Viertes Buch

[3] Wie schnell verstreicht doch unser Erdenleben! Das erste Viertel ist verflossen, noch ehe man es anzuwenden versteht, und das letzte Viertel vergeht, nachdem man bereits aufgehört hat, es zu genießen. Anfangs verstehen wir noch nicht zu leben, bald sind wir es nicht mehr imstande, und in dem Zwischenraum, welcher diese beiden nutzlosen Endpunkte voneinander trennt, werden drei Viertel der Zeit, die uns noch bleibt, mit Schlaf, Arbeit, Schmerz, Zwang und Mühen aller Art hingebracht. Das Leben ist kurz, weniger infolge der kurzen Zeitdauer, als vielmehr weil uns von derselben fast keine zu ihrem Genuß übrigbleibt. Mag der Augenblick des Todes von dem der Geburt auch noch so fern sein, so ist und bleibt das Leben doch immer viel zu kurz, wenn dieser Zwischenraum schlecht ausgefüllt wird.

Gewissermaßen werden wir zweimal geboren, das eine Mal zum Dasein, das andere Mal zum Leben; das eine Mal für die Gattung, das andere Mal für das Geschlecht. Obwohl diejenigen, welche das Weib für einen unvollkommenen Menschen halten, ohne Zweifel unrecht haben, so können sie sich doch auf die äußere Analogie berufen. Bis zum Alter der Mannbarkeit unterscheiden sich die Kinder beiderlei Geschlechts in keiner auffallenden Weise voneinander. Dieselbe Gesichtsbildung, dieselbe Gestalt, dieselbe[3] Hautfarbe, dieselbe Stimme – kurz alles ist gleich. Die Mädchen sind Kinder, die Knaben sind Kinder; der nämliche Namen reicht zur Bezeichnung so ähnlicher Wesen aus. Männliche Personen, derer völlige geschlechtliche Entwicklung verhindert wurde, behalten diese übereinstimmenden Merkmale ihr ganzes Leben lang. Sie bleiben stets große Kinder, und Frauen scheinen, da sie die nämlichen Merkmale nie verlieren, in vieler Hinsicht nie etwas anderes zu sein.

Doch im allgemeinen ist der Mann nicht dazu geschaffen, um für immer auf der Stufe der Kindheit stehenzubleiben. In einer von der Natur vorgeschriebenen Zeit tritt er aus derselben heraus. So kurz nun dieser entscheidende Moment auch sein möge, so übt er doch auf lange Zeit einen hervorragenden Einfluß aus.

Wie das Brausen des Meeres dem Sturm schon lange vorangeht, so meldet sich auch dieser unter Stürmen vor sich gehende Umschwung schon zeitig durch die immer stärker werdende Stimme der erwachenden Leidenschaften an. Eine dumpfe Gärung kündigt die Annäherung der Gefahr an. Ein fortwährender Wechsel der Gemütsstimmung, häufige Aufwallungen, eine unaufhörliche geistige Aufgeregtheit versetzen das Kind in einen fast unlenkbaren Zustand. Es wird taub gegen die Stimme, auf die es sonst willig gelauscht hatte; es gleicht einem fieberhaft erregten Löwen. Es will seinen Führer nicht mehr kennen, will sich keiner Leitung mehr unterwerfen.

Zu den moralischen Anzeichen einer sich verschlimmernden Gemütsstimmung treten noch sichtliche Veränderungen in seiner körperlichen Beschaffenheit hinzu. Seine Physiognomie nimmt festere Züge an und es prägt sich auf ihr allmählich ein bestimmter Charakter aus. Dunkler und dichter wird der spärliche und weiche Flaum, der auf dem unteren Teile seiner Wange hervorsproßt; seine Stimme wechselt oder es verliert dieselbe vielmehr. Es ist weder Kind noch Mann, und ist weder imstande, den Ton des[4] einen noch den des anderen anzunehmen. Seine Augen, diese Organe der Seele, die bisher nichtssagend waren, erhalten Sprache und Ausdruck. Ein plötzlich aufflammendes Feuer belebt sie; ihre jetzt lebhafteren Blicke reden zwar noch die Sprache einer heiligen Unschuld, verraten aber nicht mehr ihre anfängliche Einfalt. Der Knabe trägt schon das Gefühl in sich, daß sie zuviel sagen können, und beginnt sie niederzuschlagen und zu erröten. Er wird gefühlvoll, bevor er sich noch bewußt wird, was er eigentlich fühlt. Er wird unruhig, ohne daß er Grund dazu hat. Alle diese Erscheinungen können sich langsam einstellen und euch noch hinreichende Zeit gewähren. Wenn aber seine Lebhaftigkeit Ungeduld verrät, wenn sein Aufbrausen einen leidenschaftlichen Charakter annimmt, wenn er in einem Augenblick zornig auffährt und sich seiner im nächsten Augenblicke eine weiche Stimmung bemächtigt, wenn er ohne Ursache Tränen vergießt; wenn ihm in der Nähe derer, die ihm jetzt gefährlich zu werden beginnen, sein Puls schneller schlägt und sein Auge sich entflammt, wenn er zusammenschaudert, sobald sich die Hand einer Frau auf die seinige legt; wenn er in der Nähe eines weiblichen Wesens unruhig oder schüchtern wird: dann Ulysses, weiser Ulysses, sei auf deiner Hut! Die Schläuche, welche du mit so großer Sorgfalt verschlossen hieltest, sind bereits geöffnet; die Winde sind schon entfesselt; verlasse nun keinen Augenblick mehr das Steuerruder, oder alles ist verloren.

Jetzt findet diese zweite Geburt statt, von welcher ich geredet habe; jetzt wird der Mensch erst wirklich zum Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm mehr fremd. War unsere Sorgfalt bisher nur ein Kinderspiel gewesen, so wird sie jetzt von äußerster Wichtigkeit. Diese Epoche, in welcher für gewöhnlich die Erziehung ein Ende zu nehmen pflegt, ist gerade diejenige, in welcher die unsrige erst recht ihren Anfang nehmen soll. Um diesen neuen Plan jedoch anschaulich entwickeln zu können, müssen wir uns auf einen[5] höheren Standpunkt versetzen und einen Augenblick bei dem verweilen, was damit in Beziehung steht.

Unsere Leidenschaften dienen als die Hauptwerkzeuge unserer Erhaltung; der Versuch, sie auszurotten, ist folglich ein ebenso vergebliches als lächerliches Untersagen. Das hieße die Natur meistern und an das Werk Gottes die bessernde Hand legen. Wenn Gott in der Tat von dem Menschen die Ertötung der Leidenschaften, die er ihm erst selbst eingepflanzt hat, verlangte, so würde er wollen und auch nicht wollen; er würde mit sich selbst in Widerspruch treten. Niemals hat er aber diesen unvernünftigen Befehl erteilt, nichts dem Aehnliches ist dem Menschen in das Herz geschrieben. Was der Mensch nach dem Willen Gottes tun soll, läßt er ihm nicht durch einen anderen Menschen sagen, er sagt es ihm selbst, er schreibt es ihm tief in das Herz hinein.

Wer das Erwachen der Leidenschaften verhüten wollte, würde mir fast ebenso töricht vorkommen wie derjenige, der sie ertöten wollte; und wer die Ansicht hegen sollte, daß dies bisher meine Absicht gewesen sei, würde mich sicherlich ganz falsch verstanden haben.

Würde er indes nun wohl eine richtige Folgerung sein, wenn man aus dem Umstande, daß Leidenschaften eine Mitgift der Natur sind, schließen wollte, daß alle Leidenschaften, welche wir in uns fühlen und an anderen bemerken, deshalb auch natürlich seien? Die einzige Wahrheit liegt darin, daß ihre Quelle natürlich ist, aber tausend fremde Zuflüsse haben sie angeschwellt. Sie bilden einen mächtigen Strom, der unaufhörlich wächst, und in dem man kaum noch einige Tropfen seines ursprünglichen Wassers wiederfinden würde. Unsere natürlichen Leidenschaften sind sehr beschränkt; sie dienen als Werkzeuge unserer Freiheit und haben die Aufgabe, für unsere Erhaltung zu sorgen. Allein alle diejenigen, welche uns beherrschen und verzehren, haben ihre Quelle außer uns. Die Natur gibt sie uns nicht, sondern wir eignen sie uns zum Nachteil derselben an.[6]

Die Quelle unserer Leidenschaften, der Anfang und die Grundursache aller übrigen, die einzige, die mit dem Menschen geboren wird und ihn nie verläßt, solange er lebt, ist die Selbstliebe, diese primitive, angeborene, jeder anderen vorausgehende Leidenschaft, von welcher alle übrigen in gewissem Sinn nur Modifikationen sind. In diesem Sinn sind freilich alle, wenn man will, natürlich. Aber der größte Teil dieser Modifikationen hat fremde Ursachen, ohne welche sie sich niemals zeigen würden, und ebendiese Modifikationen sind so weit davon entfernt, uns zum Nutzen zu gereichen, daß sie uns vielmehr geradezu Schaden zufügen; sie verändern ihren ursprünglichen Zweck und treten mit ihrem eigenen Ursprung in Widerstreit. Dann verläßt der Mensch die Bahn der Natur und gerät mit sich selbst in Widerspruch.

Die Selbstliebe ist immer gut, immer der Ordnung gemäß. Da jedem ganz besonders die Pflicht der Selbsterhaltung auferlegt ist, so ist und muß es auch eines jeden erste und wichtigste Sorge sein, unaufhörlich über dieselbe zu wachen. Wie würde er es aber wohl über sich gewinnen, in dieser Weise darüber zu wachen, wenn er nicht das größte Interesse daran hätte?

Zu unserer Erhaltung bedürfen wir deshalb der Selbstliebe, ja, wir müssen uns mehr als alles andere lieben, und in unmittelbarer Folge dieses Gefühls lieben wir auch alles, was zu unserer Erhaltung nötig ist. Jedes Kind hängt an seiner Amme, Romulus mußte an der Wölfin hängen, die ihn gesäugt hatte. Beim Beginn tritt diese Anhänglichkeit rein mechanisch auf. Was auf das Wohlsein eines Individuums günstig einwirkt, zieht dasselbe an; was ihm schädlich ist, stößt es ab. Darin spricht sich nur ein blinder Instinkt aus. Erst die augenscheinliche Absicht, uns zu schaden oder zu nützen, verwandelt diesen Instinkt in Empfindung, die Anhänglichkeit in Liebe, die Abneigung in Haß. Wir fühlen uns nicht zu unempfindlichen Wesen[7] hingezogen, die nur dem Impulse folgen, welchen wir ihnen geben; diejenigen aber, von denen wir nach ihrer inneren Neigung, nach ihrer Willensrichtung Gutes oder Böses erwarten, diejenigen, die wir aus freiem Entschluß für oder wider uns handeln sehen, flößen uns dieselben Gefühle ein, die sie gegen uns zeigen. Wer uns nützlich ist, den suchen wir auf, wer uns aber nützen will, den lieben wir. Wir fliehen den, welcher uns schädlich ist, hassen aber den, welcher uns schaden will.

Selbstliebe ist das erste Gefühl eines Kindes; das zweite, welches diesem entspringt, ist die Liebe zu denen, welche seine Umgebung bilden, denn in dem Zustande der Schwäche, in welchem sich dasselbe befindet, lernt es einen jeden nur durch den Beistand und die Sorgfalt, die ihm zuteil wird, kennen. Anfänglich ist die Anhänglichkeit, die es an seine Amme und seine Wärterin hat, nichts anderes als Gewohnheit. Es trägt nach ihnen Verlangen, weil es ihrer bedarf und sich bei ihnen wohlbefindet. Man kann hier eher von einer Bekanntschaft mit ihnen als von einer wirklich erwachten Zuneigung zu ihnen reden. Es wird noch lange Zeit darüber hingehen, bis es zu der Einsicht gelangt, daß sie ihm nicht nur nützlich sind, sondern auch sein wollen, und erst dann beginnt es sie zu lieben.

Ein Kind ist also von Natur zur Anhänglichkeit geneigt, weil es bemerkt, daß jeder, der sich ihm naht, darauf bedacht ist, ihm Beistand zu leisten, und weil sich infolge dieser Beobachtung die Gewohnheit in ihm bildet, auch seinerseits, gegen seinesgleichen eine freundliche Gesinnung zu zeigen. Aber in dem Maße, wie sich seine Beziehungen, seine Bedürfnisse, seine aktive und passive Abhängigkeit erweitern, erwacht in ihm auch das Gefühl von den Verhältnissen, in welchen es zu anderen steht, und ruft zugleich das Bewußtsein seiner Pflichten und der ihm zustehenden Rechte hervor. Infolgedessen wird das Kind befehlshaberisch, eifersüchtig, betrügerisch, rachgierig. Verlangt man von ihm Gehorsam,[8] obwohl es den Nutzen dessen, was man ihm befiehlt, nicht einzusehen vermag, so schreibt es die ihm erteilten Befehle der Laune, der Absicht es zu quälen zu, und wird sich nur widerwillig fügen. Zeigt man sich jedoch ihm gegenüber stets nachgiebig, so wird es, sobald ihm etwas widersteht, darin eine offene Auflehnung, eine Absicht, ihm Widerstand zu leisten, erblicken; es wird den Stuhl oder Tisch schlagen, weil sie ihm nicht gehorcht haben. Der Selbstliebe, deren Objekt ausschließlich wir selbst bilden, geschieht durch Befriedigung unserer wahren Bedürfnisse volles Genüge; die Eigenliebe dagegen, welche Vergleichungen macht, ist nie zufriedengestellt und kann es nie sein, weil dies Gefühl, welches uns in unseren eigenen Augen den Vorrang vor allen anderen sichert, den Anspruch erhebt, daß auch diese uns den Vorrang vor sich einräumen, was unmöglich ist. Die sanften und guten Leidenschaften haben ihre Quelle in der Selbstliebe, die dem Haß und Zorn dienenden dagegen in der Eigenliebe. Folglich macht der Besitz weniger Bedürfnisse und die Enthaltung aller Vergleiche der eigenen Verhältnisse mit denen anderer den Menschen wesentlich gut, während der Besitz vieler Bedürfnisse und die unaufhörliche Rücksichtsnahme auf fremde Meinungen ihn wesentlich schlecht macht. Nach diesem Grundsatz ist leicht ersichtlich, wie man alle Leidenschaften der Kinder wie der Erwachsenen zum Guten oder zum Bösen zu lenken vermag. Es ist leider wahr, daß sie, da sie nicht immer für sich allein leben können, auch schwerlich immer gut leben werden; ja diese Schwierigkeit muß sich sogar mit der Zunahme ihrer Verbindungen noch steigern, und gerade aus diesem Grunde machen die Gefahren der Gesellschaft Kunst und Sorgfalt nur um so unerläßlicher, um der Verderbnis des menschlichen Herzens, die in seinem neuen Bedürfnissen ihre Wurzel hat, vorzubeugen.

Das Studium, welches dem Menschen am meisten entspricht, ist das seiner Beziehungen. Solange er sich nur[9] seinem physischen Wesen nach kennt, muß er danach trachten, sich in bezug auf seine Beziehungen zu den Dingen kennen zu lernen. Diese Aufgabe fällt ihm in seiner Kindheit zu. Sobald er sich dagegen seines moralischen Wesens bewußt zu werden beginnt, muß es sein Bestreben sein, sich in bezug auf seine Beziehungen zu den Menschen kennen zu lernen, und dies ist, von dem Zeitpunkt an gerechnet, bis zu welchem wir nun gelangt sind, die Aufgabe seines ganzen Lebens.

Sobald in dem Manne das Bedürfnis nach einer Gefährtin erwacht, ist er kein alleinstehendes Wesen mehr, gehört ihm sein Herz nicht mehr allein. Alle Beziehungen zu seiner Gattung, alle Gefühle seiner Seele entstehen gleichzeitig mit diesem. Seine erste Leidenschaft bringt bald alle übrigen in Gärung.

Die bloß instinktive Neigung ist unbestimmt. Ein Geschlecht fühlt sich zu dem anderen hingezogen; darin spricht sich der Trieb der Natur aus. Eine bestimmte Wahl, eine besondere Bevorzugung, eine persönliche Zuneigung sind das Werk der Einsichten, der Vorurteile, der Gewohnheit. Wir brauchen Zeit und Kenntnisse, um für die Liebe empfänglich zu werden. Ein festes Urteil geht der Liebe, eine angestellte Vergleichung einer eingeräumten Bevorzugung vorauf. Solche Urteile bilden sich unbewußt, aber sie sind deshalb nicht weniger wirklich. Die wahre Liebe wird, man sage, was man wolle, von den Menschen stets in Ehren gehalten werden, denn wiewohl uns ihr ungestümes Auftreten auf Irrwegen zuführen vermag, wiewohl sie nicht imstande ist, von dem Herzen, das sie fühlt, alle hassenswerten Eigenschaften fernzuhalten, ja sogar dergleichen hervorrufen kann, so setzt sie demungeachtet immer höchst schätzenswerthe Eigenschaften voraus, ohne welche man überhaupt unfähig wäre, Liebe zu fühlen. Die Wahl, welche mit der Vernunft scheinbar im Widerspruche steht, ist gleichwohl das Resultat derselben. Gerade deswegen, weil die Liebe schärfere Augen hat als wir und Beziehungen auffindet,[10] die wir nicht zu entdecken imstande sind, hat man ihr das Attribut der Blindheit gegeben. Demjenigen, welcher keinen Begriff von Wert oder Schönheit hätte, würden alle Frauen gleich gut erscheinen, und die erste, mit welcher er in Berührung träte, würde ihm auch stets die liebenswürdigste sein. Weit entfernt, daß die Liebe ihre Quelle in der Natur findet, ist sie vielmehr die Richtschnur und der Zügel der natürlichen Neigungen. In ihr liegt die Ursache, daß mit Ausnahme des geliebten Gegenstandes ein Geschlecht für das andere seine Bedeutung verliert.

Der Vorzug, welchen wir einräumen, wird nun aber auch von uns in Anspruch genommen. Die Liebe muß gegenseitig sein. Um Liebe zu gewinnen, muß man sich liebenswürdig machen; um den Vorzug zu erlangen, muß man sich liebenswürdiger als ein anderer, liebenswürdiger als jeder andere machen, wenigstens in den Augen des geliebten Gegenstandes. Darin liegt die Ursache, daß wir uns nach unseresgleichen umzusehen und mit denselben zu vergleichen beginnen, darin liegt die Ursache des Wetteifers, der Nebenbuhlerschaft und der Eifersucht. Ein Herz voll überfließender Liebe wünscht sich mitzutheilen. Das Bedürfniss nach einer Geliebten ruft bald das nach einem Freunde hervor. Wer da fühlt, wie süß es ist, sich geliebt zu sehen, möchte von aller Welt geliebt sein; wenn aber alle einen Vorzug beanspruchen, kann es nicht ausbleiben, daß sich bei vielen Unzufriedenheit zeigt. Mit der Liebe und Freundschaft stellen sich gleichzeitig Zwistigkeiten, Feindschaft und Haß ein. Ich sehe, wie sich aus dem Schoße so vieler verschiedener Leidenschaften das Vorurteil einen unerschütterlichen Thron errichtet, und wie die Sterblichen, die sich seiner Herrschaft unterwerfen, in ihrem Stumpfsinn ihre eigene Existenz nur auf fremdes Urteil gründen.

Führt diese Ideen weiter aus und ihr werdet sehen, was unserer Eigenliebe die Form verliehen hat, welche wir für ihre natürliche halten, und wie die Selbstliebe dadurch,[11] daß sie aufhört ein absolutes Gefühl zu sein, bei großen Seelen in Stolz, die kleinen in Eitelkeit ausarten, bei allen sich aber stets auf Kosten des nächsten nährt. Da Leidenschaften dieser Art ihren Keim nicht in dem Herzen der Kinder haben, so können sie in demselben auch nicht von selbst entstehen. Wir allein verpflanzen sie dahin, und nur durch unsere Schuld schlagen sie darin Wurzel. Aber mit dem Herzen eines jungen Mannes verhält es sich nicht mehr in gleicher Weise; in diesem werden sie aller unserer Gegenbemühungen ungeachtet sich entwickeln. Es ist folglich Zeit, eine Aenderung in der Methode eintreten zu lassen.

Wir wollen mit einigen wichtigen Betrachtungen über den kritischen Zustand, um den es sich hier handelt, beginnen. Der Uebergang von der Kindheit zur Pubertät ist von der Natur nicht so genau bestimmt, daß sich nicht bei den einzelnen infolge der Verschiedenheit ihrer Temperamente und wieder bei ganzen Völkern infolge der besonderen Klimate Abweichungen zeigten. Jedermann kennt die Verschiedenheiten, welche man in bezug auf diesen Punkt zwischen den heißen und kalten Ländern beobachtet hat, und jeder kann sich davon überzeugen, daß bei feurigen Temperamenten eine frühzeitigere Entwicklung stattfindet als bei anderen. Allein hinsichtlich der Ursachen kann man sich Täuschungen hingeben und dem Physischen oft das zuschreiben, wofür das Moralische die Beantwortung tragen muß. In diesen Irrtum verfällt gerade sehr häufig die Philosophie unseres Jahrhunderts. Der Unterricht, welchen die Natur erteilt, nimmt erst spät seinen Anfang und schreitet nur langsam fort, derjenige aber, welchen wir den Menschen verdanken, ist fast regelmäßig verfrüht. Im ersteren Fall erwecken die Sinne die Einbildungskraft, im letzteren erweckt dagegen die Einbildungskraft die Sinne; sie versetzt dieselben vor der richtigen Zeit in Tätigkeit, ein Umstand der notwendigerweise zunächst die einzelnen Individuen, dann aber auch die Gattung selbst dauernd[12] entnerven und schwächen muß. Eine noch allgemeinere und zuverlässigere Beobachtung als die hinsichtlich des Einflusses der Klimate lehrt uns, daß die Pubertät und die geschlechtliche Reife bei gebildeten und zivilisierten Völkern stets früher eintritt als bei ungebildeten und rohen Völkern.96 Die Kinder haben einen ganz merkwürdigen Scharfsinn, unter der angenommenen Maske der Wohlständigkeit die Sittenlosigkeit zu erkennen, die sich unter derselben zu verstecken sucht. Die äußerlich seine Sprache, zu der man sie anhält, die Anstandslehren, die man ihnen gibt, der Schleier des Geheimnisses, welchen man in recht auffallender Weise vor ihre Augen zu ziehen sucht, sind ebenso viele Anreizungen zur Neugier. Nach der Art und Weise, wie man sich dabei benimmt, liegt es auf der Hand, daß man geradezu darauf ausgeht, sie das zu lehren, was man ihnen angeblich zu verbergen sucht. Von keinem Unterricht, den man ihnen erteilt, behalten sie so viel als von diesem.[13]

Zieht die Erfahrung zu Rate, und ihr werdet einsehen, bis zu welchem Grade dieses unverständige Verfahren das Werk der Natur beschleunigt und den Körper zugrunde richtet. Hierin liegt eine der hauptsächlichsten Ursachen zu der Entartung der Familien in den Städten. Die jungen Leute bleiben infolge frühzeitiger Erschöpfung klein und schwach, sehen verlebt aus und altern statt zu wachsen, wie der Weinstock, welchen man zwingt, im Frühjahr Trauben zu tragen, noch vor dem Herbste welkt und abstirbt.

Man muß unter ungebildeten und einfachen Völkern gelebt haben, um sich davon zu überzeugen, bis zu welchem Alter unter ihnen eine glückliche Unwissenheit die Unschuld der Kindheit zu verlängern vermag. Es ist ein zugleich rührendes wie Lächeln hervorrufendes Schauspiel, daselbst zu sehen, wie die beiden Geschlechter, der Sorglosigkeit ihrer Herzen überlassen, unbefangen die Spiele der Kindheit bis zur Blüte des Alters und der Schönheit fortsetzen und wie sie selbst durch ihren vertraulichen Umgang die Reinheit ihrer Belustigung an den Tag legen. Wenn sich diese liebenswürdige Jugend dann endlich verehelicht, so werden sich die beiden Gatten, da sie sich gegenseitig mit den Erstlingen ihrer Person beschenken, nur um so teurer werden. Eine Schar gesunder und kräftiger Kinder wird das Pfand einer Vereinigung, die nichts zu trüben imstande ist, und der Lohn ihrer Keuschheit in ihren früheren Jahren.

Wenn das Alter, in welchem in dem Menschen das Bewußtsein seines Geschlechtes erwacht, sowohl in folge des Einflusses der Erziehung als auch der Einwirkung der Natur, so vielen Abweichungen unterworfen ist, so folgt hieraus, daß man diesen Zeitpunkt durch die Art der Erziehung beschleunigen oder verzögern kann; und wenn nun der Körper, je nachdem man diesen Eintritt der geschlechtlichen Reife verzögert oder beschleunigt, an Festigkeit gewinnt oder verliert, so ist die weitere Folge, daß ein junger Mann, je mehr man darauf bedacht ist, jenen zu verzögern, auch desto[14] mehr Kraft und Stärke erlangt. Ich rede hier nur von den rein physischen Wirkungen; man wird sich jedoch bald überzeugen, daß es bei ihnen nicht sein Bewenden hat.

Diese Betrachtungen geben mit Anleitung zur Beantwortung der so oft ventilierten Frage, ob es sich empfiehlt, die Kinder frühzeitig über die Gegenstände ihrer Neugier aufzuklären, oder ob es besser sei, sie durch unschuldige Täuschungen davon abzulenken. Meiner Ansicht nach darf man weder das eine noch das andere tun. Erstlich wird in den Kindern, sobald man ihnen nicht Veranlassung dazu darbietet, diese Neugier gar nicht rege. Man muß sich deshalb hüten, sie in ihnen erst wachzurufen. Zweitens legen uns Fragen, zu deren Beantwortung wir nicht gezwungen sind, auch nicht die Notwendigkeit auf, das Kind, welches sie an uns richtet, zu täuschen. Es ist besser, ihm Stillschweigen aufzuerlegen, als ihm eine unwahre Antwort zu erteilen. Ein solches Gebot wird es keineswegs überraschen, wenn es sich demselben schon früher bei ganz gleichgültigen Dingen hat unterwerfen müssen. Endlich lasse man nicht außer acht, daß die Antwort, wenn man sich einmal zu derselben entschließt, mit der größten Einfachheit, ohne Geheimniskrämerei, ohne Verlegenheit, ohne Lächeln geschehen muß. In der Befriedigung der kindlichen Neugier liegt eine geringere Gefahr als in der Erregung derselben.

Eure Antworten müssen stets ernst, kurz und entschieden sein; es darf nie den Anschein gewinnen, als ob ihr zögertet, sie zu erteilen. Es bedarf wohl nicht erst der besonderen Erwähnung, daß sie auf Wahrheit beruhen müssen. Man kann die Kinder nicht auf das Gefährliche, Erwachsene zu belügen, aufmerksam machen, ohne von dem Gefühl überschlichen zu werden, eine wieviel größere Gefahr darin liegt, daß Erwachsene Kinder belügen. Eine einzige Lüge, die der Lehrer nachweislich dem Kinde gegenüber ausgesprochen hat, würde alle Früchte seiner Erziehung auf immer vernichten.[15]

Eine vollkommene Unwissenheit über gewisse Dinge würde für die Kinder vielleicht das Ersprießlichste sein; allein das, was man ihnen doch nicht auf die Dauer zu verhehlen vermag, müssen sie frühzeitig lernen. Entweder muß man das Erwachen ihrer Neu gier zu verhindern suchen, oder dieselbe muß vor dem Alter Befriedigung erhalten, in welchem es nicht mehr ohne Gefahr geschehen könnte. In diesem Punkte hängt das Verhalten, welches ihr eurem Zögling gegenüber zu beobachten habt, wesentlich von seiner besonderen Lage, von der Gesellschaft, in der er sich bewegt, von den Verhältnissen, in denen er aller Voraussicht nach einst leben wird usw. ab. Es kommt viel darauf an, hierbei nichts dem Zufall zu überlassen, und habt ihr nicht die völlige Gewißheit daß ihr ihn bis zu seinem sechzehnten Jahr über den Unterschied der Geschlechter in Unwissenheit zu erhalten vermögt, so sorgt dafür, daß er ihn vor dem zehnten Jahre erfahre.

Ich bin kein Freund davon, daß man, um darüber hinwegzukommen, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, den Kindern gegenüber eine gar zu feine Sprache führt oder erst lange Umschweife macht, die sie doch durchschauen. Edle Sitten sind bei diesen Dingen von einer gewissen Einfalt untrennbar, während eine durch das Laster befleckte Einbildungskraft das Ohr empfindlich macht und uns nötigt, unsere Ausdrücke unaufhörlich zu verfeinern. Derbe Ausdrücke sind ungefährlich, aber vor schlüpfrigen Ideen muß man auf der Hut sein.

Obgleich die Schamhaftigkeit dem menschlichen Geschlechte natürlich ist, so besitzen die Kinder doch noch nicht als eine Mitgabe der Natur. Die Scham entsteht erst mit der Erkenntnis des Bösen, und wie sollten nun die Kinder, die diese Erkenntnis weder haben noch haben sollen, mit einem Gefühl vertraut sein, welches erst die Wirkung derselben ist? Ihnen einen Begriff von Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit beibringen, heißt, sie lehren, daß es schamlose und unehrbare[16] Dinge gibt, heißt, ihnen ein geheimes Verlangen einflößen, diese Dinge kennen zu lernen. Früher oder später werden sie dieses Gelüst befriedigen, und der erste Funke, welcher ihre Einbildungskraft trifft, beschleunigt unzweifelhaft die Entzündung der Sinne. Wer errötet, fühlt sich bereits schuldig; der wahren Unschuld ist die Scham fremd.

Die Kinder haben nicht dieselben Gelüste wie die Erwachsenen; da sie indes ebenso wie letztere gewissen unsauberen Bedürfnissen, welche die Sinne verletzen, unterworfen sind, so lassen sich schon an dieses Naturgesetz Lehren über das Schickliche anknüpfen. Man folge dem Geiste der Natur, welche uns dadurch, daß sie den Organen der geheimen Vergnügungen und denen der ekelerregenden Bedürfnisse denselben Ort angewiesen hat, in den verschiedenen Lebensarten bald durch die eine, bald durch die andere Vorstellung zu der gleichen Schonung auffordert, den Mann durch die Ehrbarkeit, das Kind durch die Reinlichkeit.

Ich kenne nur ein einziges erfolgversprechendes Mittel, den Kindern ihre Unschuld zu bewahren, und dies besteht darin, daß ihre ganze Umgebung die nötige Rücksicht auf sie nimmt und sie liebt. Ohne dies wird alle Zurückhaltung, welche man sich ihnen gegenüber zu beobachten bemüht, früher oder später fehlschlagen. Ein Lächeln, ein Blick, eine unwillkürlich entschlüpfte Gebärde sagen ihnen alles, was man ihnen zu verheimlichen sucht. In dem bloßen Umstand, daß man es ihnen hat verhehlen wollen, liegt schon für sie eine genügende Aufklärung. Die Zartheit in den Wendungen und Ausdrücken, deren sich die Gebildeten untereinander zu bedienen pflegen, ist, da sie Kenntnisse voraussetzt, welche die Kinder noch gar nicht haben können, diesen gegenüber völlig übel angebracht. Achtet man indes wirklich ihre Einfalt, so überträgt man dieselbe bei einem Gespräch mit den Kindern auch unwillkürlich auf die Ausdrücke, die man nur so wählt, daß sie ihnen angemessen und verständlich sind. Es gibt eine gewisse Naivität der[17] Sprache, welche angenehm berührt und auch der Unschuld gefällt. Das ist der wahre Ton, welcher ein Kind von gefährlicher Neugier ablenkt. Dadurch, daß man mit ihm alles in aller Einfalt bespricht, beugt man dem Argwohne vor, daß noch etwas übrig sei, was man ihm nicht gesagt habe. Verbindet man mit derben Vorstellungen, die ihm zwar verständlich sind, aber gleichzeitig seinen Widerwillen erregen, so erstickt man damit das Feuer seiner Einbildungskraft. Ohne daß man ihm verbietet, solche Worte auszusprechen und solche Vorstellungen zu haben, flößt man ihm, ohne daß es sich dessen bewußt wird, eine Abneigung gegen deren Wiederholung ein. Und wie viel Verlegenheit wird diese in aller Unbefangenheit gegebene Erlaubnis nicht denen ersparen, die schon ihr eigenes Herz zur Offenheit auffordert und deshalb stets sagen, was zu sagen nötig ist, und es immer so heraussagen, wie es ihnen um das Herz ist.

