügen? Höchstens dürfte man ihnen mitteilen, daß es Spaßvögel gebe, die die kleinen Knaben aufziehen und sich im geheimen über ihre törichte Eitelkeit lustig machen. Indes der Käse verdirbt alles. Man lehrt sie weniger, ihn nicht aus ihrem eigenen Schnabel zu lassen, als vielmehr, wie sie es[180] anzustellen haben, daß er anderen aus dem Schnabel falle. Das ist hierbei mein zweites Paradoxon, welches von nicht geringerer Wichtigkeit ist.

Gebt ihr auf die Kinder beim Lernen ihrer Fabeln acht, so werdet ihr bemerken, daß ihre Deutung derselben, wenn sie überhaupt imstande sind, sie auszulegen, fast regelmäßig eine der Absicht des Schriftstellers zuwiderlaufende ist, und daß sie, anstatt vor dem Fehler, von dem man sie heilen oder vor dem man sie bewahren will, auf der Hut zu sein, mehr Neigung verraten, gerade das Laster liebzugewinnen, durch welches man aus den Schwächen anderer Vorteil ziehen kann. Bei der obigen Fabel werden die Kinder den Raben verwöhnen, dem Fuchs dagegen ihr ganzes Interesse zuwenden. In der nächsten Fabel beabsichtigt ihr ihnen die Heuschreckengrille als Muster aufzustellen; vergebliche Mühe, alle werden die Ameisen wählen. Niemand demütigt sich gern; sie werden deshalb stets die schöne Stelle für sich in Anspruch nehmen. Die Eigenliebe trifft hier die Wahl, und deshalb ist es eine natürliche Wahl. Aber, aber – welch eine entsetzliche Lehre für die Kinderwelt! Ein habsüchtiges und hartherziges Kind, welches wüßte, um was man es bittet, und es abschlägt, trotzdem die Erfüllung in seiner Hand liegt, wäre das hassenswerteste aller Ungeheuer. Die Ameise tut noch mehr, sie lehrt es, seine Weigerung in Spott und Hohn zu kleiden.

In allen Fabeln, in welchen Löwe eine Rolle spielt, die gewöhnlich die glänzendste ist, wird das Kind nie verfehlen, sich an seine Stelle zu versetzen, und hat es nun einmal eine Teilung vorzunehmen, so trägt es, durch sein Vorbild gut geschult, lediglich Sorge, sich des Ganzen zu bemächtigen. Wenn jedoch die Mücke den Löwen zu Falle bringt, dann ist es eine ganz andere Sache, dann ist das Kind nicht mehr Löwe, sondern Mücke. Dadurch lernt es einst diejenigen mit Nadelstichen zu töten, die es festen Fußes nicht anzugreifen wagt.[181]

Aus der Fabel von dem mageren Wolf und dem fetten Hund lernt es nicht Mäßigung, die ihr ihm darin ans Herz legen wollt, sondern Zügellosigkeit. Nie werde ich vergessen, wie bitterlich ich einst ein kleines Mädchen weinen sah, welches man durch diese Fabel in halbe Verzweiflung gebracht hatte, weil man ihm nach Anleitung derselben immer nur von der Folgsamkeit vorpredigte. Man konnte sich anfangs gar nicht die Ursache dieser Tränen erklären, bis man endlich dahinterkam. Das arme Kind hatte sich so in die Rolle des Hundes hineingelebt, daß es endlich überdrüssig wurde, beständig an der Kette zu liegen; es fühlte seinen Hals schon förmlich wund; es weinte, daß es nicht der Wolf sein durfte.

Sonach liegt also in der Moral der zuerst angeführten Fabel für das Kind eine Anleitung zu der niedrigsten Schmeichelei; in der der zweiten eine Aufforderung zur Herzlosigkeit; in der der dritten eine Anpreisung der Ungerechtigkeit; in der der vierten eine Unterweisung in der Kunst zu spotten und in der der fünften Ansporn zur Unabhängigkeit. Diese letzte Anregung ist für einen Zögling ebenso überflüssig wie für eurigen ungeeignet. Wenn ihr ihnen Vorschriften erteilt, die sich untereinander widersprechen, was für Früchte hofft ihr dann wohl aus euren Bemühungen hervorsprießen zu sehen? Indes liegt vielleicht gerade in der Moral, um derentwillen ich die Fabeln verwerfe, für euch den Grund, sie beizubehalten. Man braucht im gegenseitigen Verkehr eine Moral für seine Worte und eine für seine Handlungen, und diese beiden sind durchaus voneinander verschieden. Die erstere steht im Katechismus, worin man sie ruhig läßt; die andere dagegen steht in Lafontaines Fabeln für die Kinder und in seinen Erzählungen für die Mütter. Der nämliche Schriftsteller reicht für alles aus.

Vergleichen wir uns miteinander, Herr von Lafontaine! Ich für meine Person verspreche, Sie mit Auswahl zu lesen,[182] Sie zu lieben und mich aus Ihren Fabeln zu belehren; denn ich hoffe mich über Ihre Absichten nicht zu täuschen; was aber meinen Zögling anlangt, so müssen Sie mir gestatten, daß ich ihn nicht eine einzige lernen lasse, bis Sie mir den Beweis geliefert haben, daß es für ihn gut ist, Dinge zu lernen, von denen er nicht den vierten Teil versteht; daß er ferner für diejenigen, die er begreifen kann, auch wirklich das richtige Verständnis zeigt und sich nicht etwa den Betrüger zum Vorbild nimmt, anstatt sich den Betrogenen zur Warnung dienen zu lassen.

Indem ich die Kinder mit allen solchen Arbeiten verschone, halte ich auch die Werkzeuge ihrer größten Plage, nämlich die Bücher, von ihnen fern. Das Lesen ist die Geißel der Kindheit, und fast die ausschließliche Beschäftigung die man ihr zu geben weiß. Kaum in seinem zwölften Jahre soll Emil wissen, was ein Buch ist. Aber, wird man einwenden, er wird doch wohl wenigstens lesen lernen müssen. Das gebe ich zu, aber er soll erst dann lesen können, wenn ihm das Lesen Nutzen bringt; bis dahin kann es ihm nur Langeweile bereiten.

Wenn man nicht verlangen darf, daß die Kinder etwas nur aus Gehorsam tun, so folgt hieraus, daß sie auch nichts lernen können, dessen wirklichen und augenblicklichen Vorteil sie nicht einsehen, bestehe derselbe nun in Vergnügen oder Nutzen; was sollte sie wohl sonst für ein Beweggrund zum Lernen antreiben? Die Kunst, mit Abwesenden zu reden und sie zu verstehen, die Kunst, ihnen aus der Ferne unsere Empfindungen, unsere Willensmeinungen, unsere Wünsche ohne jegliche Mittelsperson mitzuteilen, ist eine Kunst, deren Nutzen jedem Lebensalter einleuchtend gemacht werden kann. Durch welches Wunder ist denn nun diese so nützliche und angenehme Kunst für die Kindheit zu einer Plage geworden? Dadurch, daß man sie zwingt, sich dieselbe wider ihren Willen anzueignen, und sie einen Gebrauch[183] davon machen läßt, von dem sie nichts begreifen. Ein Kind ist wenig bedacht darauf, das Werkzeug zu vervollkommnen, mit dem man es peinigt; sorgt ihr jedoch dafür, daß dieses Werkzeug ihm Freude bereitet, so wird es sich auch bald ohne euren Antrieb mit demselben beschäftigen.

Man bemüht sich unablässig, die besten Methoden für den Leseunterricht aufzufinden; man erfindet Lesemaschinen, Lesewandtafeln, ja man verwandelt die Kinderstube in eine Buchdruckwerkstatt. Locke wünscht sogar, man solle sich beim Leseunterricht der Würfel bedienen. Ist das nicht eine kluge ausgesonnene Erfindung? Es ist ein wahres Elend! Ein weit sichreres Mittel als alle die angegebenen, welches aber immer wieder in Vergessenheit gerät, ist der Lerntrieb. Flößet ihr dem Kinde diesen Trieb ein, dann bedarf es eurer Lesemaschine und Würfel nicht mehr, dann wird jede Methode gut sein.

In dem augenblicklichen Interesse liegt die große Triebfeder, aber auch die einzige, welche sicher und weit führt. Emil erhält bisweilen von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Verwandten, seinen Freunden Einladungsbriefchen zu einem Mittagsessen, zu einem Spaziergang, eine Wasserfahrt oder zur Teilnahme an einer öffentlichen Feierlichkeit. Diese Briefchen sind kurz, deutlich, reinlich, schön geschrieben. Nun muß er erst jemanden suchen, der sie ihm vorliest. Dieser Jemand läßt sich nun aber nicht immer zur rechten Zeit auftreiben, oder beweist sich heute gegen das Kind gerade ebenso ungefällig, wie es sich gestern ihm gegenüber gezeigt hat. So geht die Gelegenheit wie die rechte Zeit vorüber. Endlich liest man ihm das Briefchen vor, aber nunmehr ist es zu spät. Ach, wenn es doch selbst hätte lesen können! Nun erhält Emil abermals Briefe. Sie sind kurz, ihr Inhalt ist so interessant! Wie gern möchte er den Versuch machen, sie zu entziffern! Bald findet er Hilfe, bald verweigert man sie ihm. Er bietet alle seine Kräfte auf und entziffert endlich die Hälfte eines Briefchens.[184] Es handelt sich um eine Einladung auf morgen zur frischen Milch. Er hat aber nicht herausgebracht, wohin und mit wem? Wieviel Anstrengungen läßt er es sich kosten, um auch das übrige herauszubuchstabieren! Ich glaube nicht, daß Emil einer Lesemaschine bedürfen wird. Soll ich etwa auch noch vom Schreibunterricht reden? Nein, ich würde mich schämen, in einer Abhandlung über Erziehung die Zeit mit solchen Nichtigkeiten zu vergeuden.

Ein einziges Wort will ich noch hinzufügen, welches einen wichtigen Grundsatz ausspricht. Es lautet: Man erhält gewöhnlich das am sichersten und am schnellsten, was man ohne Ueberstürzung zu erlangen sucht. Ich bin fast überzeugt, daß Emil schon vor dem zehnten Jahre wird vollkommen lesen und schreiben können, gerade weil ich wenig Wert darauf lege, ob er es vor dem fünfzehnten lernt. Lieber aber wollte ich, er lernte nie lesen, als daß er diese Wissenschaft auf Kosten alles dessen, was sie ihm nützlich machen kann, erkaufte. Wozu soll ihm das Lesen dienen, wenn man es ihm völlig unleidlich gemacht hat? Id imprimis cavere oportebit, ne studia, qui amare nondum potest, oderit, et amaritudinem semel perceptam etiam ultra rudes annos reformidet.55

Je angelegentlicher ich für die Wahrheit meiner die Untätigkeit verlangenden Methode eintrete, desto deutlicher sagt mir mein Gefühl, daß sich die Einwürfe gegen dieselbe verstärken werden. »Wenn dein Zögling nichts von dir lernt, wird er doch von anderen lernen; wenn du dem Irrtum nicht durch die Wahrheit vorbeugst, wird er Lügen lernen; die Vorurteile, die du dich ihm einzuflößen scheust, wird ihm das Beispiel seiner ganzen Umgebung beibringen; durch alle seine Sinne werden sie in ihn eindringen. Entweder sie auf seine Vernunft, sogar noch ehe sie sich entwickelt hat, den schlimmsten Einfluß ausüben, oder sein durch lange Untätigkeit erschlaffter Geist wird sich in[185] der Materie verlieren. Die unterlassene Ausbildung der Denkkraft in der Jugend rächt sich in der ganzen übrigen Lebenszeit.«

Ich glaube, ich würde leicht darauf antworten können. Aber wozu sollen diese fortwährenden Antworten dienen? Erteilt meine Methode selbst auf die Einwürfe die richtige Antwort, so ist sie gut; vermag sie aber nicht darauf zu antworten, so taugt sie nichts. Ich fahre deshalb fort.

Wenn ihr nach dem Plan, den ich zu entwerfen angefangen habe, Regeln befolgt, die im völligen Gegensatz zu den herkömmlichen stehen, wenn ihr, anstatt den Geist eures Zöglings in weiter Ferne umherschweifen, ihn unaufhörlich in anderen Gegenden, in anderen Himmelsstrichen, in anderen Jahrhunderten, an den äußersten Enden der Erde, ja selbst im Himmel umherirren zu lassen, wenn ihr, sage ich, statt dessen darauf hinwirkt, daß er sich sammelt und seine Aufmerksamkeit auf das lenkt, was ihn unmittelbar berührt: dann werdet ihr ihn auch zum Auffassen, Behalten, ja selbst zum Urteilen fähig finden; so bedingt es die Ordnung der Natur. Je nach der Tätigkeit, der sich ein empfindendes Wesen hingibt, erwirbt es sich auch eine seinen Kräften entsprechende Urteilskraft; und nur mit dem Ueberschuß der Kraft, die nicht mehr zu seiner Erhaltung nötig ist, entwickelt sich in ihm diese spekulative Fähigkeit, welche geeignet ist, diesen Kraftüberschuß noch zu anderem Gebrauch zu verwenden. Wollt ihr also den Geist eures Zöglings ausbilden, so bildet die Kräfte aus, welche jener beherrschen soll. Uebet unablässig seinen Körper, macht euren Zögling stark und gesund, um ihn klug und vernünftig machen zu können. Er arbeite und sei tätig, er laufe und schreie, kurz, er sei beständig in Bewegung. Erst sei er an Kraft ein Mann, dann wird er es auch bald an Verstand sein.

Wolltet ihr ihm nun beständig jeden Tritt und Schritt vorschreiben und ihm unablässig zurufen: »Gehe, komme,[186] bleibe, tue dies, unterlasse jenes,« dann könntet ihr ihn, das ist richtig, durch diese Methode freilich verdummen. Wenn euer Kopf beständig seine Arme lenkt, wird ihm schließlich der seinige unnütz. Erinnert euch jedoch unseres Uebereinkommens: Seid ihr nur Pedanten, dann lohnt es sich nicht der Mühe, mich zu lesen.

Es ist ein sehr beklagenswerter Irrtum, sich einzubilden, daß körperliche Uebung der geistigen Tätigkeit schade; als ob sich diese beiden Tätigkeiten nicht gleichzeitig betreiben ließen, und die eine nicht immer die andere leiten müßte.

Es gibt zwei Klassen von Menschen, deren Körper sich in unaufhörlicher Uebung befindet, und von denen sicherlich die eine ebensowenig als die andere daran denkt, ihren Geist zu bilden, nämlich die Landleute und die Wilden. Die ersteren sind ungeschlacht, plump, ungeschickt; die letzteren sind wegen der Schärfe ihrer Stimme und in noch höherem Grad wegen der Gewandheit ihres Geistes bekannt. Im allgemeinen gibt es nichts Unbeholfeneres als einen Bauer und nichts Schlaueres als einen Wilden. Woher kommt dieser Unterschied? Daher, daß ersterer, weil er beständig nur das tut, was man ihm befiehlt, oder was er seinen Vater hat tun sehen, oder was er von Jugend auf getan hat, nie aus dem alten Schlendrian herauskommt, und daß bei ihm, der sich in seinem fast maschinenmäßigen Leben unaufhörlich mit den nämlichen Arbeiten beschäftigt, Gewohnheit und Gehorsam allmählich an die Stelle der Vernunft getreten sind.

Völlig anders verhält es sich mit dem Wilden. Nicht an die Scholle gebunden, zu keinem vorgeschriebenen Tagewerke verpflichtet, zu keiner Gehorsam gezwungen, durch keine Schranke des Gesetzes in seinem Willen behindert, sieht er sich genötigt, jede Handlung seines Lebens zuvor sorgfältig zu überlegen. Er macht keine Bewegung, tut keinen Schritt, ohne die Folgen vorher erwogen zu haben. Je mehr sich daher sein Körper übt, desto aufgeklärter wird[187] sein Geist; seine Kraft und seine Vernunft wachsen gleichzeitig und bilden sich gegenseitig aus.

Weiser Lehrer! Laß uns abwarten, welcher von unseren beiden Zöglingen dem Wilden und welcher dem Bauer gleichen wird. In allem einer stets meisternden Autorität unterworfen, tut der deinige nichts ohne dein Geheiß; er wagt nicht zu essen, wenn ihn hungert, nicht zu lachen, wenn er fröhlich, oder nicht zu weinen, wenn er traurig ist, nicht eine Hand statt der anderen zu reichen, oder einen Fuß anders zu setzen als man es ihm vorschreibt; bald wird er nur nach deinen Regeln zu atmen wagen. Woran soll er wohl denken, wenn du für ihn an alles denkst? Weshalb braucht er, da er sich auf deine Vorsicht verlassen kann, selbst vorsichtig zu sein? Da er bemerkt, daß du die Sorge für seine Erhaltung, für sein Wohlbefinden übernimmst, fühlt er sich von derselben frei. Sein Urteil gründet sich auf das deinige, weshalb er alles, was du ihm nicht verbietest, ohne Bedenken tut, weil er wohl weiß, daß ihm keine Gefahr dabei droht. Weshalb braucht er die Vorzeichen des Regens kennen zu lernen? Er weiß ja, daß du an seiner Statt den Himmel beobachtest. Weshalb braucht er für seinen Spaziergang bestimmte Zeiten festzusetzen? Er braucht nicht zu besorgen, daß du das Mittagessen werdest versäumen lassen. Er ißt, solange du ihm nicht zu essen verbietest, verbietest, du es ihm aber, so ißt er nicht mehr. Er gehorcht nicht dem Wink seines Magens sondern dem deinigen. Verweichliche seinen Körper immerhin durch Untätigkeit; dadurch wird sein Verstand keineswegs an Gewandheit gewinnen. Im Gegenteil wirst du dadurch in seinem Geiste der Vernunft erst vollends allen Wert rauben, da du ihn den geringen Teil, den er davon erhalten hat, nur auf Dinge verwenden läßt, die ihm bisher vollends nutzlos erscheinen. Da er ihren Nutzten nie wahrnimmt, so urteilt er endlich, daß sie überhaupt keinen Nutzen bringen. Das Schlimmste, dem er sich bei einem falschen[188] Urteil aussetzte, wäre ein Verweis, und den erhält er so oft, daß er darauf nur noch wenig Rücksicht nimmt. Eine so gewöhnliche Gefahr vermag ihn nicht mehr zu schrecken.

Dennoch wirst du finden, daß es ihm an Geist nicht fehlt. Freilich besitzt er nur so viel, um in dem Ton, von dem ich bereits oben geredet habe, mit den Frauen zu schwatzen. Kommt er aber einmal in die Lage, mit seiner eigenen Person eintreten zu müssen, in einer schwierigen Angelegenheit Partei zu ergreifen, so wirst du ihn hundertmal beschränkter und alberner finden, als den Sohn des gröbsten Bauern.

Mein Zögling dagegen, oder vielmehr der der Natur, der schon frühzeitig angehalten ist, sich soviel als möglich selbst zu genügen, ist nicht daran gewöhnt worden, zu anderen seine Zuflucht zu nehmen, noch weniger von ihnen sein großes Wissen auszukramen. Dafür beweist er aber Urteil, Vorsicht und Ueberlegung bei allem, was sich unmittelbar auf ihn bezieht. Er schwatzt nicht, sondern handelt; er weiß kein Wort von dem, was in der Welt vorgeht, versteht aber das, was ihm dienlich ist, gar wohl zu tun. Da er in beständiger Bewegung ist, so sieht er sich genötigt, vielerlei zu beobachten und viele Wirkungen kennen zu lernen. Er erwirbt sich frühzeitig eine große Erfahrung; er erhält seinen Unterricht von der Natur und nicht von Menschen; er unterrichtet sich um so lieber, da er nirgends die Absicht gewahrt, ihn unterrichten zu wollen. So wird sein Körper und sein Geist gleichzeitig geübt. Da er stets seinem eigenen Sinn und nicht dem anderer folgt, so geht die körperliche wie geistige Anstrengung beständig Hand in Hand. Je stärker und kräftiger er wird, desto verständiger und urteilsfähiger wird er. Das ist der richtige Weg, dereinst das zu besitzen, was man für unvereinbar hält, und was dennoch fast alle großen Männer gleichmäßig besessen haben, nämlich Kraft des Körpers und der Seele, die Vernunft eines Weisen und die Stärke eines Athleten.[189]

Junger Erzieher, ich predige dir eine schwierige Kunst; du sollst lernen, ohne Vorschriften die Erziehung zu leiten, und deine Aufgabe durch Nichtstun zu erfüllen. Ich gebe zu, daß diese Kunst für dein Alter Schwierigkeiten hat; sie ist nicht geeignet, deine Talente von vornherein glänzen zu lassen, noch dir bei den Vätern ein großes Ansehen zu verschaffen, aber sie ist die einzige, um zum Ziel zu gelangen. Nie wirst du imstande sein, Weise zu bilden, wenn du sie nicht vorher in ihrer natürlichen Wildheit hast aufwachsen lassen. Dieser Erziehung huldigten die Spartaner. Anstatt die Kinder an die Bücher zu fesseln, hielt man sie zuerst an, ihr Essen zu stehlen. Waren etwa die Spartaner, wenn sie erwachsen waren, geistig unbefähigt? Wer kennt nicht die Kraft und das Salz ihrer Erwiderungen? Zu allen Zeiten für die Erringung des Sieges herangebildet, vernichteten sie ihre Feinde in jeder Art der Kriegsführung, und die redseligen Athener fürchteten ihre schlagfertigen Worte nicht weniger als ihre Hiebe.

Bei der mit so großer Sorgfalt geleiteten Erziehung befiehlt der Lehrer und meint deshalb zu herrschen; in der Tat herrscht aber das Kind. Es bedient sich der Zumutungen, die du an dasselbe stellst, um von dir das zu erlangen, was ihm gefällig ist, und läßt dich stets eine Stunde Fleiß mit acht Tagen Nachgiebigkeit bezahlen. Jeden Augenblick mußt du mit ihm einem Vertrag eingehen. Diese Verträge, die du nach deiner Weise vorschlägst, und die es nach der seinigen ausführt, werden sich stets zugunsten seiner Launen, besonders wenn man sich die Ungeschicklichkeiten zuschulden läßt, zu seinem Vorteil das als Bedingung aufzustellen, was es zu erlangen sicher ist, möge es nun die Bedingung, welche man ihm dafür auferlegt, erfüllen oder nicht. Gemeiniglich liest das Kind weit besser in der Seele des Lehrers, als der Lehrer in dem Herzen des Kindes. Und das muß so sein; denn allen Scharfsinn, welchen das sich selbst überlassene Kind zur Erhaltung[190] seiner Person angewendet hätte, bietet es nun auf, seine Fähigkeit aus den Banden seines Tyrannen zu retten, während es für diesen, der kein so dringendes Interesse hat, das Kind zu durchschauen, oft vorteilhafter ist, es aus seiner Faulheit oder Eitelkeit nicht aufzurütteln.

Schlage mit deinem Zögling den entgegengesetzten Weg ein; möge er immerhin glauben der Herr zu sein, wenn du es nur stets in der Tat bist. Keine andere Unterwürfigkeit ist so vollkommen als diejenige, welche den Schein der Freiheit bewahrt; dadurch nimmt man den Willen selbst gefangen. Steht das arme Kind, welches nichts weiß, nichts kann, nichts kennt, nicht völlig in deiner Gewalt? Verfügst du nicht vermöge des Verhältnisses, in welches du zu ihm getreten bist, über seine ganze Umgebung? Hängt es nicht von dir ab, in jeder Weise bestimmend auf es einzuwirken? Liegen nicht seine Arbeiten, seine Spiele, seine Vergnügungen, seine Strafen, ohne sein Wissen sämtlich in deinen Händen? Allerdings soll es tun, was es selbst will; aber es darf nur das wollen, was mit deinem Willen übereinstimmt; es darf nicht einen einzigen Schritt tun, den du nicht vorausgesehen hast; es darf den Mund nicht öffnen, ohne daß du weißt, was es sagen will.

Alsdann wird es die körperlichen Uebungen, welche sein Alter erfordert, betreiben können, ohne daß sein Geist darunter leidet; alsdann wirst du sehen, wie es nicht seine Schlauheit darauf richtet, sich einer unbequemen Herrschaft zu entziehen, sondern wie es sich vielmehr ausschließlich damit beschäftigt, aus seiner ganzen Umgebung den größten Vorteil für sein augenblickliches Wohlsein zu ziehen; alsdann wirst du dich über die Freiheit seiner Erfindungsgabe wundern, mit der es sich alle ihm erreichbaren Gegenstände anzueignen und sich von ihnen einen wahrhaften Genuß zu verschaffen sucht, ohne erst der Beihilfe seiner Phantasie zu bedürfen.

Dadurch, daß du ihm auf diese Weise seinen freien Willen lässest, nährst du seine Launenhaftigkeit keineswegs.[191]

Da es nur das tut, was ihm dienlich ist, wird es bald auch nur das tun, was es tun soll, und obgleich sich sein Körper in fortwährender Bewegung befindet, so wirst du doch da, wo es sich um sein augenblickliches und fühlbares Interesse handelt, sich die ganze Vernunft, deren es fähig ist, viel besser und auf eine ihm weit entsprechendere Weise entfalten sehen als bei reinen Verstandesübungen.

Da es folglich nie sieht, daß du darauf ausgehst, ihm entgegenzutreten, da es kein Mißtrauen in dich setzt und dir nichts zu verbergen hat, so wird es dich auch nicht hintergehen und belügen; es wird sich ohne Bedenken so zeigen wie es ist. Du wirst es ganz nach deinem Gefallen studieren und die Lehren, die du ihm geben willst, in volle Uebereinstimmung setzen können, ohne daß es auf den Gedanken kommt, man wolle es belehren.

Ebensowenig wird es ihm einfallen, deine Sitten mit neugieriger Mißgunst auszuspähen, noch wird es sich ein heimliches Vergnügen daraus machen, dich auf einem Fehler zu ertappen. Der Uebelstand, dem wir dadurch vorbeugen, ist wahrscheinlich nicht zu unterschätzen. Eine der ersten Bemühungen der Kinder ist, wie schon gesagt, darauf gerichtet die Schwächen ihrer Erzieher zu entdecken. Diese Neigung führt zur Bosheit und hat nicht etwa ihre Quelle in derselben; sie entspringt vielmehr dem Bedürfnis, sich einer Autorität zu entziehen, die ihnen lästig fällt. Der schwere Druck des Joches, welches man ihnen auflegt, flößt ihnen den Wunsch ein, dasselbe abzuschütteln, und die Fehler, die sie an ihren Lehrern finden, verschaffen ihnen dazu die besten Mittel. Hierdurch entsteht nun bei ihnen die ledige Gewohnheit, die Menschen um ihrer Fehler willen zu beobachten, und am Auffinden solcher ihre Lust zu haben. Es liegt auf der Hand, daß dadurch wieder eine Quelle des Lasters in Emils Herz verstopft wird. Da er kein Interesse daran hat, Fehler an mir zu entdecken, so wird er sich auch nicht versucht fühlen, sie an mir und noch weniger an andern aufzufinden.[192]

Diese vorgeschlagene Methode scheint schwierig, weil man ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenkt; aber sie sollte es im Grunde nicht sein. Mit Recht darf man bei euch die Einsichten voraussetzen, welche euch befähigen, den von euch erwählten Beruf auszuüben; man darf annehmen, daß ihr mit dem natürlichen Entwicklungsgang des menschlichen Herzens vertraut seid und daß ihr nicht nur den menschlichen Charakter im allgemeinen, sondern auch den jedes einzelnen Menschen zu erforschen vermögt, daß ihr im voraus wißt, worauf sich der Wunsch eures Zöglings richten werde, sobald ihr ihm alle die Gegenstände vor Augen vorüberführt, welche seinem Alter Interesse darbieten. Macht uns nun aber der Besitz der Werkzeuge und die Kenntnis ihres Gebrauches nicht zum Herrn des Erfolges?

