Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars

[126] Mein Sohn, erwarten Sie von mir weder gelehrte Abhandlungen noch tief eingehende Erörterungen. Ich bin kein großer Philosoph, und mache mir auch nichts daraus, daß ich es nicht bin. Indes kann ich mich bisweilen auf mein gesundes Urteil verlassen und liebe unter allen Umständen die Wahrheit. Ich beabsichtige nicht, mit Ihnen zu disputieren, ja ich will nicht einmal versuchen, Sie zu meiner Ansicht herüberzuziehen. Es genügt mir, Ihnen das darzulegen, was ich in aller Einfalt meines Herzens denke. Befragen Sie während meiner Mitteilungen Ihr eigenes Herz, das ist alles, was ich verlange. Irre ich mich, so geschieht es wenigstens in gutem Glauben, und das ist ausreichend, daß mir mein Irrtum nicht zum Verbrechen[126] angerechnet werden kann. Würden Sie sich in ähnlicher Weise täuschen, so würde dies durchaus nicht schlimm sein. Stellen sich meine Gedanken jedoch als richtig heraus, so sind wir ja beide mit Vernunft begabt und haben das nämliche Interesse, auf sie zu hören. Weshalb sollten Sie nicht ebenso denken können wie ich?

Ich bin in Armut und in einer Bauernhütte geboren; mein Stand bestimmte mich offenbar dazu, das Land zu bebauen; aber man hielt es für zweckmäßig, daß ich mir mein Brot im geistlichen Stande verdienen lernte, und fand Mittel, mich studieren zu lassen. Sicherlich dachten weder meine Eltern noch ich daran, daß ich es mit in dieser Stellung zur Aufgabe machen müßte, zu erforschen, was gut, wahr und nützlich ist, sondern unser Augenmerk drehte sich ausschließlich um den Wissensgrad, den ich mir aneignen müßte, um die Weihe erhalten zu können. Ich lernte, was man von mir verlangte, redete, wie man es haben wollte, legte das Gelübde ab, wie man es mir vorsprach, und endlich war der Priester fertig. Aber bald genug merkte ich, daß ich, als ich das Gelübde abgelegt hatte, nicht als Mann zu leben, mehr versprochen hatte als ich halten konnte.

Man sucht uns einzureden, daß das Gewissen das Ergebnis der Vorurteile sei; jedoch weiß ich aus eigener Erfahrung, das dasselbe allen Menschengesetzen gegenüber durchaus die strengste Befolgung der Naturordnung verlangt. Ob man uns dies oder jenes verbietet, stets wird uns das Gewissen für alles, was uns die wohlgeordnete Natur gestattet oder wohl gar vorschreibt, nur äußerst geringe Vorwürfe machen. O lieber junger Mann, zu Ihren Sinnen hat sie noch nicht gesprochen, leben Sie noch recht lange in dem glücklichen Zustand, wo Ihre Stimme die Stimme der Unschuld ist. Seien Sie dessen stets eingedenk, daß man sich noch mehr an ihr versündigt, wenn man ihr zuvorkommt, als wenn man sie bekämpft; erst muß man ihr[127] widerstehen lernen, damit man daraus die Kenntnis schöpfe, wann man ihr ohne Sünde nachgeben darf.

Von Jugend auf habe ich die Ehe als die höchste und heiligste Institution der Natur hochgeachtet. Nachdem ich freiwillig auf das Recht verzichtet hatte, eine Ehe einzugehen, beschloß ich, sie nun auch in keiner Weise zu entweihen, denn trotz meiner Schulbildung und meiner Studien hatte ich meinem Geiste, da ich beständig ein gleichmäßiges und einfaches Leben geführt hatte, doch die ganze Klarheit seiner ursprünglichen Einsichten bewahrt. Die Grundsätze der Welt hatten sie in keiner Hinsicht verdunkelt, und meine Armut hielt die Versuchungen von mir fern, die uns zu den Sophismen des Lasters führen.

Aber gerade dieser Entschluß gereichte mir zum Verderben. Meine Achtung vor fremdem Ehebette mußte meine Fehltritte bald offenbar werden lassen. Das Aergernis verlangte Sühne; gefänglich eingezogen, abgesetzt, verbannt, war ich mehr das Opfer meiner Gewissenhaftigkeit als meiner Unkeuschheit, und aus den Vorwürfen, mit denen mein Vorgesetzter die Ungnade, welche er mir erklärte, begleitete, konnte ich sehr wohl abnehmen, daß man, um sich der Strafe zu entziehen, oft nur den Fehler zu verschlimmern braucht.