»Wo kommen die Kinder her?« Das ist in der Tat eine Frage, die ganz geeignet ist, in Verlegenheit zu setzen, auf welche die Kinder indes ganz natürlich verfallen, und deren unverständige oder kluge Beantwortung bisweilen für ihre Sitten und ihre Gesundheit das ganze Leben hindurch entscheidend ist. Die kürzeste Art und Weise, auf welche eine Mutter meint sich aus der Verlegenheit ziehen zu können, ohne ihren Sohn zu täuschen, besteht darin, daß sie ihm Stillschweigen auferlegt. Das würde ganz gut sein, wenn sie sich ihn schon seit lange auch bei gleichgültigen Fragen daran gewöhnt hätte und er nun nicht bei diesem neu angeschlagenen Tone gerade erst recht ein Geheimnis argwöhnte. Aber auch nur in seltenen Fällen wird die Mutter dabei stehenbleiben. »Das ist ein Geheimnis der verheirateten Leute,« wird sie viel leicht zu ihm sagen, »kleine Knaben müssen nicht so neugierig sein.« Das ist freilich ein ganz gutes Mittel, um die Mutter aus der augenblicklichen Verlegenheit zu reißen, aber sie kann sich auch überzeugt[18] halten, daß nun dieser kleine Knabe, welchem in dieser zurückweisenden Antwort eine gewisse Verachtung zu liegen scheint, nicht eher ruhen wird, bis er hinter das Geheimnis der verheirateten Leute gekommen ist, und daß es sicherlich nicht lange dauern wird, bis er seinen Zweck erreicht hat.

Ich bitte um Erlaubnis, hier eine davon sehr abweichende Antwort anführen zu dürfen, die ich auf dieselbe Frage habe geben hören, und welche mir um so auffallender war, als sie von einer Frau herrührte, welche sich sowohl in ihren Reden als in ihrem Betragen durch die höchste Züchtigkeit auszeichnete, aber um des Wohles und der Tugend ihres Sohnes willen nicht Anstand nahm sich über die falsche Furcht vor Tadel und über die hohlen Witzeleien Spottsüchtigen hinwegzusetzen. Das Kind hatte gerade nicht lange vorher beim Urinieren einen kleinen Stein mit ausgeworfen, der ihm die Harnröhre verletzt hatte; aber das Leiden war gehoben und vergessen. »Mama,« sagte der kleine Naseweis, »wo kommen die Kinder her?« Ohne im geringsten zu stocken, erwiderte die Mutter sofort: »Mein Sohn die Frauen urinieren sie unter großen Schmerzen, die ihnen bisweilen das Leben kosten, hervor.« Mögen die Narren lachen und die Toren Aergernis daran nehmen, aber die Weisen mögen untersuchen, ob sie je eine vernünftigere und zweckentsprechendere Antwort finden werden.

Die Vorstellung eines natürlichen und dem Kinde bekannten Bedürfnisses läßt erstlich, und das ist das Treffende bei dieser Antwort, die Idee eines geheimnisvollen Vorganges nicht bei ihm aufkommen. Außerdem breiten die sich daranknüpfenden Vorstellungen von Schmerz und Tod einen Schleier der Trauer über diesen Gedanken, welcher die Einbildungskraft dämpft und die Neugier zurückdrängt. Alles lenkt den Geist auf die Folge der Geburt, nicht aber auf ihre Ursachen. Nur zu den Schwächen der menschlichen Natur, zu lauter widerlichen Dingen, zu Bildern des Leidens leiten die Aufschlüsse, die in dieser Antwort liegen,[19] wenn überhaupt der Widerwille, den sie einflößt, es zuläßt, daß das Kind solche Aufschlüsse begehrt. Was wäre wohl bei einer Unterhaltung, die in solcher Weise geleitet wird, imstande, die schlummernden Lüfte zu erregen? Trotzdem ist es leicht ersichtlich, daß die Wahrheit in keiner Weise beeinträchtigt wurde und daß es nicht nötig gewesen ist, das Kind zu täuschen, anstatt es zu unterrichten.

Eure Kinder lesen; sie schöpfen aus ihrer Lektüre Kenntnisse, welche sie nicht gewonnen haben würden, wenn sie nicht gelesen hätten. Beim Studieren er hitzt und schärft sich in der Stille des Arbeitszimmers ihre Einbildungskraft. Leben sie in der Welt, so vernehmen sie zweideutige und befremdende Reden und sind Zeugen von Dingen, die sie eigentümlich berühren. Nach dem Benehmen, welches man ihnen gegenüber beobachtet, hat sich in ihnen die Ueberzeugung, sie seien selbst schon Erwachsene, in so hohem Grade festgesetzt, daß sie bei allem, was die Erwachsenen in ihrer Gegenwart tun, sofort versuchen, wie es sich bei ihnen ausnehmen möchte. Kann man sich darüber wundern? Gelten ihnen einmal die Urteile anderer als Gesetz, so müssen ihnen auch die Handlungen anderer als Vorbild dienen. Die Diener, welche man leider von ihnen abhängig gemacht hat, und in deren Interesse es folglich liegt, ihnen zu gefallen, bewerben sich zum Nachtheil ihrer Sittlichkeit um ihre Gunst. Vierjährigen Kindern gegenüber sprechen die Wärterinnen mit lächelndem Munde Dinge aus, die selbst die schamloseste von ihnen sich nicht erdreisten würde, vor fünfzehnjährigen auszusprechen. Sie selbst vergessen ihre Aeußerungen zwar bald, die Kinder dagegen vergessen nie, was sie haben anhören müssen. Schlüpfrige Gespräche öffnen ausschweifenden Sitten Tor und Tür. Ein schurkischer Diener verführt das Kind, und ein gleiches Interesse legt beiden Stillschweigen auf.

Das seinem Alter angemessen erzogene Kind sieht sich auf sich angewiesen. Die einzige Zuneigung, die es[20] kennt, beruht auf Gewohnheit. Es liebt seine Schwester wie seine Uhr und seinen Freund wie seinen Hund. Es fühlt sich noch nicht als Glied eines besonderen Geschlechtes, einer besonderen Gattung; Mann und Weib sind ihm gleich fremd. Was sie auch tun oder reden, es bezieht nichts von allem auf sich; es sieht und hört nichts davon oder beachtet es wenigstens nicht. Ihre Gespräche interessieren es ebensowenig als ihre Handlungen; alles dies ist für das Kind so gut wie gar nicht da. Bei dieser Methode geht man nicht darauf aus, ihm irrtümliche Anschauungen beizubringen, sondern sucht es vielmehr nur in seiner natürlichen Unwissenheit zu erhalten. Es kommt die Zeit schon, wo die Natur selbst dafür Sorge trägt, ihren Zögling aufzuklären, und dieser Augenblick tritt erst dann ein, wenn sie ihn so weit vorbereitet hat, ohne Nachteil aus den Lehren, die sich ihm erteilt, Nutzen ziehen zu können. Dies ist in kurzen Umrissen das Prinzip. Die Entwicklung der einzelnen Regeln gehört nicht zu der Aufgabe, die ich mir gestellt habe; jedoch dienen die Mittel, die ich hinsichtlich anderer Gegenstände vorschlage, gleichzeitig auch als Beispiele für diesen.

Wollt ihr in die erwachenden Leidenschaften Ordnung und Regeln bringen, so verlängert den Zeitraum ihrer Entwicklung, damit sie die nötige Zeit gewinnen, nach Maßgabe ihrer Entstehung in das richtige gegenseitige Verhältnis zu treten. Dann geht die Ordnung nicht von dem Menschen, sondern von der Natur selbst aus; eure einzige Aufgabe besteht darin, die Natur ungestört walten zu lassen. Wäre euer Zögling völlig für sich allein, so würdet ihr gar nichts zu tun haben, so aber entflammt alles, was ihn umgibt, seine Einbildungskraft. Der Strom der Vorurteile reißt ihn fort. Um ihn zurückzuhalten, müßt ihr ihn in entgegengesetzter Richtung fortdrängen. Das Gefühl muß der Einbildungskraft Fesseln anlegen, und die Vernunft muß die Meinung der Menschen zum Schweigen bringen.[21]

In der überaus großen Empfänglichkeit für alle Eindrücke liegt die Quelle aller Leidenschaften, während die Einbildungskraft ihre Richtung bestimmt. Jedes Wesen, welches sich seiner Beziehung bewußt ist, muß durch eine Verschlechterung derselben und durch die wirkliche oder auch nur eingebildete Ausfindung solcher Beziehungen, die seiner Natur angemessener sind, unbedingt affiziert werden. Durch diese Fehler der Einbildungskraft werden die Leidenschaften aller endlichen Wesen, selbst der Engel, wenn es solche gibt,97 in Laster verwandelt, denn sie müßten die Natur aller Wesen kennen, um sich eine Ueberzeugung davon zu verschaffen, welche Beziehungen sich für die Natur am besten eignen.

Die Summe aller menschlichen Weisheit hinsichtlich der Behandlung der Leidenschaften läßt sich demnach in folgendem kurz zusammenfassen: 1. Man muß die wahren Verhältnisse des Menschen kennen, sowohl was die Gattung im allgemeinen als auch das einzelne Individuum betrifft, 2. muß man nach diesen Verhältnissen alle Gemütsbewegungen regeln.

Hat es der Mensch denn aber in seiner Gewalt, seine Gemütsbewegungen nach diesen oder jenen Verhältnissen zu regeln? Unzweifelhaft, sobald er nur imstande ist, seiner Einbildungskraft die Richtung auf diesen oder jenen Gegenstand zu geben oder ihr diese oder jene Gewohnheiten beizubringen. Uebrigens handelt es sich hier ja weniger um das, was ein Mensch über sich selbst vermag, als vielmehr um das, was wir durch die Wahl der Verhältnisse, in die wir unseren Zögling versetzen, über denselben vermögen. In[22] der Darlegung der Mittel, welche dazu geeignet sind, ihn in der Ordnung der Natur zu erhalten, liegt gleichzeitig eine genügende Auseinandersetzung der Wege, auf welchen er aus ihr herauszutreten vermag.

Solange seine Empfindungsvermögen nur auf seine eigene Person beschränkt bleibt, fehlt seinen Handlungen der sittliche Charakter; erst wenn es sich über ihn selbst hinaus zu erstrecken beginnt, gewinnt er zunächst unbestimmte Vorstellungen und späterhin die klaren Begriffe des Guten und Bösen, die ihn in Wahrheit zum Menschen und zu einem integrierenden Teile seiner Gattung machen. Auf diesen ersten Punkt müssen wir deshalb zunächst unsere Aufmerksamkeit lenken.

Dies ist freilich mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden, weil wir, wenn wir zum Ziel gelangen wollen, die Beispiele, welche wir unmittelbar vor Augen haben, zurückweisen und uns nach solchen umsehen müssen, bei welchen die stufenweise Entwicklung der Ordnung der Natur gemäß stattfindet.

Ein nach der herkömmlichen Schablone zugesetztes, dressiertes und äußerlich wohlabgerichtetes Kind, welches nur auf die Fähigkeit wartet, die vorzeitigen Lehren, die es empfangen hat, in Ausübung bringen zu können, täuscht sich nie über den Augenblick, in dem sich diese Fähigkeit einstellt. Weit davon entfernt, ihn in Ruhe abzuwarten, beschleunigt es ihn vielmehr. Es versetzt sein Blut schon vorzeitig in Gärung; schon lange bevor sich die Lüfte in ihm regen, kennt es den Gegenstand, auf welchen sich dieselben richten müssen. Nicht die Natur reizt es an, sondern es tut selbst der Natur Gewalt an. Wenn sie es zum Manne macht, bleibt ihr keine Lehre mehr ihm zu erteilen übrig. In Gedanken war es lange vorher Mann, ehe es in Wirklichkeit dazu herangereift war.

Bei dem wirklichen Gang der Natur geht diese Entwicklung viel stufenweiser und langsamer vor sich. Ganz[23] allmählich erhitzt sich das Blut, erwachen die Lebensgeister und zeigt sich die Sinnlichkeit. Der weise Meister, welcher das Werk leitet, hat seine Sorge darauf gerichtet, erst allen seinen Werkzeugen, bevor er sie in Tätigkeit setzt, die höchste Vollkommenheit zu verleihen; eine lange Unruhe geht den ersten Begierden voraus, eine lange Unwissenheit erhält sie in beständiger Täuschung; man ist lüstern, ohne zu wissen worauf. Das Blut beginnt zu gären und zu wallen; eine überschäumende Lebenskraft sucht eine Ableitung nach außen. Das Auge belebt sich und mustert die übrigen Wesen; man fängt an Interesse für die Personen seiner Umgebung zu gewinnen, fängt an zu empfinden, daß der Mensch nicht die Bestimmung erhalten hat, für sich allein zu leben, und auf diese Weise öffnet sich das Herz endlich menschlichen Gemütsbewegungen und wird der Zuneigung fähig.

Das erste Gefühl, für welches ein sorgfältig erzogener junger Mensch empfänglich wird, ist nicht die Liebe, sondern die Freundschaft. Der ersten Neigung seiner erwachenden Einbildungskraft verdankt er die Erkenntnis, daß es noch andere seinesgleichen gibt. Seine Neigung wendet sich früher der Gattung als dem Geschlechte zu. Darin beruht noch ein weiterer Vorteil der verlängerten Unschuld; vermittels der sich bildenden Gefühle ist man imstande, die ersten Keime der Menschlichkeit in das Herz des Jünglings zu pflanzen, ein Vorteil, der um so höher angeschlagen werden muß, als dies die einzige Zeit im Leben ist, wo dergleichen Bemühungen einen wirklichen Erfolg herbeizuführen vermögen.

Ich habe stets die Erfahrung gemacht, daß junge, frühzeitig verdorbene Leute, die den Frauen und Ausschweifungen ergeben waren, auch einen unmenschlichen und grausamen Charakter hatten. Das Feuer des Temperaments machte sie ungeduldig, rachgierig, wütend. Ihre nur von einem einzigen Gegenstand erfüllte Einbildungskraft war unfähig, sich noch mit irgend etwas anderem zu beschäftigen. Sie[24] kannten weder Mitleid noch Erbarmen. Dem geringsten Vergnügen zuliebe hätten sie Vater und Mutter, ja die ganze Welt geopfert. Ein in glücklicher Einfachheit erzogener Jüngling wird dagegen schon durch die ersten Regungen der Natur zu zarten und liebevollen Gefühlen angetrieben. Rührung bemächtigt sich seines Herzens bei den Leiden seiner Mitmenschen. Er zittert vor Freude, wenn er seinen Spielgefährten wiedersieht; unwillkürlich öffnen sich seine Arme zu innigen Umarmungen, treten in seine Augen Tränen der Rührung. Das Mißfallen, welches er bei anderen erregt, ruft bei ihm aufrichtiges Bedauern hervor, und von ernstlicher Reue wird er ergriffen, wenn er jemanden gekränkt hat. Läßt er sich durch die Hitze seines sich entzündenden Blutes zum Ungestüm, zum Aufbrausen und zum Zorn fortreißen, so zeigt sich schon im nächsten Augenblick seine ganze Herzensgüte in dem Erguß seiner Reue. Er weint, er seufzt über die Wunde, die er geschlagen hat. Mit seinem eigenen Blute möchte er jeden Blutstropfen, den er vergossen hat, wieder erkaufen. Vor der Erkenntnis seines Fehlers erlischt all sein Zorn, demütigt sich all sein Stolz. Fühlt er sich selbst beleidigt, so vermag eine einzige Entschuldigung, ein einziges Wort auch seinen heftigsten Grimm zu entwaffnen. Er verzeiht das ihm zugefügte Unrecht mit demselben Edelmut, mit welchem er das von ihm ausgegangene wieder gutzumachen sucht. Das Jünglingsalter nährt weder Rache noch Haß, sondern nur Mittleid, Teilnahme und Edelmut. Ohne befürchten zu brauchen, durch die Erfahrung widerlegt zu werden, wage ich die Behauptung aufzustellen, das ein Kind, welches nicht schon böse Anlagen mit auf die Welt gebracht und welches seine Unschuld bis zum zwanzigsten Jahre bewahrt hat, in diesem Alter der edelmütigste, beste, liebevollste und liebenswürdigste Mensch sein wird. Dergleichen habt ihr freilich, wie ich mir leicht vorstellen kann, noch nie zu hören bekommen; euere in der ganzen Verderbnis der Kollegienwirtschaft[25] erzogenen Philosophen sind auch gar nicht imstande, es zu wissen.

Die Schwäche des Menschen macht ihn gesellig; die Leiden, die uns allen gemeinsam sind, ziehen uns zum Menschengeschlechte hin. Wir würden demselben nichts schulden, wenn wir nicht Menschen wären. Jede Anhänglichkeit ist ein Zeichen der eigenen Unzulänglichkeit. Bedürfte niemand der anderen, so würde auch niemand daran denken, sich ihnen anzuschließen.98 Deshalb haben wir nur unsere Schwachheit unser zerbrechliches Glück zu verdanken. Ein wahrhaft glückliches Wesen kann man sich nur als ein einsames vorstellen; Gott allein genießt eines absoluten Glückes; aber wer von uns vermöchte sich von letzterem einen klaren Begriff machen? Wenn irgendein unvollkommenes Wesen sich selbst genügen könnte, woran könnte es wohl nach unseren Begriffen einen Genuß finden? Es wäre allein und müßte deshalb elend sein. Ich vermag nicht zu fassen, wie jemand, dem jedes Bedürfnis nach irgendeinem Gute fehlt, etwas lieben kann; ich vermag aber auch nicht zu fassen, wie jemand, der nichts liebt, glücklich sein kann.

Hieraus folgt, daß wir uns an unsere Mitmenschen weniger um deswillen anschließen, daß wir an ihren Freuden Anteil nehmen, als vielmehr um deswillen, daß ihre Leiden unser Mitgefühl erregen, denn in letzteren tritt uns die Identität unserer Natur und die Bürgerschaft für ihre Anhänglichkeit an uns weit sichtlicher entgegen. Bildet bei unseren gemeinsamen Bedürfnissen das gleiche Interesse das Band der Vereinigung, so wird bei unserem gemeinsamen Elend wieder die Liebe das Bindemittel. Der Anblick eines glücklichen Menschen stößt den anderen weniger Liebe als Neid ein; man hätte Lust, ihm den Vorwurf zu machen, daß er dadurch, daß er sich ein ausschließliches Glück bereitet,[26] sich ein Recht anmaße, welches ihm gebühre, und selbst die Eigenliebe leidet darunter, indem sie es uns recht fühlbar macht, daß dieser Mensch unser nicht bedürfe. Wer aber bedauert nicht den Unglücklichen, den er leiden sieht? Wer würde ihn, wenn es ihm nicht mehr als ein Wunsch kostete, nicht gern von seinen Uebeln befreien wollen? Unsere Einbildungskraft versetzt uns weiter eher an die Stelle eines Elenden, als an die eines Glücklichen. Unser Gefühl sagt uns, daß uns der eine dieser Zustände weit näher berühre als der andere. Das Mitleid ist süß, weil man, während man sich an die Stelle des Leidenden versetzt, trotzdem gleichzeitig das Vergnügen empfindet, nicht einem gleichen Leiden unterworfen zu sein. Der Neid dagegen ist bitter, denn anstatt den Neidischen beim Anblick eines Glücklichen an die Stelle desselben zu versetzen, erfüllt er ihn nur mit Bedauern, daß er diese nicht einnimmt. Der Leidende scheint uns von den Uebeln, welche er duldet, zu befreien, der Glückliche uns hinwieder der Güte zu berauben, deren er genießt.

Wollt ihr deshalb in dem Herzen eines jungen Menschen die ersten Regungen der erwachenden Empfindungen anfachen und nähren und seinem Charakter die Richtung zur Wohltätigkeit und Güte geben, so laßt nie in ihm durch das trügerische Bild des menschlichen Glückes Stolz, Eitelkeit oder Neid aufkeimen; stellt ihm nicht gleich zuerst den Prunk der Höfe, die Pracht der Paläste, den fesselnden Reiz der Theater vor Augen; führt ihn nicht in gesellschaftliche Kreise und glänzende Versammlungen ein; zeigt ihm die Außenseite der großen Gesellschaft nicht eher, bis ihr ihn befähigt habt, sie nach ihrem wahren Werte zu schätzen. Ihm die Welt zeigen, bevor er die Menschen kennt, heißt nicht, ihn bilden, sondern ihn verderben; heißt nicht, ihn unterrichten, sondern ihn täuschen.

Von Natur sind die Menschen weder Könige noch Große noch Hofschranzen noch Reiche. Alle werden nackt[27] und arm geboren, alle sind den kleinlichen Sorgen des Lebens, den Verdrießlichkeiten, den Uebeln, den Bedürfnissen und Schmerzen aller Art unterworfen, und alle werden schließlich eine Beute des Todes. Das ist das wahre Spiegelbild des Menschen; kein Sterblicher ist von diesem Lose ausgenommen. Macht bei eurem Studium der menschlichen Natur deshalb mit dem den Anfang, was von derselben unzertrennlich ist, kurz mit allem, worin sich das Wesen der Menschheit am deutlichsten darstellt.

Mit sechzehn Jahren weiß der Jüngling, was Leiden heißt, denn er hat schon selbst gelitten; aber er weiß kaum, daß andere Wesen ebenfalls mit Leiden zu kämpfen haben. Mit dem Anblick von Leiden vertraut sein, ohne sie zu empfinden, heißt noch nicht, sie kennen, und da, wie ich bereits hundertmal erklärt habe, sich das Kind nicht die Empfindungen anderer vorzustellen vermag, so kennt es keine anderen Uebel als seine eigenen. Sobald jedoch die erste Entwicklung der Sinnlichkeit das Feuer der Einbildungskraft in ihm anfacht, so beginnt es die Empfindungen seiner Mitmenschen zu teilen, von ihren Klagen gerührt zu werden und ihnen ihre Schmerzen nachzufühlen. In diesem Augenblick muß das dunkle Gemälde der leidenden Menschheit in seinem Herzen die erste Rührung hervorrufen, die es je empfunden hat.

Wen wollt ihr nun dafür verantwortlich machen, wenn bei euren Kindern dieser Augenblick nicht deutlich in die Augen fällt? Ihr lehrt sie so frühzeitig mit dem Gefühl spielen, macht sie mit der Sprache desselben so zeitig vertraut, daß sie dadurch, daß sie beständig in demselben Tone reden, eure Lehren gegen euch selbst kehren, und euch kein Mittel übriglassen, zu unterscheiden, wann sie zu lügen aufhören und das wirklich zu fühlen beginnen, was sie sagen. Betrachtet dagegen meinen Emil! Bis zu dem Alter, zu welchem ich ihn jetzt geführt habe, hat er weder die in Rede stehenden Gefühle gehabt, noch eine Lüge über seine Zunge[28] gebracht. Bevor er wußte, was Liebe heißt, hat er zu niemandem gesagt: »Ich liebe dich von Herzen.« Man hat ihm nicht verschrieben, welches Benehmen er in dem Zimmer seines Vater, seiner Mutter oder seines kranken Hofmeisters beobachten solle; man hat ihn nie in der Kunst unterwiesen, sich traurig zu stellen, wenn er nicht wirklich betrübt war. Er hat nie den Schein angenommen, als weine er über jemandes Tod, da er noch gar nicht weiß, was Sterben ist. Dieselbe Empfindungslosigkeit, die er in seinem Herzen hat, spricht sich auch in seinem ganzen Wesen aus. Gleichgültig gegen alles, mit Ausnahme seiner eigenen Person, faßt er, wie alle anderen Kinder, für niemanden Interesse. Der einzige Unterschied zwischen ihm und diesen beruht lediglich darin, daß er auch nicht einmal den Schein erregen will, als hege er ein Interesse, und daß er nicht falsch ist wie sie.

Da Emil noch wenig über fühlende Wesen nachgedacht hat, so wird er auch erst spät lernen, was Leiden und Streben heißt. Von nun an werden Klagen und Schmerzensschreie beginnen, sein Mitgefühl zu erregen; von dem Anblick strömenden Blutes wird er seine Augen abwenden; die Zuckungen eines sterbenden Tieres werden ihn mit wahrer Herzensangst erfüllen, noch ehe er sich über die Entstehung dieser Bewegungen in ihm Rechenschaft ablegen kann. Wäre er stumpfsinnig und roh geblieben, so würden sie sich in ihm gar nicht bilden; wäre er unterrichteter, so würde er ihre Quelle kennen. Er hat schon zu viele Vergleichungen zwischen einzelnen Vorstellungen angestellt, um gar nichts zu empfinden, aber trotzdem noch nicht genug, um sich bewußt zu werden, was er empfindet.

Auf die Weise entsteht das Mittleid, das erste sich auf andere beziehende Gefühl, welches nach der Ordnung der Natur das menschliche Herz bewegt. Um fühlend und mitleidig zu werden, muß das Kind wissen, daß es Wesen[29] seinesgleichen gibt, welche leiden, was es selbst gelitten, und Schmerzen empfinden, die es selbst empfunden hat, ja die sogar noch von anderen Schmerzen gepeinigt werden, von denen es sich wenigstens den Begriff machen muß, daß es dieselben möglicherweise gleichfalls wird aushalten müssen. Und fürwahr, wodurch sollten wir uns sonst wohl zum Mitleid bewegen lassen, wenn nicht dadurch, daß wir gleichsam aus uns heraustreten, uns mit dem leidenden Geschöpfe identifizieren und unser eigenes Sein mit dem seinigen vertauschen? Wir leiden nur so viel, als es nach unserem Dafürhalten leidet, und leiden nicht in uns, sondern in ihm. Vor dem Erwachen der Einbildungskraft, die den Menschen aus sich heraus zu versetzen beginnt, wird sich also auch bei niemandem das Mitgefühl regen.

Was haben wir nun, um dieses erwachende Mitgefühl anzufachen und zu nähren, um es zu leiten und ihm in der ihm vor der Natur gegebenen Richtung zu folgen, anders zu tun, als dem jungen Menschen einerseits solche Gegenstände darzubieten, auf welche die zunehmende Kraft seines Herzens zu wirken vermag, die es erweitern, es auch mit anderen Wesen zu teilen bereit sind, und es dahin bringen, daß es sich auch außer sich selbst überall wiederfinde, und anderseits sorgfältig alle solche von ihm fernzuhalten, welche das Herz verengern, in sich selbst verschließen und den Egoismus großzuziehen geeignet sind? Mit anderen Worten, was haben wir anderes zu tun, als Güte, Menschlichkeit, Mitgefühl, Wohltätigkeit, kurz alle einnehmenden und sanften Gefühle, die den Menschen so wohlgefallen, in ihm zu erwecken, und dagegen das Hervortreten des Neides, der Habsucht, des Hasses sowie alle übrigen abstoßenden und grausamen Leidenschaften zu verhüten, die gleichsam das Gefühl nicht nur auf Null herabdrücken, sondern es sogar noch in eine negative Größe verwandeln, und demjenigen, welcher von ihnen beseelt ist, nicht als Qual bereiten.[30]

Alle meine bisherigen Betrachtungen glaube ich in zwei oder drei bestimmte, klare und leicht faßliche Grundsätze kurz zusammenfassen zu können.


Erster Grundsatz

Es gehört nicht zu den Eigenschaften des menschlichen Herzens, sich an die Stelle derer zu versetzen, welche glücklicher sind als wir, sondern es versetzt sich lediglich an die Stelle derer, welche mehr zu beklagen sind als wir.

Etwaige Ausnahmen von dieser Regel sind es mehr dem Scheine nach als in Wirklichkeit. So versetzt man sich zum Beispiel nicht an die Stelle des Reichen oder des Großen, zu dem man Zuneigung gefaßt hat. Selbst wenn man ihm aufrichtig zugetan ist, eignet man sich immer nur einen Teil seines Wohlseins an. Bisweilen liebt man ihn auch noch im Unglück; solange es ihm aber gut geht, hat er keinen wahren Freund als denjenigen, der sich vom Scheine nicht täuschen läßt und ihn bei all seinem Glück mehr beklagt als beneidet.

Man wird von dem Glücke gewisser Stände, zum Beispiel dem der Landleute und der Hirten, gerührt. Die Freude, diese guten Leute glücklich zu sehen, wird durch keinen neidischen Gedanken vergiftet; man nimmt in Wahrheit einen aufrichtigen Anteil an ihnen. Weshalb dies? Deshalb, weil wir uns bewußt sind, daß es jeden Augenblick in unserer Macht liegt, zu diesem Stande des Friedens und der Unschuld herabzusteigen und desselben Glückes teilhaftig zu werden. Das bleibt immer noch unsere letzte Zuflucht, eine Zuflucht, die uns nur mit angenehmen Ideen erfüllt, da unser bloßer Wille genügt, uns in den Besitz dieses Genusses zu setzen. Es bereitet stets Vergnügen, seine Hilfsmittel zu überschauen und sein eigenes Gut zu betrachten, selbst für den Fall, daß man keinen Gebrauch davon machen will.[31]

Um einen jungen Mann mit Menschenliebe zu erfüllen, muß man ihn also, wie sich aus obiger Betrachtung ergibt, nicht das glänzende Los anderer bewundern lassen, sondern man muß ihm dasselbe vielmehr von seiner Kehrseite zeigen, ja ihm sogar eine förmliche Furcht vor einem solchen Lose einjagen. Dann wird er sich konsequenterweise einen neuen, noch von niemandem betretenen Weg zum Glück bahnen müssen.


Zweiter Grundsatz

Nur diejenigen Uebel anderer erregen unser Bedauern, vor denen man sich selbst nicht sicher hält.


Non ignara mali, miseris succurrere disco.

Aen. I. 630.


Ich kenne nichts so Schönes, so Tiefes, so Ergreifendes und Wahres wie die Worte dieses Wesens.

Weshalb fühlen die Könige kein Mitleid mit ihren Untertanen? Deshalb, weil sie sich in ihren eigenen Augen nicht wie gewöhnliche Menschen vorkommen. Weshalb sind die Reichen so hart gegen die Armen? Weil sie nicht befürchten, ebenfalls in Armut zu geraten. Weshalb blickt der Adel mit so großer Verachtung auf das Volk? Weil er niemals in den bürgerlichen Stand hinabsinken kann. Weshalb sind die Türken in allgemeinen menschlicher und gastfreundlicher als wir? Weil bei ihrer mit völliger Willkür verfahrenden Regierung die Größe und das Glück der einzelnen beständig unsicher und schwankend ist, und sie deshalb Niedrigkeit und Elend nicht als Uebel betrachten, die nie an sie herantreten könnte.99 Jeder kann morgen in derselben Lage sein, in welcher sich der heute von ihm Unterstützte befindet. Diese Wahrnehmung, die in den morgenländischen Romanen überall zutage tritt, ist die Ursache,[32] daß sie für uns etwas ungemein Rührendes haben, wie es das ganze Aufgebot unserer trockenen Moral nicht hervorzubringen vermag.

Gewöhnt deshalb euren Zögling nicht, von der Höhe seiner hervorragenden Stellung auf die Kümmernisse der Unglücklichen und die Mühen der Elenden herabzublicken, und hofft nicht, daß ihr ihn mit Teilnahme erfüllen könnt, solange er sie als Uebel betrachtet, die ihm völlig unnahbar seien. Macht ihm vielmehr recht begreiflich, daß das Schicksal dieser Unglücklichen auch ihm vorbehalten sein kann, daß alle ihre Uebel binnen kurzem auch über ihn hereinbrechen können, daß tausend unvorhergesehene und unvermeidliche Ereignisse ihn jeden Augenblick in ihren Leidensgenossen zu verwandeln vermöge. Haltet ihn an, sich weder auf Geburt noch auf Gesundheit noch auf Reichtum zu verlassen; haltet ihm eindringlich die häufigen Wechselfälle des Schicksals vor. Macht ihn mit den nur allzuoft vorkommenden Beispielen bekannt, wo Menschen, die noch eine weit höhere Stellung als er einnahmen, noch tief unter jene Unglücklichen hinabgesunken sind, ob durch eigene oder fremde Schuld, kommt hierbei nicht in Frage; hat er denn überhaupt schon eine richtige Vorstellung davon, was schuld ist? Erlaubt euch nie einen Eingriff in die Ordnung seiner Kenntnisse und gebt ihm nur über Dinge, die seiner Fassungskraft entsprechend, die nötige Aufklärung. Er Bedarf keines hohen Grades von Gelehrsamkeit, um zu begreifen, daß ihm alle menschliche Weisheit nicht dafür einzustehen vermag, ob er in der nächsten Stunde noch leben oder tot sein werde; ob er sich nicht, noch ehe die Nacht einbricht, zähneknirschend unter den heftigsten Nierenschmerzen werde winden müssen, ob er in einem Monat reich oder arm sein werde, oder ob ihm nicht das Los bestimmt sei, im nächsten Jahre unter Knutenhieben auf den Galeeren in Algier zu rudern. Vor allem aber sagt es ihm nicht so kalt, als handele es sich um einen Paragraphen seines[33] Katechismus; er muß das menschliche Elend vor Augen haben und es mitempfinden. Erschüttert, erschreckt seine Einbildungskraft mit den Gefahren von denen jeder Mensch unaufhörlich umringt ist; er muß es förmlich mit Augen sehen, wie ihm diese Abgründe auf allen Seiten entgegengähnen, und sich bei der Schilderung ihrer Schrecken ängstlich an euch drängen, aus Furcht, in sie hinabzustürzen. »Dadurch werden wir ihn ja furchtsam und feige machen,« werdet ihr mir einwenden. Das wird sich in der Folge herausstellen; für jetzt liegt es uns am nächsten, ihn menschlich zu machen.