Ihr beruft euch zur Begründung eures Einwandes auf den Eigensinn der Kinder, allein mit Unrecht. Der Eigensinn der Kinder ist niemals eine Mitgift der Natur, sondern das Ergebnis einer schlechten Zucht. Die Ursache liegt in ihrer Gewohnheit, zu gehorchen oder zu befehlen, und ich habe schon hundertmal gesagt, daß sie weder das eine noch das andere tun dürfen. Den Eigensinn habt ihr also eurem Zögling lediglich selbst beigebracht, und es ist also ganz recht, daß ihr die Strafe eurer Fehler tragt. Aber, werdet ihr sagen, wie läßt sich diesem Uebel abhelfen? Bei besserer Leitung und vieler Geduld ist es noch möglich.

Ich hatte einst in Stellvertretung einige Wochen lang die Erziehung eines Kindes übernommen, welches nicht nur gewohnt war, beständig seinen Willen durchzusetzen, sondern auch seine ganze Umgebung zwang, sich demselben zu fügen, und das folglich voller Grillen und Launen war.56 Gleich am ersten Tag wollte es, um meine Nachgiebigkeit auf die Probe zu stellen, um Mitternacht aufstehen. Während ich[193] ruhig im tiefsten Schlafe liege, springt es aus seinem Bette, zieht seinen Schlafrock an und ruft mich. Ich stehe auf und zünde Licht an. Weiter wünschte es nichts. Nach einer Viertelstunde stellt sich der Schlaf wieder bei ihm ein und es legt sich, mit dem Resultat der angestellten Probe zufrieden, wieder hin. Zwei Tage darauf wiederholt es dieselbe mit dem gleichen Erfolg und ohne das geringste Zeichen von Ungeduld meinerseits. Als es mich aber, bevor es sich wieder niederlegte, umarmte, sagte ich ganz trocken zu ihm: »Mein lieber Freund, das ist zwar recht schön, versuche es jedoch nicht noch einmal.« Diese Warnung erregte seine Neugier, und schon am nächsten Tag verspürte es wahrscheinlich Lust zu sehen, ob ich es wohl wagen würde, mich seinem Willen zu widersetzen, und unterließ deshalb nicht, wieder um die nämliche Stunde aufzustehen und mich zu rufen. Ich fragte, was es wünsche. Es schützte vor, nicht schlafen zu können. »Das ist schlimm!« versetzte ich und verhielt mich darauf ganz ruhig. Es bat mich, Licht anzuzünden. »Weshalb?« entgegnete ich und beobachtete wieder Schweigen. Der lakonische Ton meiner Antworten begann es in Verlegenheit zu setzen. Es tappte im Finstern nach dem Feuerstahl umher und machte einige ungeschickte Versuche, Feuer anzuschlagen. Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren, als ich hörte, wie es sich dabei auf die Finger schlug. Als es sich endlich überzeugt haben mochte, daß es nicht zum Ziel kommen würde, brachte es mir den Feuerstahl an das Bett. Ich sagte ihm jedoch, es solle mich in Ruhe lassen, und drehte mich auf die andere Seite. Nun fing es an, wie unsinnig im Schlafzimmer auf und ab zu laufen, wobei es schrie, sang, Lärm machte und Tischen und Stühlen Stöße versetzte, allein sorgfältig bemüht war, sich nicht wehe zu tun, obgleich es nicht unterließ, bei jedem laut aufzuschreien, da es sich wohl der Hoffnung hingeben mochte, mich dadurch zu beunruhigen. Aber alles dies war vergeblich, und ich begriff recht wohl, daß es sich gerade[194] deshalb, weil es auf schöne Ermahnungen oder auf Zornausbrüche gerechnet hatte, in meine Kaltblütigkeit nicht finden konnte.

Indes entschlossen, meine Geduld durch Halsstarrigkeit zu überwinden, setzte es seinen Lärm mit solchem Erfolge fort, daß ich endlich doch in Harnisch geriet. Da mir mein Gefühl jedoch sagte, daß ich durch Jähzorn und Hitze alles verderben würde, schlug ich einen anderen Weg ein. Ich stand, ohne ein Wort zu sagen, auf, suchte den Feuerstahl und fand ihn nicht. Ich fragte meinen Zögling danach, und er gibt ihn mir mit unverkennbarer Freude, endlich über mich triumphiert zu haben. Ich schlage Feuer, zünde das Licht an, nehme den kleinen Trotzkopf an der Hand und führe ihn ruhig in eine Nebenkammer, deren Fensterladen fest verschlossen waren und in welcher sich keine zerbrechlichen Gegenstände befanden. Hier lasse ich ihn ohne Licht, verschließe die Tür und gehe, ohne ihm ein einziges Wort zu sagen, wieder zu Bett. Man braucht nicht erst zu fragen, ob ein tüchtiger Lärm losbrach; darauf hatte ich mich gefaßt gemacht und ließ mich deshalb auch dadurch nicht aus meiner Ruhe bringen. Endlich legt sich der Lärm; ich lausche und höre, wie er sich in das Unvermeidliche findet. Das gibt auch mir meine volle Ruhe wieder. Am anderen Morgen trete ich schon bei Tagesanbruch in seine Kammer ein und finde meinen kleinen Eigensinn auf einem Ruhebette liegend in tiefstem Schlummer versenkt, der für ihn nach den aufregenden Anstrengungen gewiß ein großes Bedürfnis war.

Damit war die Sache freilich noch nicht abgetan. Die Mutter erfuhr, daß ihr Kind zwei Drittel der Nacht außer seinem Bette zugebracht hätte. Nun war alles verloren; in ihren Augen war das Kind schon so gut wie tot. Da diesem die Gelegenheit günstig schien, sich zu rächen, so stellte es sich krank, ohne vorauszusehen, daß es dabei nichts gewinnen würde. Der Arzt wurde gerufen. Zum Unglück[195] für die Mutter war derselbe ein loser Schelm, der, um mit ihrer Angst seinen Scherz zu treiben, alles aufbot, sie zu vermehren. Mir flüsterte er jedoch ins Ohr. »Lassen Sie mich nur machen; ich verspreche Ihnen, daß das Kind auf lange Zeit von seiner Lust, den Kranken zu spielen, geheilt werden soll.« In der Tat wurde nun eine strenge Diät und sorgfältiges Hüten des Zimmers angeordnet und dem Apotheker ein reicher Verdienst zugewendet. Mit Seufzen sah ich, wie diese arme Mutter, mich allein ausgenommen, von ihrer ganzen Umgebung getäuscht wurde, und wie sie mich gerade um deswillen mit ihrem Haß verfolgte, weil ich mich nicht dazu verstehen konnte, sie zu betrügen.

Nach ziemlich harten Vorwürfen erklärte sie mir, ihr Sohn wäre schwächlich und der einzige Erbe seiner Familie; man müßte ihn um jeden Preis zu erhalten suchen und es wäre deshalb ihr Wille, daß man ihm nicht entgegenträte. Darin war ich mit ihr nun völlig einverstanden, allein sie meinte unter dem »nicht entgegentreten«, daß man sich ihm in allen Beziehungen fügen sollte. Ich sah ein, daß ich gegen die Mutter denselben Ton wie gegen den Sohn anschlagen müßte. »Gnädige Frau,« sagte ich ziemlich kalt zu ihr, »ich verstehe mich nicht auf die Erziehung eines Erben, und was noch mehr ist, ich will es auch nicht lernen. Treffen Sie also danach Ihre Einrichtungen!« Man bedurfte meiner noch einige Zeit, der Vater schlug sich ins Mittel, die Mutter schrieb an den Lehrer, er möchte seine Rückkehr beschleunigen, und das Kind faßte, da es zur Einsicht gekommen war, daß ihm weder die Störung meines Schlafes noch seine simulierte Krankheit einen Vorteil brächten, endlich den Entschluß, selbst zu schlafen und wieder gesund zu werden.

Man kann sich nicht vorstellen, mit wie vielen ähnlichen wunderlichen Einfällen der kleine Tyrann seinen unglücklichen Erzieher gequält und sich endlich völlig unterworfen hatte, denn die Erziehung geschah unter den Augen der[196] Mutter, die eine Auflehnung gegen den Willen des Erben nicht gestattete. In welcher Stunde er auch immer auszugehen wünschte, stets mußte sein Erzieher bereit sein, ihn zu führen, oder vielmehr ihm zu folgen, und mit großer Umsicht wählte er regelmäßig den Augenblick, wo er diesen am meisten beschäftigt sah. Er wollte sich nun dieselbe Herrschaft über mich anmaßen und sich am Tage für die Ruhe rächen, welche er mir gezwungenerweise des Nachts gewähren mußte. Ich gab mich gutmütig zu allem her, und lieferte ihm zunächst den augenscheinlichen Beweis, welche Freude es mir bereitete, mich ihm gefällig erweisen zu können; als aber nachher die Frage, ihn von seinen Grillen zu heilen, an mich herantrat, schlug ich ganz andere Wege ein.

Zunächst mußte ich ihm sein Unrecht fühlbar machen, und das ließ sich unschwer erreichen. Da ich aus Erfahrung wußte, daß die Kinder stets nur das Gegenwärtige ins Auge fassen, so verschaffte mir meine Voraussicht leicht einen Vorteil über ihn. Ich selbst trug Sorge, daß ihm zu Hause ein Vergnügen bereitet wurde, welches seinem Geschmack außerordentlich zusagte, und in dem Augenblick, wo ich sah, daß er sich demselben mit voller Lust hingab, schlug ich ihm einen Spaziergang vor. Er weigerte sich mit aller Entschiedenheit; ich bestand darauf, aber er hörte gar nicht mehr auf mich; ich mußte nachgeben, und er merkte sich genau dieses Zeichen meiner Unterwerfung.

Am folgenden Tag kam nun die Reihe an mich. Diesmal hatte ich dafür gesorgt, daß er sich langweilen mußte, während ich äußerst beschäftigt schien. Das war mehr als genügend, ihn nach meinem Plan zu bestimmen. Er ermangelte nicht, den Versuch zu machen, mich von meiner Arbeit loszureißen, damit ich sofort mit ihm spazierengehen möchte. Ich weigerte mich; er bestand darauf. »Nein,« sagte ich zu ihm, »dadurch, daß du mich zwangst, gestern deinem Willen nachzugeben, hast du mich auf die Notwendigkeit[197] aufmerksam gemacht, den meinigen zu behaupten; ich will nicht ausgehen.« – »Nun gut!« erwiderte er lebhaft, »so werde ich ganz allein gehen.« – »Wie du willst,« versetzte ich und nahm meine Arbeit wieder auf.

Er kleidet sich an, etwas beunruhigt zu sehen, daß ich es geschehen lasse, ohne eine Miene zu machen, mich gleichfalls anzuziehen. Endlich ist er fertig und kommt, von mir Abschied zu nehmen; ich empfehle mich ihm ebenfalls. Nun sucht er mir durch Beschreibung der Wege, die er einzuschlagen gedenke, Besorgnis einzuflößen. Nach seinen Worten hätte man glauben sollen, er wollte bis ans Ende der Welt laufen. Ohne mich zu rühren, wünsche ich ihm eine glückliche Reise. Seine Verlegenheit verdoppelt sich. Indes zeigt er doch eine leidliche Fassung und befiehlt beim Weggehen seinen Diener, ihm zu folgen. Dieser, welchem seine Rolle schon vorgeschrieben ist, erwidert, er habe keine Zeit, er sei durch Arbeiten für mich in Anspruch genommen und müsse mir mehr gehorchen als ihm. Das war für den Knaben ein wahrhaft vernichtender Schlag. Es mußte ihm unbegreiflich erscheinen, daß man ihn allein gehen ließ, ihn, der sich in seinem Kreise für die wichtigste Persönlichkeit hielt und der Ansicht war, daß Himmel und Erde an seiner Erhaltung Anteil nähmen. Allmählich beginnt er zum Bewußtsein seiner Schwäche zu kommen; es beschleicht ihn die Ahnung, daß er sich inmitten von Leuten, die ihn nicht kennen, allein fühlen werde; er sieht die Gefahren voraus, welche er laufen wird. Nur der Trotz läßt ihn sein Unrecht nicht eingestehen. Langsam und sehr betroffen steigt er die Treppen hinab. Endlich tritt er auf die Straße hinaus, während er sich über das Schlimme, das ihm zustoßen kann, durch die Hoffnung tröstet, daß man mich dafür verantwortlich machen werde.

Darauf hatte ich gerechnet. Alles war schon im voraus vorbereitet, und da es sich hierbei um eine Art öffentlichen Auftritts handelte, so hatte ich die Einwilligung des Vaters[198] erbeten und erhalten. Kaum hatte er einige Schritte getan, als er schon rechts und links allerlei Worte vernahm, die ihm galten. »Nachbar, sieh den hübschen jungen Herrn, wo mag er so allein hingehen? Er wird sich verlaufen; ich werde ihn lieber einladen, bei uns einzutreten.« –

»Nachbarin, seid wohl auf Eurer Hut! Seht Ihr nicht, daß es ein lockeres Bürschchen ist, welches man aus dem Hause seines Vaters gejagt hat, weil es nicht hat gut tun wollen? Taugenichtse muß man sich aufzunehmen hüten. Laßt ihn laufen, wohin er will!« – »Nun gut! Gott geleite ihn! Es würde mir doch leid tun, wenn ihm ein Unglück zustieße.« Ein wenig weiter trifft er auf Gassenjungen, die mit ihm in ungefähr gleichem Alter stehen, ihn neckend und sich über ihn lustig machen. Je weiter er geht, in desto größere Verlegenheit stürzt er. Er bemerkt, daß ihn, der allein und schutzlos dasteht, alle Welt zur Zielscheibe ihres Spottes macht, er erfährt zu seiner großen Ueberraschung, daß seine Achselschleife und seine goldenen Aermelaufschläge nicht hinreichen, ihn in allgemeine Achtung zu setzen.

Inzwischen folgte ihm einer meiner Freunde, welchen er nicht kannte und dem ich seine Ueberwachung anvertraut hatte, Schritt für Schritt, ohne daß er es gewahrte, und trat rechtzeitig an ihn heran. Diese Rolle, welche der des Gelegenheitsmachers Strigani in dem Molièreschen Lustspiele »Der Herr von Pourceaugnac« ähnlich war, erforderte einen Mann von Geist und wurde mit vollendeter Kunst durchgeführt. Ohne dem Kinde Furcht einzujagen und es dadurch einzuschüchtern, brachte er es doch zu so vollkommener Einsicht seines unbesonnenen Streichs, daß er es schon nach Verlauf einer halben Stunde folgsam und so beschämt zurückbrachte, daß es die Augen nicht aufzuschlagen wagte.

Um das Mißgeschick, das über dem abenteuerlichen Zug schwebte, zu vollenden, kam gerade in dem Augenblick, in welchem mein Zögling heimkehrte, sein Vater die Treppe[199] herab, um auszugehen, und traf auf derselben mit ihm zusammen. Er mußte diesem erzählen, wo er käme und weshalb ich nicht bei ihm wäre.57 Das arme Kind hätte hundert Fuß in die Erde versinken mögen. Ohne sich darin zu gefallen, ihm einen langen Verweis zu erteilen, sagte der Vater weit trockener, als ich erwartet hatte, zu ihm: »Wenn du wieder allein ausgehen willst, so ist dir das freilich unbenommen; da ich jedoch keinen Landstreicher in meinem Hause dulde, so sorge, wenn der Fall wieder vorkommen sollte, auch dafür, daß du nicht wieder zurückkehrst.«

Ich meinerseits empfing ihn ohne Vorwurf und ohne Spott, jedoch ernster als gewöhnlich. Um allem Argwohn seinerseits vorzubeugen, daß der ganze Vorgang nur ein abgekartetes Spiel gewesen sei, wollte ich ihn auch an demselben Tage nicht spazierenführen. Zu meiner großen Freude gewahrte ich am folgenden Tag, daß er mit triumphierender Miene an den nämlichen Leuten vorüberschritt, welche sich tags zuvor über ihn lustig gemacht hatten, weil sie ihm allein begegnet waren. Man wird es begreiflich finden, daß er mir seitdem nicht mehr drohte, ohne mich auszugehen.

Durch diese und ähnliche Mittel versetzte ich es in der kurzen Zeit, die ich bei ihm war, durch, daß er alles tat, was ich wollte. Ich brauchte ihm dazu nichts vorzuschreiben und nichts zu verbieten, bedurfte keiner Predigten, keiner Ermahnungen, keiner langweiligen Belehrungen. Solange ich mit ihm sprach, war er heiter und zufrieden, allein mein Stillschweigen beängstigte ihn; er merkte dann, daß irgend etwas nicht in der Ordnung war, und immer hatte er die Berichtigung der Sache selbst zu verdanken. Aber laßt uns wieder auf unseren Gegenstand zurückkommen.[200] Diese fortwährenden, der Leitung der Natur allein überlassenen Uebungen stumpfen demnach, während sie den Körper kräftigen, den Geist nicht nur nicht ab, sondern bilden in uns im Gegenteil die einzige Art von Vernunft, deren das Kindesalter fähig und die jeglichem Alter am nötigsten ist. Sie lehren uns den rechten Gebrauch unserer Kräfte, die Beziehungen unseres Körpers zu den uns umgebenden Körpern und den Gebrauch der natürlichen Werkzeuge kennen, welche sich in unserem Bereich befinden und unseren Organen entsprechen. Gibt es wohl eine ähnliche Dummheit wie die eines beständig im Zimmer und unter den Augen seiner Mutter erzogenen Kindes, welches, ohne etwas von der Schwere und der Widerstandsfähigkeit erfahren zu haben, einen starken Baum ausreißen oder ein Felsstück aufheben will? Als ich zum erstenmal aus Genf herauskam, wollte ich ein galoppierendes Pferd einholen. Ich warf mit Steinen nach dem Berg Salève, der zwei französische Meilen von mir entfernt war. Alle Dorfkinder machten mich zur Zielscheibe ihres Spottes und schienen mich für einen wahren Idioten zu halten. Die Lehre vom Hebel lernt man im achtzehnten Jahre auf höheren Schulen; es gibt aber sicherlich keinen zwölfjährigen Bauernknaben, der mit einem Hebel nicht besser umzugehen wüßte als der erste Mechaniker der Akademie. Was die Schüler auf dem Hofe des Gymnasiums voneinander selbst lernen, ist ihnen hundertmal nützlicher als alles, was man ihnen je im dumpfen Schulzimmer beibringen wird.

Betrachtet nur eine Katze, wenn sie zum erstenmal in ein Zimmer kommt. Sie untersucht, schaut umher, beriecht alles, überläßt sich keinen Augenblick der Ruhe, traut keinem Ding, bis sie alles geprüft, alles erforscht hat. Ebenso benimmt sich ein Kind, wenn es zu gehen anfängt und dadurch gleichsam in die Welt eintritt. Der ganze Unterschied besteht darin, daß sich das Kind wie die Katze außer dem Gesichtssinn, welcher beiden gemeinsam ist, noch eines anderen[201] Sinnes zur genauen Beobachtungen bedienen, das erstere des Tastsinnes, mit welchem es die Natur ausstattete, letztere dagegen des ihr verliehenen seinen Geruchsinnes. Diese Anlage ist es gerade, welche je nach ihrer guten oder schlechten Ausbildung die Kinder gewandt oder unbeholfen, schwerfällig oder behend, leichtsinnig oder überlegend macht.

Da also der Mensch mit seinen ersten natürlichen Bewegungen den Zweck verfolgt, sich mit seiner ganzen Umgebung zu messen, und an jedem Gegenstande, den er gewahrt, alle die sinnlichen Eigenschaften zu prüfen, die auf ihn Bezug haben können, so ist sein erstes Studium eine Art Experimentalphysik, welches lediglich seine eigene Erhaltung im Auge hat und von dem man ihn durch spekulative Studie abzieht, bevor er noch seine Stellung hienieden erkannt hat. Solange noch seine zarten und geschmeidigen Organe imstande sind, sich nach den Körpern zu richten, auf welche sie einwirken sollen, solange noch seine klaren Sinne von Illusionen frei sind, ist es die rechte Zeit, beide in den ihnen eigentümlichsten Funktionen zu üben; ist es die rechte Zeit, die sinnlich wahrnehmbaren Beziehungen, in welchen die Körperwelt zu uns steht, kennen zu lernen. Da alles, was in den menschlichen Verstand eindringt, durch die Sinne in ihn gelangt, so ist der erste Verstand des Menschen ein sinnlicher Verstand. Unsere ersten Lehrer der Philosophie sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen. An Stelle derselben Bücher setzen, heißt nicht, uns vernünftig urteilen lehren, es heißt vielmehr uns anhalten, uns auf den Verstand anderer zu verlassen, heißt uns anleiten, viel zu glauben und nie etwas zu wissen.

Um eine Kunst zu üben, muß man damit anfangen, daß man sich die dazu nötigen Werkzeuge anschafft, und um diese Werkzeuge nützlich anwenden zu können, muß man sie so haltbar machen, daß sie beim Gebrauch nicht zerbrechen. Um denken zu lernen, müssen wir folglich unsere[202] Glieder, unsere Sinne, unsere Organe üben, welche die Werkzeuge unseres Verstandes sind, und um aus diesen Werkzeugen den größtmöglichen Vorteil zu ziehen, muß der Körper, der sie zur Verfügung stellt, kräftig und gesund sein. Weit entfernt also, daß sich der wahre Verstand des Menschen unabhängig vom Körper entwickelt, macht gerade erst die gute Konstitution des Körpers die Operationen des Geistes leicht und sicher.

Indem ich mich nachzuweisen bemühe, wozu man die lange Muße der Kindheit anwenden soll, lasse ich mich auf Einzelheiten ein, die vielleicht lächerlich erscheinen werden. Ein seltsamer Unterricht, wird man mir einwenden, der sich nach deiner eigenen Kritik darauf beschränkt, das zu lehren, was niemand erst zu lernen braucht! Weshalb die Zeit mit Belehrungen verschwenden, die doch regelmäßig von selbst kommen und weder Mühe noch Sorgfalt verlangen? Welches zwölfjährige Kind weiß nicht alles das, worin du das deinige unterrichten willst, und außerdem noch das, was es dem Unterricht seiner Lehrer zu verdanken hat?

Sie irren sich, meine Herrn! Ich lehre meinen Zögling eine sehr zeitraubende und schwierige Kunst, die den ihrigen sicherlich fremd ist, nämlich die Kunst, nichts zu wissen, denn der Wissensschatz desjenigen, der nur das zu wissen glaubt, was er wirklich weiß, beschränkt sich auf gar wenige Gegenstände. Sie behaupten, Wissenschaft mitzuteilen. Ich will mir das gefallen lassen. Ich dagegen beschäftige mich nur mit dem zur Erwerbung derselben geeigneten Werkzeug. Man erzählt sich, daß als die Venezianer einem spanischen Gesandten einst ihren Schatz von Sankt Markus unter Entfaltung einer großen Pracht zeigten, sich dieser jedes Beifallswortes enthielt, statt dessen unter den Tisch blickte und zu ihnen äußerte: »Qui non c'é la radice.« (Hier ist aber seine Wurzel nicht.) So oft ich einen Lehrer sehe, der seinen Schüler sein geringes Wissen[203] auskramen läßt, vermag ich kaum der Versuchung zu widerstehen, ihm dasselbe zuzurufen.

Alle diejenigen, welche über die Lebensweise der Alten nachgedacht haben, schreiben ihren gymnastischen Uebungen jene körperliche und geistige Gewandheit zu, durch welche sie sich von der heutigen Menschheit so sichtlich auszeichnen. Die Art und Weise, wie Montaigne diese Ansicht unterstützt, in wie hohem Grade er von ihrer Wahrheit erfüllt war; unaufhörlich und auf tausenderlei Weise kommt er darauf zurück. Bei Besprechung der Erziehung eines Kindes sagt er: »Um seinen Geist zu kräftigen, muß man seine Muskeln stärken. Durch Gewöhnung an die Arbeit gewöhnt man es an den Schmerz; man muß es mit den ermüdenden Anstrengungen der Leibesübungen vertraut machen, um es gegen die Schmerzen der Verrenkungen, der Kolik und aller sonstigen Leiden abzuhärten.« Der weise Locke, der treffliche Rollin, der gelehrte Fleury, der pedantische Croupas stimmen alle, wie verschiedenen Grundsätzen sie auch im übrigen huldigen, doch in diesem einen Punkt überein, daß die körperliche Ausbildung der Kinder unter keinen Umständen vernachlässigt werden darf. Dies ist die verständigste ihrer Vorschriften, und trotzdem diejenige, welche am meisten übersehen wird und immer übersehen werden wird. Ueber ihre Wichtigkeit habe ich mich schon zu Genüge ausgesprochen, und da man darüber keine besseren Gründe und keine verständigeren Regeln geben kann, als die Locke in seinem erwähnten Buch aufführt, so begnüge ich mich, auf dasselbe zu verweisen, während ich mir gleichzeitig die Freiheit nehme, seinen Beobachtungen noch einige hinzuzufügen.

Die Glieder eines noch im Wachstum begriffenen Körpers dürfen nur von bequemen und weiten Kleidungsstücken bedeckt sein; nichts darf ihre Bewegung und ihr Wachstum stören; nichts darf zu eng sein, nichts zu fest an den Körper anschließen, nichts durch Binden zusammengepreßt werden.[204]

Ist die französische Kleidung schon für Erwachsene unbequem und ungesund, so ist sie für Kinder geradezu verderblich. Die stockenden und in ihrer Zirkulation gehemmten Säfte bleiben fast stehen, was vor allen Dingen bei einer untätigen und sitzenden Lebensweise die größten Leiden hervorruft, ja sie verderben, und erzeugen Skorbut, eine Krankheit, die unter uns von Tag zu Tag immer häufiger auftritt, während sie den Alten fast ganz unbekannt war, da ihre Art, sich zu kleiden und zu leben, sie dagegen schützte. Die jetzt so häufige Husarenkleidung hilft bei diesem Uebelstand nicht ab, sondern vermehrt ihn eher; dafür daß sie den Kinder einige Bänder erspart, schnürt sie ihnen den ganzen Körper zusammen. Am meisten empfiehlt sich, so lange als möglich in einem Kinderröckchen gehen zu lassen, ihnen alsdann recht weite Kleidungsstücke zu geben und nicht darauf auszugehen, ihren schlanken Wuchs bemerkbar zu machen, was nur zu ihrer Entstellung beiträgt. Ihre leiblichen wie geistigen Mängel wurzeln fast alle in einer und derselben Ursache: man will sie vor der Zeit zu Erwachsenen machen.