Wenige Erfahrungen dieser Art genügen, einen Geist, der an Nachdenken gewöhnt ist, großer Gefahr auszusetzen. Da ich infolge meiner traurigen Beobachtungen die Vorstellungen, die ich mir von Gerechtigkeit, Redlichkeit und allen menschlichen Pflichten gebildet hatte, umgestoßen sah, so verlor ich täglich irgendeine der Ansichten, die ich angenommen hatte. Diejenigen, welche mir noch blieben, waren unzugänglich, ein einheitliches Ganze zu bilden, das sich durch sich selbst hätte erhalten können. Ich fühlte, wie sich in meinem Geist allmählich die Klarheit der Grundsätze verdunkelte, und da ich schließlich nicht mehr wußte, was ich denken sollte, so gelangte ich auf denselben Punkt, auf[128] dem Sie sich jetzt befinden, lediglich mit dem Unterschiede, daß sich mein Unglaube, die spät gezeigte Frucht eines reiferen Alters, unter ungleich größeren Leiden entwickelt hatte und schwieriger auszurotten sein mußte.

Ich befand mich in jener Stimmung von Ungewißheit und Zweifel, welche Cartesius als eine Voraussetzung zur Erforschung der Wahrheit betrachtet. Ein solcher Zustand ist zu einer längeren Dauer nicht geeignet und ist ebenso beunruhigend wie peinlich. Nur das Interesse an dem Laster oder die Trägheit des Geistes kann uns in demselben zurückhalten. Noch war mein Herz nicht verdorben genug, um darin Gefallen zu finden, und nichts erhält die Gewohnheit, nachzudenken, besser, als wenn man mit sich zufriedener als mit seinem Schicksal ist.

Ich stellte also Verachtungen über das traurige Los der Sterblichen an, welche ohne einen anderen Führer als einen unerfahrenen Steuermann, der die Fahrstraße nicht kennt, und nicht weiß von wannen er kommt, noch wohin er segelt, auf dem Meere der menschlichen Meinungen ohne Steuerruder, ohne Kompaß und ihren stürmischen Leidenschaften überlassen, dahintrieben. Ich sagte mir: Ich liebe die Wahrheit und suche sie, vermag sie aber nicht zu erkennen. Man zeigte sie mir und ich werde ihr stets treu bleiben. Weshalb muß sie sich gerade dem eifrigen Entgegenkommen eines Herzens entziehen, welches dazu geschaffen ist, sie zu verehren?

Obgleich ich oft noch größere Leiden habe, so habe ich doch nie ein so anhaltend unangenehmes Leben geführt, wie in dieser Zeit der Aufregung und peinlichen Unruhe, wo ich, unaufhörlich von einem Zweifel in den anderen verfallend, als Frucht meines langen Nachdenkens nur Ungewißheit, Dunkelheit und Widersprüche über den Urgrund meines Daseins und über den Inhalt meiner Pflichten davontrug.

Wie kann man nur systematisch und mit voller Aufrichtigkeit[129] ein Zweifler sein? Mir ist es unbegreiflich. Solche Philosophen existieren entweder nicht, oder müssen die unglücklichsten Menschen sein. Zweifel in bezug auf Dinge, deren Kenntnis für uns durchaus wichtig ist, ruft einen für den menschlichen Geist allzu aufreibenden Zustand hervor. Er ist nicht imstande, ihn lange auszuhalten. Wider Willen entscheidet er sich nach dieser oder jener Seite hin, und will sich lieber täuschen als gar nichts glauben.

Daß ich durch Geburt einer Kirche angehörte, welche alles selbst entscheidet und keinen Zweifel duldet, trug wesentlich zur Vermehrung meiner Verlegenheit bei, weil ich durch Verwerfung eines einzigen Dogmas genötigt wurde, auch alle übrigen zu verwerfen. Dazu kam, daß die Unmöglichkeit, eine so große Menge absurde Entscheidungen als richtig anzuerkennen, mir auch diejenigen verleidete, welche es nicht waren. Indem man vor mir verlangte, alles zu glauben, hielt man mich davon zurück, überhaupt etwas zu glauben, und ich wußte nicht mehr, wobei ich stehenbleiben sollte.