Dritter Grundsatz

Das Mittleid, welches uns bei dem Leiden anderer erfüllt, bemessen wir nicht nach der Größe dieses Leidens, sondern nach der Empfindung, welche wir denjenigen, die es erdulden, zuschreiben.

Man bedauert einen Unglücklichen nur insoweit, als man glaubt, daß er sich selbst für bedauernswert halte. Die physische Empfindung unserer Leiden ist beschränkter, als es den Anschein hat. Die Erinnerung allein, die sie uns als fortbestehend, empfinden läßt, und die Einbildungskraft, die uns durch den Gedanken an die Fortdauer dieser Qualen selbst die Zukunft verbittert, tragen die Schuld, daß wir uns wahrhaft bedauernswerth vorkommen. Hierin liegt meines Erachtens auch eine der Ursachen, weshalb wir bei dem Leiden der Tiere weniger Teilnahme verraten, als bei denen der Menschen, obgleich das bei beiden gleichstarke Empfindungsvermögen uns mit ihnen genau in derselben Weise identifizieren sollte. Steht der Karrengaul in seinem Stalle, so bedauern wir ihn nicht leicht, weil wir annehmen, daß er, wenn er sein Heu verzehrt, weder der empfangenen Peitschenhiebe noch der Anstrengungen gedenke, die seiner warten. Ebensowenig fühlen wir mit einem Hammel, den wir auf der Weide erblicken, Mitleid, obwohl wir uns[34] dessen bewußt sind, daß er binnen kurzem geschlachtet werden wird, weil wir uns zu der Annahme berechtigt halten, daß er sein Los nicht voraussehe. Infolge einer unwillkürlichen Ausdehnung dieser Voraussetzung nehmen wir dann auch bald an dem Lose der Menschen weniger Anteil. So beruhigen sich die Reichen über das Unrecht, welches sie den Armen zufügen, dadurch, daß sie sich vorreden, diese seien zu stumpf, um etwas davon zu empfinden. Im allgemeinen hängt nach meinem Dafürhalten der Wert, den jeder auf das Glück seiner Nebenmenschen setzt, von dem Grade der Achtung ab, die er denselben zu zollen scheint. Es liegt in der Natur, daß man das Glück derer, die man verachtet, für ziemlich wertlos hält. Man braucht sich deshalb nicht mehr zu wundern, wenn die Staatsmänner mit so großer Geringschätzung vom Volke reden, noch wenn die meisten Philosophen sich so geflissentlich bestreben, die Menschen nur von ihrer schlechten Seite zu zeigen.

Das Volk bildet das menschliche Geschlecht. Der Bruchteil, welcher nicht zum eigentlichen Volke gehört, ist so geringfügig, daß es nicht der Mühe verlohnt, ihn mit in Anschlag zu bringen. Der Mensch bleibt sich in allen Ständen gleich. Verhält er sich aber so, dann verdienen gerade die an Seelenzahl hervorragendsten Stände die meiste Achtung.

Alle Standesunterschiede verschwinden in den Augen des Denkenden, denn er bemerkt bei der dienenden Klasse die nämlichen Leidenschaften und Gefühle wie bei den Trägern der erlauchtesten Namen; nur in der Sprache, in der mehr oder weniger übertünchten Außenseite nimmt er einen Unterschied wahr; und tritt sonst ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen hervor, so fällt er stets zum Nachteil dessen aus, der die größte Verstellungsgabe besitzt. Das Volk zeigt sich wie es ist, und es ist nicht liebenswürdig; aber die Weltleute haben alle Ursache, sich zu verstellen; zeigten sie sich wie sie sind, so würden sie wahrlich Grauen und Abscheu erregen.[35]

Wie unsere Weisen weiter behaupten, gibt es in jedem Stande das nämliche Maß von Glück und Leid. Das ist eine ebenso unheilvolle wie durchaus unhaltbare Behauptung. Dann sind wir einmal alle gleich glücklich, weshalb soll mir dann wohl das Los irgend jemandes nahegehen? Bleibe jeder in den Verhältnissen, in denen er sich befindet: der Sklave lasse sich mißhandeln, der Schwache dulde, der Bettler gehe zugrunde, eine Aenderung ihrer Lage vermag ihnen ja keinen Gewinn zu bringen. Man zählt die Sorgen der Reichen auf und weist die Richtigkeit ihrer eitlen Freunden nach. Welche plumpen Trugschlüsse! Die Sorgen des Reichen sind nicht die notwendigen Folgen seiner Lebensstellung, sondern fallen einem Mißbrauch derselben zur Last. Wäre er sogar noch unglücklicher als der Arme, so wäre er trotzdem nicht zu bedauern, weil er allein die Schuld an seinen Leiden trägt, und weil es nur auf ihn ankommt, glücklich zu sein. Die Sorgen des Armen sind dagegen die Folgen seiner Verhältnisse, der Härte seines Schicksals, welches schwer auf ihm lastet. Auch die längste Gewohnheit ist nicht imstande, das physische Gefühl der Ermüdung, der Erschöpfung und des Hungers von ihm zu nehmen. Weder hohe Geistesgaben noch Weisheit vermögen ihn von den Leiden seines Standes zu befreien. Welcher Gewinn erwächst dem Epitet daraus, daß er voraussieht, sein Herr werde ihm noch das Bein zerschmettern? Läuft er etwa deshalb weniger Gefahr, daß es ihm derselbe zerschlagen werde? Die Voraussicht tritt nur als ein neues Uebel zu der Zahl seiner alten Uebel hinzu. Besäße das Volk ebensoviel überlegende Klugheit, als wir ihm geistige Unfähigkeit beimessen, was würde es anderes sein können, als was es jetzt ist? Was würde es anders tun können, als was es jetzt tut? Lernt nur die Leute dieser Klasse besser kennen und ihr werdet euch überzeugen, daß sie, wenn sie auch eine andere Sprache führen, demungeachtet ebensoviel Geist und sogar ein weit richtigeres Urteil besitzen als ihr. Achtet[36] deshalb euer Geschlecht; bedenkt, daß es wesentlich aus der Volksmasse gebildet wird, daß die Lücke, welche durch die Beseitigung aller Könige und Philosophen entstände, kaum bemerkbar sein würde und der Weltlauf sicherlich nicht darunter zu leiden hätte. Mit einem Wort, lehrt euren Zögling alle Menschen lieben, selbst diejenigen, welche mit Verachtung auf ihre Mitmenschen herabblicken. Erzieht ihn so, daß er sich nicht als Glied einer besonderen Klasse betrachte, sondern sich in allen wiederfinde. Sprecht von dem menschlichen Geschlecht in seiner Gegenwart mit aufrichtiger Teilnahme, selbst mit Mitleid, aber niemals mit Verachtung. Mensch, entehre den Menschen nicht!

Dieser und ähnlicher Wege, die den bisher eingeschlagenen allerdings ganz entgegengesetzt sind, muß man sich bedienen, um in das Herz des Jünglings einzudringen, damit in demselben die ersten Regungen der Natur wach werden, es sich mehr und mehr entfalte und für die Mitmenschen zu schlagen beginne. Ich kann jedoch nicht unterlassen, dem noch die Bemerkung hinzuzufügen, daß es dabei von äußerster Wichtigkeit ist, diese Regungen soviel als möglich von allem persönlichen Interesse frei zu erhalten. Fern bleibe vor allem jede Eitelkeit, jeder Wetteifer, jede Ruhmsucht, jedes Gefühl, welches uns antreibt, uns mit anderen zu vergleichen. Denn solche Vergleichungen lassen sich nicht anstellen, ohne daß sich in uns ein gewisses Gefühl des Hasses gegen diejenigen festsetzt, welche uns den Vorrang streitig machen, und wäre es auch nur nach unserer eigenen einseitigen Schätzung. Dann bleibt einem nur die Wahl, sich blind zu stellen oder sich zu erzürnen, schlecht zu sein oder albern. Geben wir uns Mühe, dieser Alternative aus dem Wege zu gehen. Freilich kann man mir den Einwurf machen, daß diese so gefährlichen Leidenschaften aller unsere Gegenbemühungen ungeachtet doch früher oder später zum Vorschein kommen werden. Ich leugne es nicht. Jedes Ding hat seine Zeit und seinen Ort; ich stelle nur[37] den Satz auf, daß man zu ihrer Entstehung nicht hilfreiche Hand bieten dürfe.

Darin spricht sich der Geist der Methode aus, deren Beobachtung man sich zur Pflicht machen sollte. Beispiele und Einzelheiten sind hierbei überflüssig, weil hier die Charaktere nach den verschiedensten Richtungen auseinanderzugehen beginnen, und weil jedes Beispiel, welches ich anführen könnte, vielleicht nicht auf einen unter Hunderttausend passen würde. In diesem Alter ist es deshalb auch, wo für den geschickten Lehrer die eigentliche Aufgabe des Beobachters und Philosophen anfängt, der die Kunst versteht, die Herzen zu erforschen, indem er an ihrer Bildung arbeitet. Solange der junge Mann noch nicht daran denkt, sich zu verstellen, und es noch nicht gelernt hat, kann man bei jedem Gegenstande, den man ihm zeigt, an seinen Mienen, seinen Blicken, seinen Gebärden sofort den Eindruck erkennen, welchen derselbe auf ihn ausübt. Man vermag auf seinem Antlitz alle Regungen seiner Seele zu lesen. Durch aufmerksame Beobachtung derselben bringt man es dahin, sie vorauszusehen, und endlich, sie zu leiten.

Man wird fast überall wahrnehmen, daß Blut, Wunden, Klagegeschrei, Seufzer, Vorbereitungen zu schmerzhaften Operationen, und überhaupt alles, was unsere Sinne als Gegenstände des Leidens erkennen lassen, alle Menschen am schnellsten und am allgemeinsten ergreift. Die Idee der Vernichtung erschüttert uns, da sie zusammengesetzter ist, nicht in gleich hohem Grade. Das Bild des Todes macht erst später Eindruck auf uns und berührt uns schwächer, weil noch niemand die Schrecken des Todes an sich selbst erfahren hat. Man muß Leichname gesehen haben, um die Angst mit dem Tode Ringender nachempfinden zu können. Hat sich dies Bild jedoch erst einmal in unserem Geiste festgesetzt, dann gibt es auch für unsere Augen kein gräßlicheres Schauspiel, sei es nun wegen der Idee völliger Vernichtung, die sich uns durch die Vermittlung unserer[38] Sinne überwältigend aufdrängt, oder weil wir uns bewußt sind, daß dieser Augenblick für alle Menschen unvermeidlich ist, und wir uns von einem Zustande, von dem es feststeht, daß wir ihm nicht entgehen können, lebhafter ergriffen fühlen.

Diese verschiedenen Grade haben ihre Modifikationen und Abstufungen, welche von dem besonderen Charakter und den früheren Gewohnheiten jedes einzelnen abhängen. Aber sie finden sich allgemein und niemand ist von ihnen völlig frei. Es kommen freilich auch erst später auftretende und weniger allgemein verbreitete vor, welche mehr den gefühlvollen Seelen eigen sind. Sie haben ihre Quelle in moralischen Leiden, in innerem Schmerze, in Kummer, Gram und Trauer. Es gibt Menschen, auf die nur lautes Klagegeschrei und Tränen Eindruck hervorbringen. Niemals hat ihnen ein fortwährendes geheimes Seufzen eines von Kummer überwältigten Herzens ebenfalls einen Seufzer zu entlocken vermocht, niemals hat der Anblick einer gebeugten Haltung, eines abgehärmten und bleichen Gesichts, eines erloschenen Auges, in welchem die Tränen längst versiecht sind, ihre Augen mit Tränen gefüllt. Für sie bedeuten Seelenleiden nichts. Ueber diese haben sie sich ein für allemal ein Urteil gebildet, wie es sich von solchen erwarten läßt, deren Seele völlig gefühllos ist. Rechnet bei ihnen nur auf unbeugsame Strenge, Härte und Grausamkeit. Sie können wohl unbescholten und gerecht sein, nie aber gütig, edelmütig und mitleidig. Ich sage, sie können möglicherweise gerecht sein, wenn ein erbarmungsloser Mensch es überhaupt zu sein vermag.

Hütet euch jedoch, euch durch diese Regel zu einem übereilten Urteil über junge Leute, namentlich über solche hinreißen zu lassen, die infolge einer richtigen Erziehung, bei welcher man alle moralischen Leiden von ihnen ferngehalten hat, keinen Begriff von denselben haben; denn, noch einmal, sie können nur über die Leiden, welche sie kennen, Bedauern empfinden, und diese scheinbare Gefühllosigkeit, welche ihren[39] Grund nur in ihrer Unwissenheit hat, verwandelt sich bald in Rührung, sobald sie zu fühlen anfangen, daß es im menschlichen Leben tausenderlei Schmerzen gibt, die sie nicht kennen. Was meinen Emil anlangt, so halte ich mich für überzeugt, daß es ihm, wenn er als Kind Einfalt und ein richtiges Urteil besaß, als Jüngling nicht an Seele und Gefühl fehlen wird, denn die Wahrheit der Gefühle beruht in hohem Grad auf der Richtigkeit der Begriffe.

Aber weshalb hier erst noch daran erinnern? Ohne Zweifel wird mir mehr als ein Leser den Vorwurf machen, ich wäre meiner früheren Absichten und des beständigen Glückes, welches ich meinem Zögling verheißen hatte, nicht eingedenk geblieben. Unglückliche, im Sterben Liegende, Bilder des Schmerzens und des Elends, welch ein Glück, welch ein Genuß für ein junges Herz, das eben erst zum Leben erwacht! Sein alles nur von der trüben Seite anschauender Erzieher läßt ihn, obgleich er ihm eine so angenehme Erziehung in Aussicht stellte, nur zum Leiden aufwachsen. Dergleichen Urteile wird man sicherlich fällen. Das soll mich jedoch wenig kümmern. Ich habe verheißen, ihn glücklich zu machen, nicht aber es mir zur Aufgabe gestellt, ihn nur zu einem scheinbaren Glück zu bringen. Liegt die Schuld etwa an mir, wenn ihr euch stets vom Schein betrügen laßt und denselben für Wirklichkeit haltet?

Denken wir uns zwei Jünglinge, die nach Beendigung ihrer ersten Erziehung durch zwei gerade entgegengesetzte Tore in die Welt eintreten. Der eine steigt plötzlich zum Olymp empor und bewegt sich in der glänzendsten Gesellschaft. Man führt ihn bei Hofe, bei den Großen, bei den Reichen, bei schönen Frauen ein. Ich setze voraus, daß er überall eine gute Aufnahme findet, und untersuche zunächst nicht die Wirkung derselben auf seine Vernunft; ich nehme an, daß sie ihr Widerstand leistet. Von einem Vergnügen fliegt er zum anderen, jeder Tag bietet ihm neue Freuden dar. Jeder Lust gibt er sich mit einem Interesse hin, das[40] euch irreleitet. Ihr nehmt wahr, wie aufmerksam, eifrig und begierig nach immer neuen Lustbarkeiten er ist. Seine anfängliche Verwunderung fällt euch auf; ihr haltet ihn für zufrieden. Aber werft nur einen Blick in seinen Seelenzustand! Ihr glaubt, daß er Genuß hat, ich dagegen bin der Ansicht, daß er leidet.

Was nimmt er zunächst wahr, sobald ihm die Augen aufgehen? Eine Menge vermeintlicher Güter, die er zuvor nicht kannte, und von denen die meisten, da sie sich seinen Blicken nur auf einen Augenblick darbieten, sich ihm nur zu zeigen scheinen, um ihm nachher den Schmerz über ihren Verlust desto fühlbarer zu machen. Durchwandelt er einen Palast, so verrät euch seine unruhige Neugier, daß er sich im stillen die Frage vorlegt, weshalb sein väterliches Haus nicht die gleiche Pracht aufzuweisen habe. Alle seine Fragen lassen durchblicken, daß er sich unablässig mit dem Herrn dieses Hauses vergleicht, und alles, was er Demütigendes für sich bei dieser Parallele entdeckt, erhöht seine Eitelkeit durch die ihr zugefügte Kränkung. Begegnet er einem jungen Manne, der besser gebildet ist als er, so kann ich sehen, wie er im geheimen über den Geiz seiner Eltern murrt. Ist er dagegen kostbarer gekleidet als ein anderer, so erfüllt es ihn mit Schmerz, zu sehen, wie dieser ihn entweder durch Geburt oder Geist verdunkelt, und wie all seine Vergoldungen von einem einfachen Tuchgewand in Schatten gestellt wird. Glänzt er allein in einer Gesellschaft erhebt er sich auf der Fußspitze, um besser gesehen zu werden, wer fühlte sich da wohl nicht von einer geheimen Lust beseelt, dem jungen Laffen für sein stolzes und selbstgefälliges Wesen die gebührende Züchtigung angedeihen zu lassen? Wie auf Verabredung vereinigt sich alsbald alles gegen ihn. Unablässig verfolgen ihn die beunruhigenden Blicke eines ernsten Mannes, rings um sich her vernimmt er die heißenden Bemerkungen eines Spötters, und ruht auch nur die Verachtung eines einzigen auf ihm, so vergiftet ihm die verächtliche[41] Behandlung dieses einzigen die Beifallsbezeigungen aller übrigen.

Wir wollen ihn mit allen Vorzügen ausstatten, mit verschwenderischer Hand soll ihm die Natur alle Reize der Anmut, alle Schätze des Geistes verliehen haben; er soll wohlgebildet, geistreich und liebenswürdig sein. Dann wird es nicht ausbleiben, daß sich die Frauen um ihn bemühen. Buhlen sie jedoch um seine Gunst, ehe er sie liebt, so werden sie weit eher einen Narren als einen Liebhaber aus ihm machen. Er wird bei ihnen Glück haben, aber die zum Genuß unentbehrliche stürmische Leidenschaft wird ihm fehlen. Da man seinen Wünschen beständig zuvorkommt und ihnen niemals Zeit läßt, inmitten all der Vergnügungen sich von selbst zu bilden, so wird er über den ihn auferlegten Zwang nur Verdruß empfinden. Das Geschlecht, welches zur Beglückung des seinigen bestimmt ist, erfüllt ihn mit Ekel und Uebersättigung, noch bevor er es kennt. Wenn er trotzdem den Umgang mit demselben nicht aufgibt, so geschieht es nur aus Eitelkeit; und wenn er auch eine wirkliche Neigung zu ihm faßte, so wird er doch nicht ausschließlich Anspruch auf Jugend, Glanz und Liebenswürdigkeit machen können, und deshalb in seinen Geliebten nicht immer Wunder der Treue finden.

Ich will gar nicht von den Neckereien, Verrätereien, Abscheulichkeiten, von der immer von neuem erwachenden Reue reden, die von einem solchen Leben unzertrennlich sind. Die Erfahrungen, die wir im Verkehr mit der Welt machen, verleiden uns; das ist eine anerkannte Tatsache. Ich rede hier nur von dem Kummer, der mit der ersten Täuschung verbunden ist.

Welch ein Kontrast erwartet denjenigen, welcher bisher auf den Kreis seiner Familie und seiner Freunde eingeschränkt gewesen ist und sich als den einzigen Gegenstand aller ihrer Zuvorkommenheit erblickt hat, wenn er nun plötzlich in eine Ordnung der Dinge eintritt, in der er[42] eine so geringe Betrachtung findet, wenn er sich in einer ihm fremden Sphäre wie verloren vorkommt, der so lange den Mittelpunkt der seinigen bildete! Welche Kränkungen, welche Demütigungen wird er nicht erdulden müssen, bevor sich in der ihm fremden Welt das Vorurteil von seiner Wichtigkeit wieder verliert, welches im Kreise der Seinigen in ihm erweckt und genährt wurde. Solange er Kind war, fügte sich alles seinem Willen, bemühte sich alles um ihn. Jetzt, wo er ein Jüngling ist, muß er sich in eines jeden Willen schicken. Vergißt er sich jedoch und hält er sein altes Wesen bei, welche harte Lehren werden ihn dann zwingen, in sich zu gehen! Daran gewöhnt, alle Gegenstände seiner Wünsche leicht zu erhalten, hat er seinen Wünschen einen stets größeren Umfang gegeben und bleibt infolgedessen fortwährend das Gefühl in ihm wach, wieviel er noch entbehren muß; alles, was ihm Freude macht, lockt ihn an; alles, was andere haben, möchte er auch haben; er trägt nach allem Gelüste, beneidet alle und möchte überall den Herrn spielen. Die Eitelkeit verzehrt ihn, die Glut zügelloser Begierden entflammt sein junges Herz. Mit ihnen erwachen Eifersucht und Haß; alle verzehrenden Leidenschaften lodern auf einmal in ihm empor. Mitten im Geräusch der Welt verläßt ihn ihre Aufregung nicht, und jeden Abend bringt er sie wieder heim. Mit sich und aller Welt unzufrieden, tritt er wieder über seine Schwelle. Voll von tausend eitlen Plänen, beunruhigt von tausend sorgenvollen Gedanken, schläft er endlich ein, und noch in seinen Träumen malt ihm sein Stolz die eingebildeten Güter aus, deren Erlangung er so schmerzlich ersehnt und die er doch nie in seinem Leben besitzen wird. Erkennet in diesen Zügen euren Zögling. Jetzt laßt uns den meinigen betrachten.

Wenn der erste Anblick, der sich ihm darbietet, ein trauriger ist, so ist gleichwohl die erste Wirkung desselben auf ihn ein freudiges Gefühl. Indem er sich bewußt wird, von wie vielen Uebeln er frei ist, fühlt er sich glücklicher[43] als er zu sein meinte. Er nimmt an den Leiden seiner Mitmenschen Anteil, allein diese Teilnahme ist freiwillig und süß. Er hat einen doppelten Genuß: mit dem angenehmen Gefühl, Mitleid mit den Leiden anderer zu empfinden, verbindet er gleichzeitig die Freude, sich von denselben frei zu wissen. Er fühlt sich auf jenem Höhepunkte der Kraft, wo sich dieselbe nicht an ihrem Wirkungskreis in uns genügen läßt, sondern uns anspornt, die Tätigkeit, welche nicht von unserem eigenen Wohlsein in Anspruch genommen wird, nach außen hin zu richten. Um fremdes Leid bedauern zu können, muß man es allerdings kennen, braucht es jedoch nicht zu fühlen. Hat man gelitten oder hegt man Besorgnis, leiden zu müssen, so bedauert man diejenigen, welche leiden; solange man indes selbst leidet, bedauert man nur sich. Da wir nun alle den Leiden des Lebens unterworfen sind und jeder den anderen nur so viel Teilnahme schenkt, als er für sich selbst gerade nicht bedarf, so ergibt sich daraus, daß das Mittleid ein außerordentlich süßes Gefühl sein muß, da es in beredter Weise unserer Ueberzeugung, daß wir uns in einer günstigeren Lage befinden, Ausdruck verleiht, und daß dagegen ein harter Mensch stets unglücklich sein wird, weil sein Herz so vollauf mit sich selbst beschäftigt ist, daß ihm kein Ueberschuß von Teilnahme übrigbleibt, welchen er den Leiden anderer widmen könnte.

Wir lassen uns in unserem Urteil über das Glück leider in zu hohem Grade von dem äußeren Schein leiten. Wir verlegen es in unserem Geiste dorthin, wo es am wenigsten zu finden ist, wir suchen es, wo es nimmer eine Stätte finden kann; Fröhlichkeit ist nur ein höchst zweideutiges Zeichen derselben. Häufig verbirgt sich unter einer heiteren Außenseite nur ein Unglücklicher, der andere zu täuschen und sich selbst zu betäuben sucht. Solche Leute, die in Gesellschaft so lustig, so zugänglich, so heiter sind, zeigen daheim fast alle ein finsteres und mürrisches Wesen, und an[44] ihren Dienstleuten lassen sie ihren Aerger über die Mühe aus, welche ihnen das ihren Gesellschaften bereitete Vergnügen gekostet hat. Die wahre Zufriedenheit ist weder lustig noch ausgelassen; eifersüchtig auf ein so süßes Gefühl, sucht man es zu genießen und bleibt sich desselben auch beim Genusse stets bewußt; man ist besorgt, es könnte entfliehen. Ein wahrhaft glücklicher Mensch spricht und lacht wenig; er verschließt sein Glück gleichsam in seinem Herzen. Rauschende Spiele, ausgelassene Freude bergen Eckel und Ueberdruß in sich. Melancholie dagegen ist die Freundin einer reinen Freude. Rührung und Tränen begleiten die süßesten Genüsse, und selbst der höchste Grad des Entzückens entlockt uns eher Tränen als Lachen.

Wenn es auch anfangs den Anschein hat, als ob die Menge und Mannigfaltigkeit der Lustbarkeiten zum Glück beitrüge, die Einförmigkeit eines geregelten und gleichmäßigen Lebens dagegen Langweile hervorrufen müßte, so findet man gleichwohl bei näherer Betrachtung, daß der süßeste Seelenzustand auf einem Maßhalten im Genusse beruht, welches weder Begierde noch Ueberdruß entstehen läßt. Die Unruhe der Begierde stachelt zu immer neuen Genüssen an, ruft Unbeständigkeit hervor, die Leere rauschender Vergnügungen erzeugt Langweile. Wir werden unseren Zustand jedoch niemals langweilig finden, solange wir keinen angenehmeren kennen. Von allen Men schen in der ganzen Welt tragen die Wilden am wenigsten Verlangen nach neuen Genüssen, und fühlen sich am wenigsten gelangweilt. Alles ist ihnen gleichgültig. Sie suchen ihren Genuß nicht in den Dingen, sondern in sich selbst. Sie verbringen ihr Leben mit Nichtstun und langweilen sich dabei nie.

Der Weltmann erscheint immer in fremder Maske. Da sich seine Gedanken fast nie mit ihm selbst beschäftigen, so ist er sich stets fremd und fühlt sich unangenehm berührt, sobald er zur Einkehr in sich gezwungen ist. Was er ist, bedeutet in seinen Augen nichts, der Schein gilt ihm alles.[45]

Es ist mir nicht möglich, mir jenen jungen Mann, von dem ich oben sprach, anders als mit einem gewissen unverschämten, süßlichen und affektierten Zug im Gesicht vorzustellen, welcher Mißfallen erregen und schlichte Leute abstoßen muß. Mein Zögling dagegen zeichnet sich nach meiner Vorstellung durch ein interessantes und einfaches Antlitz aus, auf welchem sich innere Zufriedenheit und wahre Heiterkeit der Seele abspiegelt, welches Achtung und Vertrauen einflößt und nur auf den Erguß der Freundschaft zu warten scheint, um denen, die ihm nahetreten, die seinige zu schenken. Man wähnt, daß die Gesichtsbildung nichts als die Entwicklung der von der Natur schon von Anbeginn an vorgezeichneten Züge sei. Ich dagegen bin der Ansicht, daß außer dieser Entwicklung die Gesichtszüge eines Menschen sich noch durch die wiederholentliche und gewohnheitsmäßige Einwirkung gewisser Seelenzustände unmerklich herausbilden und dadurch erst eine bestimmte Physiognomie annehmen. Nichts ist gewisser, als daß sich diese Seelenzustände auf dem Gesicht abspiegeln, und sobald sie zur Gewohnheit geworden sind, bleibende Eindrücke auf demselben zurücklassen müssen. Hierin liegt die Berechtigung für meine Behauptung, daß die Physiognomie den Charakter zu erkennen gibt und daß man bisweilen von dem einen auf das andere schließen kann, ohne erst geheimnisvolle Erklärungen zu Hilfe zu nehmen, welche Kenntnisse voraussetzen, die wir nicht besitzen.

Ein Kind hat nur zwei deutlich ausgeprägte Seelenzustände; Freude und Schmerz; es lacht oder weint; die dazwischen liegenden Abstufungen kennt es nicht. Unaufhörlich geht es von einer dieser Erregungen zur anderen über. Dieser beständige Wechsel tritt der Bildung eines bleibenden Eindrucks auf seinem Gesicht und dadurch der Ausprägung einer bestimmten Physiognomie hinderlich entgegen. In dem Alter dagegen, wo es für Eindrücke empfänglicher geworden ist und lebhafter und bedauernder erregt wird,[46] lassen die tieferen Eindrücke auch schwerer zu verwischende Spuren zurück, und seinem gewohnten Seelenzustande verdanken seine Gesichtszüge einen Charakter, welchen die Zeit unauslöschbar macht. Man kann indes gar nicht selten die Beobachtung machen, daß Menschen auf verschiedenen Altersstufen ihren Gesichtsausdruck ändern. Ich selbst habe mehrfach diese Erfahrung gemacht, und mich, wenigstens bei denjenigen, die ich genau beobachten und verfolgen konnte, stets überzeugt, daß dann auch in ihren gewohnten Neigungen ein Wechsel eingetreten war. Schon diese Beobachtung allein scheint mir, wenn sie hinreichende Bestätigung findet, entscheidend und in einer Abhandlung über Erziehung, wo es darauf ankommt, sich ein richtiges Urteil über die Vorgänge in der Seele nach den äußeren Kennzeichen zu bilden, nicht am unrechten Orte zu sein.

Ich weiß nicht, ob der von mir erzogene junge Mann deshalb weniger liebenswürdig sein wird, weil er die Kunst nicht erlernt hat, herkömmliche Manieren nachzuahmen und Gefühle zu heucheln, die er nicht hat. Aber darum handelt es sich hier auch gar nicht. Ich weiß nur, daß er liebreicher sein wird, und es kommt mir schwer an, zu glauben, daß derjenige, der nur sich liebt, sich in so hohem Grade sollte verstellen können, daß er einen ebenso angenehmen Eindruck hervorbrächte wie derjenige, welcher in seiner Liebe zu anderen nur eine Steigerung des Gefühls seines Glückes findet. Was aber dies Gefühl selbst anlangt, so denke ich mich darüber hinreichend ausgesprochen zu haben, um die Aufmerksamkeit eines verständigen Lesers auf diesen Punkt zu richten und den Beweis zu liefern, daß ich mir nicht widersprochen habe.