Es gibt heitere Farben und düstere Farben; erstere sagen dem Geschmack der Kinder mehr zu; sie stehen ihnen auch besser, und ich sehe nicht ein, weshalb man einen so natürlichen Zug nicht beachten sollte. Allein von dem Augenblick an, wo sie einem Stoffe nur um deswillen den Vorzug geben, weil er reicher ist, haben sich ihre Herzen schon dem Luxus und allen Launen eingesogener Vorurteile ergeben, und dieser Geschmack hat sich sicherlich nicht in ihnen selbst gebildet. Man darf wahrlich den Einfluß nicht unterschätzen, welchen die Wahl der Kleider und die Motive zu dieser Wahl auf die Erziehung ausüben. Nicht nur versprechen blinde Mütter ihren Kindern allerlei Putzsachen als Belohnung, sondern man hört sogar, wie unverständige Erzieher ihren Zöglingen mit einem groben und einfachen Gewande wie mit einer Strafe drohen: »Wenn du nicht besser lernst, wenn du deine Kleidungsstücke nicht besser[205] schonst, wird man dich wie jenen kleinen Bauernburschen anziehen.« Das ist ebensoviel, als ob man ihnen sagte: »Wisse, daß der Mensch nur durch seine Kleider etwas gilt, und daß dein Wert von den deinigen abhängig ist.« Darf man dann in Erstaunen geraten, wenn solche weisen Lehren bei der Jugend einen dankbaren Boden finden, wenn in ihren Augen nur der Putz Wert verleiht, und sie das Verdienst nur nach dem Aeußeren beurteilen?

Wenn ich einem in dieser Hinsicht verdorbenen Kinde den Kopf wieder zurechtzusetzen hätte, so würde ich dafür Sorge tragen, daß seine reichsten Kleider zugleich die unbequemsten wären, und daß es sich in denselben stets beengt, eingezwängt und auf tausenderlei Weise behindert fühlte. Ich würde es so einrichten, daß Freiheit und Frohsinn vor seiner äußeren Pracht fliehen müßten. Wollte es sich in die Spiele anderer, einfacher gekleideter Kinder mischen, müßte alles aufhören, alles sofort verschwinden. Kurz ich würde es so langweilen, ihm seinen Putz so verekeln, es in so hohem Grade zum Sklaven seines goldbetreßten Rockes machen, daß ihm dieser wie eine Geißel seines Lebens erschiene, und daß es das dunkelste Gefängnis mit weniger Schrecken als seinen glänzenden Putz erblicken sollte. Solange wir dem Kinde unsere Vorurteile noch nicht eingeimpft haben, besteht sein Hauptwunsch stets darin, unbehindert und frei zu sein. Die einfachste, die bequemste Bekleidung, eine solche, die es am wenigsten beengt, hat in seinen Augen dann stets den Vorzug.

Der Körper läßt sich an Bewegung und noch mehr an Untätigkeit gewöhnen. Bei letzterer Gewöhnung, die eine gleichmäßige und einförmige Zirkulation der Säfte gestattet, muß man den Körper vor ungünstiger Witterung bewahren; bei ersterer hingegen, die einen fortwährenden Uebergang von Bewegung zur Ruhe und von Hitze zur Kälte bedingt, muß man ihn gegen alle Witterungsverhältnisse abhärten. Daraus folgt, daß sich alle durch ihre Geschäfte an das[206] Zimmer gefesselt und zu einer sitzenden Lebensweise verurteilten Leute jederzeit warm kleiden müssen, um den Körper in einer in allen Jahreszeiten und in allen Tagesstunden fast gleichmäßigen Temperatur zu erhalten. Solche Leute dagegen, die im Wind und Wetter, in Regen und Sonnenschein gehen und kommen, in unausgesetzter Bewegung sind und den größten Teil ihrer Zeit unter freiem Himmel zubringen, müssen stets leicht gekleidet sein, um sich ohne Nachteil an jeden Temperaturwechsel und an alle Wärmegrade zu gewöhnen. Ich würde den einen wie den anderen raten, nicht besondere Kleider für die verschiedenen Jahreszeiten zu tragen. Bei meinem Emil werde ich wenigstens streng nach diesem Grundsatz verfahren. Damit will ich jedoch nicht gesagt haben, daß er wie die Stubenhocker im Sommer seine Winterkleider, sondern vielmehr, daß er wie die echten Arbeitsleute im Winter seine Sommerkleider tragen soll. So kleidete sich Newton während seines ganzen Lebens und hat es dabei auf ein Alter von achtzig Jahren gebracht.

Eine dünne oder noch besser gar keine Kopfbedeckung in jeder Jahreszeit! Den alten Aegyptern war eine Kopfbedeckung völlig fremd; die Perser bedeckten ihr Haupt mit schweren Tiaren und bedecken es noch jetzt mit dicken Turbanen, welche Sitte nach Chardin das Klima des Landes unumgänglich nötig macht. An einer anderen Stelle58 habe ich auf den Unterschied aufmerksam gemacht, welchen Herodot auf einem Schlachtfeld zwischen den Schädeln der Perser und denen der Aegypter herausfand. Da also viel davon abhängt, daß die Knochen des Kopfes härter, fester, weniger zerbrechlicher und porös werden, um das Gehirn nicht allein gegen Verletzungen, sondern auch gegen Erkältung, Entzündung und alle Einwirkungen der Witterung zu schützen, so gewöhnt eure Kinder daran, Sommer und Winter, Tag[207] und Nacht stets in bloßem Kopf zu bleiben. Wollt ihr ihnen jedoch der Reinlichkeit wegen und um ihre Haare in Ordnung zu halten, während der Nacht eine Kopfbedeckung geben, so darf dieselbe nur in einer dünnen, feinen Mütze bestehen, ähnlich dem Netz, welches die Basken um ihre Haare schlingen. Ich bin mir wohl bewußt, daß bei der Mehrzahl der Mütter Chardins Beobachtungen mehr Anklang als meine Gründe finden und sie deshalb auch glauben werden, überall persisches Klima zu entdecken; ich habe aber nicht deshalb einen Europäer zu meinem Zögling gewählt, um einen Asiaten aus ihm zu bilden.

Im allgemeinen kleidet man die Kinder zu warm, besonders im frühesten Lebensalter. Es wäre besser, sie gegen die Kälte als gegen die Wärme abzuhärten. Infolge großer Kälte werden sie nie erkranken, wenn man sie derselben nur von früh auf aussetzt, während die die jedes richtige Maß überschreitende Wärme unvermeidlich erschöpfen muß, da das noch allzu zarte und lockere Hauptgewebe der Ausdünstung einen zu freien Durchgang gestattet. Deswegen sterben auch, wie man beobachtet hat, im August mehr Kinder als in jedem anderen Monat. Uebrigens geht aus einer Vergleichung der nordischen Völker mit denen des Südens unzweifelhaft hervor, daß das Ertragen heftiger Kälte ungleich mehr kräftigt als das Ertragen großer Hitze. Je mehr das Kind aber heranwächst und je stärker seine Fibern werden, desto mehr müßt ihr es auch nach und nach daran gewöhnen, den Strahlen der Sonne zu trotzen. Geht ihr dabei stufenweise zu Werke, so werdet ihr es ohne Gefahr selbst gegen die tropische Hitze abzuhärten vermögen.

Locke verfällt inmitten der männlichen und verständigen Vorschriften, die er uns erteilt, in Widersprüche, die man von einem so überlegenden Denker nicht erwarten sollte. Derselbe Mann, welcher den Wunsch ausspricht, daß die Kinder im Sommer in eiskaltem Wasser baden mögen, verbietet ihnen, etwas Kaltes zu trinken, wenn sie erhitzt[208] sind, oder sich an nassen Stellen auf den Boden zu legen.59 Gleichzeitig verlangt er auch, daß ihre Schuhe zu allen Zeiten Wasser durchlassen sollen; wird das nicht ebenfalls geschehen, wenn das Kind erhitzt ist? Und kann man nicht von den Füßen dieselben Schlüsse auf den Körper ziehen, die er von den Händen auf die Füße und vom Gesicht auf den Körper zieht? Wenn du verlangst, würde ich ihm entgegnen, daß der Mensch ganz Gesicht sei, weshalb willst du mich tadeln, wenn ich verlange, daß er ganz Fuß sein soll?

Um die Kinder vom Trinken abzuhalten, sollen wir sie nach seinem Rat daran gewöhnen, vor allen Dingen ein Stück Brot vor dem Trinken zu essen. Es ist doch in der Tat sehr befremdend, daß er einem durstigen Kind zu essen geben will. Mit demselben Recht könnte ich einem hungrigen Kinde zu trinken geben. Niemals wird man mich davon zu überzeugen vermögen, daß unsere ersten Bedürfnisse so regellos seien, daß man sie nicht befriedigen könnte, ohne sich einer Todesgefahr auszusetzen. Verhielte dies sich wirklich so, dann wäre das Menschengeschlecht hundertmal zugrunde gegangen, ehe es gelernt hätte, was zu seiner Erhaltung erforderlich wäre.

So oft Emil Durst haben wird, soll man ihm zu trinken reichen. Man soll ihm reines Wasser geben, und zwar ohne alle Zubereitung, ja sogar ohne es erst verschlagen zu lassen, und wenn er über und über schwitzte, und wenn es mitten im Winter wäre. Nur in bezug auf die Beschaffenheit des Wassers werde ich die höchste Sorgfalt anempfehlen. Flußwasser gebe man ihm sofort, wie es aus dem Flusse kommt; Quellwasser muß man aber erst einige Zeit an der Luft stehen lassen, ehe er dasselbe trinken darf. In der[209] warmen Jahreszeit sind auch die Flüsse warm; anders verhält es sich mit den Quellen, die nicht mit der Luft in Berührung gestanden haben. Man muß deshalb so lange warten, bis das Wasser die Temperatur der Luft erreicht hat. Im Winter ist hingegen das Quellwasser in dieser Beziehung weniger gefährlich als das Flußwasser. Indes ist es weder natürlich, noch ereignet es sich häufig, daß man im Winter, namentlich im Freien, in Schweiß gerät. Denn die kalte Luft, welche die Haut unaufhörlich berührt, treibt den Schweiß nach innen zurück und verhindert die Poren, sich weit genug zu öffnen, um ihm einen freien Durchgang zu gestatten. Nun liegt es durchaus nicht in meiner Absicht, daß Emil im Winter seine Kräfte beim warmen Kaminfeuer übe; sondern draußen auf freiem Feld, mitten unter Eis und Schnee soll er sich Bewegung machen. Solange er sich nur durch Schneeballen erhitzt, mag er trinken, sobald er Durst empfindet; nachdem er getrunken hat, soll er nur fortfahren, sich zu bewegen, und man braucht dann keinen Nachteil zu besorgen. Auch wenn er infolge einer anderen Anstrengung in Schweiß gerät und Durst empfindet, trinke er selbst in dieser Jahreszeit kalt. Nur sorge man dafür, daß er sich das Wasser selbst und zwar langsamen Schrittes aus einiger Entfernung holen muß. Durch die voraussichtliche Kälte wird er, wenn er beim Wasser ankommt, hinreichend abgekühlt sein, um es ohne Gefahr trinken zu können. Die Hauptsache aber bleibt, daß man diese Vorsichtsmaßregel trifft, ohne daß er etwas davon merkt. Ich wünschte lieber, daß er bisweilen krank wäre, als das er fortwährend auf seine Gesundheit achtgäbe.

Die Kinder müssen lange schlafen, weil sie sich außerordentlich viel Bewegung machen. Eines dient als Korrektiv des anderen; auch lehrt die Erfahrung, daß sie ein Bedürfnis nach beiden haben. Die Zeit der Ruhe ist die Nacht; die Natur selbst hat sie dazu bestimmt. Es ist eine völlig zuverlässige Beobachtung, daß der Schlaf ruhiger und[210] süßer ist, solange sich die Sonne unter dem Horizont befindet, und daß wir uns bei der durch ihre Strahlen erhitzten Luft nicht einer ebenso tiefen Ruhe erfreuen. Daher ist es gewiß eine sehr ersprießliche Gewohnheit, sich mit der Sonne schlafen zu legen und wieder aufzustehen. Daraus folgt, daß in unserem Klima der Mensch so wie alle Tiere im allgemeinen das Bedürfnis haben, im Winter länger zu schlafen als im Sommer. Da nun aber einmal das bürgerliche Leben nicht einfach und natürlich genug, nicht frei genug von Veränderungen und Zufällen ist, darf man freilich den Menschen nicht bis zu dem Grade an diese Gleichmäßigkeit gewöhnen, daß sie ihm zur Notwendigkeit würde. Unstreitig muß man bestimmten Regeln folgen, aber als Hauptregel muß doch gelten, daß man sie, wenn es die Notwendigkeit erfordert, ohne Gefahr verletzen kann. Geht deshalb unbedachterweise auch nicht so weit, euren Zögling dadurch zu verweichlichen, daß sein ruhiger Schlaf niemals gestört werden darf. Ueberlaßt ihn anfangs getrost dem Gesetz der Natur, vergeßt aber dabei nicht, daß er, der einmal unseren Kreisen angehört, über diesem Gesetze stehen muß, daß er ohne große Mühe imstande sein muß, sich spät zur Ruhe zu begeben, früh aufzustehen, plötzlich zu erwachen und Nächte schlaflos zuzubringen. Wenn man hiermit schon früh beginnt und stets allmählich und stufenweise fortschreitet, so bildet man den Körper durch dieselben Mittel aus, durch die man ihn zugrunde richten würde, wollte man sie erst nach seiner vollendeten Entwicklung auf ihn anwenden.

Es ist ebenfalls von Wichtigkeit, sich von früh an ein hartes Lager zu gewöhnen. Darin liegt das Mittel, stets gut gebettet zu sein. Im allgemeinen vervielfältigt eine harte Lebensweise, wenn sie uns einmal zur zweiten Natur geworden ist, die angenehmen Empfindungen, während uns eine weichliche ununterbrochene Reihe von Unannehmlichkeiten bereitet. Weichlich erzogene Leute finden[211] nur auf Daunenbetten Schlaf; wer sich aber gewöhnt hat, auf Brettern zu schlafen, findet ihn überall. Für den, welcher sofort einschläft, wenn er sich niederlegt, gibt es kein hartes Bett.

Ein weiches Bett, in welchem man sich förmlich in Federn oder Eiderdaunen vergräbt, erschlafft und löst den Körper gleichsam auf. Die allzu warm eingehüllten Nieren erhitzen sich. Daraus bildet sich der Stein oder andere Beschwerden, und unfehlbar wenigstens eine zarte Natur, die den Keim zu allen Krankheiten enthält.

Das Bett ist unstreitig das beste, welches den erquickendsten Schlaf gewährt. Ein solches werden wir, Emil und ich, uns während des Tages bereiten. Man braucht uns keine persischen Sklaven zu schicken, um uns unsere Betten zu machen. Der Landbau, den wir treiben, wird schon dafür sorgen, daß wir unsere Matratzen weich finden.

Ich weiß aus Erfahrung, daß man es bei einem gesunden Kind fast ganz in seiner Gewalt hat, es nach Belieben einzuschläfern oder wach zu erhalten. Wenn das Kind in sein Bett gelegt ist und es die Wärterin mit seinem Geplauder langweilt, so sagt sie zu ihm: »Schlafe!« Das ist gerade so, als wenn sie im Fall seiner Erkrankung zu ihm sagen wollte: »Sei gesund!« Das rechte Mittel, es in Schlaf zu bringen, besteht darin, es selbst zu langweilen. Sprecht so viel, daß es sich zu schweigen gezwungen sieht, und es wird binnen kurzem einschlafen. Predigten sind immer zu etwas nutz; es in Schlaf reden ist besser als es einwiegen. Wollt ihr jedoch dieses Einschläferungsmittel trotzdem des Abends anwenden, so hütet euch wenigstens vor demselben bei Tage.

Ich werde Emil bisweilen wecken, nicht sowohl aus Besorgnis, daß er ein Langschläfer werden könnte, als vielmehr um ihn an alles, selbst an eine plötzliche Störung seines Schlafes, zu gewöhnen. Uebrigens würde ich wenig Fähigkeit für die mir gestellte Aufgabe besitzen, wenn ich ihn[212] nicht dahin zu bringen vermöchte, von selbst zu erwachen und gleichsam nach meinem Belieben aufzustehen, ohne daß ich ihm erst ein einziges Wort sagte.

Schläft er nicht lange genug, so deute ich an, daß der nächste Morgen sehr langweilig zu werden verspreche, und er selbst wird dann jeden Augenblick, den er davon verschlafen kann, als Gewinn betrachten. Schläft er dagegen zu lange, so stelle ich ihn ein Vergnügen nach seinem Sinn in Aussicht, welches seiner beim Aufstehen warte. Beabsichtige ich, daß er zu einer bestimmten Zeit erwache, so sage ich: »Morgen früh um sechs Uhr geht es auf den Fischfang,« oder »ich habe einen Spaziergang nach diesem oder jenem Orte vor. Willst du daran teilnehmen?« Er erklärt sich dazu bereit und bittet mich, ihn zu wecken. Ich verspreche es, oder verspreche es auch nicht, wie es mir gerade am besten scheint. Erwacht er zu spät, so erfährt er, daß ich mich schon auf den Weg gemacht habe. Es sollte mich wundernehmen, wenn er nicht bald lernt, von selbst aufzuwachen.

Sollte es übrigens vorkommen – ein Fall, der freilich sehr selten eintritt –, daß ein träges Kind die Neigung verriete, ganz in Faulheit zu verkommen, so darf man es diesem Hang, durch welchen es völlig erschlaffen würde, unter keinen Umständen überlassen, sondern muß irgendein Reizmittel anwenden, das es aufzurütteln vermag. Selbstverständlich kann nicht die Rede davon sein, es durch Gewalt zur Tätigkeit anzuspornen, sondern es handelt sich nur darum, es durch irgendeine Neigung dazu anzutreiben. Und wird diese Neigung richtig aufgefaßt und nach der natürlichen Ordnung geleitet, so führt sie uns gleichzeitig zwei Zielen entgegen.

Ich kann mir nichts vorstellen, wofür man nicht bei einiger Geschicklichkeit den Kindern Geschmack, ja sogar Leidenschaft einflößen könnte, ohne ihre Eitelkeit, ihren Wetteifer und ihre Eifersucht zu erregen. Ihre Lebhaftigkeit,[213] ihr Nachahmungstrieb genügen; vor allem bietet ihr natürlicher Frohsinn ein sicheres Mittel dar, auf dessen Benutzung jedoch noch nie ein Lehrer verfallen ist. Bei allen Spielen, von denen sie sich überzeugt halten können, daß es nur Spiele sind, erdulden sie ohne Klage, ja selbst unter munterem Gelächter Schmerzen, die sie sonst nie ertragen würden, ohne Ströme von Tränen zu vergießen. Langes Fasten, Schläge, Brandwunden, Strapazen jeglicher Art gelten in den Augen junger Wilden für Belustigungen, ein Beweis, daß selbst der Schmerz seine Würze hat, welche ihm seine Bitterkeit zu benehmen vermag. Indes darf man freilich nicht allen Lehrern die Kenntnis zutrauen, solche würzhafte Speisen zuzubereiten, und vielleicht verstehen auch nicht alle Schüler sie ohne Grimassen recht zu genießen. – Doch halt! Ich gerate, wenn ich mich nicht in acht nehme, aufs neue in Gefahr, mich in Ausnahmen zu verirren!

Was indes keine Ausnahme erleidet, ist die leidige Erfahrung, daß der Mensch dem Schmerz, den Uebeln seines Geschlechts, allerlei Unglücksfällen und Lebensgefahren und endlich dem Tod unterworfen ist. Je vertrauter man ihn mit diesen Ideen machen wird, desto mehr wird man ihn auch von der bedrückenden Empfindlichkeit heilen, die zu dem Uebel an sich noch die Ungeduld im Ertragen hinzufügt; je vertrauter man ihn mit den Leiden macht, welche ihn treffen können, desto mehr benimmt man denselben, wie Montaigne gesagt haben würde, den Stachel ihrer Fremdartigkeit, und desto unverwundbarer und abgehärteter wird man dadurch auch seine Seele machen; sein Körper wird der Panzer sein, an dem alle Pfeile abprallen, die sein Leben bedrohen könnten. Da die Annäherung des Todes noch nicht der Tod selbst ist, so wird er diesen auch schwerlich als solchen empfinden; er wird gleichsam nicht sterben; er wird lebendig oder tot sein, und weiter nichts. Von ihm hätte der oben erwähnte Montaigne sagen können, was er von einem Kaiser von Marokko gesagt hat, daß kein Mensch[214] so vollkommen bis an die Grenzscheide des Todes gelebt habe. Die Liebe zur Beständigkeit und Festigkeit wie zu allen übrigen Tugenden wird in der Kindheit eingeflößt; aber das geschieht nicht dadurch, daß man die Kinder mit ihren Namen bekannt macht, sondern daß man sie Gefallen an ihnen finden läßt, ehe sie sie noch kennen.

Da aber einmal vom Sterben die Rede ist, welches Verhalten wollen wir unseren Zöglingen gegenüber hinsichtlich der durch die Blattern drohenden Gefahr beobachten? Wollen wir sie ihm gleich im frühen Lebensalter einimpfen lassen, oder abwarten, ob er die natürlichen bekomme? Ersteres, was der heutigen Sitte entspricht, schützt dasjenige Lebensalter vor der Gefahr, in welcher das Leben den höchsten Wert hat, während es das, in welchem es weniger kostbar ist, der Gefahr geradezu aussetzt, wenn überhaupt eine richtig ausgeführte Impfung eine Gefahr genannt werden kann.60

Letzteres steht jedoch mehr mit unseren allgemeinen Grundsätzen im Einklang, die darauf ausgehen, überall die Natur bei ihren Zwecken ihre eigenen Wege gehen zu lassen, von denen sie sich bei menschlicher Einmischung nur zu leicht zurückzieht. Der Mensch der Natur ist beständig vorbereitet. Möge diese große Meisterin selbst die Impfung übernehmen. Sie wird den richtigen Augenblick besser als wir zu wählen wissen.

Man ziehe hieraus jedoch nicht den Schluß, daß ich das Impfen mißbillige; denn der Grund, aus welchem ich meinen Zögling damit verschonen will, würde auf die eurigen keine Anwendung finden. Eure Erziehung bereitet sie nicht vor, die Blattern, wenn sie von ihnen befallen werden, glücklich zu überstehen. Wenn ihr den Ausbruch der Krankheit dem Zufall überlaßt, werden sie wahrscheinlich[215] daran sterben. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man sich in den einzelnen Ländern dem Impfen um so mehr widersetzt, je mehr sich die Notwendigkeit dazu heraustellt; und der Grund dieser Erscheinung ist leicht begreiflich. Um meines Emils willen brauchte ich diese Frage kaum in Anregung zu bringen. Er wird geimpft werden oder nicht, ganz wie es Zeit, Ort und Umstände erfordern; für ihn ist es beinahe gleichgültig. Impft man ihm die Blattern ein, so hat man jedenfalls den Vorteil, seine Krankheit voraus zu wissen und zu erkennen; das hat immer einen gewissen Wert; wird er indes von den natürlichen Blattern befallen, so haben wir ihn vor dem Arzte bewahrt, und das hat ungleich mehr zu bedeuten.

Eine exklusive Erziehung, welche lediglich den Zweck verfolgt, diejenigen, welchen sie zuteil geworden ist, vor dem Volke auszuzeichnen, zieht beständig den kostspieligsten Unterricht dem gewöhnlichen und eben um deswillen nützlichsten vor. Aus diesem Grunde lernen auch die mit größter Sorgfalt erzogenen jungen Leute sämtlich reiten, weil dies mit vielen Geldausgaben verbunden ist; aber fast keiner von ihnen lernt schwimmen, weil es keine Geldkosten verursacht, und weil ein Handwerker ebensogut schwimmen lernen kann wie jeder andere. Trotzdem besteigt ein Reisender, ohne zuvor die Reitschule gemacht zu haben, ein Pferd, hält sich darauf und bedient sich seiner, soweit es sein Bedürfnisse erheischen; kann man aber nicht schwimmen, so ertrinkt man im Wasser, und ohne es gelernt zu haben, kann man sicherlich nicht schwimmen. Endlich ist man ja durch nichts gezwungen, die lebensgefährliche Reitkunst zu betreiben, während niemand sicher ist, ob er sich nicht durch Schwimmen wird einer Gefahr entziehen können, der man so oft ausgesetzt ist. Emil wird sich im Wasser ebenso sicher fühlen wie auf dem Land. Wären wir nur imstande, in allen Elementen zu leben! Könnte man lernen, sich in die Lüfte emporzuschwingen, so würde sich ich einen Adler aus ihm[216] machen, einen Salamander dagegen, wenn man im Feuer zu leben vermöchte.61

Man fürchtet, daß ein Kind beim Schwimmenlernen ertrinken könnte; mag es nun aber beim Lernen ertrinken oder deshalb, weil es nicht schwimmen gelernt hat, immer werdet ihr die Schuld tragen. Einzig und allein die Eitelkeit macht uns tollkühn; man ist es nicht, wenn man von niemandem gesehen wird; Emil würde es nicht einmal sein, wenn er auch aller Augen ausgesetzt wäre. Da die Uebung nicht von der Gefahr abhängt, so wird er in einem Kanal im Park seines Vaters den Hellespont durchschwimmen lernen.

Ein Kind kann sich mit einem Erwachsenen noch nicht messen; es besitzt weder seine Kraft noch seine Vernunft; aber es sieht und hört ebensogut oder beinahe so gut als dieser. Es hat einen ebenso feinen, obgleich weniger verwöhnten Geschmack, und unterscheidet die Gerüche mit ebenso großer Schärfe, obgleich seine sinnliche Begierde dadurch nicht in gleich hohem Grade erregt wird. Die ersten Fähigkeiten, die sich in uns bilden und vervollkommnen, sind die Sinne. Diese sollte man deshalb auch zuerst pflegen; leider sind sie aber gerade die einzigen, die man vergißt oder wenigstens am meisten vernachlässigt.

Die Sinne üben heißt aber nicht nur von denselben Gebrauch machen, sondern auch durch sie richtig urteilen lernen, es heißt gleichsam wahrnehmen lernen, denn wir verstehen nur so zu fühlen, zu sehen, zu hören, wie wir es gelernt haben.

Es gibt eine rein natürliche und mechanische Uebung, welche dazu dient, den Körper zu kräftigen, ohne dabei[217] irgendeinen Einfluß auf die Urteilskraft auszuüben. Schwimmen, laufen, springen, mit dem Kreisel spielen, mit Steinen werfen, das ist zwar alles recht gut, aber haben wir denn nur Arme und Beine? Besitzen wir nicht auch Augen und Ohren? Und sind diese Organe beim Gebrauch der ersteren etwa überflüssig? Uebt deshalb nicht nur die Kräfte, sondern auch alle Sinne, welche sie leiten. Zieht aus jedem derselben den größtmöglichen Vorteil und vergleicht die Eindrücke miteinander, die ihr von jedem einzelnen empfangt. Meßt, zählt, wägt, prüft! Wendet die Kraft erst an, nachdem ihr den Gegendruck abgeschätzt habt; seht bei allen euren Handlungen darauf, daß stets die Abschätzung der Wirkung der Anwendung der Mittel hervorgehe. Gewöhnt das Kind daran, nie unzureichende oder überflüssige Kraftanstrengungen zu machen. Wenn ihr es anhaltet, in dieser Weise die Wirkung aller seiner Bewegungen vorauszusehen und seine Irrtümer durch die Erfahrung zu berichtigen, ist es dann nicht einleuchtend, daß es um so urteilsfähiger werden wird, je tätiger es ist?