Nun suchte ich bei den Philosophen Rat, durchblätterte ihre Werke, prüfte ihre verschiedenen Ansichten. Sämtliche fand ich stolz, absprechend und selbst bei all ihrem vermeintlichen Skeptizismus dogmatisch. Es ging ihnen alles Wissen ab, sie vermochten nichts zu beweisen und verspotteten sich gegenseitig, und dieser Punkt, der ihnen allen gemeinsam war, schien mir auch der einzige zu sein, in bezug auf welchen sie alle recht hatten. Siegestrunken beim Angriff, fehlte es ihnen bei der Verteidigung an aller Energie. Prüft ihr ihre Gründe, so zeigt es sich bald, daß sie nur solche auszuführen wissen, die zum Niederreißen dienen. Zählt ihr die Stimmen, so seid ihr durch die Entdeckung überrascht, daß nicht zwei übereinstimmen. Sie gehen nur scheinbar einen Vergleich ein, um desto besser disputieren zu können. Auf sie zu hören, war für mich nicht das Mittel, von meiner Ungewißheit befreit zu werden.[130]

Ich sah ein, daß der erste Grund zu dieser erstaunlichen Meinungsverschiedenheit in der Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes, und der zweite im Hochmut liegt. Uns fehlt das Maßstab für diese unermeßliche Maschine, wir vermögen ihre Verhältnisse nicht zu berechnen und kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren Endzweck. Ja, wir kennen uns nicht einmal selbst, kennen weder unsere Natur noch das in uns wirkende Prinzip. Kaum wissen wir, ob der Mensch ein einfaches oder zusammengesetztes Wesen ist; undurchdringliche Geheimnisse umringen uns von allen Seiten. Aber sie verbergen sich in Regionen, wohin unsere sinnlichen Wahrnehmungen nicht mehr dringen. Wir bilden uns ein, die Einsicht zu besitzen, um sie ergründen zu können, und haben doch nur Phantasie. Jeder bahnt sich durch diese eingebildete Welt einen Weg, der ihm der allein richtige zu sein scheint; aber keiner vermag zu wissen, ob der seinige wirklich zum Ziele führt. Trotzdem wollen wir alles erforschen, alles erkennen. Das einzige, was wir gar nicht begreifen können, ist, das, was wir nicht zu wissen imstande sind, deshalb auch gar nicht wissen zu wollen. Lieber entscheiden wir uns aufs Geratewohl und glauben, was nicht ist, als daß wir uns zu dem Zugeständnis bequemen, daß keiner von uns das, was ist, zu erkennen vermöge. Obgleich wir nur der geringfügige Teil eines großen Ganzen sind, dessen Grenzen sich unseren Sinnen entziehen, und das sein Urheber unseren närrischen Zänkereien ruhig überläßt, so sind wir doch eitel genug, uns die Entscheidung darüber anmaßen zu wollen, was dieses Ganze an sich ist und was wir unsererseits in bezug auf dasselbe sind.

Wären die Philosophen imstande, die Wahrheit zu entdecken, wer unter ihnen würde sich dann noch für sie interessieren? Jeder weiß vollkommen, daß sein System nicht besser begründet ist als die anderen; aber er hält es trotzdem aufrecht, weil es eben von ihm herrührt. Nicht einen gibt es unter ihnen, der, wenn er sich wirklich bis zur Erkenntniß[131] de Wahren und Falschen emporgeschwungen hat, nicht die Lüge, die er gefunden hat, der Wahrheit vorziehen sollte, welche von einem anderen entdeckt ist. Wo ist der Philosoph, der um seines Ruhmes willen nicht gern das menschliche Geschlecht täuschen würde? Wo ist derjenige, der, wenn er es sich auch selbst nicht einzugestehen wagt, einem andern Ziele nachjagt, als dem sich auszuzeichnen? Gelingt es ihm nur, sich über den großen Haufen zu erheben, den Glanz seiner Nebenbuhler in Schatten zu stellen, was verlangt er dann noch mehr? Die Hauptsache ist, anders zu denken als andere. Unter den Gläubigen spielt er die Rolle des Atheisten, unter den Atheisten würde er dagegen ein Gläubiger sein.

Die erste Frucht, die ich aus diesen Erwägungen zog, bestand darin, daß ich meine Forschungen auf das, was für mich von unmittelbarem Interesse war, beschränken lernte, daß ich in bezug auf alles übrige nicht aus meiner tiefen Unwissenheit herauszutreten suchte und mich nur über Dinge, deren Kenntnis für mich von unbestrittener Wichtigkeit war, bis zum Zweifel beunruhigte.