Ich komme also auf meine Methode zurück und sage: Wenn das kritische Alter herannaht, so laßt die jungen Leute nur solche Dinge sehen, die geeignet sind, sie zurückzuhalten, nicht aber solche, die aufregend auf sie wirken. Gebet ihrer Einbildungskraft keine Nahrung und beschäftigt[47] sie deshalb nur mit Dingen, die die Sinnlichkeit nicht entflammen, sondern die Tätigkeit derselben zurückhalten. Entfernt sie aus den großen Städten, wo der Putz und die unzüchtige Aufdringlichkeit der Frauen die Unterweisungen der Natur beschleunigt und ihnen zuvorkommt, wo alles ihren Augen Vergnügen ausmalt, die sie nicht eher kennen lernen sollen, als sie imstande sind, eine richtige Auswahl unter ihnen zu treffen. Bringt sie in ihre früheste Heimat zurück, wo die ländliche Einfachheit eine weniger schnelle Entwicklung der Leidenschaften ihres Alters zuläßt. Sollte sie jedoch ihre Liebe zu den Künsten auch ferner an die Stadt fesseln, so wendet diese Liebe als Mittel an, sie von einem gefährlichen Müßiggange fernzuhalten. Verwendet die größte Sorgfalt auf die Wahl ihres Gesellschaftskreises, ihrer Beschäftigungen und Vergnügungen. Laßt sie nur den Anblick rührender, aber züchtiger Bilder genießen, welche sie ergreifen, ohne sie zu verführen, die ihr Gefühl anfachen, ohne ihre Sinnlichkeit aufzuregen. Bedenkt übrigens, daß überall Uebertreibungen zu befürchten sind, und daß maßlose Gemütserregungen stets mehr Urteil stiften, als man dadurch zu verhüten vermag. Es handelt sich nicht darum, aus eurem Zögling einen Krankenwärter, einen Barmherzigen Bruder zu machen, seine Augen durch den fortwährenden Anblick von Leiden und Schmerzen zu verletzen, ihn von Krankenbett, von Hospital zu Hospital, von Richtplatz in die Gefängnisse zu schleppen. Der Anblick des menschlichen Elends soll einen wohltätigen Einfluß auf ihn ausüben, ihn aber nicht verhärten. Tritt uns lange Zeit immer nur derselbe Anblick entgegen, so werden wir endlich gegen die Eindrücke desselben unempfindlich. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Ein zu häufig wiederkehrender Anblick beschäftigt unsere Einbildungskraft nicht mehr, und doch ist diese es allein, welche uns fremdes Leid mitfühlen läßt. Infolge ihrer öfteren Anwesenheit bei dem Todeskampf und den Leiden anderer[48] verlieren Geistliche und Aerzte allmählich alles Mitgefühl. Euer Zögling lerne deshalb das menschliche Los und das Elend seiner Mitmenschen kennen, aber er darf nicht allzuoft Zeuge desselben sein. Ein einziger Gegenstand wird, wenn er gut gewählt ist und ihm in dem rechten Augenblicke gezeigt wird, ihn einen Monat lang aufregen und zu ernsten Betrachtungen veranlassen. Nicht sowohl der gehabte Anblick selbst, als vielmehr die Rückerinnerung an das, was er gesehen hat, liegt dem Urteil zugrunde, welches er darüber fällt, und den bleibenden Eindruck, den er von einem Gegenstand empfängt, verdankt er weniger dem Gegenstande selbst, als dem Gesichtspunkt, unter welchem er Veranlassung findet, sich desselben zu erinnern. So werdet ihr, wenn ihr euch auf wenige Beispiele, Lehren und Bilder beschränkt, den Stachel der Sinnlichkeit auf lange Zeit abstumpfen, und dadurch, daß ihr der von der Natur selbst eingeschlagenen Richtung folgt, sie von allen Irrwegen ablenken.

Nach Maßgabe der Einsichten, welche sich euer Zögling erworben hat, wählt nun auch solche Begriffe aus, welche sich auf dieselbe beziehen, und in dem Maße, als sich seine Begierden entzünden, wählt Bilder, die geeignet sind, sie niederzuhalten. Ein alter Soldat, der sich in gleich hohem Grade durch die Reinheit seines Wandels wie durch seinen Mut auszeichnete, erzählte mir einst, wie sein Vater, ein sehr verständiger, aber auch sehr frommer Mann, als er die Wahrnehmung gemacht habe, daß ihn, den Sohn, schon frühzeitig seine Neigung zu den Frauen hinziehe, nichts unversucht gelassen habe, um dieselbe zu unterdrücken. Als sich jedoch der Vater nicht mehr habe verhehlen können, daß der Sohn aller aufgebotenen Sorgfalt ungeachtet Miene mache, sich der väterlichen Ueberwachung gänzlich zu entziehen, sei er auf den Einfall geraten, ihn in ein Hospital für Syphilitische zu führen. Ohne ihn vorher davon in Kenntnis zu setzen, habe er ihn in einen Saal eintreten[49] lassen, in welchem eine große Anzahl dieser Unglücklichen unter einer mit furchtbaren Schmerzen verbundenen Kur für den ausschweifenden Lebenswandel, der sie hierhergeführt, habe büßen müssen. Bei diesem gräßlichen Anblick, der alle Sinne zu gleicher Zeit aufgeregt, sei der junge Mensch beinahe unwohl geworden. »Geh, elender Wüstling,« habe ihm darauf der Vater in heftigem Ton zugerufen, »folge der verächtlichen Neigung, die dich fortreißt; bald wirst du dich nur allzu glücklich fühlen, in diesem Saal Aufnahme zu finden, wo du, ein Opfer der schimpflichsten Schmerzen, deinen Vater zwingen wirst, Gott für deinen Tod zu danken.«

Diese wenigen Worte im Verein mit dem ergreifenden Gemälde, welches sich vor den Augen des jungen Mannes entrollte, machten einen unauslöslichen Eindruck auf ihn. Durch seinen Stand dazu verurteilt, seine Jugend in Garnisonstädten zu verleben, ertrug er lieber alle Spöttereien seiner Kameraden, als daß er sich dazu verstanden hätte, ihre Ausschweifungen nachzuahmen. » Ich bin auch ein Mensch gewesen,« sagte er zu mir, »und habe meine Schwächen gehabt, aber bis in mein jetziges Alter habe ich nie eine öffentliche Dirne ohne Grausen anzusehen vermocht.« Lehrer, wenige Worte, lerne aber Ort, Zeit und Personen wählen; und ferner gehe bei all deinem Unterrichte von Beispielen aus, dann kannst du des Erfolges sicher sein.

Auf die Anwendung des Kindesalters kommt nicht viel an. Fehler, die sich während desselben einschleichen, lassen sich noch heilen, und das Gute, zu dem vielleicht der Keim gelegt wird, kann auch später nachgeholt werden. Anders verhält es sich aber mit der ersten Periode des Jünglingsalters, in der der Mensch erst eigentlich zu leben beginnt. Mit Rücksicht auf die Anwendung, die man von diesem Alter machen soll, darf man wohl behaupten, daß es nie lange genug dauere, und daß seine Wichtigkeit eine ununterbrochene Aufmerksamkeit erheische. Deshalb lege ich[50] ein ganz besonderes Gewicht auf die Kunst, es zu verlängern. Eine der besten Vorschriften in bezug auf die richtige Anwendung desselben ist, alles soviel als möglich zu verzögern. Richtet es so ein, daß alle Fortschritte langsam und sicher seien. Verhindert, daß der Jüngling in dem Augenblicke Mann werde, wo ihm seinerseits nichts mehr zu tun übrigbleibt, um es zu werden. Solange der Körper noch im Wachstume begriffen ist, werden auch die Lebensgeister, welche die Bestimmung haben, dem Blute Balsam und den Fibern Kraft zu verleihen, gebildet und bereitet. Wenn ihr sie aber veranlaßt, eine andere Richtung zu nehmen, wenn das, was zur völligen Ausbildung eines Individuums bestimmt ist, zur Bildung eines anderen dienen muß, dann werden alle beide dem Zustande der Schwäche verfallen, und das Werk der Natur bleibt unvollkommen. Auch die Geistestätigkeiten leiden unter dieser Vergeudung der Lebenssäfte, und die Seele, welche die Kraftlosigkeit des Körpers teilt, zeigt sich in ihren Verrichtungen schwach und matt. Große und kräftige Glieder bringen eben freilich weder Mut noch Genie; ich begreife recht wohl, daß die Seelenstärke nicht die Begleiterin der Körperkraft sein kann, wenn die Organe, auf denen die Vereinigung der Seele und des Leibes beruht, im übrigen von schlechter Beschaffenheit sind. Wie gut sie indes auch immer beschaffen sein mögen, so werden sie doch stets nur eine schwache Tätigkeit auszuüben vermögen, wenn sie ihre Kraft nur aus einem erschöpften, verarmten Blut ergänzen können, dem gerade jene Substanz fehlt, welche allen Federn der Maschine Kraft und Bewegung verleiht. Im allgemeinen bemerkt man bei Männern, die in ihren Jünglingsjahren vor einer frühzeitigen Verderbnis behütet worden sind, mehr Seelenstärke als bei solchen, bei welchen ein ausschweifendes Leben schon in dem Augenblicke begann, wo sie sich befähigt fanden, sich demselben zu überlassen. Hierin liegt auch ohne Zweifel einer der Gründe, weshalb die[51] Völker, welche sich durch Reinheit der Sitten auszeichnen, gewöhnlich solche, welche lockere Sitten haben, an gesunder Vernunft und an Mut übertreffen. Letztere glänzen einzig und allein durch gewisse kleinliche, den Charakter der Verschmitztheit an sich tragende Eigenschaften, die sich Witz, Scharfsinn, Feinheit nennen; aber jene großen und edlen Erweisungen der Weisheit und Vernunft, die den Menschen durch schöne Handlungen, durch Tugend und durch wahrhaft nützliche Bestrebungen auszeichnen und ehren, finden sich sicherlich nur bei den ersteren.

Die Lehrer pflegen die Klage zu erheben, daß das diesem Alter eigene Feuer die Jugend unlenksam mache, und ich habe mich durch den Augenschein davon überzeugt. Aber liegt die Schuld nicht in ihnen selbst? Sollten sie nicht wissen, daß man diesem Feuer, sobald es einmal die Sinnlichkeit in Flammen gesetzt hat, niemals eine andere Richtung zu geben vermag? Werden etwa die langen und frostigen Predigten eines Pedanten in dem Geiste seines Zöglings das Bild der Freude, die er genossen hat, wieder verwischen? Werden sie aus seinem Herzen die Lüste verbannen, die es quälen? Werden sie die Glut einer Sinnlichkeit ersticken, deren Anwendung ihm schon bekannt ist? Wird sich nicht sein ganzer Zorn gegen die Hindernisse kehren, welche sich dem einzigen Glücke, von dem er eine Vorstellung hat, entgegenstellen? Und was wird er in dem harten Gesetz, welches man ihm vorschreibt, ohne es ihm gleichzeitig zum Verständnis bringen zu können, anders erblicken als die Laune und den Haß eines Mannes, der darauf ausgeht, ihn zu peinigen? Ist es so seltsam, daß er sich dagegen auflehnt und ihn nun von ganzem Herzen haßt?

Ich sehe sehr wohl ein, daß man sich durch Nachsicht weniger widerwärtig machen und eine scheinbare Autorität bewahren kann. Aber mir fehlt völlig das Verständnis, welchen Nutzen eine Autorität schafft, welche man über seinen Zögling nur dadurch zu bewahren vermag, daß man[52] die Laster, die sie unterdrücken sollte, großzieht? Das ist genau dasselbe, als wenn ein Reiter ein unbändiges Roß, um es zu bändigen, in einen Abgrund springen ließe.

Weit davon entfernt, daß dieses jugendliche Feuer ein Hindernis der Erziehung ist, trägt es vielmehr zur Vollendung und Beendigung derselben bei; es verleiht euch Gewalt über das Herz eines Jünglings, sobald er aufhört, weniger stark zu sein als ihr. Die ersten Aeußerungen seiner Leidenschaft bilden die Zügel, an denen ihr alle seine Regungen zu lenken vermögt; er war frei, jetzt aber sehe ich ihn unterworfen. Solange er noch nichts liebte, hing er nur von sich selbst und seinen Bedürfnissen ab; sobald er jedoch liebt, ist er von den Gegenständen seiner Liebe abhängig. Auf diese Weise bilden sich die ersten Bande, die ihn an das menschliche Geschlecht fesseln. Gebt euch indes, wenn ihr euch bemüht, seine erwachende Liebe auf dasselbe zu lenken, nicht dem Wahne hin, als ob sie sofort alle Menschen umfassen und der Ausdruck »Menschengeschlecht« irgendeine Bedeutung für ihn haben werde. Nein, diese Liebe wird sich anfänglich auf seinesgleichen beschränken, und als seinesgleichen wird er nicht Unbekannte, sondern nur solche anerkennen, mit denen er in freundschaftlichen Verhältnissen steht, solche, welche ihm Gewohnheit lieb oder notwendig gemacht hat, solche, an denen er augenscheinlich bemerkt, daß sie seine ganze Anschauungs- und Empfindungsweise teilen, solche, die er denselben Leiden ausgesetzt sieht, die er selbst erduldet, und die für dieselben Freuden empfänglich sind, an denen er seine Lust gehabt hat, mit einem Worte solche, deren völlige Uebereinstimmung mit seiner Natur ihn mit der größten Zuneigung zu ihnen erfüllt. Erst nach allseitiger Ausbildung seines Naturells, nach vielfältigen Reflexionen über seine eigene und an andere beobachteten Empfindungen, wird er sich so weit emporschwingen, seine individuellen Vorstellungen zu dem abstrakten Begriffe der Menschheit zu verallgemeinern und[53] seinen persönlichen Neigungen noch diejenigen anzureihen, die ihn mit seiner Gattung in jeder Beziehung in Uebereinstimmung zu setzen vermögen.

Von dem Augenblick an, wo er der eigenen Zuneigung fähig wird, wird er auch für die ihm entgegenkommende Liebe anderer empfänglich100 und infolgedessen auf die Zeichen derselben aufmerksam. Begreift ihr, welche neue Herrschaft ihr dadurch über ihn erlangen werdet? Mit welchen Fesseln habt ihr sein Herz umschlungen, ehe er es gewahr wurde! Welche Gefühle werden sich seiner nicht bemächtigen, wenn ihm erst die Augen über sich selbst aufzugehen beginnen und er nun mit einem Male sehen wird, was ihr für ihn getan habt; wenn er erst imstande sein wird, sich mit anderen jungen Leuten seines Alters und euch mit anderen Erziehern zu vergleichen! Ich sage ausdrücklich: Wenn er es sehen wird! Hütet euch aber wohl, ihn darauf aufmerksam zu machen; wenn ihr es ihm sagt, wird er es nicht mehr wahrnehmen. Verlangt ihr von ihm als eine Art Vergeltung für die Mühe, die ihr euch mit ihm gegeben habt, Gehorsam, so wird er sich einbilden, ihr wolltet denselben durch List von ihm erzwingen; er wird sich einreden, ihr hättet euch nur gestellt, ihm ohne alle Anspruch auf Dank einen Dienst zu leisten, in Wahrheit hättet ihr jedoch die Absicht gehabt, ihn mit einer Schuld zu beladen und durch einen Vertrag zu binden, zu welchem er in keiner Weise seine Zustimmung gegeben habe. Umsonst werdet ihr hinzufügen, daß ja das, was ihr von ihm verlangt, nur zu seinem Besten diene; ihr verlangt einmal, und verlangt kraft dessen, was ihr ohne seine Zustimmung getan habt. Wenn ein Unglücklicher[54] das Geld annimmt, mit dem man ihm ein Geschenk zu machen vorgibt, und dadurch wider seinen Willen angeworben wird, so schreit ihr über Ungerechtigkeit; seid ihr aber nicht noch viel ungerechter, wenn ihr von eurem Zögling den Lohn für eine Sorgfalt fordert, die er gar nicht von euch verlangt hat?

Die Undankbarkeit würde viel seltener sein, wenn die Wohltaten auf Wucher nicht so allgemein wären. Es ist ein so natürliches Gefühl, daß man den liebt, welcher uns Gutes erweist. Die Undankbarkeit findet sich nicht im menschlichen Herzen, wohl aber der Eigennutz. Es gibt weniger Undankbare, die eine Ursache zum Dank haben, als eigennützige Wohltäter.101 Sagt ihr offen, daß ihr mir eure Liebesgaben verkauft, so werde ich um den Preis feilschen. Stellt ihr euch aber, als machtet ihr ein wirkliches Geschenk, um nachher trotzdem einen euch beliebigen Preis darauf zu setzen, so übt ihr Betrug. Nur das Geschenk, bei dem man keinen Anspruch auf Dank erhebt, ist unschätzbar. Das Herz nimmt nur die Gesetze an, die aus ihm selber fließen. Will man ihm Fesseln anlegen, so gibt man ihm dadurch erst recht die Freiheit, nur wenn man es frei läßt, vermag man es zu fesseln.

Wenn der Fischer den Köder auswirft, so kommt der Fisch herbei und schwimmt ohne Mißtrauen um denselben herum. Wenn er aber von dem unter der Lockspeise angebrachten Angelhaken erfaßt wird und fühlt, daß die Schnur zurückgezogen wird, bestrebt er sich, zu fliehen. Ist der Fischer nun etwa der Wohltäter, der Fisch der Undankbare? Macht man je die Erfahrung, daß ein von seinem Wohltäter vergessener Mensch diesen auch seinerseits vergißt? Im Gegenteil, es macht ihm Freude, beständig von[55] demselben zu sprechen, und nie gedenkt er seiner ohne Rührung. Findet sich Gelegenheit, wo er ihm durch einen unerwarteten Dienst beweisen kann, daß er der empfangenen Wohltaten noch immer eingedenk sei, mit welcher inneren Befriedigung erfüllt er dann die Pflicht der Dankbarkeit! Mit welcher süßen Freude gibt er sich ihm zu erkennen! Mit welchem Entzücken sagt er zu ihm: »Jetzt ist die Reihe an mir!« – Wahrlich, darin spricht sich die Stimme der Natur aus. Sicherlich hat eine wahre Wohltat noch nie einen Undankbaren gemacht.

Wenn also die Dankbarkeit ein natürliches Gefühl ist, und ihr die Aeußerung derselben nicht durch eigene Schuld verhindert, so könnt ihr euch versichert halten, daß euer Zögling, sobald er erst den Wert eurer Sorgfalt einzusehen beginnt, dieselbe zu würdigen wissen wird, vorausgesetzt, daß ihr ihren Preis nicht selbst festgesetzt habt, und könnt auch glauben, daß sie euch in seinem Herzen eine durch nichts zu erschütternde Autorität verschaffen wird. Bevor ihr jedoch dieses Vorteils völlig sicher seid, müßt ihr sehr auf eurer Hut sein, dessen nicht dadurch verlustig zu gehen, daß ihr euch bei ihm ein besonderes Ansehen geben wollt. Eure Dienste in seiner Gegenwart herausstreichen, heißt; sie ihm unerträglich machen; sie vergessen, heißt; sie ihm ins Gedächtnis rufen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo eine männliche Behandlung ihm gegenüber nötig wird, darf nie die Rede davon sein, was er euch, sondern nur davon, was er sich selbst zu verdanken hat. Und ihn folgsam zu machen, laßt ihm volle Freiheit; entzieht euch ihm, damit er euch aufsuche; erhebt seine Seele zu dem edlen Gefühl der Dankbarkeit, indem ihr lediglich von seinem eigenen Interesse zu ihm redet. Ich habe gewünscht, daß man ihm nicht eher sagt, daß alles, was man für ihn getan habe, zu seinem eigenen Besten sei, bis er imstande wäre, es zu verstehen. Er würde aus einer solchen Erklärung nur eure Abhängigkeit herausgefühlt und euch als seinen Diener betrachtet[56] haben. Jetzt jedoch, wo er zu fühlen beginnt, was Liebe heißt, sagt ihm auch sein Gefühl, welch süßes Band einen Menschen mit dem, welchen er liebt, vereinigen könne, und in dem Eifer, mit dem ihr euch unaufhörlich um ihn beschäftigt, erblickt er nicht mehr die bloße Ergebenheit eines Sklaven, sondern die Liebe eines Freunde. Aber nichts hat einen größeren Einfluß auf das Menschenherz, als die Stimme offen bekannter Freundschaft, denn man weiß, daß sie sich stets nur in unserem Interesse erhebt. Man kann zwar annehmen, daß ein Freund sich selbst täuscht, nicht aber, daß er darauf ausgehe, uns zu täuschen. Bisweilen fühlt man sich mit seinen Ratschlägen nicht einverstanden, nie aber verachtet man sie.

Jetzt endlich sind wir bei der moralischen Ordnung angelangt. Wir haben soeben einen zweiten Mannesschritt getan. Wenn hier der Ort dazu wäre, so würde ich nachzuweisen versuchen, wie sich schon bei den ersten Regungen des Herzens sofort die Stimme des Gewissens vernehmen läßt, und wie schon die ersten Gefühle der Liebe und des Hasses auch die ersten Begriffe von gut und böse in ihrem Gefolge haben. Ich würde anschaulich machen, daß Gerechtigkeit und Güte nicht bloße abstrakte Worte, nicht bloße moralische Gebilde der Vernunft sind, sondern wirkliche Gefühle der durch die Vernunft erleuchteten Seele, welche nur eine von der Natur gebotene Fortbildung unseres ursprünglichen Seelenzustandes bilden; daß man durch die Vernunft allein und unabhängig vom Gewissen kein natürliches Gesetz aufzustellen vermag, und daß das ganze sogenannte Naturrecht nichts als ein Hirngespinst ist, wenn es sich nicht auf ein dem Menschenherze natürliches Bedürfnis gründet.102 Allein ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt,[57] hier metaphysische und moralische Abhandlungen oder Lehrgänge irgendwelcher Art zu schreiben; es genügt mir, die Reihenfolge und den Fortschritt unserer Gefühle und unserer Kenntnisse im Verhältnis zu unserer sonstigen Lage anzudeuten. Andere werden vielleicht das, was ich hier nur flüchtig skizziere, ausführlicher auseinandersetzen.

Da bisher mein Emil nur auf sich selbst geachtet hat, so treibt ihn der erste Blick, welchen er auf seine Nebenmenschen wirft, zur Vergleichung mit denselben an, und das erste Gefühl, welches diese in ihm hervorruft, ist der Wunsch, die erste Stelle einzunehmen. Das ist nun der Punkt, wo sich die Selbstliebe in Eigenliebe verwandelt, und wo sich alle Eigenschaften, die letztere stets in ihrem Gefolge mit sich führt, zu bilden beginnen. Um indes zu entscheiden, ob diejenigen dieser Leidenschaften, welche in seinem Charakter zur Herrschaft gelangen werden, menschlich und sanft, oder grausam und bösartig, ob es Leidenschaften[58] des Wohlwollens und des Erbarmens oder des Neides und der Begehrlichkeit sein werden, muß er sich darüber klar werden, welche Stellung er von nun an unter den Menschen einzunehmen gedenkt und welche Art von Hindernissen sich ihm aller Voraussetzung nach entgegenstellen werden, um diejenige in der Tat zu erlangen, die er sich zu erwerben wünscht.

Um ihn bei dieser Untersuchung zu leiten, muß man ihm die Menschen, nachdem man sie ihn zuvor nur nach den der ganzen Gattung gemeinsamen Eigenschaften kennen gelernt hat, auch nach ihren Verschiedenheiten zeigen. Hier lenkt sich nur der Blick auf die Größe der natürlichen wie der bürgerlichen Ungleichheit unter den Menschen, und auf das Gemälde der ganzen sozialen Ordnung.

Man muß die Gesellschaft durch die Menschen und die Menschen durch die Gesellschaft studieren. Diejenigen, welche die Politik und die Moral gesondert voneinander behandeln wollen, werden nie dazu gelangen, auch nur eine derselben richtig zu verstehen. Richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst nur auf die ursprünglichen Verhältnisse, so erkennen wir schon, einen wie hohen Einfluß sie auf die Menschen gewinnen und welche Leidenschaften sie wachrufen müssen. Ferner bemerken wir, wie mit dem Fortschreiten der Leidenschaften die Vermehrung sowie die Beschränkung dieser Verhältnisse gleichen Schritt halten. Die Unabhängigkeit und Freiheit der Menschen beruht weniger auf der Kraft der Arme als vielmehr auf der Mäßigung der Herzen. Wer wenig begehrt, hängt von wenigen ab. Weil wir jedoch unsere eitlen Wünsche beständig mit unseren physischen Bedürfnissen verwechseln, so haben diejenigen, welche in letzteren die Grundlage der menschlichen Gesellschaft gefunden zu haben glauben, die Wirkungen regelmäßig für die Ursache gehalten, und haben deshalb mit allen ihren Schlußfolgerungen niemals zu einem richtigen Resultate kommen können.[59]

Im Naturzustande gibt es in der Tat eine wirkliche und unzerstörbare Gleichheit, weil der alleinige Unterschied zwischen Mensch und Mensch in diesem Zustand unmöglich groß genug sein kann, und den einen in die Abhängigkeit des anderen zu bringen. Im bürgerlichen Zustande gibt es dafür eine Rechtsgleichheit, die aber nur in der Einbildung besteht, weil die zu ihrer Erinnerung bestimmten Mittel selbst an ihrer Zerstörung arbeiten und die öffentliche Gewalt, deren sich der Stärkere nur zur Unterdrückung des Schwächeren bedient, die Gleichheit vernichtet, welche die Natur zwischen ihnen hergestellt hatte.103 Aus diesem ersten Widerspruch leiten sich alle übrigen her, die in der bürgerlichen Ordnung zwischen Schein und Wirklichkeit hervortreten. Stets wird die Menge der Minorität und das öffentliche Interesse dem Sonderinteresse geopfert werden. Immer werden die Namen Gerechtigkeit und Unterordnung, denen ja eine gewisse Berechtigung zur Seite steht, der Gewalt als Werkzeug und der Ungerechtigkeit als Waffen dienen. Hieraus ergibt sich, daß die bevorzugten Klassen, welche den anderen Ständen Nutzen zu bringen behaupten, in Wahrheit nur auf Kosten der übrigen ihrem eigenen Nutzen nachjagen. Danach läßt sich beurteilen, welches Ansehen ihnen nach Recht und Vernunft gebührt. Um darüber ins klare zu kommen, wie jeder von uns sein eigenes Schicksal beurteilen müsse, bleibt uns noch zu erwägen, ob der Rang, den sie sich beigelegt haben, auch wirklich zum Glücke derer, die ihn einnehmen, ausschlägt. Diese Untersuchung ist für uns jetzt von größter Wichtigkeit; um sie aber mit Erfolg anstellen zu können, müssen wir zunächst das menschliche Herz zu lernen suchen.

Wenn es sich nur darum handelte, den jungen Leuten[60] den Menschen in seiner Maske zu zeigen, so könnte man von diesem Beginnen ruhig abstehen, weil er sich ihren Blicken nur allzu häufig ganz von selbst darbieten würde. Da indes die Maske selbst ist, und sein äußerer Firnis sie nicht irreführen darf, so malt ihnen die Menschen, wenn ihr euch einmal diese Aufgabe gestellt habt, so wie sie in Wirklichkeit beschaffen sind, nicht um ihnen Haß gegen dieselben, sondern Mitleid und den Wunsch einzuflößen, ihnen nicht ähnlich werden zu wollen. Das ist meines Erachtens das richtigste Gefühl, von welchem der Mensch in bezug auf seine Gattung erfüllt sein kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus wird sich unschwer die Notwendigkeit nachweisen lassen, von jetzt an einen dem bisher verfolgten ganz entgegengesetzten Weg einzuschlagen und den jungen Mann vielmehr durch die Erfahrung, welche er andere machen sieht, als durch seine eigene zu unterrichten. Wird er von den Menschen getäuscht, so wird er sie hassen; nimmt er dagegen wahr, daß sie sich, während sie es an Achtung gegen ihn nicht fehlen lassen, gegenseitig täuschen, so wird er sie bemitleiden. Das Schauspiel der Welt, sagt Phytagoras, gleicht dem der olympischen Spiele; etliche schlagen Buden auf und haben nur ihren Gewinn im Auge; andere setzen, um Ruhm zu gewinnen, ihr Leben ein, und wieder andere begnügen sich, den Spielen zuzuschauen, und das sind die Schlechtesten.

Mein Wunsch wäre, man wählte die Gesellschaft eines jungen Mannes derart, daß er sich von denen, die mit ihm leben, nur eine gute Meinung bilden könnten, während man ihm gleichzeitig eine so genaue Weltkenntnis beibrächte, daß er von allem, was sich in der Welt zuträgt, eine schlechte Meinung faßte. Er lerne, daß der Mensch von Natur gut ist, er fühle die Wahrheit lebendig in sich selbst und schließe von sich auf seinen Nächsten. Aber es darf seinen Blicken auch nicht entgehen, daß die Gesellschaft die Menschen verdirbt[61] und verschlechtert; in ihren Vorurteilen finde er die Quelle aller ihrer Fehler. Bei aller Achtung des einzelnen verachte er die Menge. Er überzeuge sich davon, daß alle Menschen fast die gleiche Maske tragen, aber er erfahre, auch, daß es Gesichter gibt, die schöner sind als die Maske, welche sie bedeckt.

Diese Methode hat unleugbar ihre Schattenseiten und bietet in der Praxis große Schwierigkeiten dar, denn wird der junge Mann zu früh Beobachter, haltet ihr ihn an, den Handlungen anderer eine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken, so tragt ihr selbst die Schuld, wenn sich in ihm ein Hang zum Spott und der Satire herausbildet, wenn er sich ein absprechendes und vorschnelles Wesen aneignet. Er wird eine häßliche Freude darin finden, alles auf das übelste auszulegen und selbst das wirklich Gute mit sehenden Augen nicht zu sehen. Wenigstens wird er sich an den Anblick des Lasters gewöhnen, und es dahin bringen, die Schlechten ohne Abscheu anzublicken, genau in derselben Weise, wie man sich daran gewöhnt, die Unglücklichen ohne Mittleid zu betrachten. Binnen kurzem wird ihm die allgemeine Verderbnis weniger zur Lehre als zur Entschuldigung dienen. Er wird sich ganz einfach sagen, wenn der Mensch einmal so beschaffen sei, so wäre auch keine Ursache vorhanden, anders sein zu wollen.

Hegt ihr dagegen die Absicht, ihn nach Grundsätzen zu unterrichten und ihn nicht nur mit der Natur des menschlichen Herzens, sondern auch mit der Einwirkung der äußeren Ursache bekannt zu machen, welche unsere Neigungen in Laster verwandeln, so wendet ihr, indem ihr seine Aufmerksamkeit plötzlich von sinnlichen Gegenständen auf intellektuelle hinlenkt, eine Metaphysik an, die er nicht zu begreifen imstande ist; ihr verfallt in den Uebelstand, den ihr bisher so sorgfältig vermieden habt, ihm nicht durch die Anschauung gewonnene, sondern rein abstrakte Lehren zu geben und in seinem Geiste an Stelle seiner eigenen[62] Erfahrung und der Fortschritte seiner sich stetig entwickelnden Vernunft die Erfahrung und Autorität des Lehrers zu setzen.

Zur gleichzeitigen Beseitigung beider Hindernisse und um seiner Fassungskraft die Kenntniss des menschlichen Herzens zu erleichtern, ohne daß ich Gefahr zu laufen brauche, das seinige zu verderben, beabsichtige ich, ihm die Menschen von ferne zu zeigen, sie ihm aus anderen Zeiten oder an anderen Orten und zwar dergestalt zu zeigen, daß er den Schauplatz zu überblicken vermag, ohne in die Möglichkeit versetzt zu sein, handelnd auf demselben aufzutreten. Damit ist der richtige Augenblick für den Beginn des Geschichtsunterrichts gegeben. Durch seine Vermittlung wird er ohne die Lehren der Philosophie in den Herzen lesen lernen, durch seine Beihilfe wird er die Menschen in der Eigenschaft eines einfachen Zuschauers, ohne Interesse und Leidenschaft, als ihr Richter, nicht aber als ihr Mitschuldiger und ihr Ankläger betrachten.

Will man die Menschen kennen lernen, muß man sie handeln sehen. In der Welt hört man sie nur sprechen; in ihren Reden treten sie zwar öffentlich hervor, aber ihre Handlungen verbergen sie. In der Geschichte stehen sie jedoch entschleiert vor uns, und man beurteilt sie nach ihren Taten. Selbst ihre Reden sind uns zu ihrer richtigen Beurteilung behilflich, denn durch Vergleich ihrer Taten und ihrer Worte erkennt man zugleich, was sie sind und welchen Schein sie sich geben wollen; je mehr sie sich verstellen, desto besser erkennt man sie.

Unglücklicherweise ist dieses Studium mit Gefahren und Uebelständen vielfacher Art verbunden. Es bietet Schwierigkeiten dar, sich auf einen Standpunkt zu stellen, von dem aus man seine Mitmenschen mit Billigkeit zu beurteilen imstande ist. Eine große Schattenseite der Geschichte liegt in dem Umstande, daß sie die Menschen weit mehr nach[63] ihren schlimmen als nach ihren guten Seiten darstellt. Da sie unser Interesse nur durch Revolutionen und Katastrophen zu fesseln weiß, so bleibt sie stumm, solange ein Volk in der Stille einer friedlichen Regierung zunimmt und in glücklichen Verhältnissen lebt; sie fängt erst dann wieder von demselben zu berichten an, wenn es, außerstande sich selbst zu genügen, sich in die Angelegenheiten seiner Nachbarn mischt oder sich letztere in die seinigen mischen läßt; erst dann stellt sie ein Volk in das glänzendste Licht, wenn es seinem Untergang bereits nahe ist. Alle unsere Geschichtswerke beginnen da, wo sie schließen sollten. Es fehlt uns nicht an eingehenden Werken über die geschichtliche Entwicklung derjenigen Völker, die zerfallen und zugrunde gehen, um so mehr aber an Schilderungen solcher Völker, die sich einer ruhigen und gleichmäßigen Zunahme zu erfreuen haben. Sie sind so glücklich und so weise, daß die Geschichte nichts von ihnen zu berichten weiß. Und in der Tat können wir uns selbst in unseren Tagen davon überzeugen, daß man von den besten Regierungen am wenigsten spricht. Es ist uns also nur das Schlechte bekannt, das Gute vermag kaum Aufmerksamkeit zu erregen. Nur die Bösen gelangen zu Berühmtheit, die Guten geraten in Vergessenheit oder werden Gegenstände des Gelächters, und so verleumden die Geschichte ebenso wie die Philosophie unaufhörlich das menschliche Geschlecht.