Nehmen wir an, es handle sich darum, eine Masse fortzubewegen. Nimmt das Kind eine zu lange Hebestange, so wird es zu viel Bewegung aufwenden, nimmt es dagegen eine zu kurze, so wird es ihm an Kraft fehlen. Die Erfahrung wird es lehren, genau die Stange zu wählen, die erforderlich ist. Diese Einsicht ist für sein Alter nicht zu hoch. Ein anderes Beispiel: eine Last soll fortgetragen werden. Will nun das Kind eine seinen Kräften angemessene Last tragen, und versucht es vorher nicht, sie zu heben, wird es dann nicht gezwungen sein, das Gewicht nach dem Augenmaß zu schätzen? Versteht es erst, Massen von gleichem Stoff und verschiedener Größe zu vergleichen, dann lerne es auch unter Massen von gleicher Größe, aber von verschiedenem Stoff, eine richtige Auswahl zu treffen; dabei wird es sich notgedrungen Mühe geben müssen, ihre spezifischen Gewichte zu vergleichen. Ich habe einen sehr gut erzogenen[218] jungen Mann gekannt, der sich erst nach angestelltem Versuch überzeugen ließ, daß ein Eimer voll eichener Hobelspäne leichter sei als derselbe Eimer voll Wasser.

Der Gebrach unserer Sinne steht nicht bei allen in gleicher Weise in unserer Gewalt. Einer derselben nämlich, das Gefühl, befindet sich, solange wir wach sind, in ununterbrochener Tätigkeit. Es ist über die ganze Oberfläche unseres Körpers verbreitet, um uns gleichsam wie ein beständiger Wachtposten von allem, was ihn verletzen könnte, in Kenntnis zu setzen. Zugleich ist es der Sinn, durch dessen beständige Tätigkeit wir uns wohl oder übel die erste Erfahrung erwerben und dem wir folglich weniger eine besondere Pflege zu schenken brauchen. Wir gewahren jedoch, daß die Blinden ein sicheres und feineres Gefühl als wir besitzen, weil sie in der Leitung des Gesichtes entbehren und deshalb gezwungen sind, einzig und allein aus dem ersteren Sinn die Urteile schöpfen zu lernen, welche wir dem anderen zu verdanken haben. Weshalb übt man uns also nicht wie jene, im Dunkeln zu gehen, die Körper, welche wir erreichen können, im Finstern zu erkennen und die Gegenstände, welche uns umgeben, richtig zu beurteilen; kurz des Nachts und ohne Licht alles das zu tun, was jene am Tag ohne Augenlicht tun? Solange die Sonne scheint, sind wir im Vorteil über sie; im Finstern sind sie jedoch unsere Führer. Wir sind auch unser halbes Leben lang blind, nur wolle man den großen Unterschied nicht außer acht lassen, daß sich die wirklichen Blinden stets zurechtzufinden wissen, während wir in der Nacht nicht einen einzigen Schritt zu tun wagen. Dafür hat man ja Licht, wird man mir einwenden. Wie? Immer verlaßt ihr euch auf Maschinen? Wer bürgt euch denn dafür, daß sie stets vorhanden sein werden, sobald sich das Bedürfnis nach ihnen zeigt? Ich meinerseits sehe es lieber, daß Emil seine Augen an den Fingerspitzen als im Laden eines Lichtziehers habe.[219]

Seid ihr mitten in der Nacht in einem Gebäude eingeschlossen, so klatscht in die Hände; an dem Widerhall werdet ihr abnehmen können, ob der Raum groß oder klein ist, ob ihr euch in der Mitte oder in einer Ecke befindet. Einen halben Fuß von einer Wand entfernt, erregt die dünnere, aber deshalb auch stärker zurückgeworfene Luftsäule vor euch in eine andere Empfindung im Gesicht. Bleibt auf der Stelle stehen und dreht euch allmählich nach aller Seiten um; eine offene Tür verrät sich durch einen leisen Luftzug. Fahrt ihr auf einem Schiff, so könnt ihr aus der Art und Weise, wie die Luft euer Gesicht berührt, nicht allein erkennen, nach welcher Richtung es sich bewegt, sondern auch, ob euch die Strömung des Flusses langsam oder schnell fortreißt. Diese und tausend ähnliche Beobachtungen kann man mit Erfolg nur des Nachts anstellen; trotz aller Aufmerksamkeit, welche wir uns am hellen Tage darauf zu verwenden bemühen, werden sie uns doch entgehen, da wir durch das Auge ebensowohl zerstreut als unterstützt werden. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal auf die Dienste hingewiesen, die Hände und Stab dabei zu leisten vermögen. Wie viele Kenntnisse, die wir dem Gesichtssinn verdanken, kann man sich durch das Gefühl aneignen, selbst ohne etwas zu berühren!

Viele Spiele zur Nachtzeit! Dieser Rat ist wichtiger als es scheinen möchte. Die Nacht erschreckt natürlicherweise den Menschen und bisweilen sogar die Tiere.62 Vernunft, Kenntnisse, Geist und Mut befreien nur wenige von dieser Schwäche. Ich habe gebildete Männer, Freigeister, Philosophen und Soldaten, die bei hellem Tage ganz furchtlos waren, nachts beim Rauschen eines Blattes wie Weiber zittern sehen. Man schreibt diese Furcht den Ammenmärchen zu; indes täuscht man sich; sie hat eine natürliche Ursache. Wie heißt sie? Es ist dieselbe, welche Taube mißtrauisch[220] und die niedrigen Stände abergläubisch macht, nämlich die Unbekanntschaft mit den Dingen, die uns umgeben, und mit dem, was um uns vorgeht.63 Gewohnt, die Gegenstände schon aus der Ferne wahrnehmen und sich über[221] ihre Eindrücke schon im voraus Rechenschaft abzulegen, wie sollte ich, wenn ich von meiner Umgebung nichts mehr zu unterscheiden vermag, mir nicht tausend Wesen, tausend Bewegungen vorstellen, welche mir zu schaden imstande sind und von denen ich mich unmöglich schützen kann? Ich mag immerhin wissen, daß ich an dem Ort, an welchem ich mich[222] befinde, in völliger Sicherheit bin, so gut, als wenn es mit Augen sähe, weiß ich es doch nicht; es bleibt mir also immer eine Ursache zur Furcht, die am hellen Tage nicht vorhanden war. Freilich weiß ich, daß ein fremder Körper kaum auf den meinigen einzuwirken vermag, ohne sich schon vorher durch irgendein Geräusch zu verraten. Wie wachsam ist deshalb auch unaufhörlich mein Ohr! Bei dem geringsten Geräusch, dessen Ursache ich nicht erkennen kann, läßt mich das Interesse für meine Erhaltung sofort alles annehmen, was mich auf meiner Hut zu sein nötigt, und was folglich gerade am meisten geeignet ist, mich in Schrecken zu setzten.

Vernehme ich durchaus nichts, so bin ich deshalb doch nicht völlig ruhig; denn am Ende kann man mich auch ohne jegliches Geräusch überraschen. Ich bin zu der Annahme gezwungen, daß sich die Dinge noch in demselben Zustand wie vorher befinden, bin gezwungen, mir vor Augen zu stellen, was ich doch nicht sehen kann. Da mich dies nötigt, meiner Einbildungskraft freien Spielraum zu gewähren, so bin ich ihrer bald ihrer nicht mehr Herr, und gerade das, was ich zu meiner Beruhigung tat, dient nur dazu, mich noch mehr in Unruhe zu versetzen. Höre ich Geräusch, so muß es von Dieben herrühren; höre ich nichts, so sehe ich Gespenster. Die Wachsamkeit, welche mir der Trieb der Selbsterhaltung einflößt, zeigt mir nur furchterregende Gegenstände. In der Vernunft allein liegt alles, was mich beruhigen soll; jedoch der Instinkt, der stärker ist als sie, führt eine ganz andere Sprache mit mir. Was kann der bloße Gedanke helfen, daß man nichts zu fürchten habe, wenn man sich fortwährend mit ihm beschäftigt?

Hat man indes nur erst die Ursache des Uebels gefunden, so weist sie uns von selbst auf das Heilmittel hin. Ueberall ist die Gewohnheit die siegreiche Bekämpferin der Einbildungskraft; nur neue Gegenstände rufen sie wieder wach. Bei solchen Dingen, die man täglich erblickt, tritt nicht mehr die Einbildungskraft, sonder das Gedächtnis in Tätigkeit.[223] Es ist deshalb ein richtiger Grundsatz: ab assuetis non fit passio (Gewohntes wird nicht zur Leidenschaft); denn nur am Feuer der Einbildungskraft entzünden sich die Leidenschaften. Die Furcht vor der Finsternis läßt sich nicht durch Vernunftgründe vertreiben; ohne sich auf dieselben zu berufen, führe man vielmehr den, welchen man davon befreien will, oft ins Finstere. Ihr könnt davon überzeugt sein, daß alle Beweisgründe der Philosophie nicht so viel ausrichten werden als diese Gewohnheit. Auf den höchsten Dächern werden die Dachdecker nicht vom Schwindel ergriffen, in ähnlicher Weise wird sich jeder, welcher daran gewöhnt ist, furchtlos im Finstern aufhalten.

Hierdurch hat sich also zur Empfehlung unserer nächtlichen Spiele noch ein zweiter Vorteil herausgestellt. Damit diese Spiele aber in der Tat mit Erfolg gekrönt werden, kann ich Fröhlichkeit dabei nicht angelegentlich genug empfehlen. Es gibt nichts, was in so hohem Grade zur Traurigkeit stimmt als Finsternis; deshalb sperrt euer Kind auch niemals in einem gefängnisgleichen finsteren Raum. Lachend muß es in die Finsternis treten und lachend aus derselben zurückkehren. Solange es sich im Finstern aufhält, muß der Gedanke an die Unterhaltung, die es verläßt, und an die Zerstreuungen, die es nachher aufsuchen wird, die phantastischen Einbildungen von ihm abwehren, die es dort vielleicht sonst beschleichen könnten.

Es gibt eine Grenze im Leben, über welche hinaus man trotz zunehmenden Alter wieder rückwärts geht. Ich fühle, daß ich diese Grenze überschritten habe; ich beginne nun sozusagen eine umgekehrte Laufbahn. Die Leere des reifen Alters, die sich mir fühlbar macht, führt mir die süße Zeit der Jugend wieder vor Augen. Indem ich altere, werde ich wieder ein Kind, und erinnere mich lieber dessen, was ich im zehnten, als was ich im dreißigsten Jahre getan habe. Verzeiht mir deshalb, liebe Leser, wenn ich bisweilen meine Beispiele meinen eigenen Erlebnissen entlehne;[224] denn um dies Werk gut zu schreiben, muß ich mich ihm auch mit Lust und Liebe widmen können.

Ich war auf dem Lande bei einem reformierten Pfarrer, namens M. Lambercier, in Pension. Zum Kameraden hatte ich einen Vetter, der reicher war als ich, und den man als Erben behandelte, während ich, der vom Vater getrennt lebte, wie eine Art armer Waise betrachtet wurde. Mein großer Vetter Bernhard war durch und durch ein Feigling, besonders des Nachts. Ich machte mich über seine Furchtsamkeit so lange lustig, bis Herr Lambercier, der meiner fortwährenden Prahlerei überdrüssig wurde, sich vornahm, meinen Mut auf die Probe zu stellen. An einem sehr dunklen Herbstabend gab er mir den Kirchenschlüssel und befahl mir die Bibel zu holen, die er auf der Kanzel hatte liegen lassen. Um mich bei der Ehre zu fassen, fügte er einige Worte hinzu, die mich in die Unmöglichkeit versetzten, mich seinem Ansinnen zu entziehen.

Ich ging ohne Licht; hätte ich ein solches gehabt, würde es vielleicht noch schlimmer gewesen sein. Ich mußte über den Kirchhof und durchschritt denselben dreist, denn im Freien hatte ich noch nie des Nachts Furcht gehabt.

Als ich die Tür öffnete, vernahm ich in dem hohen Kirchengewölbe einen Widerhall, der mir wie Stimmen vorkam und meine römische Festigkeit schon bedenklich zu erschüttern begann. Nach Oeffnung der Tür wollte ich nun eintreten. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte getan, so blieb ich stehen. Als ich die tiefe Finsternis gewahrte, welche in diesem weiten Raum herrschte, wurde ich von einem so gewaltigen Schrecken erfaßt, daß sich mir die Haare sträubten. Ich ziehe mich zurück, springe hinaus und ergreife zitternd die Flucht. Auf dem Pfarrhofe finde ich einen kleinen Hund, namens Sultan, dessen Liebkosungen mich wieder mit Mut erfüllen. Mich meiner Furcht schämend, kehre ich wieder um, während ich mich jedoch bemühe, Sultan, der mir nicht freiwillig folgen will, mitzuschleppen.[225] Rasch gehe ich durch die Tür und trete in die Kirche ein. Kaum bin ich aber eingetreten, als mich von neuem ein so heftiger Schrecken ergreift, daß ich völlig den Kopf verliere; und obgleich sich die Kanzel, wie ich sehr wohl weiß, auf der rechten Seite befindet, suche ich sie dennoch, da ich, ohne es zu merken, eine Wendung gemacht habe, lange Zeit auf der linken. Dabei verirre ich mich zwischen den Bänken und weiß schließlich nicht mehr ein und aus. Da ich weder die Kanzel noch die Tür zu finden vermag, gerate ich in eine unbeschreibliche Verwirrung. Endlich gewahre ich die Tür, ich komme glücklich aus der Kirche heraus und entferne mich wie das erstemal mit dem festen Entschluß, dieselbe niemals, außer am hellen Tag, allein zu betreten.

Ich komme wieder bis an das Pfarrhaus. Im Begriff einzutreten, höre ich, wie Herr Lambercier in ein lautes Gelächter ausbricht. Ueberzeugt, daß es mir gelte, und bestürzt, mich lächerlich gemacht zu haben, zögere ich, die Tür zu öffnen. In dem kurzen Augenblick, der darüber verfließt, vernehme ich, wie Fräulein Lambercier, die über mein langes Ausbleiben unruhig zu werden beginnt, der Magd befiehlt, die Laterne zu nehmen, und wie Herr Lambercier anschickt, mich abzuholen, von meinem beherzten Vetter begleitet, dem man nachher sicherlich alle Ehre des Wagestückes zuerkannt haben würde. Augenblicklich ist alle meine Furcht verschwunden; die Besorgnis allein erfüllt mich, auf meiner Flucht ertappt zu werden. Ich laufe, ich fliege fast nach der Kirche; ohne mich zu verirren, ohne lange umherzutappen, gelange ich bis an die Kanzel, steige hinauf, ergreife die Bibel und stürzte die Treppe wieder herunter. Mit drei Sätzen befinde ich mich außerhalb der Kirche, deren Tür ich sogar in der Eile zuzuschließen vergesse. Außer Atem trete ich in das Zimmer und lege die Bibel auf dem Tisch, allerdings etwas verstört, aber doch mit freudig erregtem Herzen, daß ich der Hilfe, die man mir hatte bringen wollen, zuvorgekommen bin.[226]

Man wird mich fragen, ob ich diese Anekdote aus meinem Leben etwa als nachahmenswertes Vorbild oder als Beispiel jener Fröhlichkeit aufstelle, die ich für alle dergleichen Uebungen fordere. Keineswegs; aber ich teile sie als Beweis dafür mit, daß nichts geeigneter ist, jemanden, der durch die Schatten der Nacht in Schrecken gesetzt ist, wieder zu ermutigen, als das fröhliche Lachen und die ruhige Unterhaltung einer Gesellschaft, die aus einem Nebenzimmer herüberklingen. Ich wünschte deshalb auch, daß man sich des Abends nicht mit seinem Zögling allein unterhielte, sondern gerade viel Kinder von heiterem Temperament versammelte; daß man sie anfangs nicht einzeln, sondern stets mehrere zusammen ausschickte, und den Versuch mit einem allein nicht eher anstellte, bis man schon im voraus völlig sicher wäre, daß es sich nicht allzusehr fürchten werde.

Ich kann mir nichts vorstellen, was so angenehm und zugleich so nützlich wäre, als solche Spiele, vorausgesetzt, daß man sie geschickt anzuordnen versteht. Ich würde in einem großen Saal aus Tischen, Sesseln, Stühlen, spanischen Wänden eine Art Labyrinth einrichten. In dessen Irrgänge würde ich unter acht bis zehn leeren Schachteln eine andere, ihnen durchaus ähnliche hinstellen, die ganz mit Bonbons gefüllt wäre. Nun würde ich mit klaren, aber kurzen Worten genau die Stelle bezeichnen, an der sich die richtige Schachtel befände. Ich würde diese Auskunft in solcher Weise erteilen, daß sie für Leute, welche aufmerksamer und weniger voreilig als Kinder64 wären, vollkommen ausreichte. Nachdem ich darauf die kleinen Helden, welche auf die Eroberung der Schachtel ausziehen[227] wollten, hätte losen lassen, würde ich sie nacheinander hineinschicken, bis die richtige Schachtel gefunden wäre, was ich ihnen nach ihrer geringeren oder größeren Geschicklichkeit zu erleichtern oder zu erschweren suchen würde.

Stellt euch nun einen dieser kleinen Herkulesse vor, wie er mit einer Schachtel in der Hand voller Stolz auf seine Heldentat ankommt. Die Schachtel wird auf dem Tisch gestellt und feierlich geöffnet. Ich höre hier schon im Geiste das Gelächter und das spöttische Aufjauchzen der lustigen Schar, wenn man anstatt des ersehnten Zuckerwerks, hübsch zierlich auf Moos oder Baumwolle gelegt, einen Maikäfer, eine Schnecke, ein Stück Kohle, eine Eichel, eine gelbe Rübe oder irgendeinen ähnlichen Leckerbissen findet. Ein anderes Mal hängt man in einem frisch geweißten Zimmer dicht an der Wand irgendein Spielzeug oder ein kleines Gerät auf, welches es zu holen gilt, ohne dabei die Wand zu berühren. Kaum ist der, welcher sich aufgemacht hat, es zu holen, zurückgekehrt, so wird, wenn er die gestellte Bedingung auch nur im geringsten übertreten hat, der weißgefärbte Rand seiner Kopfbedeckung, seine Schuhspitze, sein Rockschoß, sein Aermel seine Ungeschicklichkeit verraten. Doch genug und übergenug, um euch mit dem Geist dieser Art Spiele vertraut zu machen. Wenn man euch erst alles sagen muß, dann lest mich lieber nicht.

Wie sehr wird nicht ein so erzogener Mensch des Nachts anderen Menschen überlegen sein! Da seine Füße gewöhnt sind, auch im Dunkeln fest und sicher aufzutreten, und seine Hände die nötige Uebung besitzen, alle Gegenstände, die ihn umgeben, durch Tasten leicht zu erkennen, so werden sie ihn selbst in der dichtesten Finsternis ohne Mühe leiten. Seine Phantasie, die noch von den nächtlichen Spielen seiner Jugend erfüllt ist, wird ihm schwerlich schreckenerregende Gegenstände vorgaukeln. Meint er Gelächter zu vernehmen, so wird ihn dasselbe nicht an Poltergeister mahnen, sondern an seine alten Jugendspielen; malt[228] ihm seine Einbildungskraft eine Gesellschaft vor, so wird er sich nicht in einen Hexensabbat, sondern in das Zimmer seines Erziehers versetzt wähnen. Da die Nacht in ihm nur heitere Ideen wachruft, so wird sie ihm niemals Grauen erregen; anstatt sie zu fürchten, wird er sie lieben. Handelt es sich um ein militärisches Unternehmen, so wird er, sei es nun allein oder mit seinem ganzen Korps, stets auf dem Posten sein. In Sauls Lager wird er sich schleichen, es, ohne sich zu verirren, nach allen Seiten auskundschaften, wird ohne jemand zu erwecken, in des Königs Zelt dringen und zurückkehren, ohne bemerkt zu sein. Sollen Rhesus Rosse geraubt werden, so wendet euch dreist an ihn. Unter Leuten, die eine andere Erziehung erhalten haben, werdet ihr schwerlich einen Ulysses finden.

Ich bin Zeuge gewesen, wie Leute die Kinder durch überraschende Angriffe gewöhnen wollten, des Nachts vor nichts zu erschrecken. Diese Methode ist sehr schlecht; sie bringt gerade die umgekehrte Wirkung hervor und dient nur dazu, die Kinder noch furchtsamer zu machen. Weder die Vernunft noch die Gewohnheit sind imstande, die Vorstellung einer vorhandenen Gefahr, deren Umfang und Art man nicht zu erkennen vermag, noch auch die Furcht vor überraschen Angriffen, die man schon so oft erfahren hat, völlig zu verscheuchen. Wie könnt ihr euch denn aber versichern, daß euer Zögling von dergleichen Unfällen befreit bleibe? Das beste Mittel, durch welches man diesem Uebelstande vorbauen kann, scheint mir in folgenden zu bestehen. »Du befindest dich dann,« würde ich zu meinem Emil sagen, »im Falle einer berechtigten Notwehr; denn der Angreifer gibt dir nicht die Gelegenheit, zu beurteilen, ob er dir Böses zufügen oder dich nur in Schrecken setzen will, und da er sich von vornherein seinen Vorteil ersehen hat, so kannst du nicht einmal in der Flucht dein Heil suchen. Packe also unerschrocken den, der dich des Nachts überfällt, gleichviel ob Mensch oder Tier; drücke und halte ihn mit Aufgebot[229] aller deiner Kräfte; sträubt er sich, so schlage ohne geringste Schonung zu; und was er auch immer sagen oder tun möge, laß deinen Fang niemals los, bevor du genau weißt, mit wem du es zu tun hast. Sobald du Aufklärung erhalten hast, wirst du wahrscheinlich einsehen, daß nicht viel zu befürchten war.« Jedenfalls wird diese Behandlungsweise die Spaßvögel abschrecken, ihren Versuch zu erneuern.

Obgleich das Gefühl unter allen Sinnen derjenige ist, den wir in ausgesetzter Uebung erhalten, so bleiben doch, wie bereits erwähnt, seine Urteile stets unvollkommener und oberflächlicher als die irgendeines anderen, weil wir bei seiner Anwendung beständig auch noch das Gesicht zu Hilfe ziehen. Da nun das Auge den Gegenstand eher als die Hand erreicht, so urteilt der Verstand fast stets, ohne die Ermittlung des Tastsinnes abzuwarten. Indes sind dafür die Urteile des letzteren gerade aus dem Grund auch die sichersten, weil sie die beschränktesten sind, denn da sie sich nur so weit erstrecken als unsere Hände reichen können, so berichtigen sie die voreiligen Schlüsse der anderen Sinne, die nur aus der Ferne ihren Maßstab an Gegenstände legen, welche sie kaum gewahren, während der Tastsinn alles, was er wahrnimmt, auch richtig wahrnimmt. Berücksichtigt ferner, daß wir, da wir der Tätigkeit der Nerven auch die Muskelkraft beigesellen können, durch eine gleichzeitige Empfindung mit der Beurteilung der Temperatur, der Größe und Gestalt auch noch die Beurteilung des Gewichtes und der Dichtigkeit verbinden. Weil uns demnach der Tastsinn von allen Sinnen am richtigsten über den Eindruck belehrt, welchen fremde Körper auf unseren eigenen auszuüben vermögen, so ist er derjenige, der am häufigsten angewendet wird und uns am unmittelbarsten die zu unserer Erhaltung notwendigen Kenntnisse vermittelt.

Wenn nun ein geübtes Gefühl den Gesichtssinn ergänzt, weshalb sollte es nicht auch bis zu einem gewissen Grade[230] das Gehör ergänzen können, da doch die Töne in den klingenden Körpern Schwingungen hervorbringen, die sich durch das Gefühl wahrnehmen lassen. Legt man die Hand auf ein Violoncello, so kann man ohne Beihilfe des Auges oder Ohres, nur an der Art und Weise, wie das Holz vibriert und schwingt, unterscheiden, ob der Ton, den es hervorbringt, tief oder hoch ist, ob er von der Quinte oder der Baßsaite herrührt. Man möge den Sinn nur auf diese Unterschiede einüben, und unser Empfindungsvermögen wird, wie ich nicht zweifle, mit der Zeit so weit ausgebildet werden können, daß wir vermittels der Finger ganze Lieder vernehmen. Bewährt sich diese Annahme, so ist auch klar, daß man sich Tauben leicht durch Musik verständlich machen könnte, denn da die Töne und das Tempo nicht weniger regelmäßiger Zusammenstellungen fähig sind, als die Aussprache und die Stimme, so können diese ebenso als Elemente der Sprache gebraucht werden.

Es gibt Uebungen, welche den Tastsinn abstumpfen und schwächen, dagegen auch andere, welche ihn schärfen und zarter und feiner machen. Da die ersteren zu der beständigen Einwirkung harter Körper noch starke Bewegung und viel Kraftaufwand hinzutreten lassen, so machen sie die Haut rauh und schwielig und berauben sie ihres natürlichen Empfindungsvermögens; letztere hingegen erregen dieses Empfindungsvermögen beständig durch leichte und sich oft erneuernde Berührungen, so daß der Verstand, der seine ganze Aufmerksamkeit auf diese sich unaufhörlich wiederholenden Eindrücke richtet, sich dadurch die Fähigkeit erwirbt, alle ihre Modifikationen richtig zu beurteilen. Dieser Unterschied macht sich namentlich beim Spielen musikalischer Instrumente fühlbar. Das harte und feste Aufdrücken beim Violoncello, beim Kontrabaß und selbst noch bei der Violine macht zwar die Finger geschmeidiger, verhärtet aber dafür die Spitzen derselben. Die leisere Berührung der glatten Tasten des Klaviers macht sie dagegen gleichzeitig geschmeidiger[231] und empfindlicher. In dieser Hinsicht muß man demnach dem Klavier den Vorzug einräumen.

Da die Haut den ganzen Körper schützen muß, so ist es von Wichtigkeit, daß sie sich gegen die Einwirkungen der Luft abhärte und dem Wechsel derselben zu trotzen vermöge. Obgleich ich dies vollständig zugebe, möchte ich jedoch nicht, daß sich die Hand, weil man sie nötigte, allzu knechtisch stets dieselben Arbeiten auszuführen, geradezu verhärtete, oder daß ihre fast hornartig gewordene Haut das feine Gefühl verlöre, welches und die Körper, über die man mit der Hand streicht, erkennen läßt. Ist dies Gefühl abgestumpft, so kann es uns bisweilen je nach Art, wie sich die Körper für uns anfühlen, bei Nacht manchen Schrecken einjagen.

Weshalb soll mein Zögling gezwungen sein, stets Rindsleder unter seinen Füßen zu tragen? Was für ein Unglück sollte es wohl sein, wenn ihm seine eigene Haut im Notfall als Schuhsohle dienen könnte? Es ist augenscheinlich, daß an diesem Teil die Zartheit der Haut nie einen Nutzen stiften, wohl aber oft Schaden bereiten kann. Als die Genfer mitten im Winter um Mitternacht in ihrer Stadt vom Feinde geweckt wurden, langten sie eher nach ihren Flinten als nach ihren Schuhen. Wäre keiner von ihnen gewohnt gewesen, barfuß zu gehen, wer weiß, ob Genf dann nicht erobert worden wäre.