Ferner wurde es mir klar, daß mich die Philosophen nicht nur nicht von meinen vergeblichen Zweifeln befreien, sondern im Gegenteil nur noch dazu beitragen würden, die, welche mich quälten, zu vermehren, während sie mir auch keinen einzigen lösen konnten. Deshalb sah ich mich nach einem anderen Führer um und sagte zu mir: Ich will mir bei dem inneren Lichte Rats erholen; es wird mich weniger auf Irrtümer leiten als jene, oder mein Irrtum wird wenigstens mein eigener sein, und ich werde weniger tief sinken, wenn ich meinen eigenen Irrtümern folge, als wenn ich mich den Lügen jener überlasse.

Während ich mir nun die verschiedenen Meinungen, die mich seit meiner Jugend abwechselnd mit fortgerissen hatten, ins Gedächtnis zurückrief, sah ich ein, daß sie, ungeachtet keine einzige von ihnen eine so unbestrittene Wahrheit enthielt,[132] um unmittelbar zur Ueberzeugung zu verhelfen, doch verschiedene Stufen von Wahrscheinlichkeit hatten, und daß ich ihnen in sehr verschiedenem Maße meine Zustimmung gab oder versagte. Als ich nun im Anschluß an diese erste Beobachtung alle diese verschiedenen Ideen untereinander verglich, wobei ich den Vorurteilen Schweigen gebot, machte ich die Wahrnehmung, daß die erste und allgemeinste auch die einfachste und vernünftigste war, und daß man ihr sicherlich beistimmen würde, wenn sie die zuletzt vorgetragene wäre. Stellt euch alle eure alten wie neueren Philosophen vor, wie sie ihre wunderlichen Systeme von vornherein mit Kräften, Wahrscheinlichkeiten, Verhängnis, Notwendigkeit, Weltseele, belebter Materie, Materialismus aller Art verschwenderisch ausgestattet haben, und nach ihnen allen den berühmten Clarke, wie er die Welt erleuchtet und wie er schließlich das Wesen aller Wesen und den Urquell aller Dinge verkündigt. Mit welch allgemeiner Bewunderung, mit welch einmütigem Beifall würde nicht dieses neue System begrüßt worden sein, das so groß, so tröstend, so erhaben, so geeignet ist, die Seele zu erheben und der Tugend eine sichere Basis zu geben, und gleichzeitig wieder so treffend, so klar, so einfach ist und das meines Erachtens dem menschlichen Geiste weniger Unbegreifliches zumutet, als man in jedem anderen Systeme Widersinniges findet! Ich sagte mir: Unauflösbare Rätsel kommen in allen vor, weil eben der menschliche Geist zu beschränken ist, um sie zu lösen; sie können deshalb gegen keines vorzugsweise als Beweis dienen. Aber welch ein Unterschied zwischen den direkten Beweisen! Verdient nicht dasjenige allein den Vorzug, welches alles erklärt, zumal wenn es nicht mehr Schwierigkeiten darbietet als die übrigen?

Da ich nun statt aller Philosophie Liebe zur Wahrheit und statt aller Methoden eine leichte und einfache Regel besitze, die mich der nichtigen Spitzfindigkeit der Beweise überhebt, so nehme ich nach dieser Regel noch einmal eine[133] Prüfung der Kenntnisse vor, die für mich in Betracht kommen, entschlossen, alle diejenigen als erwiesen gelten zu lassen, denen ich in der Aufrichtigkeit meines Herzens meine Zustimmung nicht verlangen kann, für wahr alle diejenigen zu halten, die mir mit diesen ersten in einem notwendigen Zusammenhange zu stehen scheinen, und alle übrigen unentschieden zu lassen, ohne sie zu verwerfen oder sie anzunehmen, und ohne mich in betreff ihrer Aufklärung abzuquälen, wenn sie nicht ein praktisches Resultat versprechen.

Allein wer bin ich? Was berechtigt mich dazu, über die Dinge zu urteilen? Und was bestimmt meine Urteile? Beruhen sie lediglich auf den augenblicklichen Eindrücken, die ich empfange, so gebe ich mir mit diesen Forschungen vergebliche Mühe. Sie finden entweder gar nicht statt, oder geschehen von selbst, ohne daß ich erst darauf auszugehen brauche, ihnen ihre Richtung vorzuschreiben. Es ist deshalb nötig, daß ich meine Blicke zuerst auf mich selbst lenke, um das Werkzeug, dessen ich mich bedienen will, kennen zu lernen und mir darüber Gewißheit zu verschaffen, bis zu welchem Punkt ich mich bei seiner Anwendung auf dasselbe werde verlassen können.