Dazu tritt ferner noch der Uebelstand, daß uns die Darstellungen der Geschichte keineswegs ein treues Abbild der wirklichen Tatsachen geben; sie ändern im Kopfe des Geschichtschreibers ihre Form, gestalten sich nach seinen Interessen und erhalten durch seine Vorurteile ihre besondere Färbung. Wer versteht wohl die Kunst, seinen Leser genau an den Ort des Schauspiels zu versetzen, daß er einen Vorgang geradeso zu sehen imstande ist, wie er sich ereignet hat? Unwissenheit oder Parteilichkeit tragen die Schuld, daß alle Tatsachen entstellt werden. Ein wie verschiedenes[64] Gepräge kann man einem historischen Zug ohne eigentliche Fälschung schon durch die bloße Erweiterung oder Verengerung der damit im Zusammenhange stehenden Nebenumstände geben! Laßt ihr den nämlichen Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, so wird er noch kaum als derselbe erscheinen, und trotzdem hat außer dem Auge des Beschauers nichts eine Aenderung erlitten. Genügt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Erzählung einer an sich wahren Tatsache, wenn man sie mir ganz anders zeigt, als sie sich in Wirklichkeit ereignet hat? Wie oft hat ein Baum mehr oder weniger, ein Felsen zur Rechten oder zur Linken, ein vom Winde plötzlich aufgejagter Staubwirbel, die Entscheidung einer Schlacht herbeigeführt, ohne daß jemand diesen Umstand beachtet hätte! Hält dies aber etwa den Geschichtschreiber ab, euch die Ursache der Niederlage oder des Sieges mit einer Sicherheit zu erklären, als ob er überall persönlich zugegen gewesen wäre? Was kann mir aber an der bloßen Aufzählung von Tatsachen gelegen sein, wenn mir deren Ursachen unbekannt bleiben? Und welche Lehren kann ich einem Ereignis entnehmen, dessen wahre Ursache ich nicht kenne? Der Geschichtschreiber gibt mir zwar eine an, aber leider nur eine von ihm selbst ersonnene; und sogar die Kritik, von der man so viel Wesen macht, hat es lediglich mit Konjunkturen zu tun, ist nichts anderes als die Kunst, unter mehreren Lügen diejenige auszuwählen, welche der Wahrheit am ähnlichsten sieht.

Habt ihr schon Kleopatra oder Kassandra oder andere Bücher dieser Gattung gelesen? Der Verfasser sucht sich irgendeine bekannte Begebenheit aus, paßt sie seinem Zweck an, schmückt sie mit Einzelheiten eigener Erfindung aus, führt in dieselbe Persönlichkeiten ein, die nie existiert haben, fügt einige Schilderungen hinzu, die nur Ergüsse seiner lebhaften Einbildungskraft sind, und häuft so Erdichtung auf Erdichtung, um die Lektüre seines Werkes angenehm[65] zu machen. Ich nehme zwischen dergleichen Romanen und euren Geschichtswerken wenig Unterschied wahr; höchstens könnte als ein solcher der Umstand gelten, daß der Romanschreiber mehr seiner eigenen Einbildungskraft die Zügel schießen läßt, während der Geschichtschreiber mehr durch die Phantasie anderer leiten läßt. Dem möchte ich übrigens, wenn man will, noch die Bemerkung hinzufügen, daß der erstere einen moralischen Zweck verfolgt, mag derselbe edel oder unedel sein, wonach der letztere wenig fragt.

Man wird den Einwurf machen, daß weniger die geschichtliche Treue als vielmehr die Wahrheit der Sitten- und Charakterschilderungen von Wichtigkeit sei; wenn sich nur die Darstellung des menschlichen Herzens als richtig erweise, so komme wenig darauf an, ob auch die Erzählung der Begebenheiten in allen Punkten treu sei; denn, fügt man hinzu, was hat das bei Begebenheiten zu sagen, die sich bereits vor zweitausend Jahren ereignet haben? Man hat recht, wenn die Gemälde nach der Natur gezeichnet sind; wenn jedoch das Modell zu den meisten nur in der Phantasie des Geschichtschreibers liegt, heißt es dann nicht in denselben Uebelstand zurückzufallen, den man vermeiden wollte, und der Autorität des Schriftstellers das einräumen, was man sich der des Lehrers zu entziehen bestrebt? Soll einmal mein Zögling nur Phantasiegemälde zu sehen bekommen, so will ich lieber, daß sie ihm von mir als von einem anderen gezeichnet werden; wenigstens werden sie dann mit seinem sonstigen Wissen besser in Einklang stehen.

Die schädlichsten Geschichtschreiber für einen jungen Mann sind diejenigen, welche stets ihr eigenes Urteil hinzufügen. Tatsachen, nichts als Tatsachen! Das Urteil bleibe dem Leser selbst überlassen; dadurch eignet er sich Menschenkenntnis an. Läßt er sich unaufhörlich durch das Urteil des Verfassers leiten, so sieht er nur durch das Auge eines anderen, und wenn ihm dies Auge fehlt, so sieht er gar nichts mehr.[66]

Die Geschichte unserer Zeit lasse ich ganz beiseite, nicht allein um deswillen, weil sie heutigestags keinen ausgeprägten Charakter mehr hat und die Menschen sich alle gleichen, sondern auch weil unsere Geschichtschreiber, einzig und allein darauf bedacht, zu glänzen, ihr Augenmerk nur darauf richten, bei ihren Charakteristiken die Farben so stark wie möglich aufzutragen und gerade dadurch die Darstellung im hohen Grade beeinträchtigen.104 Im allgemeinen geben die Alten weniger scharfe Charakteristiken, und ihre Urteile zeichnen sich weniger durch Witz und Geist als durch gesunde Vernunft aus. Trotzdem muß man auch unter ihnen eine sorgfältige Auswahl treffen und anfangs nicht die scharfsinnigsten, sondern die einfachsten zur Lektüre bestimmen. Ich möchte einem jungen Menschen weder den Polybius noch den Sallust in die Hand geben; Tacitus ist ein Buch für Greise, Jünglingen gebricht es an Verständnis für ihn. Bevor man die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen vermag, muß man lernen, in den menschlichen Handlungen die ersten Züge desselben aufzufinden; bevor man in den Grundsätzen zu lesen versteht, muß man in den Taten zu lesen wissen. Zur philosophischen Behandlung der Grundsätze gehört Erfahrung. Die Jugend darf nichts generalisieren; ihr ganzer Unterricht muß aus einzelnen Vorschriften bestehen.

Thukydides halte ich für das echte Muster eines Geschichtschreibers. Er berichtet einfach die Tatsachen, ohne sein eigenes Urteil über diese hinzuzufügen, aber er übergeht keinen Umstand, der dazu beitragen kann, daß wir uns ein eigenes Urteil zu bilden vermögen. Alles, was er erzählt, geht unmittelbar unter den Augen des Lesers vor sich; statt sich vermittelnd zwischen die Begebenheiten[67] und den Leser zu stellen, tritt seine Person völlig zurück; man glaubt nicht zu lesen, man glaubt zu sehen. Leider spricht er nur immer vom Kriege, und man begegnet in seinen Erzählungen fast nur Dingen, denen wir nur sehr wenige Lehren entnehmen können, nämlich Kriegsgeschichten. Der Rückzug der Zehntausend und die Kommentarien des Cäsar zeichnen sich fast durch eine gleich maßvolle Darstellung, aber auch durch denselben Fehler aus. Der gute Herodot, der wenig Charakteristiken und Sentenzen bringt, aber fließend und naiv erzählt und eine Menge der interessantesten und anziehendsten Anekdoten enthält, würde vielleicht der beste Historiker sein, wenn ebendiese Anekdoten nicht oft in wahrhaft kindische Einfalt ausartete, die eher dazu angetan ist, den Gegenstand der Jugend zu verderben als zu bilden. Zu seiner Lektüre muß man schon einen hohen Grad von Urteilskraft besitzen. Ich will mich hier bei Titus Livius nicht aufhalten, da ich später auf ihn zurückkommen werde; aber er ist Politiker und Redner, kurz, er ist alles, was für dieses Alter nicht paßt.

Die Geschichte ist überhaupt insofern mangelhaft, als sie nur sinnliche und sichtlich hervortretende Tatsachen, die man durch Namen, Orte und Jahreszahlen leicht zu behalten vermag, dem Gedächtnis überliefert, während die sich langsam entwickelnden und nur sehr allmählich eine Wirkung hervorrufenden Ursachen dieser Tatsachen, welche sich nicht auf gleiche Weise bestimmen lassen, immer unbekannt bleiben. Oft glaubt man in einer gewonnenen oder verlorenen Schlacht die Ursache einer Revolution zu finden, die selbst schon vor dieser Schlacht unvermeidlich geworden war. Der Krieg führt in der Regel nur solche Ereignisse herbei, welche durch moralische Ursachen schon längst vorbereitet waren, durch Ursachen, die die Geschichtsforscher freilich selten aufzufinden vermögen.

Der philosophische Geist hat zwar das Nachdenken mehrerer Schriftsteller dieses Jahrhunderts nach dieser Richtung[68] gelenkt, indes bezweifle ich, daß die Wahrheit von ihrer Arbeit großen Vorteil habe. Sie sind alle von der Wut befallen, ein besonderes System aufzustellen; keiner bemüht sich, die Dinge so anzuschauen wie sie wirklich sind, sondern wie sie in sein System hineinpassen.

Zu allen diesen Mängeln tritt noch der Umstand hinzu, daß uns die Geschichte weit mehr mit den Handlungen als mit den Menschen bekannt macht, weil sie dieselben nur in gewissen hervorragenden Momenten, gleichsam in ihren Paradekleidern, fixiert. Sie führt uns nur den sich in der Oeffentlichkeit bewegenden Menschen vor, der sich darauf eingerichtet hat, gesehen zu werden. Sie begleitet ihn nicht in sein Haus, in sein Arbeitszimmer, in seine Familie, in den Kreis seiner Freunde; sie malt ihn uns nur, wenn er seine öffentliche Rolle spielt; ihr Bild zeigt uns mehr sein Kleid als die Person.

Das Studium des menschlichen Herzens würde ich am liebsten mit der Lektüre einzelner Lebensbeschreibungen beginnen; denn hier versucht sich der Mensch vergeblich zu verbergen, der Geschichtschreiber folgt ihm überallhin, er läßt ihm keinen Augenblick Ruhe, läßt ihm keinen Schlupfwinkel übrig, in welchem er dem forschenden Blicke des Beobachters zu entgehen vermöchte; gerade wenn er sich einbildet, sich am besten verborgen zu haben, ist jener am besten imstande, ihn uns so zu zeichnen, daß wir ihn durchschauen können. »Die Verfasser von Biographien«, sagt Montaigne, »gewähren mir den größten Genuß, da sie ihr Augenmerk mehr auf die Entschließungen als auf die Ereignisse richten, sich mehr mit den inneren Antrieben als mit den äußeren Vorgängen beschäftigen. Deshalb ist auch Plutarch in jeder Beziehung mein Mann.«105

Wahr ist es, daß der Charakter einer größeren Menschenzahl oder ganzer Völker von dem eines einzelnen Menschen sehr verschieden ist und daß wir uns nur eine sehr unvollkommene[69] Kenntnis des menschlichen Herzens verschaffen würden, wenn wir nicht auch die Schläge desselben in einer größeren Volksmasse untersuchen wollten; aber es ist auch nicht weniger wahr, daß man, um sich ein richtiges Urteil über die Menschen zu bilden, mit dem Studium des einzelnen Menschen den Anfang machen muß, und daß derjenige, welcher mit den Neigungen eines jeden einzelnen vertraut wäre, auch imstande sein würde, ihre Gesamtwirkung in dem Volkskörper vorauszusehen.

Aus den oben bereits angegebenen Gründen muß ich hier noch einmal auf die Alten zurückkommen. Aber mich veranlaßt dazu auch noch ein anderer Beweggrund. Da aus unserer modernen Darstellungsweise alle aus dem häuslichen Leben gerissene und geringfügige, dafür aber wahre und charakteristische Züge verbannt sind, so werden die Menschen von unseren Schriftstellern in ihrem Privatleben ebenso herausgeputzt wie auf dem Schauplatze der Welt. Der äußere Anstand, der nicht nur für die Handlungen, sondern auch für die Schriften als Richtschnur aufgestellt wird, gestattet nicht, öffentlich mehr auszusprechen, als er öffentlich zu tun gestattet, und da man also die Menschen nicht anders als in ihrem öffentlichen Auftreten darstellen kann, so lernt man sie aus unseren Büchern ebensowenig kennen als in unseren Theatern. Vergeblich wird man deshalb das Leben der Könige beschreiben und wieder beschreiben, wir werden trotzdem keinen neuen Sueton bekommen.106

Plutarch zeichnet sich gerade durch Anführung solcher Einzelheiten aus, die wir gar nicht mehr zu erwähnen[70] wagen. Er entwickelt eine unnachahmliche Anmut in der Schilderung großer Männer in kleinen Dingen, und er ist in der Wahl seiner Züge so glücklich, daß oft ein Wort, ein Lächeln, eine Gebärde zur Charakterisierung seines Helden genügt. Mit einem Scherzwort ermutigt Hannibal sein von panischen Schrecken ergriffenes Heer wieder, daß es ihm unter Lachen in die Schlacht folgt, die Italien in seine Hände gibt. Wenn uns Agesilaus auf einem Steckenpferde reitend vorgestellt wird, fühlen wir uns erst recht zu diesem Besieger des großen Königs hingezogen. Als Cäsar ein ärmliches Dorf passiert und mit seinen Freunden plaudert, verrät er uns, ohne es zu ahnen, den in ihm wohnenden Schelm, der ihn zu dem Geständnis trieb, daß er sich kein höheres Ziel gestellt habe, als sich zu einer gleicher Stellung emporzuschwingen, wie sie Pompejus einnehme. Alexander trinkt, ohne ein einziges Wort zu sagen, eine Arznei aus; dies ist der schönste Augenblick seines Lebens. Aristides schreibt seinen eigenen Namen auf einen Scherben und rechtfertigt dadurch seinen Beinamen. Philopömen beschäftigt sich, nachdem er seinen Mantel abgelegt hat, in der Küche seines Gastfreundes mit Holzspalten. In solcher Darstellung spricht sich die wahre Kunst zu malen aus. Die Physiognomie tritt nicht in großen Zügen, noch der Charakter in großen Taten hervor; gerade in Kleinigkeiten enthüllt sich das natürliche Wesen. Die in der Oeffentlichkeit vor sich gehenden Handlungen erheben sich entweder nicht über das Gewöhnliche, oder sind zu sorgfältig vorbereitet, aber die schriftstellerische Würde gestattet es leider unseren Historikern heutigestags, fast ausschließlich nur bei ihrer Schilderung zu verweilen.

Zu den größten Männern des letzten Jahrhunderts gehört unstreitig der Vicomte von Turenne. Man hat in der Tat dem Mut gehabt, seine Biographie durch solche anekdotenartige Züge interessant zu machen, die ihn uns nicht nur kennen lehren, sondern uns auch Zuneigung zu[71] ihm einflößen. Aber wie viele derselben, die uns sein Inneres noch mehr erschlossen und unsere Liebe zu ihm noch gesteigert hätten, hat man sich zu unterdrücken genötigt gesehen! Ich will hier nur einen derselben mitteilen, den ich einer zuverlässsigen Quelle verdanke, und den Plutarch gewiß nicht übergangen hätte, vor dessen Erzählung sich aber Ramsai, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre, sicherlich gehütet haben würde.

An einem drückend heißen Sommertage sah der Vicomte von Turenne, in einer kurzen weißen Weste und einer Mütze auf dem Kopf, aus dem Fenster seines Vorzimmers. Plötzlich tritt einer seiner Diener herein und hält ihn, indem er sich durch die ähnliche Kleidung täuschen läßt, für einen Küchengehilfen, mit dem er eng befreundet war. Er schleicht sich hinterrücks an ihn heran und versetzt ihm mit einer durchaus nicht leichten Hand einen wuchtigen Schlag auf das Gesäß. Sofort wendet sich der Geschlagene um und entsetzt und zitternd schaut der Diener seinem Herrn ins Gesicht. Ganz außer sich wirft er sich ihm zu Füßen. »Gnädiger Herr, ich glaubte, es wäre Georg!« – »Und wenn es auch Georg gewesen wäre,« versetzte Turenne, während er sich den Hintern rieb, »so hättest du doch nicht so derb zuschlagen sollen.«

Dergleichen wagt ihr armen bedauernswerten Menschen also nicht zu berichten! Nun so verleugnet denn für immer die Natur und bleibt allzeit herzlos! Laßt eure eisernen Herzen in eurem erbärmlichen Anstandsgefühl noch mehr verhärten, macht euch durch eure angenommene Würde erst recht verächtlich! Du aber, lieber Jüngling, der du diesen Zug liesest, und dich von der Seelengüte, welche Turenne selbst in der ersten Aufregung an den Tag legt, ergriffen fühlst, mache dich auch mit den Schwächen dieses großen Mannes bekannt, sobald es sich um seine Geburt und seinen Namen handelt. Erwäge, daß dies der nämliche Turenne[72] ist, der seinen Stolz darein setzte, seinem Neffen überall den Vortritt zu lassen, damit man ja nicht übersehe, daß dies Kind das Haupt eines regierenden Hauses sei. Vergleiche diese Widersprüche, liebe die Natur, verachte die öffentliche Meinung und lerne den Menschen kennen.

Nur wenige sind imstande, die Wirkungen zu begreifen, welche ein in dieser Weise geleitete Lektüre auf das noch ganz unerfahrene Gemüt eines jungen Mannes auszuüben vermag. Von Kindheit an zur Lektüre angehalten und dadurch förmlich abgestumpft, an ein gedankenloses Lesen gewöhnt, berührt uns alles, was wir lesen, um so weniger, als wir von denselben Leidenschaften und Vorurteilen, von denen uns die Geschichte und die Biographien großer Männer berichten, beseelt sind. Weil wir selbst das Natürliche abgestreift haben und alle anderen nach uns beurteilen, erscheint uns auch alles, was jene tun, natürlich. Man denke sich dagegen einen jungen Mann, der nach meinen Grundsätzen erzogen ist; man stelle sich meinen Emil vor, bei dessen Erziehung achtzehn Jahre lang alle mögliche Sorge nur darauf verwandt wurde, ihm ein unbestechliches Urteil und ein gesundes Herz zu bewahren; man stelle sich ihn vor, wie er beim Aufziehen des Vorhanges zum erstenmal seine Blicke auf die Weltbühne wirft, oder vielmehr, wie er vom Hintergrunde des Theaters aus Zeuge ist, wie die Rolleninhaber ihre zum Stück gehörenden Kleider an- und ablegen, und die Seile und Winden zählt, deren plumpes Blendwerk die Augen der Zuschauer täuscht. Bald werden an Stelle des ersten Erstaunens Aufwallungen der Scham und der Verachtung seines Geschlechtes treten. Tiefster Unwille wird sich seiner über die Beobachtung bemeistern, daß sich das ganze menschliche Geschlecht, sich in völliger Täuschung über sich selbst befindend, zu solchen Kinderspielen erniedrigen kann. Aufrichtige Betrübnis wird ihn befallen, wenn er wahrnehmen muß, wie sich seine Brüder um eitler Träume willen gegenseitig zerfleischen[73] und sich in Bestien verwandeln, weil sie nicht verstehen, sich mit ihrer Menschenwürde zu begnügen.

Fehlt es dem Zögling nicht an natürlichen Anlangen, weiß der Lehrer die Lektüre mit einer gewissen Klugheit auszuwählen und versteht er ihm eine Anleitung zu den sich daranknüpfenden Betrachtungen zu geben, so wird diese Uebung für ihn sicherlich ein Kursus praktischer Philosophie werden, der jedenfalls besser und verständlicher ist als alle die leeren Spekulationen, durch welche man den Geist der jungen Leute in unseren Schulen verwirrt. Nachdem Cyneas den romanhaften Projekten des Pyrrhus aufmerksamen Ohres gefolgt ist, fragt er ihn, welches wirkliche Gut, dessen er nicht schon gegenwärtig ohne große Anstrengung genießen könne, er sich denn durch die Eroberung der Welt zu verschaffen hoffe. Wir erblicken darin einen glücklichen Gedanken, den man sich gefallen läßt. Mein Emil wird indes darin eine sehr weise Reflexion finden, die auch er sofort gemacht hätte, und die sich niemals in seinem Geiste verwischen wird, weil sie darin keinem damit in Gegensatz stehenden Vorurteil begegnet, welches ihren Eindruck zu verhindern vermöchte. Wenn er ferner bei der Lektüre der Biographie dieses Wahnsinnigen erfahren wird, daß alle diese großartigen Entwürfe doch kein anderes Resultat herbeiführten, als daß er den Tod durch die Hand eines Weibes erlitt, wird er dann wohl noch diesem vermeintlichen Heldenmut seine Bewunderung zollen? Wird er nicht gerade umgekehrt in all den Heldentaten dieses so großen Heerführers, in all den Intrigen dieses so großen Politikers nur Schritte erkennen, jenen unglückseligen Dachziegel aufzusuchen, der dazu bestimmt war, seinem Leben und seinen hoch hinausstrebenden Plänen durch einen ruhmlosen Tod ein Ende machen?

Allerdings sind nicht alle Eroberer getötet worden; nicht alle Usurpatoren haben bei ihren Unternehmungen Schiffbruch gelitten; manchen, die sich von den herrschenden Vorurteilen[74] haben anstecken lassen, er scheinen sie sogar glücklich; wer dagegen, vom äußeren Schein ungeblendet, das Glück der Menschen nach ihrem Herzenszustande beurteilt, wird auch durch ihren scheinbaren Erfolg ihr Elend hindurchleuchten sehen. Es wird sich ihm die Beobachtung aufdrängen, daß sich mit ihrem Glück auch ihre Wünsche und ihre sie aufreibenden Sorgen erweitern und vergrößern; er wird bemerken, wie sie im übereilten Vorwärtsschreiten außer Atem kommen, ohne je zum Ziele zu gelangen; sie werden in seinen Augen jenen unerfahrenen Reisenden gleichen, die zum erstenmal eine Alpenreise machen und mit jedem Berge die Alpen zu überschreiten glauben, indes sobald sie den Gipfel erklommen haben, zu ihrer großen Entmutigung noch weit höhere Berge vor sich erblicken.

Nachdem Augustus seine Mitbürger unterjocht und seine Rivalen vernichtet hatte, regierte er noch vierzig Jahre lang das größte Reich, welches je existiert hat. Konnte indes diese unermeßliche Macht es verhindern, daß er im Schmerz über den Verlust seiner Legionen unter Barus' Führung mit dem Kopfe gegen die Wand rannte und seinen weiten Palast mit seinem Klagegeschrei erfüllte? Hätte er aber auch alle seine Feinde besiegt, welchen Vorteil würden ihm seine eitlen Triumphe gewährt haben, solange Uebel aller Art stets von neuem um ihn emporschossen, solange seine liebsten Freunde Anschläge auf sein Leben machten, und ihm die Schande oder der Tod aller seiner Verwandten die bittersten Tränen erpreßten? Der Unglückselige wollte die Welt beherrschen und verstand nicht einmal die Herrschaft in seinem eigenen Haus auszuüben! Und welche Folgen entstanden aus dieser Fahrlässigkeit? Er sah seinen Neffen, seinen Adoptivsohn, seinen Schwiegersohn in der Blüte ihrer Jahre dahinsterben; sein Enkel wurde dazu getrieben, die Wollhaare seines Vetters zu essen, um nur sein elendes Leben noch um einige Stunden zu verlängern. Seine Tochter und seine Enkelin starben, nachdem sie ihn mit[75] ihrer Schande bedeckt hatten, die eine auf einer wüsten Insel im tiefsten Elend an Hunger, die andere im Gefängnis durch die Hand eines Henkersknechts. Er selbst endlich, der seine ganze unglückliche Familie allein überlebte, ließ sich durch sein eigenes Weib dazu bestimmen, ein Ungeheuer als seinen Nachfolger einzusetzen. So gestaltete sich das Schicksal dieses Weltherrschers, der um seines Ruhmes und seines Glückes willen so hoch gefeiert wurde. Ist es denkbar, daß es auch nur ein einziger von denen, die seinen Ruhm und sein Glück bewundern, um einen solchen Preis erkaufen möge?

Ich habe den Ehrgeiz als Beispiel hingestellt. Wer sich indes mit dem Studium der Geschichte beschäftigt, um sich selbst kennen zu lernen und sich auf Kosten der Toten Weisheit zu erwerben, dem bietet das Spiel aller menschlichen Leidenschaften ähnliche Lehren dar. Die Zeit rückt jetzt heran, wo der junge Mann aus dem Leben des Antonius einen weit näherliegenderen Unterricht schöpfen wird als aus dem Augustus. Emil wird bei diesen ihm völlig unbekannten Gegenständen, die seinen Augen bei diesem Studium entgegentreten, kaum zur Besinnung kommen; aber trotzdem wird er, noch bevor die Leidenschaften in ihm erwachen, sich vor ihren Illusionen zu hüten wissen. Indem er die Einsicht gewinnt, daß dieselben zu allen Zeiten die Menschen verblendet haben, erkennt er darin eine Warnung, sich ihnen nicht hinzugeben und sich nicht ebenfalls von ihnen blenden zu lassen.107 Diese Lehren sind, wie ich mir recht wohl bewußt bin, für meinen Zögling wenig geeignet; vielleicht kommen sie für sein Bedürfnis zu spät oder sind unzulänglich; indes bitte ich eingedenk sein zu wollen, daß[76] es auch gar nicht in meiner Absicht lag, sie aus diesem Studium zu gewinnen. Beim Beginn desselben hatte ich mir ein anderes Ziel gestellt, und ist dieses nicht völlig erreicht, so wird die Schuld sicherlich am Lehrer liegen.

Erwäget, daß, sobald die Eigenliebe einmal angefacht ist, das relative Ich sich unaufhörlich in das Spiel mischt, und daß der junge Mann niemals andere beobachtet, ohne auf sich selbst zurückzukommen und sich mit ihnen zu vergleichen. Es handelt sich nun darum, zu erfahren, welchen Rang er sich unter seinen Mitmenschen zuerkennen wird, nachdem er sie geprüft hat. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man bei der Art und Weise, in welcher man die jungen Leute Geschichte treiben läßt, sie gleichsam in alle die Persönlichkeiten, mit denen man sie bekannt macht, verwandelt, daß man sich Mühe gibt, sie bald Cicero, bald Trajan, bald Alexander sein zu lassen, wodurch man ihnen die Einkehr in sich selbst verleidet und einem jeden das Bedauern einflößt, daß er nur er selbst ist. Diese Methode mag immerhin, wie ich gar nicht bestreiten will, gewisse Vorteile haben, wenn es aber bei diesen Vergleichen nur ein einziges Mal vorkommen sollte, daß mein Emil ein anderer als er selbst zu sein wünschte, und wäre dieser andere auch Sokrates oder Kato, so wäre alles mißlungen. Wer erst beginnt, sich selbst fremd zu werden, wird sich auch bald ganz vergessen.

Es sind keineswegs die Philosophen, welche die meiste Menschenkenntnis besitzen; im Gegenteil, sie betrachten die Menschen nur durch die Vorurteile der Philosophie, und ich wüßte keine andere Wissenschaft, die so voller Vorurteile wäre. Ein Wilder fällt ein weit richtigeres Urteil über uns als ein Philosoph. Letztere fühlt seine Fehler, wird mit Unwille über die unsrigen erfüllt und spricht bei sich selbst: »Wir sind alle schlecht.« Ersterer dagegen betrachtet uns ohne sich zu regen und sagt: »Ihr seid Narren.« Er hat recht, denn niemand tut das Schlechte um des Schlechten[77] willen. Ein solcher Wilder ist nun mein Zögling, freilich mit dem Unterschiede, daß Emil, weil er mehr nachgedacht, mehr Ideen verglichen und unsere Fehler aus größerer Nähe angeschaut hat, sich mehr vor sich selbst in acht nimmt und nur über das ihm Bekannte urteilt.

Die Schuld, daß wir gegen die Leidenschaften anderer aufgebracht sind, liegt in unserer eigenen. Unser Interesse flößt uns Haß gegen die Bösen ein; fügten sie uns keinen Schaden zu, so würden wir uns mehr zum Mitleid mit ihnen als zum Haß gegen sie veranlaßt fühlen. Das Böse, welches schlechte Menschen uns zufügen, läßt uns dasjenige vergessen, was sie sich selber bereiten. Wir würden ihnen ihre Laster leichter verzeihen, wenn wir zu erkennen vermöchten, eine wie hohe Strafe sie für dieselben in ihrem eigenen Herzen finden. Die Schuld nehmen wir wahr, aber die Strafe entzieht sich unseren Blicken; die Vorteile sind nach außen hin sichtbar, aber die Strafe vollzieht sich im Innern. Wer sich in der Hoffnung wiegt, die Frucht seiner Laster genießen zu können, fühlt sich gerade ebenso beängstigt, als wenn er nicht zum Ziele gelangt wäre. Hat sich auch das Objekt geändert, so ist doch die Unruhe dieselbe geblieben. Mögen die Bösen immerhin mit ihrem Glücke prahlen und ihr Herz verhüllen, ihr Betragen verrät es ihnen zum Trotz, wie es in ihrem Innern aussieht. Aber um es wahrzunehmen, darf man freilich nicht ein gleiches Herz haben.

Die Leidenschaften, die wir mit anderen teilen, üben einen eigenen Zauber auf uns aus; diejenigen dagegen, die unser Mißfallen erregen, verletzen uns, und infolge einer aus ihnen entspringenden Inkonsequenz tadeln wir an anderen, was wir doch gern nachahmen möchten. Widerwille und Illusionen sind unvermeidlich, wenn man sich gezwungen sieht, von anderen das Böse zu dulden, welches man keinen Anstand nehmen würde selbst zu tun, wenn man sich an ihrer Stelle befände.[78]

Was gehört also zu einer sorgfältigen Beobachtung der Menschen? Ein großes Interesse, sie kennen zu lernen, eine vollkommene Unparteilichkeit in ihrer Beurteilung, und ein Herz, das Empfänglichkeit genug besitzt, um alle menschlichen Leidenschaften begreifen zu können, und auch schon die genügende Ruhe erlangt hat, um sich nicht selbst von ihnen hinreißen zu lassen. Gibt es im Leben überhaupt einen Zeitpunkt, der diesem Studium besonders günstig ist, so ist es gerade der, welchen ich für Emil gewählt habe; in einer früheren Periode wären ihm die Menschen fremd gewesen, in einer späteren hätte er ihnen selbst geähnelt. Die öffentliche Meinung, deren Spiel er vor Augen hat, ist noch nicht imstande gewesen, sich die Herrschaft über ihn anzuzeigen; die Leidenschaften, deren Wirkung er wahrnimmt, haben sein Herz noch nicht in Aufregung versetzt. Er ist Mensch, er nimmt an seinen Brüdern Anteil, er ist billig denkend, er urteilt über seinesgleichen. Beurteilt er sie aber richtig, so wird er sicherlich keine Sehnsucht empfinden, sich an die Stelle irgendeines derselben zu versetzen, denn da sich das Ziel aller Plagen, die sie sich selbst auferlegen, nur auf Vorurteile gründet, die er nicht teilt, so erblickt er in demselben nur ein eitles Lustgespinst. Sein Streben ist dagegen immer nur auf Erreichbares gerichtet. Von wem sollte er wohl abhängen, da er sich selbst genügt und frei von Vorurteilen ist? Er hat Arme, erfreut sich der Gesundheit,108 weiß maßzuhalten, hat wenig Bedürfnisse und besitzt die Mittel, diese zu befriedigen. In der unumschränktesten Freiheit aufgewachsen, vermag er sich kein größeres Uebel vorzustellen als die Knechtschaft. Er beklagt diese bemitleidenswerten Könige, welche nichts weiter als die Sklaven derer sind, die ihnen gehorchen; er bedauert[79] die Armen, die sich fälschlich für Weise halten, trotzdem sie unaufhörlich die Kette ihres eitlen Ruhmes hinter sich herschleppen; er bemitleidet diese reichen Toren, welche die Märtyrer ihrer Prunksucht sind, und diese geckenhaften Lüstlinge, welche, um den Schein zu verbreiten, daß sie Freude und Zerstreuung hätten, ihr ganzes Leben in Langweile zubringen. Er würde sogar den Feind, der ihm Böses zufügte, bemitleiden, denn in seinen Schlechtigkeiten würde er eben sein Elend erblicken. Er würde sich sagen: »Dadurch, daß es diesem Menschen zum Bedürfnis geworden ist, mir Nachteil zu bereiten, hat er sein Schicksal von dem meinigen abhängig gemacht.«

Nur noch einen einzigen Schritt, und wir haben das Ziel erreicht. Die Eigenliebe ist ein nützliches aber auch gefährliches Werkzeug. Häufig verletzt sie die Hand, die sich ihrer bedient, und selten ruft sie Gutes hervor, ohne daß es Schlimmes in seinem Gefolge hätte. Sobald Emil sich seines Ranges in der menschlichen Gesellschaft bewußt wird und die glücklichen Verhältnisse, in denen er sich befindet, erkennt, so wird die Versuchung an ihn herantreten, keiner Vernunft anstatt den Werken eures Geistes die Ehre zu geben, und seine glückliche Lage seinem eigenen Verdienste beizumessen. Er wird sich sagen: »Ich bin weise und die Menschen sind Narren.« Während er sie bedauert, wird er sie zugleich verachten, während er sich beglückwünscht, wird er sich überschätzen, und da er einsieht, daß er glücklicher ist als sie, so wird er sich dieses Glückes auch für würdiger halten. Dieser Fehler ist aber am meisten zu fürchten, weil er am schwierigsten zu vertreiben ist. Verharrte er in diesem Irrtum, so würden ihm alle unsere Bemühungen wenig geholfen haben, und wenn mir die Wahl freistünde, wüßte ich in der Tat nicht, ob ich nicht den Illusionen der Vorurteile den Vorzug vor denen des Stolzes geben sollte.