Laßt uns den Menschen stets gegen unvorhergesehene Unfälle waffnen. In jeder Jahreszeit darf Emil mit bloßen Füßen im Zimmer, die Treppe herab und im Garten umherlaufen. Statt darüber zu zürnen, werde ich seinem Beispiel folgen; ich werde lediglich dafür Sorge tragen, alles Glas aus dem Weg schaffen zu lassen. Die Arbeiten und Spiele, zu deren Ausführung wir uns der Hände bedienen müssen, werde ich ebenfalls bald besprechen. Uebrigens soll er seine Füße in allen Bewegungen üben, die der körperlichen Ausbildung förderlich sind und sich in allen Stellungen eine leichte und sichere Haltung zu erwerben suchen; er soll[232] lernen weit und hoch springen, auf einen Baum klettern, über eine Mauer steigen und dabei stets das Gleichgewicht bewahren. Alle seine Bewegungen und Gebärden sollen nach den Gesetzen der Schwerkraft schon lange zuvor geregelt sein, ehe die Statik sich einmischt, sie ihm zu erklären. Aus der Art, wie sein Fuß auftritt und wie sein Körper auf den Beinen ruht, muß er merken, ob seine Haltung gut oder schlecht ist. In einer sicheren Haltung liegt stets eine gewisse Anmut, und in den festesten drückt sich auch stets die größte Feinheit aus. Wäre ich Tanzlehrer, so würde ich die äffischen Kunststücke des Marcel,65 die nur für das Land, in welchem er sie zum besten gibt, gut sein mögen, gewiß nicht machen lassen, sondern ich würde meinen Zögling, anstatt ihn mit Luftsprüngen zu beschäftigen, an den Fuß eines Felsens führen. Hier würde ich ihm zeigen, welche Stellung er nehmen, wie er Körper und Kopf halten, welche Bewegung er machen, in welcher Weise er sich bald des Fußes, bald der Hand bedienen müsse, um ohne Mühe einen schroffen, unebenen und rauhen Pfad verfolgen und beim Hinauf- und Hinabsteigen stufenweise vorwärts kommen zu können. Lieber will ich ihn mit einer Gemse als mit einem Ballettänzer wetteifern lassen.

Während das Gefühl seine Tätigkeit auf die nächste Umgebung des Menschen konzentriert, dehnt das Gesicht die seinige nach außen hin aus; darin liegt eben die Ursache,[233] daß wir durch dasselbe so oft getäuscht werden. Mit einem einzigen Blick umfaßt der Mensch die Hälfte seines Gesichtskreises. Wie sollte er sich nun unter dieser Menge gleichzeitiger Eindrücke und der Urteile, die sich auf diese gründen, in keinem einzigen irren? Deshalb können wir uns auf das Gesicht unter allen unseren Sinnen am wenigsten verlassen, gerade weil es am meisten in die Ferne gerichtet ist, und weil seine Tätigkeit, die der aller übrigen Sinne weit vorauseilt, zu schnell und zu ausgedehnt ist, um durch dieselben berichtigt werden zu können. Ja noch mehr, die perspektivischen Täuschungen sind uns sogar notwendig, um den Raum beurteilen und seine Teile untereinander vergleichen zu können. Würden sich die erblickten Gegenstände unserem Auge nicht so falsch darstellen, so vermöchten wir in der Entfernung nichts zu unterscheiden. Ohne die Abstufungen hinsichtlich der Größe und Beleuchtung könnten wir gar keine Entfernung abschätzen, oder würde es vielmehr gar keine für uns geben. Wenn uns von zwei gleichen Bäumen der, welcher hundert Schritte von uns entfernt ist, ebenso groß und deutlich wie der nur zehn Schritte entfernte erschiene, so würde die Vorstellung in uns erweckt werden, sie stünden unmittelbar nebeneinander. Wenn wir alle Dimensionen der Gegenstände in ihrer wirklichen Größe erblickten, so würden wir keinen Raum unterscheiden, und alles müßte uns so erscheinen, als ob es sich unmittelbar auf unserem Auge befände.

Der Sinn des Gesichts hat zur Beurteilung der Größe der Gegenstände und ihrer Entfernung nur ein einziges Maß, nämlich den Winkel, welchen sie in unserem Auge bilden; und da dieser die einfache Wirkung einer zusammengesetzten Ursache ist, so läßt das Urteil, welches er hervorruft, jede besondere Ursache unbestimmt oder wird notwendigerweise unrichtig. Denn wie soll ich durch das bloße Sehen unterscheiden, ob der Winkel, unter welchem ich einen Gegenstand kleiner als einen anderen erblicke, seine[234] Entstehung der größeren Kleinheit oder der größeren Entfernung desselben zu verdanken hat?

Deshalb muß man hier einer der vorigen entgegengesetzten Methode folgen; anstatt den Eindruck des Gesichtes zu vereinfachen, muß man ihn verdoppeln, ihn beständig durch einen anderen berichtigen, muß das Organ des Gesichtes dem Organ des Gefühls unterwerfen und die Heftigkeit des ersteren durch den schwerfälligen und geregelten Gang des letzteren gleichsam zurückhalten. Lassen wir dieses Verfahren außer acht, so bleiben unsere Abschätzungen vermittels des Auges sehr ungenau. Es fehlt unserem Blick an Genauigkeit und Sicherheit, die Höhe und Tiefen, Längen und Entfernungen richtig zu beurteilen. Zum Beweis jedoch, daß nicht sowohl der Sinn selbst als vielmehr seine Verwendung die Schuld trägt, braucht man nur auf die Erfahrung hinzuweisen, daß die Ingenieure, Feldmesser, Architekten, Maurer, Maler im allgemeinen einen sicheren Blick haben als wir und die Größe des Raumes richtiger abschätzen. Weil ihnen ihr Geschäft eine Erfahrung gibt, die wir uns leider zu erwerben verschmähen, so hat für sie der Sehwinkel durch die ihn begleitenden Erscheinungen, welche in ihren Augen das Verhältnis der beiden Ursachen dieses Winkels genauer bestimmen, durchaus keine Zweideutigkeit mehr.

Alles, was dem Körper Bewegung verschafft, ohne ihm Zwang anzutun, ist von den Kindern leicht zu er halten. Es gibt tausenderlei Mittel, um ihnen für das Messen und die Distanzenschätzung Interesse einzuflößen. Hier steht ein sehr hoher Kirschbaum; wie sollen wir es anstellen, um Kirchen abzupflücken? Sollte wohl jene Leiter an der Scheune groß genug sein? Da ist ein sehr breiter Bach; wie werden wir hinüberkommen? Sollte vielleicht eines der Bretter auf dem Hofe von einem Ufer bis zum anderen reichen? Wir haben Luft, von unseren Fenstern aus im Schloßgraben zu angeln; wieviel Faden muß unsere Schnur[235] lang sein? Ich möchte zwischen diesen beiden Bäumen eine Schaukel anbringen; wird ein Seil von zwei Klaftern ausreichen? Man erzählt mir, daß in dem anderen Hause unser Zimmer fünfundzwanzig Fuß im Quadrat enthalten wird; glaubst du, daß es für uns passen werde? Wird es größer sein als unser jetziges? Wir haben großen Hunger; da sehen wir zwei Dörfer. Welches werden wir zuerst erreichen können, um daselbst unseren Hunger zu stillen? Und so weiter.

Es war mir einmal die Aufgabe gestellt, einen trägen und faulen Knaben im Laufen zu üben, welcher von selbst weder zu dieser noch zu irgendeiner anderen Körperbewegung Neigung hatte, obgleich man ihn für den Soldatenstand bestimmt hatte. Es hatte sich einmal, ich weiß nicht aus welchem Grunde, die fixe Idee in ihm festgesetzt, daß ein Mensch seines Ranges nichts zu tun noch zu wissen brauchte, und daß ihn sein Adel Arme und Beine sowie jede Art von Verdienst vertreten müßte. Um aus einem solchen Junker einen schnellfüßigen Achill zu machen, dazu würde selbst Chirons Geschicklichkeit schwerlich hingereicht haben. Die Schwierigkeit war um so größer, da ich ihm durchaus keinen Befehl erteilen wollte. Ich hatte auf Erziehungsmittel, als da sind Ermahnungen, Versprechen, Drohungen, Wetteifer, den Wunsch zu glänzen und ähnliche, zu denen ich allerdings berechtigt war, ein für allemal verzichtet. Wie konnte ich nun demselben, ohne ihm etwas zu sagen, Lust zum Laufen machen? Selbst zu laufen wäre, von der damit verbundenen Unannehmlichkeit ganz abgesehen, ein wenig erfolgverheißendes Mittel gewesen.

Außerdem kam es auch darauf an, diese Uebung zugleich als Lehrmittel zu benutzen, damit sich die Tätigkeit der Urteilskraft daran gewöhnte, mit der des Körpers Hand in Hand zu gehen. Ich will erzählen, wie ich es angestellt habe; ich, das heißt derjenige, welcher in diesem Beispiel das Wort ergreift.[236]

Wenn ich meinen nachmittäglichen Spaziergang mit ihm antrat, steckte ich bisweilen zwei Kuchen von der Sorte welche er am liebsten aß, in die Tasche; auf dem Spaziergang66 aß jeder von uns einen, und recht zufrieden und vergnügt kehrten wir nach Hause zurück. Eines Tages bemerkte er, daß ich drei Kuchen bei mir hatte. Er hätte sechs essen können, ohne sich den Magen zu verderben; schnell verzehrte er den seinigen, um sich den dritten zu erbitten. »Nein,« sagte ich, »ich hätte Lust, ihn selbst zu essen, oder ihn mit dir zu teilen; ober ich verspreche mir noch mehr Vergnügen davon, einen Wettlauf zwischen diesen beiden kleinen Knaben hier darum anzusehen.« Ich rief sie, zeigte ihnen den Kuchen und erklärte ihnen, unter welcher Verbindung ihn einer von ihnen erhalten sollte. Das hieß ihren Wünschen entgegenkommen. Der Kuchen wurde auf einen großen Stein gelegt, welcher das Ziel vorstellte, die Rennbahn wurde bestimmt; wir setzten uns. Auf eine gegebenes Zeichen rannten die Knaben ab. Der Sieger erbeutete den Kuchen und aß ihn vor den Augen der Zuschauer und des Besiegten ohne Gnade auf.

Dies Vergnügen war mehr wert als der Kuchen; aber anfangs hatte er keinen durchschlagenden Erfolg und brachte keine Wirkung hervor. Allen deshalb verlor ich weder die Hoffnung, noch ließ ich mich zu überstürzender Eile verführen. Erziehung der Kinder ist ein Geschäft, bei dem man verstehen muß, Zeit zu verlieren, um solche zu gewinnen. Wir setzten unsere Spaziergänge fort; oft nahm ich drei, mitunter auch vier Kuchen mit, und von Zeit zu Zeit wurde[237] davon einer, auch wohl zwei für die Läufer bestimmt. War der Peis auch nicht groß, so waren dafür auch die, welche um denselben kämpften, nicht ehrgeizig; wer ihn indes davontrug, wurde gelobt und gefeiert; alles ging dabei sehr festlich zu. Um es nicht an Abwechslung fehlen zu lassen und das Interesse zu erhöhen, steckte ich eine längere Rennbahn ab und gestattete, daß mehrere Bewerber an dem Rennen teilnahmen. Kaum waren sie am Ablaufspunkt angetreten, so blieben dann alle Vorübergehenden stehen, um zuzuschauen. Der Beifall, den sie spendeten, ihre lauten Zurufe, ihr Händeklatschen feuerten die Läufer an. Zuweilen sah ich jetzt schon, wie mein Junkerlein vor Aufregung zitterte, sich erhob und aufschrie, wenn einer im Begriff stand, den anderen einzuholen oder gar hinter sich zu lassen; für ihn waren es olympische Spiele.

Indes wendeten die Wettläufer zuweilen auch kleine Kriegslisten an; sie hielten sich gegenseitig fest, oder warfen einander zu Boden, oder schleuderten sich einander Steine in den Weg. Dies gab mir Veranlassung, sie zu trennen und von verschiedenen, jedoch von Ziel stets gleich weit entfernten Punkten aus laufen zu lassen. Man wird sogleich den Grund dieser Vorsicht begreifen; denn ich muß diese wichtige Angelegenheit bis auf die kleinsten Nebenumstände erörtern.

Verdrießlich vor seinen eigenen Augen regelmäßig Kuchen verzehren zu sehen, auf deren Genuß er selber lüstern war, merkte der Herr Junker doch endlich, daß auch das Schnelllaufen Vorteil bringen könnte, und da er gewahrte, daß es ebenfalls nicht an zwei Beinen fehlte, begann er sich heimlich im Laufen zu üben. Ich hütete mich natürlich, ihm zu erkennen zu geben, daß ich es bemerkte; aber ich gewann schon daraus die Ueberzeugung, daß meine Kriegslist gelungen war. Als er sich für hinreichend geübt hielt (und ich las seinen Entschluß in seinen Gedanken, noch ehe er sich dessen ganz klar geworden war), stellte er sich, als ob[238] es mir den letzten Kuchen abquälen wollte. Ich weigere mich; er besteht darauf und sagt endlich mit unwilliger Miene: »Nun gut! Legen Sie ihn auf den Stein, stecken Sie die Rennbahn ab, und dann werden wir ja sehen!« – »Gut!« erwidere ich lächelnd, »kann denn aber ein Junker auch laufen? Du wirst dir dadurch nur größeren Appetit verschaffen, aber nichts erhalten, denselben zu stillen.« Durch meine spöttische Bemerkung nur noch mehr gereizt, strengt er sich auf das äußerste an und trägt den Preis um so leichter davon, da ich nur eine sehr kurze Bahn gewählt und den besten Läufer absichtlich ausgeschlossen hatte. Man wird begreifen, daß es mir, nachdem er einmal diesen ersten Schritt getan hatte, leicht wurde, ihn in Atem zu erhalten. Bald fand er an dieser Uebung einen solchen Geschmack, daß er, ohne daß ich ihm eine besondere Begünstigung zuteil werden ließ, fast sicher war, meine Straßenjungen im Laufen zu besiegen, wie lang auch immer die Bahn sein mochte.

Der Vorteil den ich auf diese Weise erreicht hatte, war noch mit einem anderen verknüpft, den ich keineswegs vorausgesehen hatte. Solange er den Preis nur selten davontrug, aß er den Kuchen fast stets allein, wie es seine Mittbewerber machten. Als er sich jedoch an den Sieg gewöhnte, wurde er großmütig und teilte oft mit den Besiegten. Dies war für mich eine wichtige moralische Beobachtung, und ich lernte hieraus das wahre Prinzip der Großmut kennen.

Indem ich fortfuhr, mit ihm an verschiedenen Stellen die Punkte zu bestimmen, von denen aus gleichzeitig gelaufen werden sollte, machte ich, ohne daß er etwas merkte, die Entfernungen ungleich, so daß der eine, welcher, um das Ziel zu erreichen, eine größere Strecke als der andere zu durchlaufen hatte, augenscheinlich benachteiligt war. Obgleich ich indes meinem Zögling die Wahl überließ, verstand er doch keinen Nutzen daraus zu ziehen. Ohne sich um die Entfernung zu kümmern, zog er regelmäßig den besten Weg[239] vor, so daß ich, da seine Wahl leicht vorauszusehen war, es so ziemlich in meiner Hand hatte, ihn ganz nach meinem Belieben den Kuchen verlieren oder gewinnen zu lassen, und dieser Umstand war ebenfalls in mehr als einer Hinsicht nützlich. Da es indes in meiner Absicht lag, daß ihm die Ungleichheit auffiele, so bemühte ich mich, sie ihm recht bemerklich zu machen. Obgleich er im allgemeinen bequem und träge war, so war er doch bei seinen Spielen so lebhaft und hegte so wenig Mißtrauen gegen mich, daß ich die größte Mühe hatte, es so einzurichten, daß er meinen Betrug merken mußte. Trotz seines Leichtsinns erreichte ich doch endlich meinen Zweck. Nun machte er mir Vorwürfe. Ich versetzte jedoch: »Worüber beklagst du dich? Darf ich etwa bei einem Geschenk, welches ich machen will, nicht die Bedingungen bestimmen, unter welchen allein der Empfänger es erhält? Wer zwingt dich denn zur Teilnahme am Wettlauf? Habe ich dir versprochen, gleiche Bahnen zu machen? Hast du nicht die Wahl? Suche dir also die kürzeste aus, niemand wird dich daran hindern. Wie ist es nur möglich, dich gegen die Einsicht zu verschließen, daß ich dich gerade dadurch begünstige, und daß die Ungleichheit, über welche du Beschwerde führst, völlig zu deinem Vorteil ausschlägt, wenn du nur sie dir zunutze zu machen verstehst.« Das war deutlich; er begriff es vollkommen; um indes richtig zu wählen, mußte er sich die Sache genauer ansehen. Zuerst wollte er die Schritte zählen, allein mit den Schritten eines Kindes läßt sich nur langsam und unrichtig messen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, die Zahl der täglichen Wettläufe zu vermehren, und sollte nun etwa das Vergnügen einen leidenschaftlichen Charakter annehmen, so mußte man die zum Laufen bestimmte Zeit ungern mit dem Abmessen der Rennbahnen verlieren. In ein so langsames Verfahren vermag sich die Lebhaftigkeit der Kindheit nur schwer zu finden. Er übte sich deshalb, besser zu sehen und eine Entfernung[240] nach dem Augenmaß richtiger abzuschätzen. Seitdem hatte ich wenig Mühe, diese Neigung zu erhöhen und zu nähren. Einige Monate reichten hin, um durch fortwährende Versuche und durch stete Verbesserung der Irrtümer das Augenmaß bei ihm dergestalt auszubilden, daß, wenn ich einen Kuchen für ihn absichtlich auf einen etwas entfernter Gegenstand legte, sein Blick fast ebenso sicher war als die Kette eines Feldmessers.

Da das Gesicht unter allen Sinnen derjenige ist, von dem man das Urteil des Verstandes am wenigsten trennen kann, so gehört viel Zeit dazu, um richtig sehen zu lernen. Wir müssen die Eindrücke des Gesichtssinnes lange mit denen des Gefühls verglichen haben, um den ersten dieser beiden Sinne daran zu gewöhnen, uns einen treuen Bericht über die Gestalten und Entfernungen abzustatten. Ohne das Gefühl, ohne die fortschreitende Bewegung vermöchten uns auch die schärfsten Augen von der Welt keine Idee vom Raume beizubringen. Für eine Auster muß das ganze Weltall nur ein Punkt sein, und es würde ihr auch nicht anders erscheinen, selbst wenn eine menschliche Seele sie unterrichtete. Nur durch Gehen, Tasten, Zählen, Messen lernt man die Ausdehnung schätzen; aber wenn man auch beständig Messungen vornähme, so würde doch der Sinn, falls er sich nur auf das Instrument verließe, sich keine Sicherheit und Genauigkeit erwerben. Das Kind muß auch nicht sofort vom Messen zum Abschätzen übergehen; zum Anfang muß es, während es fortfährt, das, was es nicht im ganzen zu vergleichen vermag, teilweise zu vergleichen, an die Stelle der Teile, welche es durch Messung erhalten hat, solche setzen, welche ein Ergebnis seiner Abschätzung sind, und sich, anstatt das Maß immer mit der Hand anzulegen, daran gewöhnen, sich dabei lediglich seiner Augen zu bedienen. Indes wünschte ich, daß man seine ersten Versuche durch wirkliche Messungen prüfte, damit es seine Irrtümer verbessern könnte, und daß es, wenn in dem Sinn[241] etwa noch eine Täuschung vorhanden ist, diese durch ein besseres Urteil berichtigen lernte. Man hat natürliche Maße, die sich fast überall gleichbleiben, nämlich die Schritte eines Mannes, die Spannweite seiner Arme, seine Größe. Wenn das Kind die Höhe eines Stockwerks schätzt, so kann ihm sein Hofmeister als Maßstab dienen; schätzt es dagegen die Höhe eines Turmes, so berechne es ihn nach der Höhe der Häuser; will es die Meilenzahl eines Weges wissen, so gehe es von der Zahl der Stunden aus, die man auf Zurücklegung des selben verwenden muß. Vor allen Dingen tue man dabei nichts für das Kind, sondern lasse es alles selbst tun.

Ueber die Ausbildung und Größe der Körper kann man nicht richtig urteilen lernen, wenn man nicht auch ihre Gestalten kennen und sogar bildlich wiedergeben lernt; denn im Grunde beruht diese Nachbildung schlechterdings nur auf den Gesetzen der Perspektive, und man ist nicht imstande, die Ausdehnung nach dem bloßen äußeren Schein abzuschätzen, wenn man nicht ein gewisses Verständnis von diesen Gesetzen hat. Die Kinder, die von einem starken Nachahmungstrieb beseelt sind, versuchen alles zu zeichnen. Ich wünschte, daß mein Zögling diese Kunst eifrig triebe, nicht gerade um der Kunst selbst willen, sondern um einen sicheren Blick zu erlangen und seine Hand geschmeidig zu machen. Im allgemeinen kommt es sehr wenig darauf an, ob er diese oder jene Kunst versteht, wofern er sich nur die Schärfe des Sinnes und die körperliche Gewandtheit erwirbt, welche uns diese Uebung zu verleihen vermag. Ich werde mich deshalb auch sehr hüten, ihm einen Zeichenlehrer zu geben, welcher ihn nur Nachbildungen nachbilden und Zeichnungen abzeichnen würde. Mit meinem Willen soll er keinen anderen Lehrer als die Natur, keine andere Vorbilder als die Gegenstände selbst haben. Er soll das Original selbst vor Augen haben und nicht das Papier, auf welchem es dargestellt ist. Ein Haus soll er nach einem[242] Hause, einen Baum nach einem Baume, einen Menschen nach einem Menschen zeichnen, damit er sich gewöhne, die Körper und die Gestalt, unter welcher sie uns erscheinen, genau zu beobachten und nicht falsche und herkömmliche Abbildungen für richtige Darstellungen anzusehen. Ich werde ihn sogar abhalten, etwas, ohne den Gegenstand vor Augen zu haben, rein aus dem Gedächtnis zu zeichnen, bis zu dem Augenblick, wo sich die Umrisse desselben durch häufige Beobachtungen seiner Einbildungskraft fest eingeprägt haben, er könne dadurch, daß er bizarre und phantastische Figuren an Stelle der wahren Formen der Dinge setze, die Kenntnis der Verhältnisse und den Geschmack an den Schönheiten der Natur verlieren.

Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt, daß er auf diese Weise viel Papier verderben wird, bevor er einen Gegenstand erkennbar darzustellen imstande ist; daß er sich erst spät die Eleganz der Konturen und den leichten Pinselstrich des Malers erwerben und es vielleicht niemals zu der Fähigkeit bringen wird, die malerischen Effekte richtig zu beurteilen, ja daß es ihm vielleicht stets am guten Geschmack im Zeichnen fehlen wird; dafür wird er indes sicherlich einen schärferen Blick, eine sichrere Hand, die Kenntnis der wahren Größen- und Formenverhältnisse der Tiere, Pflanzen und Naturkörper, sowie eine richtigere Behandlung der Perspektive erlangen. Und gerade darauf war ich ausgegangen; meine Absicht ist nicht sowohl, daß er die Gegenstände nachbilde, als daß er sie vielmehr kennen lerne. Ich will zufrieden sein, wenn er imstande ist, mir eine Akanthuspflanze zu zeigen, und will ihm dann gern vergeben, wenn er die Akanthusblätter am korinthischen Säulenkapitäl auch nicht vollendet schön zeichnen kann.

Uebrigens verfolge ich dabei keine andere Absicht, als daß diese Uebung wie alle übrigen meinem Zögling nur Vergnügen bereiten sollen. Ich will sie ihm dadurch nur noch um so angenehmer zu machen suchen, daß ich unausgesetzt[243] daran teilnehme. Er soll keinen anderen Nebenbuhler als mich haben; werde ich es auch ununterbrochen sein, so wird es ihm dennoch nicht zum Nachteil gereichen; dies wird seinen Beschäftigungen ein gewisses Interesse einflößen, ohne Eifersucht zwischen uns zu erregen. Ich werde den Bleistift geradeso wie er halten und anfangs ebenso ungeschickt führen. Und wäre ich ein Apelles, so würde ich mich ihm gegenüber doch nur als einen elenden Farbenkleckser zeigen. Zuerst werde ich einen Mann zeichnen, wie ihn wohl die Diener an die Wände malen: ein Strich stellt jedes Bein, ein Strich jeden Arm vor, und die Finger übertreffen die Arme an Dicke. Erst lange nachher fällt dem einen oder dem anderen von uns dieses Mißverhältnis auf. Wir bemerken, daß ein Bein eine gewisse Dicke hat und daß diese Dicke nicht überall gleich ist; daß die Länge des Armes in einem ganz bestimmten Verhältnis zum Körper steht usw. Bei diesem Fortschreiten werde ich höchstens gleichen Schritt mit ihm halten oder ihn doch nur in so geringem Grad übertreffen, daß es ihm stets leicht werden wird, mich einzuholen oder mich wohl gar zu überflügeln. Darauf nehmen wir Farben und Pinsel; wir bemühen uns, das Kolorit der Gegenstände und ihre ganze äußere Erscheinung ebensogut wie ihre Gestalten wiederzugeben. Wir werden austuschen, malen, sudeln; aber bei allen unseren Sudeleien werden wir nicht aufhören, die Natur zu belauschen; wir werden nie anders als unter den Augen dieser Meisterin arbeiten.

Wir waren um Ausschmückung unseres Zimmers in Verlegenheit; jetzt fehlt es uns nicht mehr daran. Ich lasse unsere Zeichnungen einrahmen, lasse sie mit schönem Glas bedecken, damit sie nicht berührt werden können, und damit jeder von uns, da er sieht, daß sie unverändert in dem Zustand bleiben, in welchem sie unter unserem Bleistift oder unserem Pinsel hervorgegangen sind, ein Interesse daran habe, seine Arbeiten nicht zu vernachlässigen. Ich hänge sie[244] in bestimmter Ordnung im Zimmer ringsherum auf, jede Zeichnung zwanzig-, dreißigmal wiederholt und an jedem Exemplar den Fortschritt seines Zeichners von dem Augenblick an nachweisend, wo das Haus nur ein unförmliches Viereck war, bis dahin, wo seine Fassade, seine Seitenansicht, seine Verhältnisse, seine Schatten in vollster Wahrheit hervortreten. Es ist nicht anders möglich, als daß diese Abstufungen uns stets solche Bilder vorhalten, die für uns selbst interessant, für andere sehenswert sind und uns zu immer regerem Wetteifer anspornen. Die ersten ungeschicktesten dieser Zeichnungen erhalten sehr prächtige, reich vergoldete Rahmen, durch welche sie hervorgehoben werden; sobald aber die Abbildung genauer wird und die Zeichnung wirklich gut ist, so gebe ich ihr nur einen ganz einfachen schwarzen Rahmen. Jetzt ist sie sich selbst der höchste Schmuck und bedarf keiner anderen Verzierung mehr; es würde schade sein, wenn die Einfassung die Aufmerksamkeit, welche der Gegenstand allein verdient, zum Teil auf sich lenkte. Deshalb strebt jeder von uns nach der Ehre eines schmucklosen Rahmens; und wenn einer von uns über die Zeichnung des anderen seinen Tadel aussprechen will, so verurteilt er sie zur Strafe des goldenen Rahmens. Vielleicht werden diese goldenen Rahmen eines Tages unter uns zum Sprichwort, und wir werden uns wundern, wie viele Menschen sich Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie sich gleichsam auch also einrahmen lassen.

Ich habe oben die Behauptung aufgestellt, daß die Geometrie für das Verständnis der Kinder zu hoch sei; allein das ist unsere eigene Schuld. Wir berücksichtigen nicht, daß ihre Methode nicht die unsrige ist, und daß das, was für die Kunst zu schließen bildet, für sie nur die Kunst zu sehen sein darf. Anstatt ihnen unsere Methode aufzuzwingen, sollten wir uns lieber entschließen, die ihrige anzunehmen; denn unsere Art und Weise, die Geometrie zu lernen, nimmt unsere Einbildungskraft in ebenso hohem[245] Grade in Anspruch wie unser Urteilsvermögen. Sobald der Lehrsatz genannt ist, muß man den Beweis mit Anstrengungen seiner Einbildungskraft ausfindig machen, das heißt man muß finden, aus welchem bereits bekannten Satz er sich folgern läßt, und muß aus allen Folgerungen, die man aus diesem Satze ziehen kann, gerade diejenige wählen, um die es sich handelt.