Ich bin und besitze Sinne, vermittels welcher ich Eindrücke erhalte. Das ist die erste Wahrheit, gegen die ich mich nicht verschließen kann und der ich notwendigerweise zustimmen muß. Habe ich ein eigenes Gefühl meiner Existenz, oder werde ich mir derselben nur durch meine Sinneswahrnehmungen bewußt? Das ist mein erster Zweifel, dessen Lösung mir für jetzt unmöglich ist. Denn wie kann ich, da ich fortwährend entweder unmittelbar oder durch das Gedächtnis Eindrücke erleide, wohl wissen, ob diese Empfindung meiner selbst etwas mit diesen nämlichen Eindrücken nicht Zusammenfallendes ist, und ob sie von ihnen unabhängig zu sein vermag?

Meine Empfindungen gehen in mir vor, da sie in mir eine Empfindung meines Daseins hervorrufen; ihre Ursache[134] ist mir jedoch unbekannt, denn sie affizieren mich ohne mein Zutun, und es hängt von mir weder ab, sie hervorzurufen, noch sie von mir fernzuhalten. Ich sehe also deutlich ein, daß meine Empfindung, die in mir ist, und ihre Ursache oder ihr Objekt, das außer mir liegt, nicht ein und dasselbe ist.

Folglich existiere nicht nur ich, sondern es existieren auch noch andere Wesen, nämlich die Objekte meiner Empfindungen, und wären diese Objekte auch nur Vorstellungen, so bleibt es deshalb doch immer wahr, daß diese Vorstellungen nicht ich sind.

Alles nun, was ich außer mir wahrnehme und was auf meine Sinne wirkt, nenne ich Materie, alle Teile der Materie dagegen, die ich in Einzelwesen vereinigt sehe, nenne ich Körper. Deshalb sind alle Zänkereien der Idealisten und Materialisten für mich bedeutungslos; ihre Unterscheidungen in bezug auf Schein und Wirklichkeit der Körper sind reine Einbildungen.

Jetzt bin ich also vom Dasein des Weltalls schon ganz ebenso fest überzeugt, wie von meinem eigenen. Hierauf denke ich über die Objekte meiner Empfindungen nach, und da ich mich mit der Fähigkeit ausgestattet finde, Vergleichungen unter ihnen anzustellen, so fühle ich mich mit einer aktiven Kraft begabt, deren Besitz mir vorher unbekannt war.

Wahrnehmen heißt Empfinden; Vergleichen heißt Urteilen. Urteilen und Empfinden sind nicht identische Begriffe. Bei der Empfindung stellen sich mir die Gegenstände gesondert und einzeln dar, kurz so, wie sie wirklich in Natur sind; bei der Vergleichung bewege und versetze ich sie gleichsam, lege sie aufeinander, um über alle ihre Verschiedenheit oder Aehnlichkeit und überhaupt über alle ihre Verhältnisse meine Ansicht äußern zu können. Meiner Meinung nach zeigt sich das Unterscheidungsvermögen eines tätigen oder intelligenten Wesens darin, daß es im stande ist, mit dem Worte ›ist‹[135] einen Sinn zu verbinden. Bei einem rein sensitiven Wesen suche ich vergeblich diese geistige Kraft, welche erst vergleicht, ehe sie ihr Urteil fällt; ich vermag nicht sie in der Natur desselben zu entdecken. Ein solch passives Wesen wird jeden Gegenstand einzeln empfinden, es wird sogar den Totaleindruck eines Objekts empfinden, das aus zwei Gegenständen zusammengesetzt ist, da es jedoch nicht die Fähigkeit besitzt, die einzelnen Bestandteile zusammenzustellen, so wird es sie nie vergleichen, sie nie beurteilen.

Zwei Gegenstände gleichzeitig sehen, heißt nicht auch sofort ihre gegenseitigen Beziehungen erkennen und sich ein Urteil über ihre Verschiedenheiten bilden; verschiedene Gegenstände einen hinter dem anderen wahrnehmen, heißt noch nicht: sie zählen. Ich vermag in demselben Augenblicke die Vorstellung von einem großen und von einem kleinen Stocke zu haben, ohne sie dabei zu vergleichen, ohne zu urteilen, daß der eine kleiner als der andere ist, wie ich auf einmal meine ganze Hand sehen kann, ohne dabei die Finger zählen zu müssen.117 Die vergleichenden Begriffe ›größer‹, ›kleiner‹, ebenso wie die Zahlbegriffe ›eins‹, ›zwei‹, usw. gehören doch sicherlich nicht zu den Sinneswahrnehmungen, obgleich mein Geist sie nur gelegentlich meiner Sinneswahrnehmungen wachruft.