Wirklich große Männer täuschen sich über ihre Ueberlegenheit nicht; sie sehen sie ein, sind sich ihrer bewußt und[80] sind deshalb nicht weniger anspruchslos. Mit je größeren geistigen Gaben sie ausgestattet sind, desto mehr erkennen sie, wie viel ihnen noch fehlt. Das Gefühl ihres geistigen Uebergewichts über uns macht sie weniger eitel, als sie vielmehr der Gedanke an ihre Mängel mit Demut erfüllt, und in bezug auf die besonderen Güter, die sie besitzen, sind sie viel zu verständig, als daß sie sich durch eine Gabe, die sie sich nicht selbst verliehen haben, zur Eitelkeit sollten verführen lassen. Ein redlicher Mann kann auf seine Tugend stolz sein, weil sie in ihm allein ihren Ursprung findet; aber worauf hat der Mann von Geist Ursache stolz zu sein? Was hat Racine dabei getan, daß er nicht Pradon, was Boileau, daß er nicht Cotin ist?

Hierbei kommt jedoch noch eine ganz andere Angelegenheit in Frage. Laßt uns nur immer bei der gewöhnlichen Ordnung der Dinge bleiben. Ich habe mir von vornherein in meinem Zögling weder ein außerordentliches Genie noch einen Idioten vorgestellt. Ich habe ihn mir unter den gewöhnlichen Geisteskindern ausgewählt, um den Nachweis zu liefern, welchen Einfluß die Erziehung auf den Menschen auszuüben vermag. Alle seltenen Fälle sind als Ausnahmen von der Regel zu betrachten. Wenn demnach infolge meiner Sorgfalt Emil seiner Art und Weise zu sein, zu sehen, zu fühlen vor derjenigen anderen Menschen den Vorzug einräumt, so ist er in seinem Rechte; wenn er sich indes um deswillen für ein Wesen höherer Art und mit reicheren Gaben von der Natur als sie ausgestattet hält, so hat er unrecht, er täuscht sich und man muß ihn enttäuschen, oder vielmehr dem Irrtum vorbeugen, aus gerechter Furcht, daß man später nicht mehr Zeit haben möchte, ihn auszurotten.

Mit Ausnahme der Eitelkeit gibt es keine Torheit, von der man einen Menschen, der nicht ein vollkommener Narr ist, nicht zu heilen vermöchte. Was jene anlangt, so läßt sie sich nur durch die Erfahrung bessern, wenn überhaupt[81] irgend etwas sie zu bessern imstande ist; bei ihrer Entstehung läßt sich jedoch wenigstens ihr Umsichgreifen verhüten. Ergeht euch deshalb nicht erst in langen Deklamationen, um dem Jüngling zu beweisen, daß er Mensch wie alle anderen und denselben Schwachheiten unterworfen ist. Macht es ihm fühlbar, anders wird er es niemals erkennen. Hier befinde ich mich wiederum in dem Falle, wo ich genötigt bin, eine Ausnahme von meinen Regeln zu machen; es liegt eine genügende Veranlassung vor, meinen Zögling absichtlich allen Zufällen auszusetzen, welche ihm den Beweis zu liefern imstande sind, daß er nicht weiser ist als wir. Das Abenteuer mit dem Taschenspieler würde sich auf tausenderlei Weise wiederholen lassen; ich würde den Schmeichlern gestatten, ihm gegenüber alle ihre Kunst zu entfalten; ließe er sich durch junge Brauseköpfe zu irgendeinem unüberlegten Schritte verleiten, so würde ich ihn der Gefahr nicht entziehen; verlockten ihn Gauner zum Spiel, so würde ich ihn ihnen überlassen, damit sie ihn prellen könnten.109 Sie dürften ihm Weihrauch streuen, ihn rupfen und ausplündern, und hätten sie ihn ganz ausgezogen und[82] lachen ihn dann noch schließlich aus, so würde ich mich in seiner Gegenwart bei ihnen für die Lehren bedanken, die sie die gute Absicht gehabt hätten ihm zu erteilen. Nur vor den Schlingen der Buhlerinnen würde ich ihn sorgfältig bewahren. Nur die schonende Rücksicht würde ich ihm gegenüber beobachten, daß ich alle Gefahren, denen ich ihn aussetze, und alle Schande, mit der ich ihn sich bedecken ließe, mit ihm teilen würde. Stillschweigend, ohne Klage, ohne Vorwurf, ohne ihm auch nur ein Wort darüber zu sagen, würde ich alles ertragen, und ihr könnt euch versichert halten, daß bei dieser sich stets gleichbleibende Rücksicht alles, was er mich um seinetwillen leiden sieht, mehr Eindruck auf sein Herz machen wird als alle seine eigenen Leiden.

Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf die falsche Art von Würde jener Erzieher aufmerksam zu machen, welche, um einfältigerweise die Gelehrten zu spielen, ihre Zöglinge stets herabsetzen und ihre Lust darin suchen, sie beständig als Kinder zu behandeln und in allem, was sie ihnen zu tun gestatten, den zwischen sich und ihnen bestehenden Unterschied recht auffällig zu machen. Anstatt ihren jugendlichen Mut auf diese Weise niederzubeugen, dürft ihr nichts unterlassen, um ihre Seele zu erheben. Behandelt sie wie euresgleichen, damit sie es wirklich werden, und wenn sie sich noch nicht zu euch zu erheben vermögen, so laßt euch ohne Scham, ohne Bedenken zu ihnen herab. Vergeßt nicht, daß eure Ehre nicht mehr in euch, sondern in eurem Zögling liegt. Teilt seine Fehler, um sie ihm abzugewöhnen; nehmt seine Schande auf euch, um sie vergessen zu machen; ahmet jenem mutigen Römer nach, der, als er sein Heer fliehen sah und nicht imstande war, es wieder zu sammeln, mit dem Rufe »Sie fliehen nicht, sie folgen ihrem Führer« an der Spitze seiner Soldaten selbst[83] zu fliehen begann. Entehrte ihn dies etwa? Weit gefehlt! Er vermehrte gerade dadurch seinen Ruhm, daß er ihn auf diese Weise opferte. Die Macht der Pflicht, die Schönheit der Tugend reißen uns wider Willen zum Beifall hin und vernichten unsere unverständigen Vorurteile. Wenn ich bei Erfüllung der Pflichten, die mir Emils Erziehung auferlegt, tätlich beleidigt würde, so würde ich, weit davon entfernt, mich dafür zu rächen, mich umgekehrt dessen überall rühmen, und ich bezweifle, daß es in der Welt einen Menschen von so niedriger Gesinnung110 gäbe, daß er mir fortan nicht noch in höherem Grade seine Achtung zollte.

Das soll aber nicht etwa heißen, daß der Zögling die Einsichten seines Lehrers für ebenso beschränkt als seine eigenen halten solle und sich einbilden dürfe, derselbe sei der Verführung ebenso leicht zugänglich als er. Eine solche Ansicht kann man sich wohl bei einem Kinde gefallen lassen, welches, da es noch nicht zu beobachten und zu vergleichen versteht, einen jeden auf gleiche Linie mit sich stellt, und nur denen, die sich in der Tat mit ihm auf gleiche Stufe zu stellen wissen, sein Vertrauen schenkt. Indes ein junger Mann in Emils Alter und von seinem Verstand ist nicht mehr so töricht, sich solchen Täuschungen hinzugeben, und es würde nicht gut sein, wenn er in dieselben verfiele. Das Vertrauen, welches er in seinen Erzieher setzen muß, ist von anderer Art; es muß sich auf die Autorität der Vernunft, auf die Ueberlegenheit der Einsicht und auf jene Vorzüge gründen, welche der junge Mann zu erkennen imstande ist, und deren für ihn sich daraus ergebenden Nutzen er herausfühlt. Eine lange Erfahrung hat ihn von der Liebe seines Führers überzeugt, hat ihm die Gewißheit gegeben, daß dieser Führer ein kluger, aufgeklärter Mann ist, der nicht nur sein Glück will, sondern auch die Mittel kennt, es ihm zu bereiten. Er muß es einsehen, daß es[84] zu seinem eigenen Heile dient, seinen Ratschlägen zu folgen. Wenn sich nun der Lehrer in demselben Grade wie sein Schüler hintergehen ließe, so würde er dadurch das Recht verlieren, von diesem eine auf Achtung gegründete Willfährigkeit zu verlangen und ihm Lehren zu erteilen. Noch weniger darf sich aber in dem Zögling die Vorstellung festsetzen, als ob ihn der Lehrer in Schlingen fallen lasse oder seiner Einfalt wohl gar selbst Fallstricke lege. Was läßt sich denn nun aber tun, um diese beiden Uebelstände gleichzeitig zu vermeiden? Das Allerbeste und Natürlichste: einfach und wahr sein wie er selbst; ihn über die Gefahren, denen er sich aussetzt, aufklären, sie ihm deutlich und handgreiflich zum Bewußtsein bringen, aber ohne Aufregung, ohne verdrießliche Vorstellungen, ohne pedantische Uebertreibung und vor allem, ohne eure Ratschläge in die Form von Befehlen zu kleiden, bis sie zu solchen übergehen müssen und sich der befehlshaberische Ton als eine absolute Notwendigkeit herausstellt. Besteht er trotzdem hartnäckig auf seinem Willen, wie es wohl häufig vorkommen wird, so verschwendet an ihn kein Wort mehr, laßt ihm vollkommene Freiheit, folgt ihm, ahmt ihm nach, und zwar mit allem Frohsinn und aller Offenheit; laßt euch vollkommen gehen und belustigt euch, wenn es möglich ist, ebenso wie er. Treten die Folgen zu sichtlich hervor, so seid ihr ja immer da, sie aufzuhalten, und in wie hohem Grade muß nicht der junge Mann, der sich inzwischen von eurer Voraussicht wie von euren gefälligen Bemühungen hat überzeugen können, von jener betroffen und zugleich von diesen gerührt werden! Seine Fehler bilden ebenso viele Bänder, die er euch selbst in die Hand gibt, um ihn daran in Notfall zurückzuhalten. Die Hauptkunst des Lehrers besteht hierbei nun darin, die Gelegenheiten so herbeizuführen und die Ermahnungen in der Weise zu geben, daß er im voraus weiß, wann der junge Mann nachgeben und wann er bei seinem Eigensinn beharren werde, damit ihm[85] überall die Erfahrung eine Lehre erteilen muß, ohne daß ihm der Lehrer doch allzu großen Gefahren preisgibt.

Macht ihn auf seine Fehler aufmerksam, bevor er in dieselben verfällt; hat er sie aber einmal begangen, so enthaltet euch aller Vorwürfe; dadurch würdet ihr nur seine Eigenliebe entzünden und anfachen. Eine Belehrung, die verletzt, gewährt keinen Vorteil. Ich kenne nichts Törichteres als den Vorwurf: »Ich hatte es dir ja gesagt!« Das beste Mittel, das ihm Vorausgesagte wieder in seiner Erinnerung wachzurufen, ist, daß man sich den Anschein gibt, als habe man es vergessen. Im Gegenteil müßt ihr, sobald ihr bemerkt, daß er sich darüber beschämt fühlt, euch nicht Glauben geschenkt zu haben, euch Mühe geben, diese Demütigung mit freundlichen Worten behutsam zu verwischen. Er wird euch sicherlich seine ganze Liebe zuwenden, wenn er bemerkt, daß ihr euch um seinetwillen vergeßt und daß ihr ihn, anstatt ihn durch euer Uebergewicht vollends niederzudrücken, sogar tröstet. Fügt ihr aber seinem Verdruß über sein Benehmen noch Vorwürfe hinzu, so wird er seinen Haß auf euch werfen und es sich zum Gesetz machen, ferner nicht mehr auf euch zu hören, als ob er euch dadurch den Beweis liefern wollte, daß er eure Ansicht über die Wichtigkeit eurer Warnungen nicht teile.

Auch die Form, in der ihm euren Trost aussprecht, kann für ihn zu einer nützlichen Belehrung werden, die eine um so größere Wirkung hervorbringen wird, je weniger Mißtrauen er hegt. Sagt ihr zu ihm: »Ich glaube annehmen zu können, daß tausend andere den gleichen Fehltritt begehen,« so macht ihr ihm einen großen Strich durch seine Rechnung. Unter dem Anschein, ihn zu bedauern, bessert ihr ihn. Denn für jemanden, der sich für besser als andere Menschen hält, muß die Aufforderung, in dem Beispiel anderer Trost zu suchen, eine höchst kränkende Entschuldigung sein. Darin liegt das Zugeständnis, daß er höchstens behaupten könne, sie seien nicht besser als er.[86]

Die Zeit der Fehler ist die Zeit der Fabeln. Dadurch, daß man den Schuldigen unter einer fremden Maske tadelt, nimmt man der Belehrung alles Verletzende, und ihre Wahrheit, die sich ihm bei der Nutzanwendung auf sich selbst aufdrängt, überzeugt ihn alsdann, daß die Fabel keine Lüge ist. Einem Kinde, welches man noch nie durch Lobsprüche getäuscht hat, fehlt für jene Fabel, welche ich oben weitläufig besprochen habe, jedes Verständnis; aber ein unbesonnenes Kind, welches sich schon einmal von einem Schmeichler hat hinter das Licht führen lassen, sieht ganz vortrefflich ein, daß der Rabe nur ein Einfaltspinsel war. Auf diese Weise folgert es aus einer Tatsache einen Grundsatz, und die Erfahrung, welche es sonst bald vergessen hätte, prägt sich vermittels der Fabel seinem Gedächtnis ein. Es gibt keine moralische Erkenntnis, welche man sich nicht durch fremde oder eigene Erfahrung anzueignen vermag. In solchen Fällen, wo die persönliche Einsammlung der Erfahrung mit Gefahr verknüpft ist, verdient es den Vorzug, dieselbe aus der Geschichte zu schöpfen. Wenn aber die eigene Einsammlung keine nachteilige Folgen nach sich zieht, so ist es gut, den jungen Man anzuhalten, sich die Erfahrung persönlich zu erwerben; darauf bringt man die besonderen Fälle, die ihm bisher noch unbekannt sind, unter Anwendung der Fabel auf Grundsätze zurück.

Darunter verstehe ich jedoch keineswegs, daß diese Grundsätze gleich entwickelt oder auch nur in Worte gekleidet sein sollen. Nichts ist unnützer und unverständiger als die den meisten Fabeln angehängte Moral, als ob sich diese Moral nicht durch die ganze Fabel dergestalt hindurchzöge oder doch wenigstens hindurchziehen sollte, daß sie der Leser deutlich herausfühlen muß. Weshalb also durch die dem Schlusse beigefügte Moral den Leser um das Vergnügen bringen, sie aus eigenem Nachdenken zu finden? Das rechte Lehrgeschick zeigt sich darin, daß man dem Schüler Gefallen am Unterricht einzuflößen versteht.[87] Um dies Gefallen aber in ihm hervorzurufen, darf sein Geist bei euren Vorträgen nicht in solcher Passivität erhalten werden, daß ihm durchaus nichts zu tun bleibt, um euch zu verstehen. Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, daß die Eigenliebe des Lehrers auch stets der des Schülers einen gewissen Spielraum gestatte. Dieser muß sich sagen können: »Ich begreife es; ich ergründe es; ich strenge mich an; ich belehre mich.« Eine der Ursachen, welche uns den Hanswurst in der italienischen Oper so langweilig erscheinen läßt, ist die stete Mühe, welche er sich gibt, dem Parterre die nur allzu verständlichen Plattheiten zu erklären. Ich wünsche nicht, daß ein Lehrer, noch weniger aber, daß ein Schriftsteller die Rolle des Hanswurstes spiele. Man muß sich freilich immer verständlich machen, allein man muß nicht immer alles sagen. Wer sich völlig ausspricht, sagt wenig, denn schließlich hört man gar nicht mehr auf ihn. Was bedeuten diese vier Verse, welche Lafontaine der Fabel von dem sich aufblähenden Frosche hinzufüget? Fürchtet er, daß man ihn nicht verstanden habe? Hat dieser große Maler erst nötig, die Namen unter die Gegenstände zu schreiben, die er malt? Anstatt seine Moral dadurch zu verallgemeinern, bindet er sie an ganz bestimmte Fälle, beschränkt sie halb und halb auf die angeführten Beispiele und verhindert, daß man sie auf andere anwendet. Ehe man jungen Leuten die Fabeln dieses unnachahmlichen Schriftstellers in die Hände gibt, möchte ich sie von diesen Schlußversen befreit wissen, in welchen er sich die unfruchtbare Mühe gibt, das noch einmal zu erklären, was er bereits ebenso klar als anmutig gesagt hat. Versteht euer Zögling die Fabeln nur mit Hilfe dieser Erklärung, so könnt ihr euch versichert halten, daß er sie auch nicht einmal durch dieses Hilfsmittel verstehen wird.

Ferner würde es von Wichtigkeit sein, diesen Fabeln eine mehr didaktische und mit den wachsenden Einsichten und Gefühlen des Jünglings mehr in Einklang stehende[88] Ordnung zu geben. Kann man sich wohl etwas Widersinniges denken, als genau die numerische Ordnung des Buches, ohne Rücksicht auf Bedürfnis oder Gelegenheit, innezuhalten? Erst die Grille, dann der Rabe, darauf der Frosch, nun die beiden Maultiere usw. Bei diesen beiden Maultieren fällt mir ein Knabe ein, den ich einst kennen lernte. Man hatte ihn für das Finanzwesen bestimmt und ihm die wunderbarsten Vorstellungen von der Herrlichkeit seines künftigen Amtes in den Kopf gesetzt. Es las die erwähnten Fabeln, lernte sie auswendig, sagte sie auf und deklamierte sie hundert- und hundertmal, ohne derselben auch nur je den geringsten Einwand gegen den Beruf zu entnehmen, für welchen er erzogen wurde. Nicht nur bin ich niemals Zeuge gewesen, daß Kinder eine wirkliche Anwendung von den auswendig gelernten Fabeln gemacht hätten, sondern haben auch nie bemerkt, daß sich jemand bemüht hätte, ihnen zu einer solchen Anwendung Anleitung zu geben. Die moralische Unterweisung muß den Vorwand für dieses Auswendiglernen abgeben. Mutter und Kind haben jedoch keinen anderen Zweck im Auge, als die Aufmerksamkeit einer ganzen Gesellschaft auf letzteres zu lenken, während es seine Fabeln hersagt. Auch vergißt es sie sämtlich, wenn es größer wird, also gerade dann, wenn es sich nicht mehr um den Vortrag derselben, sondern um den aus ihnen zu ziehenden Gewinn handelt. Deshalb noch einmal: nur Erwachsene vermögen in den Fabeln Belehrung zu finden; und jetzt ist für Emil die Zeit herangekommen, damit den Anfang zu machen.

Da es nicht in meiner Absicht liegt, alle Einzelheiten anzuführen, deute ich nur von ferne die Wege an, die von dem allein richtigen abführen, damit man sie vermeiden lerne. Ich meine, wenn euer Zögling dem von mir vorgezeichneten Wege folgt, so wird er sich die Kenntnis des Menschen und seiner selbst zu dem möglichst billigen Preis erwerben, und ihr werdet ihn in die Lage versetzen, beim[89] Anblick der Spiele des Glücks neidlos das Geschick der Günstlinge desselben mit anzusehen und mit sich zufrieden zu sein, ohne sich für weiser als andere zu halten. Anfangs habt ihr ihn handelnd auftreten lassen, um ihn zu einem urteilsfähigen Zuschauer heranzubilden; jetzt handelt es sich um die Vollendung eures Werkes, denn während man vom Parterre aus die Gegenstände sieht, wie sie scheinen, erblickt man sie auf der Bühne selbst, wie sie wirklich sind. Um das Ganze zu überschauen, muß man sich auf den rechten Gesichtspunkt stellen, um jedoch die Einzelheiten zu unterscheiden, muß man nahe herantreten. Aber mit welchem Rechte kann sich ein junger Mann in die Händel der Welt mischen? Was gibt ihm die Berechtigung, in diese düsteren Geheimnisse eingeweiht zu werden? Nur Lustbarkeiten nehmen das Interesse seines Alters in Anspruch; bis jetzt steht ihm nur die Verfügung über sich selbst zu, und das ist so gut, als ob er über nichts zu verfügen hätte. Der Mensch ist die wertloseste von allen Waren, und unter unseren wichtigen Eigentumsrechten ist das der Person beständig das geringste von allen.

Wenn ich wahrnehme, wie man die jungen Leute gerade in dem Alter des größten Tätigkeitstriebes auf rein spekulative Studien beschränkt, und wie sie darauf, ohne die geringste Erfahrung zu besitzen, urplötzlich in die Welt und in die Geschäfte hinausgestoßen werden, so finde ich, daß dies nicht minder der Vernunft als der Natur zuwiderläuft, und es überrascht mich nicht mehr, daß sich so wenige Leute zu benehmen wissen. Welche seltsame Geistesrichtung trägt die Schuld, daß man uns so viele unnütze Dinge lernen läßt, während die Kunst zu handeln für nichts geachtet wird? Man gibt vor, uns für die Gesellschaft zu bilden, und man unterrichtet uns in einer Weise, als ob jeder von uns sein Leben als einsamer Denker in seiner Zelle zubringen oder mit Gleichgültigen gelehrte Unterhaltungen über ganz nichtige Dinge führen sollte. Ihr glaubt euren[90] Kindern die richtige Lebensart beizubringen, wenn ihr sie in gewissen Körperverdrehungen und gewissen hohlen Redensarten ohne Sinn und Verstand unterrichtet. Auch ich habe meinen Emil in der Kunst zu leben unterwiesen, denn ich habe ihn gelehrt, im Umgang mit sich selbst zu leben, ja noch mehr, ich habe ihm zu der Geschick lichkeit verholfen, sich selbst sein Brot verdienen zu können. Das genügt indes noch nicht. Um in der Welt zu leben, muß man die Menschen zu behandeln wissen, muß man mit den Mitteln vertraut sein, durch welche man die Blößen, die sie sich geben, zu seinem Vorteil benutzen kann; man muß die Wirkung und Gegenwirkung der besonderen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft berechnen und das Ergebnis so richtig voraussehen, daß man sich in seinen Unternehmungen selten täuschen läßt oder sich wenigstens stets der besten Mittel zur Erreichung seines Zieles bedient. Die Gesetze gestatten es Jünglingen nicht, ihre Geschäfte selbst zu betreiben und selbständig ihr Vermögen zu verwalten; allein welchen Vorteil würde ihnen diese Vorsichtsmaßregeln bringen, wenn sie sich bis zu dem festgesetzten Alter keine Erfahrung zu erwerben vermöchte? Das Warten würde ihnen zu keinem Gewinne gereicht haben, und sie würden im fünfundzwanzigsten Jahre noch ebenso unerfahren sein wie im fünfzehnten. Ohne Zweifel ist es die Pflicht, zu verhüten, daß sich ein junger Mensch, der entweder durch seine Unwissenheit verblendet oder durch seine Leidenschaften getäuscht ist, selbst Schaden zufügt; aber in jedem Alter darf man wohltätig sein, in jedem Alter kann man sich, unter Leitung eines verständigen Mannes, der Unglücklichen annehmen, die des Beistandes bedürfen.

Die Ammen und Mütter gewinnen infolge der Pflege, die sie ihren Kindern widmen, eine herzliche Zuneigung zu ihnen; die Ausübung der sozialen Tugenden läßt auf dem Grunde des Herzens die Liebe zur Menschheit emporkeimen. Dadurch, daß man das Gute tut, wird man gut;[91] mir ist keine sichrere Methode bekannt. Beschäftigt euren Zögling mit allen guten Handlungen, die für ihn ausführbar sind; laßt stets das Interesse der Dürftigen sein eigenes sein; er leistete ihnen nicht nur mit seiner Börse Beistand, sondern komme ihnen auch freundlich und hilfsbereit entgegen; er diene ihnen; er gewähre ihnen Schutz; er opfere ihnen seine Person und seine Zeit, er trete überall für sie ein; gewiß wird er in seinem ganzen Leben keine ehrenvollere Beschäftigung finden. Wie viele Unterdrückte, denen man sonst nie Gehör geschenkt hätte, werden Gerechtigkeit erlangen, wenn er dieselbe für sie mit jener unerschrockenen Festigkeit, welche man der Ausübung der Tugend verdankt, fordert, wenn sich ihm die Türen der Großen und Reichen öffnen müssen, wenn er sich nötigenfalls bis zu den Stufen des Thrones Bahn brechen wird, um vor ihm den Unglücklichen Gehör zu verschaffen, welchen infolge ihres Elends alle Zugänge verschlossen bleiben, und welche sich durch die Furcht, für das Böse, welches man ihnen zufügt, noch obendrein bestraft zu werden, abhalten lassen, sich darüber zu beschweren.

Sollen wir denn aber aus Emil einen fahrenden Ritter, einen Rächer der Bedrängten, einen Abenteurer machen? Soll er sich in die öffentlichen Angelegenheiten mischen? Soll er vor den Großen, vor den Obrigkeiten und vor dem Regenten die Rolle des Weisen und des Verteidigers der Gesetze spielen? Soll er vor den Richtern als Anwalt und vor den Gerichtshöfen als Sachwalter auftreten? Von dem allen ist mir nichts bekannt. Scherzhafte und verunglimpfende Namen ändern an der Natur der Sache nichts. Er wird einfach alles tun, was nach seinem Dafürhalten nützlich und gut ist. Mehr wird er nicht tun, und er weiß, daß für ihn nichts nützlich und gut ist, was außerhalb der Sphäre seines Alters liegt. Er weiß, daß seine erste Pflicht verlangt, die Pflichten gegen sich selbst zu erfüllen, daß junge Leute sich selbst nicht trauen dürfen, daß sie in ihrem[92] Benehmen vorsichtig, in Gegenwart älterer Leute ehrerbietig, in ihren Aeußerungen, wenn sie nicht gefragt werden, zurückhaltend und maßvoll, bei gleichgültigen Dingen bescheiden, aber im Gutestun und im Bekenntnis der Wahrheit mutig sein müssen. So handelten jene berühmten Römer, welche, bevor ihnen der Zutritt zu den öffentlichen Aemtern gestattet wurde, ihre Jugend unter Verfolgung der Verbrecher und Verteidigung der Unschuld verlebten, ohne dabei irgendein anderes Interesse zu verfolgen, als sich zu unterrichten, während sie der Gerechtigkeit dienten und den guten Sitten förderlich waren.

Emil liebt weder Lärm noch Streit, und zwar nicht nur nicht unter Menschen111, sogar selbst nicht unter Tieren. Nie[93] hetzte er zwei Hunde zusammen, nie hetzte er einen Hund auf eine Katze. Diesen friedliche Sinn verdankt er seiner Erziehung, welche dadurch, daß sie niemals der Eigenliebe und der hohen Meinung von ihm selbst Nahrung gegeben, ihn davon abgehalten hat, im Ausüben der Herrschaft und im fremden Unglück seine Unterhaltung zu suchen. Er leidet, sobald er leiden sieht; das ist ein natürliches Gefühl. Was die Schuld trägt, daß ein junger Mann hartherzig wird und an dem Anblick der Leiden eines empfindenden Wesens Gefallen findet, ist lediglich das Wiederauftauchen der Eitelkeit, die ihm den Wahn einimpft, als ob ihm dergleichen Leiden infolge seiner Weisheit oder seiner Ueberlegenheit nie nahen könnten. Derjenige, welchen man vor dieser Verirrung des Geistes geschützt hat, kann auch nicht in den Fehler verfallen, welcher aus derselben entspringt. Emil liebt also den Frieden; das Bild des Glückes macht einen angenehmen Eindruck auf ihn, und wenn er dazu beizutragen vermag, dasselbe um sich her zu verbreiten, so erblickt er darin ein Mittel mehr, selbst daran teilzunehmen. Nichts berechtigt mich zu der Annahme, daß er beim Anblick Unglücklicher ihnen nur dieses fruchtlose und grausame[94] Mitleid schenken sollte, welches sich damit begnügt, die Leiden zu bedauern, obgleich es ihnen abhelfen kann. Die werktätige Hilfe, die er spendet, verschafft ihm Einsichten, die er sich bei einem härteren Herzen gar nicht oder wenigstens erst viel später erworben hätte. Sieht er Unfrieden zwischen seinen Kameraden herrschen, so sucht er sie zu versöhnen; erblickt er Betrübe, so erkundigt er sich nach der Ursache ihres Grames; bemerkt er, wie sich zwei Menschen gegenseitig mit Haß verfolgen, so will er den Grund ihrer Feindschaft kennen lernen; sieht er einen Unterdrückten unter den kleinlichen Verfolgungen eines Mächtigen und Reichen seufzen, so sucht er die Kunstgriffe zu entdecken, unter welchen sich jene Verfolgungen verstecken; und bei dem Interesse, welches er für alle Unglücklichen empfindet, sind ihm die Mittel zur Abhilfe ihrer Leiden niemals gleichgültig. Was haben wir nun zu tun, um aus diesem Trieb auf eine mit seinem Alter in Einklang stehende Weise Nutzen zu ziehen? Nichts als seine Bestrebungen und Kenntnisse zu regeln und seinen Eifer zur Vermehrung beider anzuwenden.

Ich werde nicht müde, es beständig zu wiederholen: Gebt den jungen Leuten alle Belehrungen nicht sowohl in Worten als vielmehr in Handlungen. Was sie aus der Erfahrung lernen können, dürfen sie nicht aus Büchern lernen. Was für ein ungereimtes Unternehmen, sie im Reden zu üben, solange ihm ein Gegenstand fehlt, über den sie etwas zu sagen wissen, zu glauben, man könne sie, solange sie noch auf der Schulbank sitzen, dahin bringen, die Kraft der Sprache der Leidenschaften und die ganze Gewalt der Ueberredungskunst zu empfinden, ohne daß sie ein wirkliches Interesse haben, jemanden zu überreden! Alle Regeln der Rethorik kommen demjenigen, der sie nicht zu seinem Vorteile zu verwenden weiß, wie reines Geschwätz vor. Was kümmert es einen Schüler, zu wissen, wie Hannibal es angestellt hat, um seine Soldaten zur Ueberschreitung[95] der Alpen zu bewegen? Wenn ihr ihm, anstatt ihn auf diese effektvollen Reden hinzuweisen, Anleitung gäbet, wie er es anfangen müsse, daß er seinen Schulmonarchen dahin bringen könne, ihm einen Urlaub zu bewilligen, so könnt ihr versichert sein, daß er euren Regeln eine größere Aufmerksamkeit schenken würde.