Bei dieser Methode wird auch der schärfste Denker, wenn er nicht erfinderisch ist, sich nicht zu helfen wissen. Was ist nun die Folge davon? Daß man uns die Beweise diktiert, anstatt sie uns selbst finden zu lassen; daß der Lehrer, anstatt uns denken zu lehren, für uns denkt und nur unser Gedächtnis übt.

Zeichnet genaue Figuren, kombiniert sie, legt sie aufeinander, prüft ihre Verhältnisse. Ihr werdet auf diese Weise, indem ihr stufenweise von Beobachtung zu Beobachtung fortschreitet, die ganze elementare Geometrie entwickeln, ohne daß von Definitionen, Problemen oder einer anderen Beweisform als der durch einfache Deckung die Rede ist. Ich für mein Teil beanspruche durchaus nicht, Emil die Geometrie zu lehren, er soll vielmehr mich darin unterrichten. Ich werde die Verhältnisse suchen, und er wird sie finden, denn ich werde sie dergestalt suchen, daß ich ihm Gelegenheit gebe, sie zu finden. Anstatt mich zum Beispiel zum Beschreiben eines Kreises eines Zirkels zu bedienen, werde ich ihn mit einem am Ende eines Fadens befestigten Stift, der sich um einen festen Punkt dreht, zeichnen. Wenn ich darauf Anstalten treffe, die Radien untereinander zu vergleichen, so wird mich Emil verspotten und mir begreiflich machen, daß derselbe fortwährend gleichmäßig gespannte Faden unmöglich ungleiche Abstände vom Mittelpunkt mit seinem Stift gezeichnet haben kann.

Will ich einen Winkel von sechzig Graden messen, so beschreibe ich von seinem Scheitelpunkt aus nicht einen Kreisbogen, sondern einen ganzen Kreis, denn bei Kindern darf[246] man nie etwas stillschweigend voraussetzen. Ich finde nun, daß der zwischen den beiden Schenkeln des Winkels liegende Teil des Kreises genau den sechsten Teil desselben bildet. Hierauf beschreibe ich von dem nämlichen Scheitelpunkt aus einen anderen größeren Kreis, und ich finde, daß dieser zweite Kreisbogen wiederum der sechste Teil sei nes Kreises ist. Ich ziehe einen dritten konzentrischen Kreis, an dem ich die gleiche Probe mache, und stelle an immer neuen Kreisen so lange dieselbe Probe an, bis Emil, aufgebracht über meine Beschränktheit, mir klarzumachen sucht, daß jeder zwischen den Schenkeln desselben Winkels liegende Bogen, er sei nun groß oder klein, immer den sechsten Teil des zugehörigen Kreises bilden müsse usw. Damit ist uns sofort die Anwendung des Transporteurs oder Winkelmessers ermöglicht.

Um zu beweisen, daß Nebenwinkel zwei Rechte betragen, beschreibt man einen Kreis. Ich richte es im Gegenteil so ein, daß Emil es zuerst im Kreise selbst bemerkt, und darauf sage ich zu ihm: »Wenn man nun den Kreis wegwischte und nur die geraden Linien stehen ließe, würde dadurch in der Größe der Winkel eine Aenderung eintreten?« usw.

Man vernachlässigt die Genauigkeit der Figuren, man setzt sie voraus und richtet sein Hauptaugenmerk auf die Beweisführung. Bei uns wird hingegen von Beweisführung niemals die Rede sein; wir werden es für unsere wichtigste Aufgabe halten, recht gerade, recht genaue, recht gleiche Linien zu ziehen, ein vollkommen richtiges Quadrat und einen ganz runden Kreis zu zeichnen. Um die Richtigkeit der Figuren zu prüfen, werden wir sich nach allen ihren wahrnehmbaren Eigenschaften untersuchen, was uns gleichzeitig Gelegenheit geben wird, täglich an ihnen neue zu entdecken. Wir biegen nach dem Durchmesser die beiden Halbkreise und nach der Diagonale die beiden Hälften des Quadrats zusammen; wir vergleichen nun unsere beiden Figuren, um zu sehen, bei welcher sich die Ränder am[247] genauesten decken und die Zeichnung also am richtigsten ist. Daran knüpft sich eine Erörterung der Frage, ob sich auch bei Parallelogrammen, Trapezen usw. diese gleiche Teilung ergeben müsse. Bisweilen werden wir uns bemühen, den Erfolg des Versuches, noch ehe er angestellt ist, im voraus zu bestimmen, die Gründe dafür aufzufinden usw.

Für meinen Zögling ist die Geometrie nur die Kunst, sich des Lineals und Zirkels richtig zu bedienen. Er soll sie nicht etwa mit dem Zeichnen verwechseln, bei welchem er weder das eine noch das andere dieser Hilfsmittel anwenden darf. Lineal uns Zirkel müssen unter Verschluß gehalten werden, und ich werde ihm den Gebrauch derselben nur selten und auch dann nur auf kurze Zeit gestatten, damit er sich nicht etwa an das Sudeln gewöhnt. Aber wir werden unsere Figuren hin und wieder mit auf einen Spaziergang nehmen und von dem, was wir gemacht haben oder machen wollen, plaudern.

Es wird mir unvergeßlich bleiben, wie ich in Turin die Bekanntschaft eines jungen Mannes machte, welchem man in seiner Jugend das Verhältnis des Umfangs zu dem Flächeninhalte dadurch beigebracht hatte, daß man ihm täglich unter Waffelkuchen in allerhand geometrischen Figuren, aber dabei von gleichem Umfang, mit anderen Worten unter isoperimetrischen67 Kuchen die Auswahl freigestellt hatte. Das kleine Leckermaul hatte die Kunst des Archimedes erschöpft, um herauszufinden, bei welcher Figur es am meisten zu essen gäbe.

Wenn ein Kind mit dem Federball spielt, so übt es gleichzeitig Auge und Arm und erhöht die Sicherheit und Gewandtheit derselben; peitscht es jedoch einen Kreisel, so[248] nimmt zwar seine Kraft zu, da es von derselben Gebrauch machen muß, aber ohne daß es dabei etwas lernt. Ich habe mehrmals die Frage aufgeworfen, warum man den Kindern nicht dieselben Geschicklichkeitsspiele gestattet, welche die Erwachsenen haben: das Ballspiel, das Laufspiel, das Billard, das Bogenschießen, den Windball, die musikalischen Instrumente. Man hat mir erwidert, daß einige dieser Spiele ihre Kräfte überstiegen, während für die anderen ihre Glieder und Organe noch nicht die nötige Ausbildung besäßen. Ich vermag diese Gründe nicht als richtig anzuerkennen. Ein Kind hat nicht die Statur eines Erwachsenen und trägt nichtsdestoweniger fortwährend Kleider, die denselben Schnitt wie die älterer Personen zeigen. Ich will nicht, daß es mit unseren gewöhnlichen Billardstöcken auf einem drei Fuß hohen Billard spiele, ich will nicht, daß es unsere Ballhäuser besuche und seine kleine Hand mit dem Ballnetz des Ballmeisters beschwere; sondern ich wünsche nur, daß es in einem Saal spiele, dessen Fenster man wohl verwahrt hat, und sich anfänglich nur weicher Bälle bediene. Seine ersten Raketten oder Ballnetze sollen von Holz, später von Pergament und zuletzt erst von Darmsaiten sein, welche nach Maßgabe der fortschreitenden Zunahme seiner Kräfte gespannt sind. Ihr zieht den Federball vor, weil er weniger ermüdet und das Spiel mit ihm ungefährlich ist. Ihr habt aber aus zwei Gründen unrecht. Der Federball ist ein Spiel für Frauen; ihr werdet indes nicht eine einzige finden, die nicht vor einem auf sie zufliegenden Ball die Flucht ergriffe. Ihre weiße Haut darf keine blauen Flecke erhalten, und ihr Gesicht erwartet etwas anderes als Quetschungen. Können wir aber wohl, die wir geschaffen sind, stark zu sein, uns dem Wahn hingeben, daß wir es leicht und mühelos erreichen werden? Und wie sollen wir uns wohl die Fähigkeit erwerben, uns ernstlich zu verteidigen, wenn wir niemals angegriffen werden? Die Spiele, bei welchen man sich, ohne Gefahr zu laufen, ungeschickt benehmen kann,[249] spielt man stets mit einer gewissen Schlaffheit und Trägheit. Ein Federball, welcher herabfällt, tut niemandem weh; aber nichts verleiht den Armen eine größere Gelenkigkeit als die Notwendigkeit, den Kopf zu schützen, nichts schärft den Blick in so hohem Grad als die Notwendigkeit, die Augen zu behüten. Von einem Ende des Saales zum anderen springen, den Flug eines noch die Luft durchschneidenden Balles richtig berechnen und ihn mit starker und sicherer Hand zurückschleudern; solche Spiele sind zwar geeignet, Männer heranzubilden, passen aber später nicht mehr für dieselben.

Die Fibern eines Kindes, wendet man dagegen ein, sind noch zu weich. In der Tat haben sie weniger Schnellkraft, sind aber dafür desto geschmeidiger; ihr Arm ist schwach, aber es ist und bleibt doch immer ein Arm; man muß mit ihm verhältnismäßig alles das ausrichten können, was man mit jeder anderen ähnlichen Maschine auszurichten vermag. Den Händen der Kinder fehlt freilich noch jegliche Geschicklichkeit, aber gerade aus dem Grund wünsche ich, daß man sie geschickt mache. Ein Mann, der nur ebensowenig Uebung gehabt hätte wie sie, würde ihnen sicherlich in diesem Punkt nicht überlegen sein. Den richtigen Gebrauch unserer Organe lernen wir erst durch ihre Anwendung kennen. Nur eine lange Erfahrung lehrt uns, aus uns selbst Vorteil zu ziehen, und diese Erfahrung ist das wahre Studium, an das man uns nicht früh genug gewöhnen kann.

Alles was geschieht, ist ausführbar. Nun ist aber nichts gewöhnlicher als der Anblick geschickter und wohlgestalteter Kinder, die an Gewandtheit der Glieder mit jedem Erwachsenen wetteifern können. Fast auf allen Jahrmärkten sieht man solche junge Künstler auftreten, auf den Händen gehen, springen und auf dem Seil tanzen. Wie viele Jahre lang haben nicht Kindertruppen durch ihre Ballettänze Zuschauer in das italienische Schauspiel gezogen! Wer hat in Deutschland und Italien nicht von der Pantomimentruppe[250] des berühmten Nicolini gehört? Hat wohl irgend jemand bei diesen Kindern weniger vollendete Bewegungen, weniger anmutige Stellungen, ein weniger scharfes Ohr, einen weniger leichten Tanz als bei völlig ausgebildeten Tänzern bemerkt? Mögen auch anfänglich ihre Finger dick, kurz und wenig beweglich, ihre Hände fleischig und zum Anfassen wenig geschickt sein, hindert dies denn etwa, daß manche Kinder in einem Alter, wo andere noch nicht einmal den Bleistift oder die Feder zu halten imstande sind, schreiben und zeichnen können? Ganz Paris erinnert sich noch der kleinen Engländerin, welche in einem Alter von zehn Jahren wahre Wunderwerke auf dem Klavier verrichtete.68 Im Haus eines höheren Beamten bin ich einst Augen- und Ohrenzeuge gewesen, wie ein kleines achtjähriges Bürschchen, das man beim Dessert wie eine Bildsäule mitten unter die Tafelaufsätze auf den Tisch stellte, auf einer Violine, die fast ebenso groß als er selbst war, so ausgezeichnet spielte, daß er selbst Künstler durch die vorgetragenen Stücke in Erstaunen setzte.

Alle diese und noch hunderttausend andere Beispiele beweisen, wie mir scheint, daß die Untüchtigkeit, die man bei Kindern für die Leibesübungen der Erwachsenen voraussetzt, nur eingebildet ist, und daß, wenn man sie in einigen durchaus nicht weiterkommen sieht, der Grund lediglich darin liegt, daß man sie nie recht darin geübt hat.

Man wird den Einwand machen, daß ich hier hinsichtlich des Körpers in den Fehler der zu frühzeitigen Ausbildung verfalle, den ich hinsichtlich der geistigen Entwicklung der Kinder oben selbst gerügt habe. Es waltet hierbei jedoch ein großer Unterschied ob, denn der eine dieser Fortschritte ist nur scheinbar, der andere ist wirklich. Ich habe nachgewiesen, daß die Kinder den Verstand, den sie zu haben[251] scheinen, nicht besitzen, während sie alles, was sie zu tun scheinen, auch wirklich tun. Ueberdies muß man dabei immer im Auge behalten, daß dies alles nichts weiter ist oder sein soll als Spiel, als eine leichte und freiwillige Leitung der Bewegungen, welche die Natur von ihnen verlangt, als eine Kunst, ihnen ihre Vergnügungen durch Abwechslung angenehmer zu machen, ohne daß ihnen je der geringste Zwang den Anschein einer Arbeit verleihe; denn mögen sie sich nun diesem oder jenem Zeitvertreib hingeben, wo wäre der, aus dem ich nicht am Ende einen Gegenstand der Belehrung für sie machen könnte? Und sollte ich es nicht vermögen, nun, so ist ihr Fortschritt, wofern sie sich nur ohne Nachteil belustigen und die Zeit vertreiben, augenblicklich in keiner Sache von Wichtigkeit. Sollen sie aber durchaus dies oder jenes lernen, so ist es, möge man es anfangen wie man will, völlig unmöglich, ohne Zwang, Aerger und Langweile zum Ziel zu gelangen.

Was ich über die beiden Sinne, deren Anwendung am häufigsten und am wichtigsten ist, gesagt habe, kann zugleich als Beispiel für die Uebung der anderen Sinne dienen. Der Gesichts- wie der Tastsinn können ebensowohl auf ruhende wie auf in Bewegung befindliche Körper angewandt werden; da indes nur eine Erschütterung der Luft einen Eindruck auf den Sinn des Gehörs hervorbringen kann, so vermag auch nur ein Körper, der sich in Bewegung befindet, ein Geräusch oder einen Ton hervorzurufen, und wenn alles in Ruhe wäre, so würden wir auch nie etwas hören. Des Nachts, wo wir uns nur so viel bewegen als es uns beliebt, und wo uns nur solche Körper Besorgnis einflößen können, die sich bewegen, ist uns deshalb ein wachsames Ohr sehr vorteilhaft, um aus dem Eindruck, der auf uns ausgeübt wird, beurteilen zu können, ob der ihn verursachende Körper groß oder klein, entfernt oder nahe, ob seine Bewegung stark oder schwach ist. Die in Schwingung geratene Luft findet einen Widerstand, wird zurückgeworfen und bildet dadurch[252] ein Echo, welches den Eindruck wiederholt, und uns den schallenden oder klingenden Körper an einem anderen Ort vernehmen läßt als dort, wo er sich wirklich befindet. Wenn man auf einer Ebene oder in einem Tal das Ohr auf den Boden legt, so hört man die Stimme der Menschen und den Tritt der Pferde schon aus weit größerer Entfernung, als wenn man aufrecht stehenbleibt.

Wie wir das Gesicht mit dem Gefühl verglichen haben, so ist es gut, es in gleicher Weise mit dem Gehör zu vergleichen und zu untersuchen, welcher von den beiden Eindrücken, vorausgesetzt daß sie beide gleichzeitig von dem nämlichen Körper ausgehen, am frühesten bei seinem Organ anlange. Gewahrt man den Blitz einer Kanone, so kann man dem Schuß noch entgehen, hört man jedoch den Knall, so bleibt dazu keine Zeit mehr übrig, die Kugel ist schon da. Die Entfernung eines Gewitters läßt sich nach der Zeit, die zwischen Blitz und Donner verstreicht, bestimmen. Richtet es so ein, daß das Kind mit allen diesen Erfahrungen vertraut werde; daß es diejenigen, die ihm zugänglich sind, selbst mache und die übrigen durch Folgerungen finde. Es wäre mir jedoch hundertmal lieber, wenn es sie gar nicht kennen würde, als daß ihr sie ihm erst sagen müßtet.

Wir haben ein Organ, welches dem Gehör genau entspricht, nämlich das Sprachorgan; dagegen besitzen wir kein dem Gesichtssinn entsprechendes und sind deshalb nicht imstande die Farben wie die Töne wiederzugeben. Dadurch ist uns ein weiteres Mittel an die Hand gegeben, den ersteren Sinn auszubilden, indem wir das aktive und passive Organ sich gegenseitig üben lassen.

Wir können beim Menschen dreierlei Stimmen unterscheiden, nämlich die sprechende oder artikulierte, die singende oder melodische und die pathetische oder akzentuierte, welche den Leidenschaften als Sprache dient und den Gesang und die Rede beseelt. Das Kind besitzt diese dreierlei Stimmen[253] ebensogut wie der Erwachsene, obgleich ihm das Vermögen fehlt, sie in gleicher Weise zu vereinen; es hat, wie wir, das Lachen, das Schreien, die Klage, den Ausruf und das Seufzen, allein es versteht nicht, die Modulationen der beiden anderen Stimmen damit zu verbinden. Diejenige Musik wird die vollkommenste sein, welche diese drei Stimmen am besten vereinigt. Zu solcher Musik sind die Kinder unfähig; ihrem Gesang fehlt es immer an Seele. In gleicher Weise fehlt es ihrer Sprache bei der sprechenden Stimme an dem Akzent. Sie schreien, aber akzentuieren nicht, und da in ihrer Rede die Betonung zurücktritt, so entbehrt ihre Stimme des Nachdrucks. Unser Zögling wird noch schlichter, noch einfacher reden, weil die Leidenschaften in ihm noch nicht erwacht sind und also auch ihre Stimme nicht mit der seinigen vermischen können. Verlangt deshalb nicht von ihm, daß er Rollen aus Trauerspielen oder Lustspielen vortragen soll, noch unterrichtet ihn im sogenannten Deklamieren. Er wird viel zu vernünftig sein, um Dinge, die er nicht verstehen kann, zu betonen, und um danach zu streben, Gefühle, die sich noch nie in ihm geregt haben, zum Ausdruck zu bringen.

Haltet ihn an, einfach und deutlich zu reden, richtig zu artikulieren, genau und ohne Ziererei auszusprechen, lehrt ihn den grammatikalischen Akzent und die Prosodie kennen und befolgen, beständig laut genug sprechen, um verstanden zu werden, aber nie lauter als durchaus nötig ist, ein Fehler, der bei den in öffentlichen Anstalten erzogenen Kindern sehr häufig vorkommt: kurz, duldet nach jeder Richtung hin nichts Ueberflüssiges.

Laßt euch ferner angelegen sein, beim Gesang seine Stimme rein, gleichmäßig, geschmeidig und wohlklingend, sein Ohr für Takt und Harmonie empfänglich zu machen, aber auch nicht mehr. Die die Naturlaute nachahmende und theatralische Musik ist für sein Alter noch nicht geeignet; ich wünschte nicht einmal, daß er Worte sänge; wollte er[254] solche durchaus singen, so würde ich mich bemühen, besondere Lieder für ihn zu dichten, die für sein Alter interessant und ebenso einfach wie seine Ideen wären.

Hatte ich wenig Eile, ihm die Buchstabenschrift lesen zu lehren, so kann man sich wohl denken, daß ich mich ebensowenig beeilen werde, ihn in die Kunst, Noten zu lesen, einzuweihen. Wir wollen seinem Gehirn jede allzu mühsame Aufmerksamkeit ersparen und uns nicht beeilen, seinen Geist an konventionelle Zeichen zu fesseln. Ich will einräumen, daß dies mit Schwierigkeit verbunden zu sein scheint; denn wenn die Kenntnis der Noten zum Singen zunächst auch nicht notwendiger erscheint als die der Buchstaben zum Reden, so ist hierbei doch der Unterschied vorhanden, daß wir beim Reden nur unsere eigenen, beim Singen dagegen nur fremde Ideen zum Ausdruck bringen, und um letztere richtig wiederzugeben, muß man sie doch lesen können.

Indes kann man sie erstens auch hören, anstatt sie zu lesen, und ein Gesang haftet im Ohr noch weit treuer als im Auge. Zum richtigen Verständnis der Musik reicht es ferner nicht aus, dieselbe nur wiederzugeben, man muß auch komponieren können; und lernt man beides nicht zu gleicher Zeit, so wird man sie nie gut verstehen. Uebt euren kleinen Musiker zunächst in der Komposition ganz regelmäßiger und taktmäßiger Tonsätze, darauf laßt sie ihn durch einen höchst einfachen Uebergang untereinander verbinden und endlich ihre verschiedenen Verhältnisse zueinander durch korrekte Einteilung bezeichnen, was durch die richtige Wahl des Rhythmus und der Pausen geschieht. Vor allem aber verschont ihn mit gekünstelten, leidenschaftlichen und zu gefühlvollen Gesängen. Stets sei die Melodie einfach und singbar, stets werde sie aus den Haupttönen der betreffenden Tonart gebildet und stets klinge der Grundton derartig hindurch, daß er ihn hindurchzuhören und ohne Mühe zu begleiten vermag; denn um Stimme und Ohr zu bilden, darf er nie ohne Klavierbegleitung singen.[255]

Um die Töne besser zu markieren, artikuliert man sie bei der Aussprache; daher stammt die Sitte, die Noten beim Singen durch gewisse Silben zu bezeichnen. Um die einzelnen Töne zu unterscheiden, muß man ihnen und ihren Intervallen bestimmte Namen geben; daher die Namen der Intervalle und auch die Buchstaben des Alphabets, mit denen man die Tasten des Klaviers und die Noten der Tonleiter zu bezeichnen pflegt. C und a bezeichnen feste, unveränderliche, stets durch dieselben Tasten hervorgebrachte Töne. Mit ut und la ist es schon anders. Ut ist regelmäßig der Grundton einer Durtonart oder der Mittelton einer Molltonart. La jedoch ist beständig der Grundton einer Molltonart oder die Sexte einer Durtonart. So bezeichnen demnach die Buchstaben die unveränderlichen Grenzen der Verhältnisse unseres musikalischen Systems, während die Silben die homologen Grenzpunkte der ähnlichen Verhältnisse in den verschiedenen Tonarten markieren. Die Buchstaben bezeichnen die Tasten des Klaviers, und die Silben die Intervalle der Tonleiter. Die französischen Musiker haben sich sonderbarerweise an diese strenge Unterscheidung nicht im geringsten gekehrt; sie haben die Bedeutung der Silben mit der Bedeutung der Buchstaben vermischt und verschmolzen, und indem sie dadurch die Zeichen der Tasten unnützerweise verdoppelten, haben sie keine übriggelassen, welche nur zur Bezeichnung der Töne der Tonleiter dienen könnten. So ist es gekommen, daß für sie ut und c stets eins und dasselbe ist; und doch sind es nicht identische Begriffe und dürfen es nicht sein, denn wozu sollte dann c dienen? Auch bereitet ihre Art zu solfeggieren erhebliche Schwierigkeiten, ohne irgendwelchen Nutzen zu schaffen oder dem Geist irgendeine klare Idee zu geben, da nach dieser Methode zum Beispiel die beiden Silben ut und mi ebensowohl eine große als auch eine kleine, eine übermäßige oder verminderte Terz bedeuten. Welch seltsamer Unstern trägt wohl die Schuld, daß das Land, in[256] welchem man in der ganzen Welt die schönsten Bücher über Musik verfaßt, gerade dasjenige ist, in welchem man sie am schwersten lernt?

Laßt uns bei unserem Zögling eine einfachere und klarere Methode zur Anwendung bringen. Für ihn sollen nur zwei Tonarten existieren, deren Verhältnisse stets die nämlichen sind und stets durch dieselben Silben bezeichnet werden. Ob er nun singe oder irgendein Instrument spiele, so soll er seine Tonleiter von jedem der zwölf Töne aus, die ihm als Grundton dienen können, zu bilden verstehen, und ob man nun aus d oder c oder g usw. moduliere, so soll, je nach der Tonart, das Finale stets ut oder la sein. Auf diese Weise wird er auch immer verstehen. Die für einen richtigen Gesang und ein richtiges Spiel wesentlichen Verhältnisse der Tonart werden seinem Geiste stets gegenwärtig, sein Vortrag wird richtiger und sein Fortschritt schneller sein. Es gibt nichts Sonderbareres, als was die Franzosen Solmisieren nach der Natur nennen; das heißt weiter nichts als die eigentlichen Begriffe von der Sache trennen, um völlig fremdartige an ihre Stelle zu setzen, die nur zu verwirren imstande sind. Nichts ist natürlicher, als infolge einer Transposition zu solmisieren, sobald die Tonart transponiert wird. Aber nun genug über Musik! Unterrichtet euren Zögling in derselben wie ihr wollt; vorausgesetzt, daß sie ihm nie etwas anderes als ein Vergnügen sei.

Wir sind jetzt bereits über die Beschaffenheit der fremden Körper durch ihre Beziehungen zu dem unsrigen hinreichend unterrichtet; wir kennen ihre Schwere, ihre Gestalt, ihre Farbe, ihre Dichtigkeit, ihre Größe, ihre Entfernung, ihre Temperatur, ihre Ruhe oder Bewegung. Wir sind über diejenigen belehrt, deren Annäherung oder Entfernung uns vorteilhaft ist, sowie über die Art und Weise, die wir beobachten müssen, um ihren Widerstand zu besiegen oder ihnen selbst einen Widerstand entgegenzusetzen, der uns vor[257] ihren schädlichen Einwirkungen bewahrt. Aber das ist freilich noch nicht genug. Unser eigener Körper erschöpft sich unaufhörlich wieder erneuert werden. Obgleich wir die Fähigkeit besitzen, fremde Substanzen in unsere eigene Substanz zu verwandeln, so ist die Wahl derselben doch keineswegs gleichgültig. Nicht alles eignet sich für den Menschen als Nahrungsmittel, und unter den Stoffen, die dazu tauglich sind, gibt es wieder mehr oder weniger zuträgliche. Inwiefern sie das sind, hängt von der Körperbeschaffenheit seines Geschlechts, von dem Klima, das er bewohnt, von seinem besonderen Temperament und der Lebensweise ab, die sein Stand ihm vorschreibt.

Wir würden vor Hunger und an Gift sterben, wenn wir behufs Wahl der uns dienlich Nahrungsmittel so lange warten müßten, bis uns die Erfahrung sie kennen und wählen gelehrt hätte; aber der Allgütige, welcher das Vergnügen der empfindungsfähigen Wesen zu einem Mittel ihrer Erhaltung gemacht hat, gibt uns dadurch, daß etwas unserem Gaumen zusagt, zugleich zu erkennen, daß es auch unserem Magen zuträglich ist. Im Stand der Natur gibt es für den Menschen keinen zuverlässigeren Arzt als seinen eigenen Appetit; und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß, solange derselbe in seinem ursprünglichen Zustand verharren würde, die wohlschmeckendsten Speisen ihm auch die gesündesten wären.

Ja noch mehr. Der Schöpfer der Dinge sorgt nicht allein für die Bedürfnisse, die er uns eingepflanzt hat, sondern auch noch für diejenigen, die wir uns selbst bereiten. Damit unsere Begierde mit dem Bedürfnis stets Hand in Hand gehe, hat er Fürsorge getroffen, daß zugleich mit unserer Lebensweise auch unser Geschmack wechselt und sich verändert. Je mehr wir uns von dem Naturzustand entfernen, desto mehr verlieren wir unseren natürlichen Geschmack, oder wird vielmehr die Gewohnheit in uns zur[258] zweiten Natur, welche die ursprüngliche so vollständig verdrängt, daß diese niemand von uns mehr kennt.