Man sagt uns, daß ein empfindungsfähiges Wesen die Empfindungen durch die Unterschiede, welche sie untereinander haben, voneinander unterscheide. Das erheischt wenigstens eine Erklärung. Sind die Empfindungen verschieden, so unterscheidet sie freilich das empfindungsfähige Wesen nach ihren Unterschieden, sind sie jedoch ähnlich, so unterscheidet es sie dadurch, daß es sie getrennt voneinander wahrnimmt[136] Wie würde es wohl sonst bei einer gleichzeitigen Empfindung zwei gleiche Gegenstände voneinander zu unterscheiden vermögen? Es würde sie notwendig untereinander verwechseln und eines für das andere halten, namentlich in einem System, welches die Behauptung aufstellt, daß die die Ausdehnung vertretende Empfindung der Ausdehnung ermangele.

Sobald die beiden zu vergleichenden Empfindungen wahrgenommen sind, so ist ihr Eindruck vollzogen; jeder Gegenstand ist für sich allein und beide sind gemeinschaftlich empfunden worden; aber damit ist ihr gegenseitiges Verhältnis noch nicht empfunden. Wenn das Urteil über dies Verhältnis nur eine Empfindung wäre und dieselbe lediglich von dem Gegenstand in mir hervorgerufen würde, so würden mich auch meine Urteile niemals täuschen können, da es ja niemals falsch ist, daß ich das empfinde, was ich empfinde.

Weshalb täusche ich mich denn nun über das Verhältnis dieser beiden Stöcke, vorzüglich wenn sie nicht parallel sind? Weshalb behaupte ich zum Beispiel, daß die Länge des kleinen Stockes ein Drittel von der des großen ausmache, während sie doch in der Tat nur den vierten Teil der Länge desselben erreicht? Weshalb entspricht das Bild in mir, nämlich die Empfindung, nicht seinem Modell, dem Gegenstande selbst? Deshalb, weil ich bei meinem Urteile aktiv bin, weil die Operation, welche ich beim Vergleichen vornehme, mangelhaft ist, und weil mein Verstand, welcher die gegenseitigen Verhältnisse beurteilt, seine Irrtümer der Wahrheit die Empfindungen beimischt, welche nur die Gegenstände an sich zeigen.

Fügt hierzu noch eine Bemerkung, die euch, wie ich euch versichern kann, habt ihr sie erst wohl durchdacht, nicht wenig befremdet wird, nämlich folgende: Würden wir beim Gebrauch unserer Sinne rein passiv bleiben, so würde zwischen ihnen gar keine Kommunikation stattfinden. Es würde uns[137] unmöglich sein, zu erkennen, ob der Körper, welchen wir berühren, und der Gegenstand, den wir erblicken, identisch sind. Entweder vermöchten wir nie etwas außer uns wahrzunehmen, oder es gäbe für uns fünf empfindungsfähige Substanzen, von deren Identität wir kein Mittel uns zu überzeugen hätten.

Gebe man uns nun diese Kraft meines Geistes, wel che meine Sinneseindrücke nebeneinander hält und vergleicht, diesen oder jenen Namen; nenne man sie Aufmerksamkeit, Nachdenken, Reflexion oder wie man will, immer ist doch so viel wahr, daß sie ihre Stätte in mir und nicht in den Dingen hat, daß ich allein es bin, der diese Operation vornimmt, wiewohl ich sie nur bei Gelegenheit des Eindrucks anzustellen vermag, den die Gegenstände auf mich ausüben. Hängt es auch nicht von mit ab, zu empfinden oder nicht zu empfinden, so steht es doch in meiner Gewalt, das, was ich empfinde, mehr oder weniger einer Untersuchung zu unterwerfen.