Hätte ich mir die Aufgabe gestellt, einen jungen Mann, dessen Leidenschaften schon sämtlich entwickelt wären, in der Rethorik zu unterrichten, so würde ich ihm unablässig nur solche Gegenstände vorführen, die seinen Leidenschaften angenehm wären, und ich würde mit ihm untersuchen, welche Sprache er anderen gegenüber führen müsse, um sie zu vermögen, auf seine Wünsche einzugehen. Mein Emil befindet sich jedoch keineswegs in einer Lage, die der Redekunst sehr förderlich ist. Fast ausschließlich auf physische Bedürfnisse beschränkt, bedarf er weniger anderer als diese seiner; und da er von ihnen nichts für seine eigene Person zu erbitten hat, so berührt ihn das, wozu er sie überreden will, nicht in so hohem Grade, um ihn außerordentlich zu erregen. Daraus folgt, daß er sich für gewöhnlich einer einfachen und wenig bildlichen Sprache bedienen wird. Im allgemeinen muß jedes seiner Worte im eigentlichen Sinne verstanden werden, und er redet ja auch nur, um sich verständlich zu machen. Er ist wenig sentenzreich, weil ihm eine Verallgemeinerung seiner Ideen noch fremd ist. In seiner Rede kommen wenige Bilder vor, weil er sich selten in leidenschaftlicher Aufregung befindet.

Dessenungeachtet ist er aber nicht völlig phlegmatisch und kalt, dies gibt weder sein Alter noch seine Gewohnheiten noch seine Geschmacksrichtung zu. Bei seinem jugendlichen Feuer versetzen die in seinem Blute zurückgehaltenen und zu wiederholten Malen destillierten Lebensgeister sein junges Herz in eine Wärme, die aus seinen Blicken hervorstrahlt, die man aus seinen Reden herausfühlt, die sich in seinen Handlungen kundgibt. In seiner Sprache macht sich eine[96] gewisse Akzentuation und bisweilen auch ein eigentümliches Feuer bemerkbar. Das edle Gefühl, welches ihn beseelt, verleiht ihr Kraft und Schwung. Von aufrichtiger Liebe zur Menschheit durchdrungen, spiegeln sich die Bewegungen seiner Seele in seinen Worten ab. Sein kühner Freimut übt einen eigentümlichen Zauber aus, der ungleich wirkungsvoller ist als die verschmitzte Beredsamkeit anderer; oder vielmehr ist er allein wahrhaft beredt, da er nur zu zeigen braucht, was er fühlt, um in seinen Körpern dasselbe Gefühl wachzurufen.

Je mehr ich darüber nachsinne, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß es wenig nützliche Kenntnisse gibt, die man nicht in dem Geist eines Jünglings dadurch zu entwickeln vermöchte, daß man seinem Wohltätigkeitssinn ein Feld der Tätigkeit einräumte und ihn dazu anhielte, aus den guten oder schlechten Folgen unserer Handlungen Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Ursachen zu machen, und daß er neben dem wirklichen Wissen, das man in öffentlichen Anstalten einsammeln kann, sich außerdem noch eine weit wichtigere Wissenschaft erwirbt, nämlich die, von seinen Kenntnissen im Leben auch Gebrauch zu machen. Gewiß muß er bei seinem lebhaften Interesse für seine Nebenmenschen schon frühzeitig ihre Handlungen, ihre Neigungen, ihre Vergnügen prüfen und würdigen lernen und das, was zum menschlichen Glücke beitragen oder dasselbe schädigen kann, weil richtiger nach seinem wahren Werte auffassen als diejenigen, welche bei ihrer völligen Teilnahmlosigkeit an dem Schicksal irgend jemandes auch nie etwas für andere tun. Diejenigen, welche sich immer nur mit ihren eigenen Angelegenheiten befassen, befinden sich in viel zu leidenschaftlicher Erregung, um die Dinge richtig beurteilen zu können. Da sie alles auf sich allein beziehen und die Begriffe von gut und böse nach ihrem alleinigen Interesse bestimmen, so setzen sie sich tausend lächerliche Vorurteile in den Kopf und erblicken in allem, was ihren Vorteil[97] nur im geringsten schädigt, sofort den Zusammensturz des ganzen Weltalls.

Laßt uns unserer Eigenliebe eine Erweiterung auch auf andere Wesen geben. Wir werden sie dadurch in Tugend verwandeln, und es gibt kein Menschenherz, in welchem diese Tugend nicht wurzelt. Je weniger der Gegenstand unserer Sorgen in unmittelbarem Zusammenhang mit uns selbst steht, desto weniger steht eine Täuschung unseres Sonderinteresses zu befürchten; je mehr man dieses Interesse verallgemeinert, desto mehr wird es zu einer billigen Beurteilung veranlassen; und unsere Liebe zur Menschheit fällt mit der Liebe zur Gerechtigkeit zusammen. Wollen wir also, daß Emil die Wahrheit liebe, wollen wir, daß er sie erkenne, so dürfen sich seine Geschäfte nicht um seine eigene Person drehen. Je mehr seine Sorgen dem Glück anderer gewidmet sind, desto richtiger und weiser werden sie sein und desto weniger Täuschungen wird er sich über das, was gut oder böse ist, hingeben. Allein niemals laßt uns bei ihm eine blinde Bevorzugung dulden, die sich einzig und allein auf das Wohlgefallen an der Person oder auf ungerechte Vorliebe gründet. Und weshalb sollte er auch dem einen schaden, um dem anderen zu nützen? Ihm verschlägt es wenig, wem ein größerer Glücksanteil zufällt, wofern er zum größtmöglichen Glück aller mitwirkt. Dies ist nächst seinem eigenen Interesse das Hauptinteresse des Weisen, denn jeder ist ein Teil seiner Gattung, und nicht eines anderen Individuums.

Um die Ausartung des Mittleids in Schwäche zu verhindern, muß man es folglich verallgemeinern und ihm eine Ausdehnung über das ganze Menschengeschlecht geben. Dann gibt man sich demselben nur insoweit hin, als es mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, weil unter allen Tugenden die Gerechtigkeit gerade diejenige ist, welche zum allgemeinen Menschenwohl am meisten beiträgt. Aus Gründen der Vernunft, aus Liebe zu uns selbst, müssen wir mit[98] unserer Gattung noch mehr Mittleid haben als mit unserem Nächsten, und das Mitleid mit den Bösen ist geradezu eine sehr große Grausamkeit gegen die Menschheit in ihrer Gesamtheit.

Uebrigens wolle man eingedenk bleiben, daß alle diese Mittel, durch welche ich meinen Zögling auf diese Weise gleichsam aus sich heraus versetze, trotzdem stets eine direkte Beziehung auf ihn haben, weil ihm daraus nicht allein ein innerer Genuß erwächst, sondern weil ich auch, während ich seine Wohltätigkeit zum Besten anderer anrege, seine eigene Belehrung befördere.

Habe ich zuerst die Mittel angeführt, so will ich nun ihre Wirkung auseinandersetzen. Von wie hohen Gesichtspunkten läßt er sich allmählich leiten! Welche erhabenen Empfindungen ersticken in seinem Herzen den Keim aller kleinlichen Leidenschaften! Welch klare Urteilskraft, welch sicheres Denkvermögen sehe ich sich in ihm ausbilden durch seine auf alles Gute gerichtete Triebe und durch die Erfahrung, welche die Wünsche einer großen Seele in die engen Grenzen des Erreichbaren zusammendrängt und die Ursache ist, daß ein den anderen überlegener Mensch sich auf ihren Standpunkt herabzulassen versteht, weil er außerstande ist, sie zu sich emporzuheben. Die wahren Prinzipien der Gerechtigkeit, die wahren Muster des Schönen, alle moralischen Beziehungen der Wesen, alle Ideen der Ordnung prägen sich seinem Verstande ein. Er kennt den Platz, den jedes Ding einnehmen muß, und die Ursache, die es von demselben entfernt; er kennt die Quellen des Guten sowie die Hindernisse, die sich dem Guten entgegenstellen. Ohne die menschlichen Leidenschaften empfunden zu haben, sind ihm doch ihre Illusionen und ihr Spiel bekannt.

Unvermögend, der Gewalt der Gegenstände zu widerstehen, gehe ich weiter, ohne mich jedoch über das Urteil der Leser auch nur im geringsten im unklaren zu befinden.[99] Schon längst erblicken sie mich im Lande der Hirngespinste, während ich sie nur im Lande der Vorurteile sehe. Wenn ich mich auch in so hohem Grade von den gewöhnlichen Ansichten entferne, so sind dieselben meinem Geiste doch fortwährend gegenwärtig; ich untersuche sie und stelle Betrachtungen über sie an, nicht um sie mir als Richtschnur zu nehmen oder ihnen ängstlich aus dem Wege zu gehen, sondern um sie auf der Wage der Vernunft abzuwägen. So oft mich letztere auch nötigt, von ihnen abzuweichen, so gilt es für mich, da ich durch die Erfahrung belehrt bin, als eine abgemachte Sache, daß niemand meinem Beispiel folgen werde. Ich weiß, daß sie, da sie sich durchaus nur das als möglich vorstellen können, was sie mit Augen wahrnehmen, den jungen Mann, welchen ich ihnen darstelle, für ein Wesen der Einbildung und Phantasie halten werden, weil er sich von denen, mit welchen sie ihn vergleichen, so wesentlich unterscheidet. Sie berücksichtigen nicht, daß er sich ja notwendig von ihnen unterscheiden muß, weil er eine ganz andere Erziehung hat, von ganz anderen Gefühlen beseelt und ganz anders unterrichtet ist als sie. Es würde vielmehr weit überraschender sein, wenn er ihnen ähnelte, anstatt so zu sein, wie ich ihn voraussetze. Er ist nicht ein Mensch, wie ihn der Mensch, sondern wie ihn die Natur bildet. Sicherlich muß er deshalb ihren Augen sehr befremdend vorkommen.

Beim Beginne dieses Werkes stellte ich nichts auf, was nicht jedermann ebensogut beobachten könnte als ich, weil es ja ein und derselbe Punkt ist, nämlich die Geburt des Menschen, von dem wir alle gleichmäßig ausgehen; je weiter wir jedoch fortschreiten, ich, um die Natur zu unterstützen, und ihr, um sich niederzuhalten und zu verderben, desto mehr entfernen wir uns voneinander. In seinem sechsten Jahre unterschied sich mein Zögling wenig von den eurigen, da es euch noch an ausreichender Zeit zu ihrer Verbildung gefehlt hatte. Jetzt ist alle Aehnlichkeit zwischen ihnen verschwunden,[100] und das Mannesalter, dem sich Emil nun nähert, muß ihn uns unter einer völlig abweichenden Gestalt zeigen, wenn ich nicht alle meine Mühe umsonst angewandt habe. Die Menge der Kenntnisse ist auf beiden Seiten vielleicht gleich; aber die Gegenstände, auf welche sich die Kenntnisse erstrecken, sind sehr verschieden. Es setzt euch in Erstaunen, bei dem einen erhabene Gefühle wahrzunehmen, von denen sich bei den anderen auch nicht die geringste Spur vorfindet, aber berücksichtigt auch, daß letztere bereits sämtliche Philosophen und Theologen sind, bevor Emil nur weiß, was Philosophie ist, ja bevor er noch von Gott hat reden hören.

Machte man mit etwa den Einwand: »Nichts von dem, was du annimmst, existiert in Wirklichkeit; die jungen Leute sind keineswegs so beschaffen, sie haben diese oder jene Leidenschaft; sie tun dies oder das,« so liefe dies auf dasselbe hinaus, als wenn man bestreiten wollte, daß deshalb, weil man in unseren Gärten nur Zwergbäume zu sehen bekommt, nun auch je ein Birnbaum ein großer Baum sein könnte.

Ich bitte diese Richter, die stets bei der Hand sind, ein absprechendes Urteil zu fällen, doch in Betracht zu ziehen, daß ich das, was sie da sagen, ganz ebensogut weiß als sie, daß ich wahrscheinlich länger darüber nachgedacht habe, und daß ich, da mir jedes Interesse fehlt, sie hinter das Licht zu führen, zu der Forderung berechtigt bin, daß sie sich wenigstens so viel Zeit nehmen, zu untersuchen, worin ich mich irre. Mögen sie die Beschaffenheit des Menschen einer sorgfältigen Untersuchung unterwerfen, mögen sie die Anfänge der Entwicklung des menschlichen Herzens bei dieser oder jener Gelegenheit verfolgen, um zu erkennen, einen wie großen Unterschied die Erziehung zwischen zwei Individuen hervorrufen kann; mögen sie darauf die meinige mit der Wirkung vergleichen, die ich mir davon verspreche, und mir dann auseinandersetzen, in welcher Hinsicht ich[101] mir einen Trugschluß habe zuschulden kommen lassen; erst dann werde ich nichts zu entgegnen haben.

Was mich in meiner Ansicht noch mehr bestärkt und mir, meines Erachtens, zur Entschuldigung dienen muß, daß ich ihr huldige, ist die Tatsache, daß ich, weit davon entfernt, der Sucht zu systematisieren nachzugeben, der bloß logischen Beweisführung einen so geringen Spielraum wie möglich gewähre und mich nur auf die Beobachtung verlasse. Ich stütze mich nicht auf das Resultat meiner Einbildung, sondern auf das meiner Wahrnehmung. Es ist wahr, daß ich mich bei der Einsammlung meiner Erfahrung nicht bloß auf das Weichbild einer Stadt, noch auf eine einzige Menschenklasse beschränkt habe; aber nach Vergleichung so vieler Stände und Völker, deren Bekanntschaft ich in meinem nur der Beobachtung gewidmeten Leben habe machen können, habe ich als erkünstelt alles dasjenige ausgeschrieben, was sich als ausschließliche Eigentümlichkeit eines einzigen Volkes oder Standes herausstellte, und zu dem menschlichen Wesen nur das als unbestreitbar zugehörig betrachtet, was allen, ohne Unterschied des Alters, des Ranges und der Nation, gemeinsam war.

Befolgt ihr nun nach dieser Methode die Entwicklung eines jungen Mannes, dem es noch an einer bestimmt ausgeprägten Form fehlt und der von der Autorität und Meinung anderer so wenig wie möglich abhängt, von seiner frühesten Kindheit an, wem wird er wohl nach eurem Bedünken am meisten ähneln, meinem Zögling oder den eurigen? Dies ist, wie mir scheint, die Frage, die man beantworten muß, um erkennen zu können, ob ich mich geirrt habe.

Der Mensch beginnt nicht so leicht zu denken; sobald er aber erst einmal den Anfang damit gemacht hat, hört er nicht mehr auf. Wer gedacht hat, wird immer denken, und der Verstand vermag, wenn er einmal im Nachdenken geübt ist, nie wieder in Untätigkeit zu verharren. Man[102] könnte deshalb auf die Vermutung kommen, daß ich bei meiner Methode zu viel oder zu wenig täte, daß die Tätigkeit des menschlichen Geistes von Natur nicht so schnell sichtbar würde, und daß ich denselben, nachdem ich ihm Gaben beigemessen hätte, die er gar nicht besäße, trotzdem in einem Ideenkreis eingeengt hielte, den er längst durchbrochen haben sollte.

Erstens ist jedoch zu berücksichtigen, daß es sich bei dem Wunsche, einen Naturmenschen heranzubilden, noch nicht darum handelt, einen Wilden aus ihm zu machen und ihn in die Tiefe der Wälder zu verweisen; sondern es genügt, daß er sich im gesellschaftlichen Strudel weder durch die Leidenschaften noch durch die Vorurteile der Menge mit fortreißen läßt, daß er mit eigenen Augen sieht, mit eigenem Herzen fühlt, daß er sich unter die Herrschaft seiner Autorität als unter die seiner Vernunft beugt. Es ist einleuchtend, daß die Menge der Gegenstände, deren Einwirkung er in dieser Lage ausgesetzt ist, die stets neuen Gefühle, die ihn erfüllen, die verschiedenen Mittel, seinen wirklichen Bedürfnissen abzuhelfen, ihn mit vielen Begriffen bekannt machen müssen, die er sonst niemals oder doch nur auf einem viel langsameren Wege erlangen würde. Der dem Geiste natürliche Fortschritt wird beschleunigt, aber nicht aufgehoben. Der nämliche Mensch, der in den Wäldern dumm bleiben muß, muß in den Städten, wenn er auch nur einfacher Zuschauer ist, vernünftig und verständig werden. Nichts ist geeigneter, uns weise zu machen, als der Anblick von Torheit, an denen wir uns nicht beteiligen; und sogar der Teilnehmer belehrt sich noch, vorausgesetzt, daß er von ihnen nicht geblendet wird und demselben Irrtum unterliegt wie diejenigen, welche sie begehen.

Weiter wolle man denken, daß wir, durch unsere Anlage auf sinnliche Gegenstände beschränkt, für die Auffassung abstrakter Begriffe der Philosophie und rein geistiger Ideen fast gar keine Fähigkeit besitzen. Um uns dieselben anzueignen,[103] müssen wir uns entweder von diesem Körper, an den wir mit so starken Banden gefesselt sind, freimachen, oder von Gegenstand zu Gegenstand stufenweise und langsam fortschreiten, oder wir müssen die Kluft endlich rasch und gleichsam mit einem Riesenschritt überspringen, dessen die Kindheit unfähig ist und zu welchem sogar der Mann eine für ihn besonders angefertigte Stufenleiter nötig hat. Die erste abstrakte Idee bildet die erste Sprosse derselben; aber ich vermag nur schwer einzusehen, wie man sie sich herzurichten denkt.

Das unerforschliche, allumfassende Wesen, welches der Welt die Bewegung verleiht, und welchem die ganze Reihe der Wesen ihren Ursprung verdankt, ist weder unseren Augen sichtbar, noch unseren Händen greifbar. Es entzieht sich allen unseren Sinnen. Das Werk tritt uns sichtbar entgegen, aber der Meister verbirgt sich. Es ist keine Kleinigkeit, seine Existenz endlich zu erkennen. Und ist es uns gelungen, fragen wir uns: »Was ist er? Wo ist er?« so verwirrt und verwirrt sich unser Geist und die Gedanken stehen uns still.

Locke verlangt, man solle sich zuerst mit dem Studium der Geister beschäftigen und erst dann zu dem der Körper übergehen. Das ist die Methode des Aberglaubens, der Vorurteile, des Irrtums, aber nicht die der Vernunft, ja nicht einmal die der wohlgeordneten Natur. Es heißt sich die Augen verbinden, um sehen zu lernen. Es bedarf eines langen Studiums der Körper, ehe man imstande ist, sich von den Geistern eine richtige Vorstellung zu machen und sich zur Ahnung ihrer Existenz hindurchzuarbeiten. Die umgekehrte Reihenfolge führt zum Materialismus.

Da unsere Sinne die ersten Werkzeuge zur Erlangung unserer Kenntnisse sind, so sind auch die körperlichen und sinnlich wahrnehmbaren Dinge die einzigen, von denen wir unmittelbar eine Vorstellung erhalten. Wer nicht mit dem philosophischen Anschauungen vertraut ist, vermag mit dem[104] Worte »Geist« keinen Sinn zu verbinden. Die große Masse des Volkes und die Kinder stellen sich einen Geist stets körperlich vor. Glauben sie nicht an Geister, welche schreien, reden, schlagen und Lärm machen? Nun wird man mir aber zugestehen müssen, daß Geister, welche Arme und Sprache haben, den Körpern täuschend ähnlich sind. Dies ist die Ursache, weshalb sich sämtliche Völker, die Juden nicht ausgenommen, körperliche Götter gebildet haben. Mit unseren Ausdrücken Geist, Dreieinigkeit, Personen Gottes sind wir selbst zum größten Teile Anthropomorphisten. Ich gebe zu, daß man uns nachsagen lehrt, Gott sei überall; allein wir glauben ebensogut, daß die Luft überall sei, wenigstens innerhalb unserer Atmosphäre, und das Wort Geist bedeutet ja selbst eigentlich nichts anderes als Hauch, Odem und Wind. Gewöhnt man die Leute einmal daran, Worte nachzusprechen, ohne sie zu verstehen, dann kann man sie auch mit Leichtigkeit dazu bringen, alles zu sagen, was man will.

Das Gefühl unserer Einwirkung auf andere Körper hat uns zunächst in den Glauben versetzen müssen, daß demzufolge auch jede Einwirkung letzterer auf uns der von uns ausgeübten gleich sei. Auf diese Weise begann der Mensch sich alle Dinge, deren Einwirkung auf sich er empfand, belebt vorzustellen. Da er sich weniger stark fühlte als die meisten derselben, weil ihm die Kenntnis der Grenzen ihrer Macht fehlte, so kamen sie ihm unbegrenzt vor, und er machte von dem Augenblick an, wo er sie sich als Körper dachte, Götter aus ihnen. Während der ersten Zeitalter haben die Menschen, die sich noch durch alles in Schrecken setzen ließen, nichts Totes in der Natur gesehen. Der Begriff Materie hat sich in ihnen nicht weniger langsam gebildet als der Begriff Geist, da dieser erstere Begriff ja ebenfalls eine Abstraktion ist. Auf diese Weise haben sie das Weltall mit sinnlich wahrnehmbaren Göttern erfüllt. Die Gestirne, die Winde, die Berge, die Flüsse, die Bäume, die Städte, sogar die Häuser – kurz alles hatte seine Seele,[105] seinen Gott, sein Leben. Die Bildnisse Labans, die Manitous der Rothäute, die Fetische der Neger, alle Werke der Natur und des Menschen sind die ersten Gottheiten der Sterblichen gewesen; Polytheismus war ihre erste Religion, und Götzendienst ihr erster Kultus. Zur Erkenntnis eines einzigen Gottes konnten sie sich erst erheben, als sie infolge der allmählichen Verallgemeinerung ihrer Begriffe imstande waren, auf die erste Ursache zurückzugehen, die ganze Kette der Wesen unter einen einzigen Begriff zusammenzufassen und mit dem Worte Substanz, das im Grunde genommen die größte aller Abstraktionen ist, einen bestimmten Sinn zu verbinden. Jedes Kind, welches an Gott glaubt, ist folglich notwendigerweise ein Götzendiener oder doch wenigstens ein Antropomorphist, und hat sich erst die Einbildungskraft einmal ein Bild Gottes ausgemalt, so kommt es sehr selten vor, daß ihn dann noch der Verstand begreift. Und das ist gerade der Fehler, in welchen wir bei Beobachtung des von Locke empfohlenen Ganges verfallen.

Da ich einmal, ich weiß selbst nicht wie, auf den abstrakten Begriff Substanz gekommen bin, so wird man, wenn wir einen Augenblick dabei stehenbleiben, einsehen, daß man bei Annahme einer einzigen Substanz ihr Eigenschaften zuschreiben müßte, die sich wegen ihrer völligen Unvereinbarkeit gegenseitig ausschließen, wie das Denken und der Umfang, von denen die ihrem Wesen nach teilbar ist, die andere dagegen jede Teilbarkeit ausschließt. Man begreift übrigens, daß das Denken, oder wenn man will, die Empfindung, eine ursprüngliche und von der Substanz, zu der sie gehört, untrennbare Eigenschaft ist, und daß das nämliche Verhältnis zwischen dem Umfang und seiner Substanz stattfindet. Daraus ist man zu dem Schlusse berechtigt, daß die Wesen, welche eine die ser Eigenschaften verlieren, gleichzeitig auch die Substanz zu der sie gehört, verlieren, daß demnach der Tod lediglich eine Trennung der Substanz ist, und daß die Wesen, in denen sich jene[106] beiden Eigenschaften vereinigt vorfinden, aus zwei Substanzen zusammengesetzt sind, zu denen diese beiden Eigenschaften gehören.

Jetzt überlege man aber, welch ein Unterschied noch bleibt zwischen dem Begriffe der beiden Substanzen und dem der göttlichen Natur, zwischen der unbegreiflichen Vorstellung der Einwirkung unserer Seele auf unseren Körper und der Vorstellung der Einwirkung Gottes auf alle Wesen! Wie sollen sich die Begriffe Schöpfung, Vernichtung, Allgegenwart, Ewigkeit, Allmacht, ferner die Begriffe der übrigen göttlichen Eigenschaften, alle diese Begriffe, deren Verworrenheit und Dunkelheit nur wenige in ihrer ganzen Wirklichkeit zu erkennen vermögen, und welche für das Volk nur deshalb nichts Dunkles haben, weil ihm alles Verständnis für dieselben abgeht – wie, frage ich, sollen sie sich jungen Seelen, die noch von den ersten Sinnesäußerungen in Anspruch genommen werden und nur das zu begreifen imstande sind, was sie mit Händen greifen können, in ihrer ganzen Stärke, das heißt in ihrer ganzen Dunkelheiten darstellen? Umsonst öffnen sich die Abgründe der Unendlichkeit rings um uns her; ein Kind läßt sich dadurch nicht in Schrecken setzen; seine schwachen Augen vermögen ihre Tiefen nicht zu ergründen. Den Kindern gegenüber ist alles unendlich, sie verstehen keiner Sache Grenzen zu setzen, nicht etwa weil sie einen zu großen Maßstab anlegen, sondern wegen der Unzugänglichkeit ihres Verstandes. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß sie das Unendliche weniger jenseits als diesseits des ihnen bekannten Raumes verlegen. Sie werden sich bei der Abschätzung eines unbegrenzten Raumes weit mehr auf ihre Füße als auf ihre Augen verlassen; er wird sich für sie nicht über die Grenzen ihrer Sehkraft, sondern nur über die Grenzen des Weges, den sie zurücklegen können, hinaus erstrecken. Erzählt man ihnen von der Allmacht Gottes, so werden sie ihn für beinahe ebenso stark als ihren Vater[107] halten. Da ihnen in allen Dingen das, was sie kennen, den Maßstab des Möglichen abgeben muß, so halten sie das, was man ihnen sagt, stets für geringer als das, was sie aus Erfahrung wissen. So lauten regelmäßig die Urteile, welche Unwissenheit und Geistesschwäche fällen. Ajax würde sich gefürchtet haben, sich mit dem Achill zu messen, fordert aber den Jupiter zum Kampfe heraus, weil er den Achill kennt, jedoch nicht den Jupiter. Ein schweizer Bauer, welcher sich für den reichsten Mann hielt, und dem man die Bedeutung eines Königs klarzumachen suchte, fragte mit stolzer Miene, ob ein König wohl im stande wäre, hundert Kühe auf den Bergen zu halten.

Ich sehe voraus, wie viele meiner Leser die Wahrnehmung in Erstaunen setzen wird, daß ich das ganze erste Lebensalter meines Zöglings habe vorübergehen lassen, ohne mit ihm über Religion zu sprechen. Im Alter von fünfzehn Jahren wußte er noch nicht, daß er überhaupt eine Seele hat, und vielleicht braucht er es noch nicht einmal im achtzehnten Jahre zu lernen, denn wenn er es vor dem unumgänglich nötigen Zeitpunkte lernt, läuft er Gefahr, es niemals zu erfahren.

Wenn mir die Aufgabe gestellt wäre, die Dummheit in ihrer abstoßendsten Form zur Darstellung zu bringen, so würde ich einen pedantischen Schulfuchs malen, wie er Kindern Katechismusunterricht erteilt; wenn ich ein Kind ganz närrisch machen wollte, würde ich es nötigen, mir deutlich auseinanderzusetzen, was es beim Hersagen des Katechismus eigentlich sage. Man wird mir den Einwurf machen, daß ja der größte Teil der christlichen Dogmen Geheimnisse seien, und daß deshalb warten wollen, bis der menschliche Geist die Fähigkeiten erlangt habe, sie zu begreifen, nicht warten heiße, bis aus dem Kinde ein Mann geworden sei, sondern bis der Mensch aufgehört habe zu existieren. Hierauf entgegne ich erstlich, daß es Geheimnisse gibt, die es dem Menschen nicht nur unmöglich fällt, zu begreifen,[108] sondern auch zu glauben. Ich sehe in der Tat nicht ein, was man da durch, daß man die Kinder mit denselben bekannt macht, anders erzielt, als daß man sie schon früh zum Lügen anhält. Weiter bin ich der Ansicht, daß man, will man Geheimnisse gelten lassen, wenigstens begreifen muß, daß sie unbegreiflich sind, Kinder sind aber nicht einmal dieses Gedankens fähig. Für das Alter, in welchem alles Geheimnis ist, gibt es gar keine Geheimnisse im eigentlichen Sinne.

Man muß glauben, um selig zu werden. Die falsche Auffassung dieses Dogmas ist die Quelle der blutgierigsten Intoleranz und die Ursache aller dieser nutzlosen Lehren, welche der menschlichen Vernunft den Todesstreich versetzen, indem dieselbe dadurch gewöhnt wird, sich mit Worten abspeisen zu lassen. Ohne Zweifel ist kein Augenblick zu verlieren, um der ewigen Seligkeit gewiß zu werden; ist aber zu ihrer Erlangung das Nachplappern gewisser Worte hinreichend, so sehe ich nicht ein, was uns abhält, den Himmel ebensogut mit Starmätzen und Elstern als mit Kindern zu bevölkern.

Die Pflicht zu glauben setzt die Möglichkeit dazu voraus. Der Philosoph, welcher nicht glaubt, begeht Unrecht, weil er von der Vernunft, die er ausgebildet hat, einen schlechten Gebrauch macht, und weil er imstande ist, die Wahrheiten zu verstehen, die er verwirft. Was aber glaubt ein Kind, welches sich zu der christlichen Religion bekennt? Das, was es versteht; allein es versteht das, was man es nachsprechen läßt, in so geringem Grade, daß es, falls ihr ihm plötzlich das Gegenteil vorsprecht, dies ebenso willig annehmen wird. Der Glaube der Kinder sowie der vieler Erwachsener ist lediglich eine Sache der Geographie. Soll ihnen etwa dafür ein Lohn zuteil werden, daß sie in Rom und nicht in Mekka geboren sind? Dem einen redet man vor, daß Mohammed der Prophet Gottes ist, und es sagt nun natürlich auch: »Mohammed ist der Prophet Gottes!«[109] Dem anderen sagt man, Mohammed sei ein Betrüger, und es behauptet deshalb gleichfalls: »Mohammed ist ein Betrüger!« Jeder von diesen beiden hätte das behauptet, was der andere behauptet, wenn ihre Geburtsstätten vertauscht wären. Können nun wohl diese angeborenen Anlagen, die sich bei beiden so ähnlich zeigen, eine so verschiedene Wirkung ausüben, daß eine in das Paradies versetzt, das andere aber der Hölle überantwortet wird?112 Legt ein Kind das Bekenntnis ab, daß es an Gott glaube, so ist es eigentlich nicht Gott, an den es glaubt, sondern der Peter oder der Jakob, welche ihm sagen, es gebe etwas, was man Gott nenne; und es glaubt dies in der Weise des Euripides, der öffentlich bekennt:


O Jupiter, von dem ich nichts

Als nur den Namen kenne!113


Wir glauben, daß kein vor dem Alter der Vernunft gestorbenes Kind von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen werde; die Katholiker glauben dasselbe von allen getauften Kindern, wenn sie auch noch nie von Gott haben reden hören. Folglich gibt es Fälle, wo man, ohne an Gott zu glauben, selig werden kann, und solche Fälle kommen teils in der Kindheit, teils beim Wahnsinn vor, wo dem menschlichen Geiste diejenige Fähigkeit genommen ist, die zu der Erkenntnis der Gottheit notwendig ist. Der ganze Unterschied, den ich zwischen euch und mir finde, besteht darin, daß ihr die Behauptung aufstellt, die Kinder besäßen diese[110] Fähigkeit schon in einem Alter von sieben Jahren, während ich sie ihnen noch im fünfzehnten Jahr abspreche. Ob ich nun recht oder unrecht habe, so handelt es sich hier keineswegs um einen Glaubensartikel, sondern um eine einfache naturhistorische Beobachtung.