Hieraus ergibt sich, daß der natürlichste Geschmack auch der einfachste sein muß, denn dieser verwandelt sich am leichtesten, während er Ueberreizung und Aufregung durch die Einwirkungen unserer Phantasie eine unveränderliche Form annimmt. Ein Mensch, der nicht immer an der Scholle klebt, wird sich ohne Mühe in die Lebensweise jedes Landes schicken; wer sich aber nur in einem bestimmten Land heimisch fühlt, wird sich nie mit den Sitten eines fremden Landes befreunden können.

Dies scheint mir in jedem Sinne seine Wahrheit zu haben, vorzüglich aber auf den Geschmack im eigentlichen Sinn des Wortes seine Anwendung zu finden. Milch ist unsere erste Nahrung; nur sehr allmählich gewöhnen wir uns an Speisen von schärferem Geschmack. Anfänglich flößen sie uns geradezu Widerwillen ein. Obst, Gemüse, Kräuter und endlich auch noch etwas gebratenes Fleisch ohne Gewürz und Salz bildeten die Gastmahle der ersten Menschen.69 Trinkt ein Wilder zum erstenmal Wein, so verzieht er sicherlich das Gesicht, und sein Magen vermag ihn nicht zu vertragen; und selbst unter uns wird sich jeder, dem der Genuß gegorener Getränke bis zu seinem zwanzigsten Jahre fremd geblieben ist, nie mehr an diese gewöhnen können. Keinem von uns würde es in den Sinn kommen, Wein zu trinken, wenn man ihn uns nicht schon in jungen Jahren gegeben hätte. Je einfacher unser Geschmack ist, desto allgemeiner ist er; zusammengesetzte Speisen erregen am häufigsten und am allgemeinsten Widerwillen. Sieht man wohl je, daß sich jemand von Wasser oder Brot angeekelt fühlt? Darin liegt ein unverkennbarer Wink der Natur, darin ist uns auch eine Richtschnur vorgezeichnet. Laßt uns deshalb dem Kinde seinen ursprünglichen Geschmack[259] solange als möglich erhalten; seine Nahrung sei einfach und natürlich, sein Gaumen gewöhne sich nur an wenig gewürzte Speisen und bilde sich keinen besonderen Geschmack.

Ich will hier nicht erst untersuchen, ob diese Lebensart gesunder ist oder nicht; das gehört nicht zu der Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Um ihr den Vorzug zu geben, ist für mich die Ueberzeugung hinreichend, daß sie die naturgemäßeste ist und sich jeder anderen am leichtesten anzubequemen vermag. Diejenigen, welche behaupten, man müsse die Kinder an solche Nahrung gewöhnen, welche sie später als Erwachsene genießen werden, gehen meinem Dafürhalten nach von einer falschen Voraussetzung aus. Weshalb soll ihre Nahrung die gleiche sein, während sich in ihrer Lebensweise so große Verschiedenheiten zeigen? Ein von Arbeit, Sorgen und Anstrengungen erschöpfter Mann bedarf nahrhafter Speisen, die seinem Gehirn neuen Lebensgeist zuführen; ein Kind indes, welches sich nur fröhlich umhertummelt und dessen Körper noch einem steten Wachstum unterworfen ist, verlangt eine reichliche Nahrung, aus dem es unaufhörlich Nahrungssaft ziehen kann. Außerdem hat der völlig ausgebildete Mann bereits seine Stellung, seinen Beruf, seinen festen Wohnsitz; wer aber will mit Sicherheit voraussehen, was das Schicksal dem Kind aufgespart hat? Nach keiner Richtung hin dürfen wir letzterem eine so ausgeprägte Form geben, daß es mit zu großer Mühe verbunden ist, sie nach Bedürfnis zu ändern. Laßt uns nicht die Schuld tragen, daß es in fremden Ländern Hungers sterbe, wenn es nicht in seinem Gefolge überallhin einen französischen Koch mit sich schleppt, oder daß es eines Tages versichere, man verstehe nur in Frankreich zu essen. Beiläufig gesagt, wirklich ein schmeichelhaftes Lob! Ich meinerseits möchte gerade umgekehrt sagen, daß die Franzosen allein nicht zu essen verstehen, da es erst einer ganz besonderen Kunst bedarf, ihnen die Speisen schmackhaft zu machen.[260]

Unter unseren verschiedenen Sinneswahrnehmungen berühren uns die, welche sich auf sich auf den Geschmack beziehen, im allgemeinen am unmittelbarsten. Auch muß uns ungleich mehr daran gelegen sein, uns über diejenigen Substanzen, die in unseren eigenen Körper übergehen sollen, ein richtiges Urteil zu bilden, als über solche, die sich nur in unserer Umgebung befinden. Tausenderlei Dinge sind dem Gefühl, dem Gehör und dem Gesicht gleichgültig, während es für den Geschmack fast nichts Gleichgültiges gibt. Ferner ist die Tätigkeit dieses Sinnes eine rein physische und materielle. Er ist der einzige, welcher die Einbildungskraft niemals erregt, wenigstens derjenige, an dessen Wahrnehmungen sie am wenigsten beteiligt ist. Wie oft findet man dagegen, daß die Nachahmung und die Einbildungskraft den Eindrücken aller übrigen etwas Geistiges beimischen! Auch sind weichliche und wollüstige Herzen, leidenschaftliche und wirklich reizbare Charaktere, die sich durch die übrigen Sinne leicht erregen lassen, gewöhnlich wenig geneigt, diesem zu huldigen. Aber gerade aus dieser Erfahrung, die den Geschmack unter die übrigen Sinne zu stellen scheint und die Neigung, ihm zu frönen, so verächtlich macht, möchte ich den Schluß ziehen, daß es sich als das zweckmäßigste Mittel empfiehlt, die Kinder durch die Bedürfnisse ihres Mundes zu leiten und zu regieren. Will man einmal eine äußere Triebfeder in Anwendung bringen, so will ich mich immer noch lieber auf die Leckerhaftigkeit als auf die Eitelkeit stützen, da erstere ein natürlicher Trieb ist, der es nur mit dem Sinne selber zu tun hat, letztere jedoch ein Erzeugnis der Einbildungskraft, welches den Launen der Menschen und jeglichem Mißbrauche unterworfen ist. Leckerhaftigkeit ist die Leidenschaft der Kindheit, die verschwindet, sobald sich andere zeigen; sie vermag keiner Konkurrenz gegenüber standzuhalten. Ja, glaubt es mir, das Kind wird nur zu früh aufhören, an das, was es genießt, zu denken, und wenn sein Herz erst allzusehr beschäftigt ist, wird ihn sein[261] Gaumen schwerlich noch beschäftigen. Sobald es erwachsen ist, werden tausend stürmische Gefühle die Leckerhaftigkeit mit einem Male verscheuchen und erst die Eitelkeit recht anstacheln, denn letztere Leidenschaft zieht allein von allen anderen Gewinn und verschlingt sie endlich alle. Ich habe bisweilen solche Leute, denen gute Bissen über alles gingen, die schon beim Erwachen an nichts als an die Tafelgenüsse im Lauf des Tages dachten und eine Mahlzeit mit größerer Genauigkeit beschrieben als Polybius ein Gefecht, genau beobachtet und dabei stets gefunden, daß alle diese angeblichen Männer nichts weiter als vierzigjährige Kinder ohne Kraft und Festigkeit waren, fruges consumere nati.70 Das Laster der Schleckerhaftigkeit kann nur bei solchen vorkommen, denen aller geistiger Gehalt abgeht. Die Seele des Feinschmeckers ist mit seinem Gaumen identisch, die Schöpfung hat ihn nur zum Essen bestimmt. In seiner beschränkten Unfähigkeit ist er nur bei Tisch an seinem Platz; sein Urteil geht über die Schüsseln nicht hinaus. Gönnen wir ihm diese Rolle im Leben; er führt sie besser durch als eine andere, besser für uns und für ihn.

Es verrät große Unerfahrenheit, wenn man sich der Besorgnis hingibt, daß die Leckerhaftigkeit bei einem befähigten Kind, einwurzeln könne. In der Kindheit denkt man freilich nur an die Speise, die man ißt, im Jünglingsalter nehmen indes die Gedanken eine andere Richtung; da sind alle Speisen gleich gut, da ist man von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Fern liegt mir indes der Gedanke, daß man eine so niedrige Triebfeder in unverständiger Weise in Anwendung bringen oder zu der Ehre, eine gute Handlung zu vollbringen, durch einen guten Bissen anspornen sollte. Da aber einmal die ganze Kindheit nur Scherz und Spiel ist und sein soll, so sehe ich auch nicht ein, weshalb man nicht auf rein körperliche Uebungen einen materiellen und für den Genuß bestimmten Preis setzen[262] dürfte. Wenn ein Knabe auf Majorka im Gipfel eines Baumes einen Korb hängen sieht und ihn mit seiner Schleuder herabwirft, ist es dann nicht mehr als billig, daß er davon einen Vorteil habe, und ihm ein gutes Frühstück die Kraft wieder ersetze, die er zur Erlangung des Korbes hat anwenden müssen?71 Wenn sich ein spanischer Knabe auf die Gefahr hin, hundert Peitschenhiebe zu erhalten, gewandt in eine Küche schleicht, einen lebendigen jungen Fuchs stiehlt, ihn unter seinem Gewande davonträgt, trotzdem er zerkratzt, zerbissen und mit Blut überströmt wird, wenn er sich sogar, um sich nicht der Schande der Entdeckung auszusetzen, die Eingeweide zerreißen läßt, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, ohne einen einzigen Schrei auszustoßen, ist es dann nicht billig, daß er das schwer Erbeutete zu seinem Nutzen verwende und es verzehre, nachdem er von ihm beinahe selbst verzehrt worden ist? Niemals darf eine gute Mahlzeit als eine Belohnung gelten; weshalb sollte sie aber nicht mitunter die Frucht der Mühe sein, der man sich zu ihrer Erlangung hat unterziehen müssen? Emil sieht in dem Kuchen, den ich auf den Stein gelegt habe, nicht eine Belohnung für seinen Schnellauf; sondern er ist sich nur dessen bewußt, daß das einzige Mittel, den Kuchen zu erhalten, darin besteht, schneller als ein anderer das Ziel zu erreichen.

Dies widerspricht keineswegs den Grundsätzen, die ich vorhin über die Einfachheit der Speisen ausgesprochen habe; denn bei Befriedigung des Appetits der Kinder handelt es sich nicht um Erregung ihrer Sinnlichkeit, sondern um Stillung eines Naturtriebes, und dies läßt sich durch die gewöhnlichsten Mittel von der Welt erzielen, wenn man nicht absichtlich auf die Verwöhnung ihres Gaumens ausgeht. Ihr durch stetes Wachstum erregter Appetit ist für[263] sie eine sicher Würze, die ihnen viele anderen ersetzt. Obst, Milchspeisen, irgendeine Backware, die das gewöhnliche Brot an Wohlgeschmack übertrifft, in Verbindung mit der Kunst, dies alles sparsam zu verteilen, reichen vollkommen aus, Heere von Kindern bis ans Ende der Welt zu führen, ohne daß man ihnen Geschmack an gaumkitzelnden Speisen einflößt, oder Gefahr läuft, ihren Gaumen abzustumpfen.

Zu den Beweisen, daß der Geschmack an Fleisch dem Menschen nicht natürlich ist, gehört die Gleichgültigkeit der Kinder gegen alle Fleischspeisen, sowie die Vorliebe, welche sie für vegetabilische Kost, wie Milchspeisen, Gebackenes, Obst usw., an den Tag legen. Es muß nun vor allen Dingen darauf Gewicht gelegt werden, diesen ursprünglichen Geschmack nicht in andere Bahnen zu lenken und die Kinder nicht zu Fleischessern zu machen, denn wenn auch ihre Gesundheit nicht darunter leiden sollte, so wäre es doch mit Rücksicht auf ihre Charakterbildung bedenklich. Denn wie man auch immer diese Erfahrung erklären mag, so steht doch so viel fest, daß die starken Fleischesser im allgemeinen grausamer und wilder als andere Menschen sind. Die englische Barbarei ist bekannt.72 Die persischen Feueranbeter, die Gebern, sind dagegen die sanftesten Menschen.73 Alle Wilden sind grausam; aber nicht ihre Sitten tragen die Schuld, sondern ihre Grausamkeit ist lediglich die Folge ihrer Nahrungsmittel. Sie ziehen in den Krieg, als ginge es auf die Jagd, und treten gegen die Menschen auf, als hätten sie Bären vor sich. In England dürfen sogar die Schlächter, und selbst die Wundärzte, nicht als Zeugen zugelassen[264] werden.74 Große Bösewichter härten sich durch den Genuß von Blut zum Morden ab. Homer schildert die Zyklopen, die Fleischesser waren, als entsetzliche Menschen, die Lotophagen dagegen als ein so liebenswürdiges Volk, daß man, sobald man mit ihnen in Verkehr getreten war, sogar sein eigenes Vaterland vergaß und nur den Wunsch hatte, unter ihnen leben zu können.

»Du fragst mich,« sagt Plutarch, »weshalb sich Pythagoras des Genusses der Fleischspeisen enthielt. Aber ich frage dich statt dessen, welchen Mut der erste Mensch besessen haben muß, der Fleisch von einem gemordeten Tier an seinen Mund brachte, der mit seinen Zähnen die Knochen eines soeben erst gestorbenen Tieres zermalmte, der sich tote Körper, Leichen, zum Genuß vorsetzen ließ und Glieder von Geschöpfen in seinen Magen hinabschlang, die noch einen Augenblick zuvor geblökt, gebrüllt, gesehen hatten und umhergesprungen waren. Wie vermochte seine Hand nur einem empfindenden Wesen ein Eisen in das Herz zu stoßen? Wie waren seine Augen imstande, den Anblick eines Mordes auszuhalten? Wie konnte er ein armes wehrloses Tier schlachten, abhäuten und zerstückeln sehen? Wie vermochte er den Anblick noch zuckenden Fleisches zu ertragen? Wie war es nur möglich, daß ihm nicht schon dessen bloßer Geruch Uebelkeit erregte? Wie ging es zu, daß er sich nicht angeekelt, zurückgestoßen und von Schauder ergriffen fühlte, wenn er den Schmutz dieser Wunden berührte und sie von dem schwarzen geronnenen Blute, mit dem sie bedeckt waren, reinigte?


Am Boden wand sich noch die abgestreifte Haut,

Beim Feuer brüllt am Spieß das blut'ge Fleisch noch laut;

Nicht ohne Schaudern kann der Mensch der Eßlust frönen,

Denn deutlich hört er noch aus seinem Schoß es stöhnen.«
[265]

»Ja, das mußte er denken und empfinden, als er zum erstenmal seine Natur überwand, dieses entsetzliche Mahl herzurichten, als ihn zum erstenmal nach einem lebenden Wesen gelüstete, als er sich von einem Tier, das noch harmlos weidete, zu nähren verlangte, und der Gedanke in ihm aufstieg, wie er das Schaf, das ihm die Hand leckte, erwürgen, zerschneiden und kochen könnte. Ueber diejenigen müssen wir uns gerechterweise wundern, die mit solchen grausamen Mahlzeiten den Anfang gemacht haben, aber wahrlich nicht über diejenigen, welche sich deren enthalten; und doch vermöchten erstere ihre Barbarei wenigstens einigermaßen durch Gründe zu entschuldigen, auf welche wir uns nicht mehr stützen können, und gerade deshalb sind wir noch hundertmal größere Barbaren als sie.«

»Ihr sterblichen Lieblinge der Götter, würden jene ersten Menschen uns zurufen, vergleichet einmal die Zeiten; erwägt, wie glücklich ihr seid und wie elend wir waren! Die noch jungfräuliche Erde und die mit Dünsten erfüllte Luft entzogen sich noch dem Einfluß der Jahreszeiten; der ungeregelte Lauf der Flüsse durchbrach die Ufer nach allen Richtungen hin; Teiche, Seen, tiefe Moräste nahmen drei Vierteile der Erdoberfläche ein; das letzte Viertel war mit Gehölz und unfruchtbaren Wäldern bedeckt. Noch brachte die Erde keine wohlschmeckenden Früchte hervor, noch hatten wir keine Ackergerätschaften und verstanden auch die Kunst nicht, uns ihrer zu bedienen, und keine Erntezeit kam für uns, die wir nicht gesät hatten, heran. Deshalb wurden wir stets vom Hunger gefoltert. Moos und Baumrinde bildeten im Winter unsere gewöhnliche Speise. Frische Quecken- und Heidekrautwurzeln waren ein Festschmaus für uns, und hatten wir sogar Bucheckern, Nüsse oder Eicheln gefunden, so tanzten wir freudetrunken unter dem Klang[266] unserer rohen Gesänge um eine Eiche oder Buche herum und nannten die Erde unsere Ernährerin und unsere Mutter. Das war unser einziges Fest, das waren unsere einzigen Spiele. Unser ganzes sonstiges Leben war Schmerz, Mühe und Elend.«

»Als uns endlich das entblößte und kahle Land gar nichts mehr darbot, wurden wir gezwungen, zu unserer Erhaltung die Natur zu verletzen und die Genossen unseres Elends lieber zu verzehren, als mit ihnen zugrunde zu gehen. Aber ihr, grausame Menschen, wer zwingt euch, Blut zu vergießen? Seht, welch ein Ueberfluß an Gütern euch umgibt! Welch Fülle von Früchten erzeugt die Erde für euch! Welche Reichtümer bieten euch eure Felder und Weinberge dar! Wie viel Tiere ernähren euch mit ihrer Milch und kleiden euch mit ihrer Wolle! Was verlangt ihr noch mehr von ihnen? Welche Wut treibt euch, trotzdem ihr mit Gütern überschüttet und von einer Ueberfülle von Lebensmitteln umringt seid, so viele Mordtaten zu begehen? Warum klagt ihr eure Mutter lügnerischerweise an, daß sie euch nicht zu ernähren vermöge? Warum versündiget ihr euch an Ceres, der Erfinderin der heiligen Gesetze, und an dem freundlichen Bacchus, dem Tröster der Menschen? Als ob ihre verschwenderischen Gaben zur Erhaltung des menschlichen Geschlechtes nicht hinreichend wären! Woher nehmt ihr nur ein Herz, außer mit ihren süßen Früchten eure Tische auch noch mit den Gebeinen der Tiere zu beladen, und mir der Milch zugleich das Blut der Tiere zu trinken, die sie euch geben? Panther und Löwen , die ihr Raubtiere nennt, folgen gezwungen ihrem Instinkt und töten andere Tiere, um zu leben. Allein ihr, die ihr in Wahrheit hundertmal wilder seid als jene, bekämpft ohne Not den Instinkt, um euch euren grausamen Lüsten zu überlassen. Die Tiere, welche ihr esset, gehören nicht zu denjenigen, die sich von anderen nähren; ihr verzehret nicht die fleischfressenden Tiere, sondern ahmet ihnen nach. Ihr[267] seid nur nach unschuldigen und sanften Tieren lüstern, die niemandem ein Leid zufügen, die sich voller Anhänglichkeit an euch schließen, die euch dienen und die ihr dann zum Lohn für ihre Dienste verschlingt.«

»O, unnatürlicher Mörder! Wenn du wirklich an der Ueberzeugung hartnäckig festhältst, daß dich die Natur dazu geschaffen habe, deinesgleichen, Wesen von Fleisch und Bein, voller Empfindung und Leben wie du, zu verzehren: nun, dann erstricke auch das Grauen, daß sie dir vor solchen gräßlichen Wahlzeiten einflößt, töte die Tiere selber und zwar mit deinen eigenen Händen, ohne Eisen und Messer; zerreiße sie mit deinen Nägeln, wie du es bei den Löwen und Bären siehst; greife den Stier mit deinen Zähnen an und zerfleische ihn; schlage deine Krallen in seine Haut; friß dieses Lamm noch lebendig, verschlinge sein Fleisch, wenn es noch warm ist und trinke seine Seele mit seinem Blut. Du zitterst, du wagst nicht, das lebende Fleisch unter deinem Zahn zucken zu fühlen! Erbärmliches Wesen! Erst tötest du das Tier und dann ißt du es, um es gleichsam zweimal sterben zu lassen! Noch nicht genug! Das tote Fleisch eregt noch deinen Widerwillen, deine Eingeweide können es nicht vertragen. Du mußt es erst durch das Feuer verwandeln, mußt es kochen, braten und mit allerlei Kräutern würzen, die seinen Geschmack verdecken. Du bedarfst erst der Fleischwarenhändler, der Köche, kurz solcher Leute, die dem Getöteten das Schreckenhafte benehmen und die toten Körper so umhüllen, daß der durch diese Zubereitung getäuschte Geschmacksinn das nicht zurückweise, was ihm ungewöhnlich und abstoßend ist und sich mit Vergnügen an Leichnamen lade, deren bloßen Anblick das Auge kaum zu ertragen vermöchte.«

Obgleich diese Stelle nicht völlig zu meinem Gegenstand gehört, so habe ich doch der Versuchung nicht widerstehen können, sie abzuschreiben, und ich bin überzeugt, daß nur wenige Leser es mir nicht Dank wissen werden.[268]

Welche Lebensordnung ihr übrigens für eure Kinder auch einführen möget – wobei ich freilich voraussetze, daß ihr sie nur an gewöhnliche und einfache Kost gewöhnt –, laßt sie essen, sich umhertummeln und spielen, soviel es ihnen gefällt; dann könnt ihr versichert sein, daß sie niemals zu viel essen und niemals an Verdauungsbeschwerden leiden werden. Laßt ihr sie aber die halbe Zeit hungern und finden sie dann Mittel, sich eurer Wachsamkeit zu entziehen, so werden sie sich aus allen Kräften schadlos zu halten suchen; sie werden essen, bis sie sich den Magen überladen haben, ja bis zum Platzen. Unser Appetit verleitet uns nur deshalb zur Unmäßigkeit, weil wir ihm andere Regeln als die der Natur aufzwingen wollen. Indem wir fortwährend regeln, vorschreiben, hinzufügen oder wegnehmen, tun wir nichts ohne schon abzuwägen, wie viel unser Magen zu vertragen vermag; aber wir wägen es nah unserer Einbildung und nicht nach den Anforderungen unseres Magens ab.

Ich komme immer wieder auf meine Beispiele zurück. Bei den Landleuten stehen der Brotschrank und der Obstgarten immerwährend offen, und doch wissen dort die Kinder ebensowenig wie die Erwachsenen, was ein verdorbener Magen ist.

Sollte es jedoch wirklich einmal vorkommen, daß ein Kind zuviel äße, was ich übrigens bei Befolgung meiner Methode geradezu für unmöglich halte, so ist es durch Belustigungen, die seinem Geschmack zusagen, so leicht zu zerstreuen, daß man es bis zur Erschöpfung hungern lassen könnte, ohne daß man es ans Essen dächte. Wie ist es nur möglich, daß so sichere und zugleich so leichte Mittel allen Lehrern entgehen können! Herodot erzählt im 94. Kapitel des ersten Buches, daß die Lydier zur zeit einer anhaltenden Hungersnot auf den Einfall geraten seien, Spiele und anderen Zeitvertreib zu erfinden, bei welchen sie ihren Hunger vergessen und ganze Tage zugebracht hätten, ohne[269] an das Essen zu denken.75 Eure gelehrten Erzieher haben diese Stelle vielleicht schon hundertmal gelesen, ohne zu begreifen, wie gut sie auf die Kinder angewandt werden kann. Vielleicht wird der eine oder der andere derselben den Einwand machen, daß kein Kind gern sein Mittagbrot verläßt, um seine Lektion zu lernen. Ja, mein bester Lehrer, du hast vollkommen recht: an diese Belustigung hatte ich freilich nicht gedacht!

Der Geruchssinn ist für den Geschmack, was das Gesicht für das Gefühl ist. Er kommt ihm zuvor, macht ihn darauf aufmerksam, wie diese oder jene Substanz auf ihn wirken werde, und bewegt ihn, sie je nach dem Eindruck, den er schon im voraus empfängt, zu suchen oder zu meiden. Von den Wilden ist mir gesagt worden, daß ihr Geruchssinn im ganz anderer Weise als der unsrige affiziert werde, und das Urteil derselben über angenehme und unangenehme Gerüche von dem unsrigen wesentlich abweiche. Ich meinesteils bin sehr geneigt, es zu glauben. Die Gerüche an und für sich bringen nur schwache Eindrücke hervor; sie reizen mehr die Einbildungskraft als den Sinn, und affizieren nicht sowohl durch das, was sie wirklich gewähren, als vielmehr durch die Erwartung, die sie rege machen. Ist diese Voraussetzung gegründet, so werden auch die Menschen, deren Geschmack infolge ihrer verschiedenen Lebensweise von dem anderen Menschen abweicht, ebenfalls über die Gerüche, welche den Geschmack ankündigen, ganz entgegengesetzte Urteile[270] fällen müssen. Ein Tatar muß ein stinkendes Pferdeviertel mit ebenso großem Genuß riechen wie einer unserer Jäger ein halbverfaultes Rebhuhn.

Rein äußerliche Sinneseindrücke, wie sie zum Beispiel von dem Wohlgeruch eines Blumenbeetes ausgehen, müssen sich solchen Menschen, die viel zu viel laufen, um an dem Spazierengehen noch Freude zu haben, oder solchen, die nicht genug arbeiten, um die Süßigkeit der Ruhe empfinden zu können, kaum bemerkbar machen. Leute, die fortwährend hungrig wären, könnten an Wohlgerüchen, welche keine Speise ankündigten, schwerlich ein großes Vergnügen finden.

Der Geruch ist der Sinn der Phantasie; da er den Nerven eine größere Kraft verleiht, so muß er auch das Gehirn lebhaft erregen. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß er zwar für einen Augenblick belebt, aber auf die Länge erschöpft. Seine Wirkungen in der Liebe sind allgemein bekannt. Der süße Duft eines Toilettenzimmers ist keine so schwache Schlinge, wie man annimmt, und ich weiß nicht, ob man den weißen Mann, der so wenig empfänglich ist, daß ihm der Geruch der Blumen, die seine Geliebte am Busen trägt, niemals in Wallung brachte, beglückwünschen oder beklagen muß.

Der Geruch darf deshalb im ersten Lebensalter, wo die bisher erst von wenigen Leidenschaften belebte Phantasie kaum für eine Erregung empfänglich ist und wo man noch nicht genügende Erfahrung besitzt, um vermittels des einen Sinnes das voraussehen zu können, was uns ein anderer verspricht, nicht sehr tätig sein. Diese Folgerung hat auch durch die Erfahrung ihre vollständige Bestätigung gefunden; es ist eine anerkannte Tatsache, daß dieser Sinn bei der Mehrzahl der Kinder noch schwach, ja fast völlig stumpft ist. Nicht etwa als ob bei ihnen die Empfindung nicht ebenso sein, ja vielleicht noch feiner als bei den Erwachsenen wäre; sondern weil sie aus dem Grunde, daß sie noch keine anderen[271] Ideen damit verbinden, weder freudig noch schmerzlich affiziert werden und sich mithin auch nicht wie wir angenehm erregt oder verletzt fühlen können. Ich bin überzeugt, daß man bei strenger Festhaltung dieses Systems nicht erst nötig hat, zu der vergleichenden Anatomie der beiden Geschlechter seine Zuflucht zu nehmen, um mit Leichtigkeit den Grund aufzufinden, weshalb die Frauen von den Gerüchen im allgemeinen lebhafter affiziert werden als die Männer.