Ich bin also nicht lediglich ein sinnliches und passives, sondern auch ein tätiges und intelligentes Wesen, und was auch die Philosophie dazu sagen möge, wage ich doch, auf die Ehre, zu denken, Anspruch zu machen. Bis jetzt weiß ich nur, daß die Wahrheit in den Dingen und nicht in meinem Geiste liegt, der ein Urteil über dieselben abgibt, und daß ich, je weniger ich mich bei den Urteilen, die ich zu fällen habe, von meinem Eigenen beeinflussen lasse, desto sicherer bin, der Wahrheit nachzukommen. Meine Regel, mich mehr der Empfindung als der Vernunft zu überlassen, wird also von der Vernunft selbst bekräftigt.

Nachdem ich mich nun erst gleichsam meiner selbst versichert habe, beginne ich außer mir selbst Umschau zu halten, und mit einer Art Schauer sehe ich mich in das unermeßliche Weltall hinausgeschleudert und in demselben wie verloren, sehe mich in dem unerschöpflichen Strome der Wesen wie ertränkt, ohne zu wissen, was sie an sich sind, noch in[138] welcher Beziehung sie zueinander oder zu mir stehen. Ich studiere und beobachte sie, und der erste Gegenstand, der sich mir zu einer Vergleichung mit ihnen darbietet, bin ich selbst.

Alles, was ich mit den Sinnen wahrnehme, ist Materie, und ich leite alle wesentlichen Eigentümlichkeiten der Materie von jenen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften her, durch welche sie sich mir bemerkbar macht, und welche untrennbar zu derselben gehören. Bald erblicke ich sie in Bewegung, bald in Ruhe,118 woraus ich schließe, daß weder Bewegung noch Ruhe als wesentliche Eigenschaften derselben zu betrachten sind, daß Bewegung, da sie sich als Tätigkeit äußert, notwendig die Wirkung einer Ursache sein muß, deren Entfernung eben Ruhe ist. Sobald also auf die Materie keine Einwirkung ausgeübt wird, bewegt sie sich auch nicht, und gerade aus diesem Grunde, weil sie sich sowohl gegen Ruhe als auch gegen Bewegung gleichgültig verhält, muß man in der Ruhe ihren natürlichen Zustand erblicken.

Ich bemerke bei den Körpern zwei Arten von Bewegung, nämlich eine mitgeteilte und eine selbstständige oder freiwillige. Bei der ersteren geht die bewegende Ursache nicht von dem bewegten Körper aus, bei der zweiten liegt sie in ihm selbst. Ich werde daraus indes noch keineswegs schließen, daß zum Beispiel die Bewegung einer Uhr eine freiwillige sei; denn wenn nicht etwa außerhalb der Feder Liegendes auf dieselbe einwirkte, so würde sie jenen unruhigen Trieb, sich wieder auszudehnen, nicht verraten und also auch nicht an der[139] Kette ziehen. Aus dem nämlichen Grunde werde ich den Flüssigkeiten, ja selbst dem Feuer, welches ihren flüssigen Zustand hervorbringt, ebensowenig eine ihnen innewohnende eigene Selbsttätigkeit zugestehen.119

Ihr werdet mich fragen, ob die Bewegungen der Tiere freiwillig sind; ich muß auch gestehen, daß ich es nicht weiß, daß aber die Analogie allerdings dafür spricht. Weiter werdet ihr mich fragen, woher ich denn wisse, daß es überhaupt freiwillige Bewegungen gebe. Darauf kann ich nur erwidern, daß ich es weiß, weil es mir mein Gefühl sagt. Ich will meinen Arm bewegen, und ich bewege ihn, ohne daß diese Bewegung von einer anderen unmittelbaren Ursache als von meinem Willen ausgeht. Umsonst würde man den Versuch machen, dies Gefühl in mir durch Vernunftgründe zu ertöten; es ist stärker als die überzeugendsten Gründe. Es würde ebenso leicht sein, mich davon zu überführen, daß ich gar nicht existiere.

Gäbe es gar keine Freiwilligkeit, weder in den Handlungen der Menschen noch in irgend etwas, was auf Erden geschieht, so würde sich dadurch die Verlegenheit, die erste Ursache aller Bewegung aufzufinden, nur noch steigern. Was mich betrifft, so fühle ich mich wenigstens so vollkommen davon überzeugt, daß Ruhe der natürliche Zustand der Materie ist und daß sie durch sich selbst keine Fähigkeit, tätig zu sein, besitzt, doch ich beim Anblick eines sich in Bewegung befindenden Körpers sofort den Schluß ziehe, der Körper müsse entweder belebt, oder die Bewegung ihm mitgeteilt sein. Mein Geist sträubt sich gegen die Idee einer nicht organisierten, sich durch sich selbst bewegenden oder irgendeine Tätigkeit hervorrufenden Materie.