Nach demselben Grundsatz ist es auch einleuchtend, daß selbst ein Mensch, der, ohne an Gott zu glauben, das Greisenalter erreicht hat, um deswillen noch nicht des zukünftigen Lebens verlustig gehen wird, wenn er nicht absichtlich in seiner Verblendung verharrte, und ich bekenne offen, daß meiner Ansicht nach dies nicht immer der Fall sein wird. Ihr teilt meine Ansicht, wenn es sich um Wahnsinnige handelt, die eine Krankheit zwar ihrer geistigen Fähigkeiten, damit aber noch nicht ihrer Eigenschaft als Menschen und also nicht ihres Anrechts auf die Wohltaten ihres Schöpfers beraubt hat. Weshalb mir also eure Beistimmung in bezug auf solche Personen versagen, welche, von ihrer Kindheit an der menschlichen Gesellschaft fernstehend, ein völlig wildes Leben geführt haben, und denen deshalb alle jene Einsichten fehlen, die man sich nur im Umgang mit Menschen anzueignen vermag.114 Denn es ist eine erwiesene Unmöglichkeit, daß ein solcher Wilder je imstande sein sollte, sich durch eigene Ueberlegung zur Erkenntnis des wahren Gottes zu erheben. Die Vernunft sagt uns, daß ein Mensch nur für die aus freiem Antriebe begangenen Fehler straffällig sei und daß eine Unwissenheit, die sich zu belehren nie Gelegenheit hatte, ihm nie als Verbrechen angerechnet werden könne. Hieraus ergibt sich, daß jeder Mensch, welcher glauben würde, wenn er die nötigen Einsichten hätte, vor der ewigen Gerechtigkeit für gläubig angesehen wird, und daß die Strafe des Unglaubens nur[111] diejenigen treffen wird, deren Herz sich der Wahrheit verschließt.

Nehmen wir uns in acht, denn die Wahrheit zu verkündigen, die sie nicht zu verstehen imstande sind, denn dadurch würden wir der Wahrheit gerade den Irrtum substituieren. Es wäre besser, von der Gottheit gar keine Vorstellung zu haben, als sich von derselben eine niedrige, phantastische, sie herabwürdigende und ihrer unwürdige zu bilden. Es ist ein geringeres Uebel, von der Gottheit keine Kenntnis zu besitzen, als sie zu beleidigen. »Ich würde es vorziehen,« sagt der ehrenwerte Plutarch,115 »daß man glaubte, es gäbe gar keinen Plutarch in der Welt, als daß man sagte: Plutarch ist ungerecht, neidisch, eifersüchtig und so tyrannischen Geistes, daß er mehr verlangt, als zu erfüllen möglich ist.«

Der große Uebelstand eines falschen Bildes der Gottheit, welches man dem Geiste der Kinder einprägt, besteht darin, daß dasselbe ihr ganzes Leben hindurch in ihnen haften bleibt, und daß sie, auch wenn sie erwachsen sind, sich von den Anschauungen ihrer Kindheit nicht loszureißen vermögen. Ich habe in der Schweiz eine brave und fromme Mutter gekannt, die von der unumstößlichen Richtigkeit dieses Satzes so vollkommen überzeugt war, daß sie ihren Sohn in seiner frühesten Jugend unter keinen Umständen in der Religion unterrichten wollte, weil sie von der Besorgnis erfüllt war, er könnte sich durch eine so unvollkommene Belehrung befriedigt fühlen und im Alter der Vernunft einer eingehenderen sein Ohr nicht mehr schenken. Dieses Kind hörte immer nur mit Andacht und Ehrfurcht von Gott reden, und sobald es selbst von ihm reden wollte, legte man ihm darüber, als über einen Gegenstand, der für dasselbe viel zu er haben und groß wäre, sofort Stillschweigen auf. Diese Zurückhaltung fachte seine Neugier an, und in seiner Eigenliebe wünschte es sehnlichst den[112] Augenblick herbei, wo es dieses Geheimnis kennen lernen sollte, welches man ihm mit so großer Sorgfalt verbarg. Je weniger man mit ihm von Gott redete, je weniger man ihm gestattet, selbst von ihm zu sprechen, desto mehr beschäftigte es sich mit ihm; dieses Kind sah Gott schließlich überall. Bei diesem Anschein von Geheimniskrämerei würde ich, wenn sie gar zu unvorsichtig zur Schau träte, freilich die Befürchtung hegen, daß sie durch die allzu große Erhitzung der Einbildungskraft des Knaben ihm ganz den Kopf verdrehte und daß man am Ende einen Schwärmer aus ihm machte, anstatt ihn auf den Weg des Glaubens zu bringen.

Dergleichen ist indes für meinen Emil, der sich niemals dazu bewegen läßt, einem Gegenstand, welcher außer den Grenzen seiner Fassungskraft liegt, Aufmerksamkeit zu schenken, und deshalb solche Dinge, die er nicht versteht, mit der gründlichsten Gleichgültigkeit anhört, durchaus nicht zu befürchten. Es gibt so vielerlei, von dem er zu sagen gewohnt ist: »Das gehört nicht zum Kreise meiner Kenntnisse,« daß er durch einen Gegenstand mehr nicht leicht in Verlegenheit gesetzt wird, und sobald er beginnt, über diese großen Fragen in Unruhe zu geraten, so geschieht es nicht deshalb, weil sie in seiner Gegenwart aufgestellt sind, sondern weil der natürliche Fortschritt seiner Einsichten seine Forschungen nach dieser Richtung hinlenkt.

Wir haben bereits gesehen, auf welchem Wege sich der herangereifte menschliche Geist diesen Geheimnissen nähert, und ich will gern einräumen, daß er, wenn er nur der Natur folgte, selbst im Schoße der Gesellschaft, erst in einem vorgeschrittenen Lebensalter dahin gelangen würde. Weil sich jedoch in dieser nämlichen Gesellschaft unvermeidliche Ursachen vorfinden, welche den Fortschritt der Leidenschaften beschleunigt, so würde man, wenn man nicht den Fortschritt der Einsichten, welche zur Zügelung unserer Leidenschaften dienen, in gleichem Verhältnis beschleunigte,[113] in Wirklichkeit von der Ordnung der Natur abweichen, und das Gleichgewicht würde aufgehoben werden. Wenn man eine allzuschnell fortschreitende Entwicklung nicht zu mäßigen vermag, so muß man alles, was damit naturgemäß in Verbindung steht, in gleicher Geschwindigkeit weiterzuführen suchen, so daß nirgends die Ordnung gestört, das, was die Bestimmung hat, gleichmäßig fortzuschreiten, nicht voneinander geschieden werde und der Mensch, der in allen Lebensmomenten nur ein einziges Ganzes bildet, hinsichtlich der Entwicklung seiner einzelnen Fähigkeiten nicht einen verschiedenen Standpunkt einnehme.

Ich sehe schon im Geiste, welche Schwierigkeiten sich hier erheben, Schwierigkeiten, die um so größer sind, als sie weniger in den Dingen, als vielmehr auf dem Kleinmute derer beruhen, die sich nicht zu heben wagen. Unternehmen wir zunächst das Wagestück, sie uns wenigstens klarzumachen. Ein Kind soll in der Religion seines Vaters erzogen werden. Man liefert ihm stets den vollkommenen Beweis, daß diese Religion, was für eine es auch immer sei, die einzig wahre ist, alle anderen dagegen voller Ueberspanntheiten und Ungereimtheiten sind. Was diesen Punkt anlangt, so hängt die Stärke der Beweisgründe durchaus von dem Lande ab, in welchem man sie vorbringt. Ein Türke, welchem in Konstantinopel das Christentum so lächerlich erscheint, möge nur einmal nach Paris gehen und mit anhören, was man dort vom Mohammedanismus hält! Hauptsächlich auf religiösem Gebiete feiern die Vorurteile ihre Triumphe. Allein wir, die wir stolz versichern, wir schüttelten ihr Joch in jeder Beziehung ab, wir, die wir der Autorität kein Vorrecht zugestehen, wir, die wir unseren Emil in nichts unterrichten wollen, was er nicht in jedem Lande von selbst lernen könnte, in welcher Religion sollen wir ihn erziehen? In welche Sekte sollen wir diesen Naturmenschen aufnehmen lassen? Die Antwort ist, wie mir scheint, sehr einfach. Wir bestimmen ihn weder für diese noch für jene, setzen ihn[114] aber in den Stand, sich selbst diejenige zu wählen, welcher ihn der beste Gebrauch seiner Vernunft zuführen muß.


Incedo per ignes

Suppositos cineri doloso.116


Sei es trotzdem gewagt! Eifer und Aufrichtigkeit haben mir bisher die Klugheit ersetzt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß mich diese Bürgen im Notfall nicht verlassen werden. Leser, fürchtet von mir keine Vorsichtsmaßregeln, die eines Wahrheitsfreundes unwürdig wären. Ich werde meines Wahlspruchs stets eingedenk bleiben, aber man muß mir vergönnen, in mein eigenes Urteil Mißtrauen zu setzen. Anstatt euch meine eigenen Gedanken darüber zu entschleiern, will ich euch erzählen, was ein Mann dachte, der mich um vieles übertraf. Ich stehe für die Wahrheit der Tatsachen ein, die ich hier mitteilen will; sie sind dem Verfasser der schriftlichen Aufzeichnung, die ich abzuschreiben gedenke, wirklich zugestoßen. Euere Sache ist es nun, zu sehen, ob sich daraus nützliche Betrachtungen über den Gegenstand, um den es sich hier handelt, ziehen lassen. Weder eines anderen noch meine eigene Ansicht stelle ich euch als maßgebende Richtschnur auf; ich wünsche sie euch lediglich zur Prüfung vorzulegen.

»Es sind dreißig Jahre her, daß ein junger Mann, der fern von seinem Vaterlande lebte, in einer Stadt Italiens in das äußerste Elend geriet. Er war im Schoße des Calvinismus geboren, wechselte indes, da er infolge einer Unbesonnenheit die Flucht hatte ergreifen müssen und sich nun in einem fremden Land ohne alle Hilfsmittel sah, seine Religion, um sich dadurch seinen Unterhalt zu verschaffen. Es befand sich in dieser Stadt ein Hofpiz für Proselyten, und in dieses wurde er aufgenommen. Während man ihn[115] über die Unterscheidungslehren unterrichtete, rief man Zweifel in ihm wach, die er vorher nicht gehabt hatte, und lehrte ihn das Böse kennen, das ihm bis dahin fremd gewesen war. Er hört neue Dogmen, sah aber gleichzeitig Sitten, die ihm noch neuer waren. Er sah sie und wäre beinahe ihr Opfer geworden. Er wollte fliehen, aber man sperrte ihn ein; er beschwerte sich, man bestrafte ihn für seine Beschwerden. Der Willkür seiner Tyrannen preisgegeben, sah er sich als Verbrecher behandelt, weil er nicht hatte in die Sünde willigen wollen. Wer da weiß, in wie hohem Grade die erste Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit die einem jungen, unerfahrenen Herzen zugefügt wird, dasselbe aufzuregen vermag, kann sich eine Vorstellung von dem Zustande machen, in welchen das seinige versetzt wurde. Tränen der Wut stürzen ihm aus den Augen, der Unwille drohte ihn zu ersticken; Himmel und Erde bestürmte er mit seinen Bitten; er vertraute sich jedermann an und doch fand es bei niemandem Gehör. Seine Augen vermochten niemand zu entdecken als feile Diener, die völlig von jenem Niederträchtigen, der ihn so schimpflich behandelte, abhängig waren, oder Täter der ihm zugemuteten Sünde, die sich über seinen Widerstand lustig machten und ihn aufforderten, ihnen nachzuahmen. Ohne einen redlichen Geistlichen, der wegen irgendeiner Angelegenheit das Hospiz besuchte, und den er Mittel fand, im geheimen um Rat zu fragen, wäre er verloren gewesen. Der Geistliche war arm und bedurfte selbst aller Welt Hilfe; aber der Unterdrückte hatte seiner in noch höherem Grade nötig, und er trug keinen Augenblick Bedenken, seine Flucht zu befördern, selbst auf die Gefahr hin, sich dadurch einen gefährlichen Feind zuzuziehen.

Dem Laster war er nun zwar entronnen, aber nur um von neuem in Mangel zu geraten. Vergeblich kämpfte der junge Mann gegen sein Schicksal an. Einen Augenblick glaubte er freilich schon desselben Herr geworden zu sein. Bei dem ersten Aufleuchten des Glückes waren sofort seine[116] Leiden und sein Beschützer vergessen. Diese Undankbarkeit sollte aber bald ihre Strafe erhalten; alle seine Hoffnungen scheiterten. Kam ihm auch seine Jugend zustatten, so verdarben doch seine romanhaften Ideen alles wieder. Obwohl es ihm an den hinreichenden Talenten und dem nötigen Geschick gebrach, um sich einen leichten Lebensweg zu bahnen, und er weder gemäßigt noch schlecht zu sein verstand, so machte er doch auf so vielerlei Anspruch, daß er schließlich keines seiner Ziele zu erreichen vermochte. Zurückgesunken in sein früheres Elend, ohne Brot, ohne Obdach, dem Hungertod nahe, erinnerte er sich mit einem Male wieder seines Wohltäters.

Er kehrt zu ihm zurück, findet ihn und hat sich einer freundlichen Aufnahme zu erfreuen. Sein Anblick ruft in dem Geistlichen wieder das Andenken an eine gute Handlung, welche er vollbracht hatte, wach. Eine solche Erinnerung kann für die Seele stets nur erfreulich sein. Dieser Mann war von Natur menschenfreundlich und mitleidig; seine eigenen Leiden erfüllten ihn mit Mitgefühl für fremdes Leid, und Wohlstand hatte sein Herz nicht verhärtet; außerdem hatten die Lehren der Weisheit und eine fleckenlose Tugend seinem guten Naturell noch größeren Halt gegeben. Er nimmt den jungen Mann auf, verschafft ihm ein Nachtlager, empfiehlt ihn und teilt mit ihm sein geringes Einkommen, das für zwei kaum ausreichend ist. Er tut sogar noch mehr, er unterrichtet ihn, tröstet ihn und lehrt ihn vor allem die schwierige Kunst, jedes Mißgeschick mit Geduld zu ertragen. Hättet ihr, mit Vorurteilen erfüllte Menschen, dies wohl von einem Geistlichen, hättet ihr es wohl in Italien vermutet?

Dieser redliche Geistliche war ein armer savoyischer Vikar, der wegen eines Jugendabenteuers bei seinem Bischof in Ungnade gefallen war und deshalb jenseits der Berge ein Unterkommen gesucht hatte, welches ihm in seinem Vaterlande versagt war. Es fehlte ihm weder an Geist noch[117] an wissenschaftlicher Bildung. Diese Gaben sowie ein einnehmendes Aueßere hatten ihm Gönner verschafft, welche ihn bei einem Minister unterbrachten, um die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. Allein er zog die Dürftigkeit der Abhängigkeit vor, und es fehlte ihm auch an dem richtigen Takt im Umgang mit den Großen. Daher blieb er nicht lange in diesem Wirkungskreise, verlor jedoch, als er aus demselben schied, keineswegs die Achtung des Ministers, und da er einen unanstößigen Lebenswandel führte und sich mit der Hoffnung, doch noch die Gunst des Bischofs wiederzugewinnen und irgendeine kleine Pfarrei im Gebirge von demselben zu erhalten, wo er seine übrigen Tage verleben könnte. Ein höheres Ziel kannte sein Ehrgeiz nicht.

Eine natürliche Neigung zog ihn zu dem jungen Flüchtling hin und trieb ihn an, denselben genau zu beobachten. Er nahm wahr, daß das Unglück sein Herz bereits gebrochen, daß Schmach und Verachtung seinen Mut gebeugt hatte, und daß seinem Stolze, der schon in tiefste Bitterkeit übergegangen war, die Ungerechtigkeit und Härte der Menschen nur als ein Gebrechen ihrer Natur und jede Tugend als eitler Wahn erschien. Er hatte zu sehen geglaubt, daß die Religion nur die Maske des Eigennutzes abgibt und der religiöse Kultus die Heuchelei großzieht; es war ihm vorgekommen, als ob bei allem Aufgebote des Scharfsinnes in den gelehrten Streitigkeiten Himmel und Hölle immer nur als Preis für ein Spielen mit Worten gelten, in seinen Augen war die erhabene und ursprüngliche Idee der Gottheit durch die Phantastischen Einbildungen der Menschen entstellt, und da es ihm schien, daß man, um an Gott zu glauben, auf den Verstand verzichten müßte, den man von ihm erhalten hat, so zollte er sowohl diesen ihm lächerlich dünkenden Träumereien der Menschen als auch dem Gegenstande derselben die nämliche Verachtung. Ohne die geringste Kenntnis von dem, was ist, ohne eine richtige Vorstellung von der Entstehung der Dinge, verharrte[118] er mit tiefer Verachtung aller derer, die davon mehr als er zu wissen meinten, in seiner krassen Unwissenheit.

Die Verwerfung aller Religion führt zur Verabsäumung der Pflichten des Menschen. Unser Freigeist hatte in seinem Herzen schon mehr als die Hälfte dieses Weges zurückgelegt. Trotzdem war er nicht etwa mit besonders bösen Anlangen geboren, sondern der Unglaube und das Elend, welche seine Natur allmählich erstickten, trieben ihn nur mit furchtbarer Schnelligkeit seinem Verderben entgegen und hatten ihn fast schon so weit gebracht, daß er in den Sitten zu einem Bettler herabsank und in ihm den Grund zu der Moral eines Atheisten gelegt.

Obgleich das Uebel fast unvermeidlich einen traurigen Ausgang nehmen zu müssen schien, so hatte es doch bis jetzt seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Der junge Mann besaß Kenntnisse, und seine Erziehung war nicht vernachlässigt worden. Er stand in jenem glücklichen Alter, in welchem das gärende Blut die Seele zu erwärmen beginnt, ohne sie den Leidenschaften der Sinne zu unterwerfen. Die seinige hatte noch ihre ganze Spannkraft. Eine angeborene Schamhaftigkeit und eine gewisse Schüchternheit des Charakters vertraten bei ihm den Zwang und verlängerten für ihn jene Lebensperiode, in welcher ihr euren Zögling euch so sorgfältig zu erhalten bemüht. Das hassenswerte Beispiel einer tierischen Entartung und eines reizlosen Lasters war so weit davon entfernt gewesen, seine Einbildungskraft anzufachen, daß es dieselbe vielmehr ertötet hatte. Durch Widerwille und Ekel, die ihm lange Zeit die Tugend ersetzen, vermochte er seine Unschuld zu bewahren; sie sollte nur süßeren Verführungen unterliegen.

Der Geistliche erkannte nicht nur die Gefahr, sondern auch die Mittel zur Abwehr. Die Schwierigkeiten schreckten ihn durchaus nicht zurück; er fand Gefallen an seinem Werke und beschloß, es zu vollenden und das Opfer, welches er der Versunkenheit und Schande entrissen hatte, in den[119] Schoß der Tugend zurückzuführen. Nur mit größter Behutsamkeit ging er bei Ausführung seines Planes zu Werke. Der gute Zweck belebte seinen Mut und gab ihm Mittel ein, die seines edlen Strebens würdig waren. Welchen Erfolg er auch erzielen mochte, er war sicher, seine Zeit nicht verloren zu haben. Wer nur Gutes bezweckt, muß seine Bemühungen stets mit Erfolg gekrönt sehen.

Sein erste war, sich das Vertrauen des Proselyten dadurch zu gewinnen, daß er auf seine Wohltaten keinen Preis setzte, daß er ihm nicht lästig fiel, ihm keine langen Predigten hielt, nie über die Grenzen seiner Fassungskraft hinausging und sich nicht scheute, sich zu erniedrigen, um sich ihm soviel als möglich gleichzustellen. Es mußte meinem Bedünken nach in der Tat ein ergreifendes Schauspiel darbieten, mit anzusehen, wie sich ein ernster Mann zum Kumpan eines tiefgesunkenen Menschen hergab und die Tugend den Ton ungebundener Zügellosigkeit annahm, um desto sicherer zum Ziele zu gelangen. Als der leichtsinnige Mensch endlich Vertrauen zu ihm faßte und ihm sein Herz ausschüttete, hörte ihn der Priester an und suchte ihm durch freundliches Entgegenkommen sein Geständnis zu erleichtern. Ohne das dabei vorkommende Böse zum billigen, legte er doch ein lebhaftes Interesse für alles an den Tag. Niemals hemmte er durch unbesonnenen Tadel sein Geplauder oder machte ihm das Herz schwer. Das Vergnügen, mit welchem derselbe seine Worte aufgenommen glaubte, erhöhte noch die Freude, von der er bei diesen Herzensergießungen beseelt war. So beichtete er alles, was er auf dem Herzen hatte, ohne sich doch seiner Beichte bewußt zu werden.

Nachdem der Priester über die Gesinnungen und den Charakter seines Schützlings ins klare gekommen war, erkannte er deutlich, daß er, obwohl man ihn für sein Alter nicht unwissend nennen konnte, doch alles das vergessen hatte, was für ihn zu wissen von größter Wichtigkeit war, und daß die Schmach, in welche er durch die Schuld des Schicksals[120] versunken war, in ihm jedes wahre Gefühl für gut und böse erstickt hatte. Es gibt einen Grad von Verkommenheit, welcher der Seele alles Leben entzieht. Die innere Stimme vermag sich dem nicht vernehmbar zu machen, der nur an die Sorge für seine Ernährung zu denken hat. Um den jungen Unglücklichen vor diesem moralischen Tode, dem er so nahe war, zu bewahren, suchte der Priester zunächst wieder Selbstliebe und Selbstachtung in ihm anzufachen; er malte ihm aus, eine wie glückliche Zukunft er sich durch eine geschickte Anwendung seiner Talente bereiten könnte, und verstand es, durch die Erzählung guter Handlungen, welche andere ausgeübt hatten, sein Herz wieder für alles Edle zu erwärmen; indem er ihn mit Bewunderung für die Personen erfüllte, welche so edel gehandelt hatten, rief er in ihm zugleich den Wunsch hervor, ähnliche Taten zu vollbringen. Um ihn nach und nach von seinem müßigen und unsteten Leben loszureißen, verwandte er ihn zur Anfertigung von Auszügen aus auserlesenen Büchern, und indem er sich stellte, als bedürfe er dieser Auszüge, gab er dem edlen Gefühle der Dankbarkeit in ihm Nahrung. Er belehrte ihn mittelbar durch diese Bücher und flößte ihm wieder eine gute Meinung von sich selbst ein, damit er sich nicht für ein zu allem Guten unfähiges Wesen halten und sich des Gedankens entschlagen sollte, sich in seinen eigenen Augen verächtlich zu machen.

Die Mitteilung eines an und für sich unbedeutenden Vorfalles wird ausreichend sein, damit sich der Leser ein richtiges Urteil über die große Kunst bilden könne, welche dieser wohltätige Mann anwandte, um das Herz seines Schülers unmerklich aus der Erniedrigung zu erheben, ohne daß es den Anschein erweckte, er ginge darauf aus, ihm eine Belehrung zu erteilen. Der Geistliche war von so anerkannter Rechtschaffenheit und von so unzweifelhafter Menschenkenntnis, daß sich mehrere Personen behufs Verteilung ihrer Almosen lieber an ihn als an die reichen Stadtpfarrer[121] wandten. Als man ihm eines Tages wieder einiges Geld zu diesem Zwecke übergeben hatte, war der junge Mensch unwürdig genug, ihn um einen Teil desselben anzusprechen, da er ja auch zu den Armen gehörte. Nein, versetzte dieser jedoch, wir sind Brüder, Sie gehören mir an, und ich darf, wo es sich um meinen persönlichen Vorteil handelt, nichts von dem mir anvertrauten Gute anrühren. Darauf schenkte er ihm aus seinen eigenen Mitteln so viel Geld, als er verlangt hatte. Lehren solcher Art verfehlen auf das Herz junger Leute, welche noch nicht völlig verdorben sind, selten ihre Wirkung.

Ich bin es aber müde, immer in der dritten Person zu reden, und es ist dies auch eine völlig überflüssige Mühe, denn ihr werdet wohl schon vermuten, liebe Mitbürger, daß ich selbst dieser unglückliche Flüchtling bin. Ich denke, die Verirrungen meiner Jugend liegen mir jetzt fern genug, daß ich es wagen darf, sie einzugestehen; und die Hand, die mich ihnen entriß, verdient es gewiß, daß ich ihren Wohltaten, selbst auf die Gefahr hin, mich einer geringen Beschämung auszusetzen, wenigstens einige Ehre erweise.

Am auffallendsten war mir jedoch, daß ich in dem Privatleben meines würdigen Lehrers eine Tugend ohne Heuchelei, eine Menschheit ohne Schwäche entdeckte, daß seine Reden immer aufrichtig und einfach waren und daß seine Handlungen stets seinen Worten entsprachen. Nie habe ich die Wahrnehmung gemacht, daß er sich darum bekümmert hätte, ob diejenigen, welchen er Handreichung leistete, auch zur Vesper gingen, ob sie fleißig beichteten, an den vorgeschriebenen Tagen fasteten oder sich der Fleischspeisen enthielten, noch daß er ihnen andere dergleichen Bedingungen auferlegt hätte, ohne welche man bei Frömmlern, und sollte man auch im Elende zugrunde gehen, auf keine Hilfe rechnen kann.

Durch diese Beobachtungen ermutigt und weit davon entfernt, vor seinen Augen mit dem erkünstelten Eifer eines[122] Neubekehrten zu prunken, verhehlte ich ihm meine Denkweise keineswegs und fand nicht, daß ich dadurch Anstoß bei ihm erregte. Bisweilen hätte ich allerdings in Versuchung geraten können, zu mir zu sagen: Er hält mir meine Gleichgültigkeit gegen den Kultus, zu dem ich übergetreten bin, um deswillen zugute, weil er mich auch von derselben Gleichgültigkeit gegen denjenigen erfüllt sieht, in dem ich geboren bin. Er begreift, daß meine Geringachtung nicht aus Parteilichkeit entsteht. Was für Gedanken mußten aber in mir aufsteigen, wenn ich ihn bisweilen Dogmen billigen hörte, welche denen der römisch-katholischen Kirche völlig widersprachen, und er sich den Anschein gab, als ob alle Zeremonien derselben in seinen Augen nur einen geringen Wert hätten? Hätte ich ihn nicht in der Beobachtung derselben Gebräuche, denen er so wenig Wichtigkeit beizulegen schien, so gewissenhaft gesehen, so würde ich ihn für einen heimlichen Protestanten gehalten haben; da ich mir aber die Ueberzeugung verschafft hatte, daß er seine priesterlichen Pflichten ohne Zeugen mit der nämlichen Pünktlichkeit erfüllte, mit denen er sie öffentlich beobachtete, so wußte ich nicht mehr, welches Urteil ich mir über diese Widersprüche bilden sollte. Abgesehen von dem einen Fehler, welcher die Ursache seines Unglücks war und unter dessen Folgen er noch immer zu leiden hatte, war sein Leben exemplarisch, zeigte er sich in seinem Wandel untadelhaft, bekundeten seine Reden Rechtschaffenheit und Scharfsinn. Da ich mit ihm in größter Vertraulichkeit lebte, lernte ich ihn täglich höher achten, und die große Güte, die er gegen mich an den Tag gelegt, hatte ihm mein ganzes Herz gewonnen. Mit einer gewissen neugierigen Unruhe wartete ich auf den Augenblick, wo ich erfahren sollte, auf welchen Grundsatz er die Gleichmäßigkeit eines so eigentümlichen und ausgezeichneten Lebens gründete.

Dieser Augenblick erschien indes nicht so bald. Bevor er sich seinem Schüler ganz enthüllte, bemühte er sich, den[123] Samen der Vernunft und Güte, welchen er in seine Seele gestreut hatte, emporkeimen zu lassen. Was sich in mir am schwierigsten wollte ausrotten lassen, war ein stolzer Menschenhaß, eine gewisse Bitterkeit gegen die Reichen und Glücklichen in dieser Welt, als ob sie sich nur auf meine Kosten dazu hätten emporschwingen können und als ob durch ihr vermeintliches Glück das meinige geschmälert würde. Die törichte Eitelkeit der Jugend, welche gegen jede Demütigung ankämpft, erhöhte diese gehässige Stimmung nur in allzu hohem Grade, und da die Eigenliebe, die mein Mentor sich wieder in mir rege zu machen bemühte, mir ein Gefühl des Stolzes einflößte, so machte mir diese die Menschen in meinen Augen noch verächtlicher und wurde die Ursache, daß zu meinem Haß gegen sie noch die Verachtung hinzutrat.

Ohne diesem Stolz direkt entgegenzutreten, trug er doch dafür Sorge, daß derselbe nicht in Verhärtung des Gemüts ausarten konnte, und ohne mir die Selbstachtung zu rauben, nahm er ihr doch einen Teil der Verachtung meines Nächsten, der sich sonst mit ihr gepaart hatte. Dadurch, daß er regelmäßig den leeren Schein entfernte und mir die eigentlichen Uebel nachwies, welche sich unter jenem verbergen, lehrte er mich die Fehler meiner Mitmenschen bedauern, an ihren Leiden Anteil nehmen, und sie mehr beklagen als beneiden. Da er infolge des tiefen Gefühls seiner eigenen Schwäche von innigem Mitleid mit den menschlichen Schwächen bewegt war, so betrachtete er die Menschen in jeder Beziehung als Opfer ihrer eigenen oder fremder Fehler; er erkannte, wie die Armen unter dem Joche der Reichen, die Reichen dagegen unter dem Joch ihrer Vorurteile seufzten. Glauben Sie mir, sagte er, unsere Illusionen sind so weit davon entfernt, uns unsere Uebel zu verhüllen, daß sie dieselben vielmehr vermehren, indem sie an sich wertlosen Dingen einen hohen Wert beilegen und die falsche Vorstellung in uns erregen, daß wir[124] tausenderlei Dinge entbehren müßten, deren Mangel wir sonst gar nicht fühlen würden. Der Friede der Seele besteht in der Verachtung alles dessen, was ihn zu stören imstande ist. Der Mensch, welcher das Leben am höchsten schätzt, versteht es am wenigsten zu genießen, und wer dem Glück am gierigsten nachjagt, wird sich stets am unglücklichsten fühlen.

O, was für traurige Bilder! rief ich mit Bitterkeit aus. Wozu frommt es, geboren zu werden, wenn wir uns alles versagen müssen? Und wer vermag glücklich zu sein, wenn wir das Glück selbst verachten müssen? Ich! erwiderte eines Tages der Geistliche in einem Tone, der einen tiefen Eindruck auf mich machte. Wie? Sie glücklich? Sie, der sich in einer so wenig günstigen Lage befindet, der mit Armut zu kämpfen hat, der in der Verbannung lebt und sich Verfolgungen ausgesetzt sieht, Sie sind glücklich? Und auf welchem Wege sind Sie dazu gelangt? – Das, mein Sohn, entgegnete er, will ich Ihnen gern mitteilen.

Darauf sagte er, nachdem ich mit meinen Bekenntnissen ihm gegenüber nicht zurückgehalten hätte, wollte er mir auch die seinigen ablegen. Ich werde Ihnen, sagte er, indem er mich umarmte, mein ganzes Herz ausschütten. Sie sollen mich, wenn auch nicht so wie ich bin, doch wenigstens so, wie ich mich selbst erblicke, kennen lernen. Sobald Sie mein Glaubenskenntnis völlig angehört und meinen Seelenzustand genau erfahren haben werden, so werden Sie auch begreifen, weshalb ich mich glücklich schätze, und einsehe, was Sie selbst zu tun haben, um es zu werden, wenn Sie meinen Ansichten huldigen. Diese Geständnisse lassen sich jedoch nicht in einem Augenblick ablegen. Es gehört Zeit dazu, Ihnen alles, was ich über das Menschenlos und über den wahren Wert des Lebens denke, auseinanderzusetzen. Lassen Sie uns eine Stunde und einen Ort bestimmen, die sich am besten für uns eignen, um in ungestörter Ruhe, diese Unterhaltung führen zu können.[125]

Ich sprach ihm mein lebhaftes Verlangen aus, ihn zu hören. Die Zusammenkunft wurde deshalb auch nur bis zum folgenden Morgen hinausgeschoben. Wir befanden uns gerade im Sommer; schon bei Tagesanbruch erhoben wir uns. Er führte mich zur Stadt hinaus auf einen hohen Hügel, dessen Fuß vom Po bespült wurde, den man zwischen fruchtbaren Ufern majestätisch dahinströmen sah. In weiter Ferne wurde die Landschaft von der unermeßlichen Alpenkette umrahmt. Hier und da glitten schon einige Strahlen der aufgehenden Sonne über die Ebene, und indem die Bäume, Hügel und Häuser ihre langen Schatten auf die Fluren warfen, wurde das vollendetste Gemälde, welches das menschliche Auge zu fesseln vermag, durch den tausendfachen Wechsel von Licht und Schatten noch mehr gehoben. Man hätte glauben können, die Natur wolle vor unseren Augen ihre ganze Pracht entfalten, um uns dadurch gleichsam den Text für unser Gespräch zu liefern. Nachdem wir das liebliche Bild einige Zeit stillschweigend betrachtet hatten, hob dieser Mann des Friedens folgendermaßen zu erzählen an:

Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 2, Leipzig [o.J.], S. 3-126.
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