Man behauptet, die Wilden Kanadas bilden von ihrer frühesten Jugend auf ihren Geruch bis zu dem Grade von Feinheit aus, daß sie, obgleich sie Hunde besitzen, es unter ihrer Würde halten, sich derselben auf der Jagd zu bedienen, weil sie eine ebenso große Spürkraft haben. Es ist mir in der Tat einleuchtend, daß man, hielte man die Kinder dazu an, ihre Mahlzeit ebenso aufzuspüren wie der Hund das Wild, es vielleicht dahin bringen könnte, ihren Geruch in gleicher Weise zu vervollkommnen; aber im Grunde genommen sehe ich auch nicht ein, welchen in die Augen fallenden Vorteil dieser Sinn verschaffen könnte, wenn es nicht etwa der wäre, daß er ihnen seine Beziehungen zum Geschmackssinn nachwiese. Die Natur hat schon dafür gesorgt, daß wir uns gezwungen sehen, uns mit diesen Beziehungen vertraut zu machen. Sie hat die Tätigkeit beider Sinne fast unzertrennlich miteinander verbunden, indem sie ihre Organe zu Nachbarn machte und im Mund eine unmittelbare Verbindung beider in der Art herstellte, daß wir nichts schmecken, ohne es gleichzeitig zu riechen. Ich wünschte nur, daß man diese natürlichen Beziehungen nicht aufhöbe, um ein Kind zu hintergehen, indem man es beispielweise durch ein angenehmes Arom über den schlechten einer Arznei zu täuschen suchte, denn der Zwiespalt zwischen den Eindrücken der beiden Sinne ist viel zu groß, als daß es sich alsdann noch hinter das Licht führen ließe. Da der tätige Sinn die Wirkung des anderen aufhebt, so nimmt es die Arznei keineswegs mit geringerem[272] Widerwillen. Dieser Widerwillen erstreckt sich auch auf alle Eindrücke, welche gleichzeitig auf dasselbe ausgeübt werden. So oft nun der schwächste von ihnen wiederkehrt, ruft ihm seine Phantasie auch die anderen zurück; selbst der angenehmste Duft verwandelt sich nun für ihn in einen widerlichen Geruch, und auf diese Weise vergrößern gerade unsere unüberlegten Vorsichtsmaßregeln die Summen der widerlichen Eindrücke auf Kosten der angenehmen.

Es bleibt mir nun noch übrig, in den folgenden Büchern von der Pflege einer Art sechsten Sinnes zu reden, der gewöhnlich der Gemeinsinn (sens commun, sensus communis) genannt wird, weniger wohl deshalb, weil er allen Menschen gemeinsam ist, als vielmehr aus dem Grunde, weil er aus dem richtig geordneten Gebrauch der übrigen Sinne entsteht und uns über die Natur der Dinge durch die Gesamtauffassung aller ihrer einzelnen Erscheinungen belehrt. Diesem sechsten Sinne fehlt infolgedessen ein besonderes Organ, er zeigt nur im Gehirn, und die rein innerlichen Wahrnehmung desselben werden Vorstellungen oder Ideen genannt. Nach der Zahl dieser Ideen läßt sich der Umfang unserer Kenntnisse feststellen. Ihre Deutlichkeit und Klarheit läßt die Schärfe des Verstandes erkennen; die Kunst, sie untereinander zu vergleichen, nennt man die menschliche Vernunft. Folglich besteht das, was ich sensitive oder kindliche Vernunft nenne, in der Bildung einfacher Ideen durch Zusammenfassung mehrerer Eindrücke, während das, was ich intellektuelle oder menschliche Vernunft nenne, in der Bildung zusammengesetzter Ideen durch Zusammenfassung mehrerer einfacher besteht.

Setzten wir also voraus, daß meine Methode die der Natur sei und ich mich in ihrer Anwendung nicht geirrt habe, so haben wir unseren Zögling und durch das Land der sinnlichen Wahrnehmung bis an die Grenzen der kindlichen Vernunft geführt: der erste Schritt darüber hinaus muß ein Mannesschritt sein. Bevor wir uns jedoch[273] mit diesem neuen Wege beschäftigen, laßt uns noch einen Augenblick auf den zurückschauen, den wir bis hierher zurückgelegt haben. Jedes Alter, jeder Zustand des Lebens hat eine Vollkommenheit, die nur ihm entspricht, eine Art Reife, die nur ihm eigentümlich ist. Wir haben oft von einem »fertigen« Manne reden hören; aber laßt uns nun auch einmal ein »fertiges« Kind betrachten. Dieses wird uns neuer und vielleicht nicht weniger angenehm sein.

Das Dasein aller endlichen Wesen ist so arm und so beschränkt, daß wir, sobald wir nur das, was ist, ins Auge fassen, niemals innerlich bewegt werden. Unsere Phantasie zeigt uns die Gegenstände in einer schöneren Gestalt, als sie in Wirklichkeit haben, und wenn sie dem, was auf uns einwirkt, nicht einen Reiz verleiht, so beschränkt sich das geringe Vergnügen, welches und daraus bereitet wird, auf das Organ und läßt das Herz dabei fortwährend kalt. Wenn die Erde mit den Schätzen des Herbstes geschmückt ist, breitet sie einen Reichtum vor uns aus, den unser Auge bewundern muß, aber diese Bewunderung vermag uns nicht innerlich zu bewegen, sie hat ihre Quelle mehr in der Reflexion als in dem Gefühl. Im Frühling dagegen, wo das kahle Feld fast noch jedes Schmuckes entbehrt, wo die Wälder noch keinen Schatten darbieten und das Grün erst hervorzusprossen beginnt, wird das Herz beim Anblick der Natur ergriffen. Wenn man sieht, wie die Natur wieder erwacht, fühlt man sich selbst wieder neu belebt. Ein Bild der Freude umgibt uns. Die Begleiterinnen jeglicher Lust, die süßen Tränen, die stets bereit sind, sich mit jedem Wonnegefühl zu vereinen, hängen schon an unseren Wimpern. Mag der Anblick der Weinlese indes noch so belebt, noch so fröhlich und angenehm sein, so wird man sich ihm doch stets mit trockenem Auge hingeben können.

Woher rührt dieser Unterschied? Daher, daß zu dem Anblick des Frühlings die Phantasie noch den der darauf folgenden Jahreszeiten hinzufügen. Mit den zarten Knospen,[274] welche sich dem Auge darbieten, verbindet sie sofort die Blüten, die Früchte, die Schatten, mitunter auch wohl die Geheimnisse, die letztere bedecken. In einem einzigen Moment vereinigt sie Zeiten, die erst aufeinanderfolgen sollen, und sieht die Gegenstände weniger, wie sie wirklich sein werden, als sie dieselben wünscht, weil es lediglich von ihr abhängt, sie zu wählen. Im Herbst kann man dagegen über das, was vorhanden ist, nicht weiter hinausblicken. Will uns die Phantasie etwa das Bild des Frühlings vorgaukeln, so tritt uns der Winter hemmend entgegen, und die erstarrte Einbildungskraft erstirbt im Schnee und Reif.

Deshalb hat es auch für uns einen ungleichen größeren Reiz, eine schöne Jugend als die Vollkommenheit des reifen Alters zu betrachten. Wann bereitet uns eigentlich der Anblick eines Menschen ein wirkliches Vergnügen? Dann, wenn die Erinnerung an seine Handlungen sein ganzes Leben an unseren Augen vorüberführt und ihn vor uns gleichsam verjüngt. Sehen wir uns dagegen genötigt, ihn in dem Zustand zu betrachten, in welchem er gerade ist, oder ihn uns etwa gar so vorzustellen, wie er im Alter sein wird, so vernichtet die Vorstellung seiner sich ihrem Ende zuneigenden Natur unsere ganze Freunde. Der Anblick eines Menschen, der schnellen Schrittes seinem Grabe zueilt, vermag keine freudige Erregung in uns hervorzurufen, denn das Bild des Todes gibt allem einen häßlichen Anstrich.

Stelle ich mir nun aber ein zehn- oder zwölfjähriges gesundes, kräftiges und für sein Alter wohlgestaltetes Kind vor, so ruft es keinen Gedanken in mir wach, der nicht angenehm wäre, gleichviel, ob er auf die Gegenwart oder auf die Zukunft gerichtet ist. Ich sehe es sprudelnd lebhaft, munter, sorglos, ohne lange und peinliche Voraussicht, nur für die Gegenwart lebend und im Genuß einer Lebensfülle, die auch auf seine ganze Umgebung scheint übergehen zu wollen. Ich stelle es mir dann in einem etwas höheren[275] Lebensalter vor und sehe schon voraus, wie es seine Sinne, seinen Geist und seine Kräfte üben wird, die sich in ihm von Tag zu Tag mehr entfalten und von denen es jeden Augenblick neue Beweise liefert. Ich betrachte es als Kind und es erwirbt sich mein ganzes Wohlgefallen; ich stelle es mir als Mann vor, und mein Wohlgefallen steigert sich noch. Sein heißes Blut scheint mein eigenes wieder zu erwärmen; es kommt mir vor, als ob von seinem Leben neues Leben auf mich überströmte, und sein lebhaftes Wesen macht mich wieder jung.

Die Stunde ist abgelaufen, die Glocke schlägt; welche Veränderung! Augenblicklich trübt sich ein Blick, seine Fröhlichkeit verschwindet. Lebe wohl, Freude, lebt wohl, ihr munteren Spiele! Ein ernster und verdrießlicher ausschauender Mann ergreift es bei der Hand, sagt zu ihm strenge: »Kommen Sie, junger Herr!« und führt es fort. In dem Zimmer, in welches sie hineintreten, erblickte ich Bücher. Bücher! Welch trauriger Zimmerschmuck für sein Alter! Das arme Kind läßt sich fortschleppen, wirft noch einen schmerzlichen Abschiedsblick auf seine Umgebung, schweigt und geht mit Tränen im Auge, die es nicht zu vergießen wagt, und mit einem Herzen voller Seufzer, die es sich furchtsam zurückzuhalten bemüht.

O du, der du nichts Aehnliches zu fürchten hast, du, für den keine Zeit des Lebens eine Zeit der Marter und der Langweile ist, du, der du den Tag ohne Unruhe und die Nacht ohne Ungeduld nahen siehst, und die Stunden nur nach deinen Zerstreuungen zählst, komm, du mein glücklicher, liebenswürdiger Zögling, und tröste uns durch deine Gegenwart über den Fortgang jenes Unglücklichen; komm... er kommt in der Tat, und bei seinem Nahen empfinde ich eine Regung der Freunde, die er augenscheinlich teilt. Es ist ja sein Freund, sein Kamerad, es ist ja der Genosse seiner Spiele, an den er herantritt. Mein Anblick verkündet ihm mit Sicherheit, daß er nicht mehr lange ohne[276] Zeitvertreib sein wird. Niemals hängen wir voneinander ab, aber wir fühlen uns beständig in voller Uebereinstimmung und sind am liebsten unter uns allein.

Seine Gestalt, seine Tracht, seine Haltung verkündigen Sicherheit und Zufriedenheit. Sein Gesicht strotzt von Gesundheit; sein fester Schritt verleiht ihm ein Ansehen von Kraft. Seine Gesichtsfarbe, die bei aller Zartheit doch nichts Kränkliches an sich hat, verrät keine weibliche Schlaffheit. Luft und Sonne haben ihr bereits das ehrenvolle Gepräge seines Geschlechts aufgedrückt; seine noch gerundeten Muskeln fangen allmählich an, festere Gesichtszüge zu zeigen. Seine Augen, die zwar noch nicht vom Feuer des Gefühls belebt sind, haben wenigstens noch ihre ganze ursprüngliche Heiterkeit; noch hat sie kein langanhaltender Gram verdüstert, noch haben keine endlosen Tränen seine Wangen gefurcht. In seinen schnellen, aber sicheren Bewegungen drückt sich die Lebhaftigkeit seines Alters, seine unerschütterliche Entschlossenheit und seine durch vielfache Uebungen erworbene Erfahrung aus. Trotz seines offenen und freien Wesens ist er weder anmaßend noch eitel. Sein Kopf, den man nicht gezwungen hat, sich fortwährend über Bücher zu bücken, sinkt ihm nicht bis auf die Brust hinab; man braucht ihn nicht beständig zu erinnern; »Hebe den Kopf in die Höhe!« da er ihn weder aus Scham noch aus Furcht je hat senken müssen.

Räumen wir ihm einen Platz in der Gesellschaft ein! Prüfen Sie ihn, meine Herren, fragen Sie ihn ohne Scheu. Sie können unbesorgt sein, er wird sie weder mit Zudringlichkeit noch mit Schatzhaftigkeit noch unbescheidenen Fragen belästigen. Fürchten Sie nicht, daß er sich Ihrer bemächtigen und verlangen werde, Sie sollten sich ausschließlich mit ihm allein beschäftigen, und daß sie ihn nicht wieder loswerden könnten.

Erwarten Sie aber von ihm auch keine schönen Redensarten, oder daß er Ihnen zum besten gebe, was ich ihm in[277] den Mund gelegt habe; erwarten Sie nur naive und einfache Wahrheit, ohne Ausschmückung, ohne Künstelei, ohne Eitelkeit. Er wird Ihnen das Böse, das er begangen oder gedacht hat, mit demselben Freimut eingestehen, mit welchem er Ihnen seine guten Handlungen und Gedanken erzählt, ohne sich auch nur im geringsten um den Eindruck zu kümmern, den seine Mitteilungen auf sie machen könnten. Er wird in die Worte denselben einfachen Sinn hineinlegen, der ihnen anfangs beigelegt ist.

Man hegt gewöhnlich von den Kindern eine günstige Meinung und muß es bei den zahllosen Albernheiten, die fast immer die Hoffnungen wieder zerstören, welche man an einige zufällig ihnen entschlüpfte glückliche Gedanken geknüpft hatte, beständig bedauern. Wenn nun mein Zögling selten zu solchen Hoffnung berechtigt, so wird er dafür auch niemals dieses Bedauern hervorrufen, denn niemals sagt er ein unnützes Wort und erschöpft sich nicht in einem Geschwätz, von dem er doch weiß, daß niemand darauf hört. Seine Ideen sind beschränkt, aber klar. Weiß er nichts auswendig, so weiß er dafür viel aus Erfahrung; liest er unsere Bücher weniger gut als ein anderes Kind, so versteht er desto besser in dem Buch der Natur zu lesen. Sein Geist liegt nicht auf seiner Zunge, sondern wohnt in seinem Kopf. Er besitzt weniger Gedächtnis als Urteilskraft; er spricht nur eine einzige Sprache, versteht aber auch, was er sagt, und wenn er es auch nicht so gut sagt wie andere, so ist er dafür in tun gewandter als sie.

Er weiß nicht, was Routine, Herkommen, Gewohnheit ist. Was er gestern getan, hat keinen Einfluß auf sein heutiges Tun.76 Er folgt nie einer Formel, gestattet weder[278] der Autorität noch dem Beispiel einen Einfluß und handelt und spricht nur nach eigenem Gefallen. Erwartet deshalb von ihm weder eingelernte Reden noch einstudierte Manieren, aber beständig den treuen Ausdruck seiner Ideen und ein Betragen, welches in seinen Neigungen wurzelt.

Ihr werdet finden, daß er nur eine geringe Zahl moralischer Begriffe besitzt, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, dagegen keine über das gegenseitige Verhältnis der Menschen untereinander; wozu sollten ihm dieselben auch dienen, da ja ein Kind noch kein tätiges Glied der Gesellschaft ist? Redet mit ihm von Freiheit, Eigentum, sogar von Verträgen – bis dahin geht noch sein Verständnis. Er weiß, weshalb das seinige ihm gehört, und weshalb das, was nicht das Seinige ist, ihm nicht gehört. Darüber hinaus weiß er aber nichts mehr. Redet zu ihm von Pflicht, von Gehorsam, so weiß er nicht, was ihr damit sagen wollt; befehlt ihm etwas, so wird er euch nicht verstehen. Sagt ihr jedoch zu ihm: »Wenn du mir diesen Gefallen erwiesest, würde ich dir bei passender Gelegenheit Gleiches mit Gleichem vergelten,« so wird er sich sofort beeilen, eurer Ausforderung nachzukommen, denn er kennt keinen höheren Wunsch, als sein Machtgebiet auszudehnen und sich Rechte an euch zu erwerben, die in seinen Augen unverletzlich sind. Vielleicht ist es ihm auch gar nicht unlieb, eine gewisse Stellung einzunehmen, mitgezählt zu werden und etwas zu gelten. Bestimmt ihn indes dieser letztere Beweggrund in der Tat, so hat er freilich die Grenzen der Natur bereits überschritten, und ihr habt ihm vorher die Tore der Eitelkeit nicht gut genug versperrt.[279]

Bedarf er seinerseits irgendeines Beistandes, so wird er ihn vom ersten besten, der ihm in den Wurf kommt, erbitten: vom König ebensogut wie von seinem Diener. Noch sind in seinem Augen alle Menschen gleich. An der Form einer Bitte bemerkt ihr sogleich, daß er sich dessen bewußt ist, niemand habe ihm gegenüber eine Verpflichtung; er weiß, daß die Erfüllung seines Verlangens eine Gefälligkeit ist. Er weiß aber auch, daß die Menschlichkeit zur Bewilligung seiner Bitte drängt. Seine Ausdrücke sind einfach und lakonisch. Seine Stimme, sein Blick, seine Gebärden verraten, daß er sowohl an Erhörung als an Verweigerung gewöhnt ist. Es spricht sich in seinem Benehmen weder die kriechende und knechtische Unterwürfigkeit eines Sklaven aus, noch redet er in dem gebieterischen Ton eines Herrn, sondern es prägt sich in ihm ein bescheidenes Zutrauen zu seinesgleichen, die edle und rührende Güte eines freien, aber empfindenden und schwachen Wesens aus, welches den Beistand eines ebenso freien, aber starken und wohlwollenden Wesens erbittet. Wenn ihr seine Bitte erfüllt, so wird er euch nicht danken, aber er wird fühlen, daß er in eurer Schuld steht. Schlagt ihr sie ihm ab, so wird er sich nicht beklagen, nicht darauf bestehen, weil er doch weiß, daß dies vergeblich wäre. Er wird nicht zu sich sagen: »Man hat mir meine Bitte verweigert,« sondern er wird sich sagen: »Es konnte nicht sein,« und wie ich schon gesagt habe, man lehnt sich gegen eine Notwendigkeit, die man einmal als richtig erkannt hat, nicht auf.

Laßt ihn in der Freiheit allein; seht zu, wie er handelt ohne ihm etwas zu sagen; beobachtet, was er tut und wie er sich dabei benehmen wird. Da er nicht erst den Beweis zu liefern braucht, daß er auch wirklich frei ist, so tut er auch nichts aus bloßem Leichtsinn und nur zu dem Zweck, einmal einen Akt seines freien Willens auszuüben, weiß er es doch sehr wohl, daß er stets sein eigener Herr ist. Er ist munter, gewandt behend; in seinen Bewegungen drückt[280] sich die ganze Lebhaftigkeit seines Alters aus, aber ihr werdet keine einzige bemerken, welche zwecklos wäre. Was er auch immer tun mag, nie wird er etwas unternehmen, was seine Kräfte überstiege, da er sie erprobt hat und genau kennt. Seine Mittel werden sich stets seinen Zwecken anpassen, und selten wird er handeln, ohne des Erfolgs gewiß zu sein. Sein Auge ist aufmerksam und scharf; er wird nicht ratlos zu den anderen umherlaufen und sie über alles, was er erblickt, befragen, sondern er wird es selbst untersuchen und sich, ehe er danach fragt, Mühe geben, das, was er wissen will, selbst zu finden. Gerät er in unvorhergesehene Verlegenheiten, so wird er sich weniger als ein anderer beunruhigen; ist Gefahr damit verbunden, so wird er ebenfalls weniger erschrecken. Da seine Einbildungskraft noch in Untätigkeit verharrt, und man nichts getan hat, dieselbe zu erregen, so sieht er nur, was wirklich vorhanden ist, schätzt die Gefahr richtig und behält immer kaltes Blut. Die Notwendigkeit hat ihm zu oft ihre Gewalt gezeigt, als daß er noch gegen sie ankämpfen sollte. Er trägt ihr Joch von seiner Geburt an, ist deshalb vollkommen daran gewöhnt und stets auf alles gefaßt.

Ob er sich beschäftigt oder belustigt, gilt ihm gleich. Seine Spiele sind seine Beschäftigungen; er kennt zwischen ihnen keinen Unterschied. An alles, was er unternimmt, geht er mit einem Interesse, welches uns ein Lächeln abnötigt, und mit einer Freiheit, die uns wohltuend berührt, da sich uns darin zugleich die Richtung seines Geistes wieder Umfang seiner Kenntnisse kundgibt. Ist nicht der Anblick dieses Alters ein liebliches Schauspiel? Ist es nicht reizend, ein hübsches Kind zu sehen mit lebhaftem und munterem Auge, zufriedener heiterer Miene, offenem lachenden Gesicht, das unter seinen Spielen die ernstesten Sachen verrichtet oder unbedeutende Spielereien mit dem größten Eifer betreibt?

Habt ihr Lust, ihn nun auch nach einem Vergleich mit[281] anderen zu beurteilen? Bringet ihn in einen Kreis anderer Kinder und laßt ihn gewähren. Ihr werdet bald sehen, welches das wahrhaft gebildetste ist und sich der Vollkommenheit dieses Alters am meisten nähert. Unter den Stadtkindern ist keines gewandter als er; aber er übertrifft sie alle an Stärke. Mit den Bauernkinder nimmt er es an Stärke auf, während er ihnen an Gewandtheit überlegen ist. Ueber alles, was nicht über die kindliche Fassungskraft hinausgeht, schließt, urteilt und sieht er besser voraus als sie alle. Gilt es, etwas zu unternehmen, zu laufen, zu springen, schwere Gegenstände aus dem Weg zu schaffen, Wasser aufzuheben, Entfernungen zu schätzen, Spiele zu erfinden, Preise davonzutragen, dann gewinnt es fast den Anschein, als ob sich die Natur seinen Befehlen füge, so leicht weiß er alles seinem Willen zu unterwerfen. Er ist zur Leitung und Führung seiner Spielgefährten wie geschaffen; das dazu nötige Recht und die Autorität werden bei ihm durch Talent und Erfahrung ersetzt. Gebt ihm jedes beliebige Kleid, jeden beliebigen Namen, darauf kommt wenig an, er wird sich doch überall zum Führer, zum Haupte der anderen aufwerfen; sie werden stets seine Ueberlegenheit herausfühlen. Ohne befehlen zu wollen, wird er der Herr sein; und sie werden, ohne sich darüber klar zu werden, gehorchen.

Er ist zur Reife der Kindheit gelangt; er hat das Leben eines Kindes gelebt und seine Vollkommenheit nicht auf Kosten seines Glückes erkauft; sie haben sich vielmehr beide miteinander und durcheinander entwickelt. Während seine Verstandeskräfte allmählich bis zu dem Grade, der seinem Alter angemessen ist, ausgebildet sind, war er so glücklich und frei, wie seine Lage es gestattete. Sollte die Blüte unserer auf ihn gesetzten Hoffnung durch die Sichel des Todes dahingerafft werden, so werden wir nicht gleichzeitig sein Leben und seinen Tod zu beweinen haben und unsere Schmerzen nicht noch durch die Erinnerung an diejenigen[282] erhöhen müssen, die wir ihm bereitet haben; wir werden uns sagen können: »Wenigstens hat er seine Jugend genossen; durch unsere Schuld ist ihm nichts von allem entzogen worden, was ihm die Natur verliehen hatte.«

Diese erste Erziehung führt freilich den großen Uebelstand mit sich, daß nur scharfblickenden Menschen der Vorteil derselben einleuchtend ist, während gewöhnliche Augen in einem mit so großer Sorgfalt erzogenen Kinde nur einen Schlingel erblicken. Ein Lehrer hat sein eigenes Interesse stets mehr im Auge das seines Schülers. Er läßt es sich angelegen sein, den Nachweis zu führen, daß er seine Zeit nicht verliere, und daß er das Geld, welches man ihm zahlt, wohl verdiene. Die Kenntnisse, die er ihm beibringt, lassen sich leicht auskramen und, so oft man will, in Parade vorführen; es verschlägt dabei wenig, ob das, was er ihn lehrt, auch nützlich ist, wenn es sich nur leicht bemerkbar macht. Ohne Wahl und Unterschied häuft er hunderterlei Dummheiten in seinem Gedächtnis auf. Handelt es sich dann um eine Prüfung des Kindes, so läßt man es seine Ware auskramen; es prunkt mit seinem Wissen, man ist zufrieden, und dann packt es seinen Ballen wieder zusammen und geht. So reich ist mein Zögling freilich nicht, er kann keine Waren zur Schau auslegen, er hat nichts aufzuweisen als sich selbst. Allein ein Kind läßt sich ebensowenig als ein Erwachsener in einem Augenblick durchschauen. Wo wäre wohl die Beobachter, welche die Züge, die es gerade charakterisieren, auf den ersten Blick aufzufassen vermöchten? Es gibt solche, aber nur wenige; und von hunderttausend Vätern gehört vielleicht noch nicht ein einziger in diese Klasse.

Ein endloses Ab- und Ausfragen ist jedermann, besonders aber jedoch den Kindern, langweilig und widerwärtig. Schon nach Verlauf weniger Minuten ermattet ihre Aufmerksamkeit, sie hören schließlich gar nicht mehr auf das, wonach ein hartnäckiger Examinator fragt und antwortet[283] nur noch auf gut Glück. Diese Art, sie zu prüfen, ist unnütz und pedantisch; oft enthüllt uns ein einziges, ihnen unwillkürlich entschlüpftes Wort ihren Verstand und Geist besser, als es lange Unterredung tun könnten; indes muß man darauf achtgeben, daß ihnen dieses Wort nicht bloß in den Mund gelegt oder etwas Zufälliges ist. Man muß selbst eine seine Urteilskraft besitzen, um die eines Kindes richtig schätzen zu können.

Ich habe den verstorbenen Lord Hyde erzählen hören, daß einer seiner Freunde, der nach einer Abwesenheit von drei Jahren aus Italien zurückgekehrt war, die Fortschritte seines Sohnes, eines neun- bis zehnjährigen Knaben, prüfen wollte. Eines Abends geht er mit diesem und seinem Lehrer auf einem ebenen Felde, auf dem sich Schüler damit belustigen, Papierdrachen steigen zu lassen, spazieren. Plötzlich sagt der Vater ganz beiläufig zum Sohne: »Wo mag wohl der Drache stehen, dessen Schatten wir hier sehen?« Ohne zu stocken, ohne nur den Kopf zu erheben, antwortet das Kind: »Ueber der Landstraße.« Und in der Tat, setzte Lord Hyde hinzu, befand sich die Landstraße zwischen der Sonne und uns. Auf dieses Wort umarmte der Vater seinen Sohn und ging, indem er damit die Prüfung schloß, ohne ein Wort zu sagen, fort. Am folgenden Morgen schickte er dem Erzieher eine Anweisung auf eine lebenslängliche Pension außer seinem festen Gehalt.

Was für ein Mann, dieser Vater! Und zu welchen Hoffnungen berechtigte solch ein Sohn!77 Die soeben angeführte Frage ist gewiß dem Alter ganz angemessen, und die Antwort ist sehr einfach, aber man erwäge, welche Klarheit der kindlichen Beurteilungskraft sie voraussetzt! In ähnlicher Weise bändigte der Zögling des Aristoteles jenes berühmte Pferd, welches kein Bereiter hatte zügeln können.[284]

Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 1, Leipzig [o.J.], S. 97-285.
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