Dieses sichtbare Weltall ist nun Materie, zerstreute und[140] tote Materie,120 der es in ihrer Totalität an Einheit, Organisation und gemeinsamer Empfindung der Teile eines belebten Körpers fehlt, da es gewiß ist, daß wir, die wir doch auch Teile sind, uns keineswegs im Ganzen fühlen. Dieses nämliche Weltall ist nun in Bewegung, und in seinen regelmäßigen, gleichförmigen, unwandelbaren Gesetzen unterworfenen Bewegungen zeigt sich nichts von jener Freiheit, die sich in den freiwilligen Bewegungen der Menschen und Tiere zu erkennen gibt. Die Welt ist folglich nicht ein großes Tier, das sich von selbst bewegt; ihren Bewegungen liegt mithin irgendeine außer ihr zu suchende Ursache zugrunde, die ich nicht wahrnehme. Trotzdem macht mir meine innere Ueberzeugung diese Ursache so begreiflich, daß ich nicht sehen kann, wie die Sonne ihre Bahn am Himmel beschreibt, ohne mir eine treibende Kraft vorzustellen, daß es mir bei der Umdrehung der Erde vorkommt, als fühlte ich eine Hand, die sie umdrehte.

Was für einen Vorteil würde es mir bringen, wenn ich mich genöthigt sähe, allgemeine Gesetze anzunehmen, deren Hauptbeziehungen zu der Materie ich nicht kenne? Diese Gesetze haben, da sie keine wirkliche Wesen, keine Substanzen sind, folglich einen anderen Grund, der mir unbekannt ist. Erfahrung und Beobachtung haben uns mit den Gesetzen der Bewegung bekannt gemacht. Diese Gesetze zeigen uns die Wirkung, ohne uns die Ursachen zu erklären; sie genügen nicht, uns das Weltsystem und den Lauf des Weltalls klarzumachen. Cartesius bildete Himmel und Erde aus Würfeln; er war indes nicht imstande, diesen Würfeln den ersten Anstoß zu geben, noch seine Zentrifugalkraft anders[141] als vermittels einer Rotationsbewegung in Gang zu bringen. Newton fand das Gesetz der Anziehungskraft; aber die Anziehungskraft allein würde die Welt bald in eine unbewegliche Masse verwandeln; um die himmlischen Körper sich in Kurven bewegen zu lassen, mußte er jenem Gesetze deshalb noch eine abstoßende Kraft hinzufügen. Möge uns Cartesius jedoch nur erklären, auf welchem physischen Gesetze seine Wirbelbewegung beruht; möge Newton uns die Hand zeigen, welche die Planeten auf die Tangenten ihrer Bahnen schleuderte.

Die erste Ursachen der Bewegung sind nicht in der Materie selbst vorhanden; die selbe erhält die Bewegung und teilt sie mit, aber sie ist nicht der Urquell derselben. Je mehr ich Wirkung und Gegenwirkung der aufeinanderwirkenden Naturkräfte beobachte, desto mehr überzeuge ich mich, daß man regelmäßig von Wirkung zu Wirkung bis zu einem Willen als erster Ursache zurückgehen muß; denn eine fortlaufende Kette von Ursachen bis ins Unendliche voraussetzen, heißt im Grunde genommen, gar keine voraussetzen. Mit einem Wort, jede Bewegung, welche nicht von einer anderen hervorgebracht wird, kann nur von einem Akt freien Willens ausgehen. Bei den leblosen Körpern zeigt sich Tätigkeit nur durch die ihnen mitgeteilte Bewegung, wie es denn überhaupt ohne Willen keine eigentliche Tätigkeit gibt. Das ist mein erster Grundsatz. Ich glaube also, daß ein Wille das Weltall bewegt und die Natur beseelt. Dies ist mein erstes Dogma oder mein erster Glaubensartikel.

Wie bringt nun ein Wille eine physische und körperliche Bewegung hervor? Darüber ist mir nichts bekannt, aber ich erfahre es an mir selbst, daß er sie er zeugt. Ich will handeln, und ich handle; ich will meinen Körper bewegen, und mein Körper bewegt sich; daß aber ein lebloser und in Ruhe befindlicher Körper von selbst in Bewegung gerate oder die Bewegung hervorrufe, das ist unbegreiflich und beispiellos. Der Wille ist mir nur seinen Aeußerungen,[142] nicht seiner Natur nach bekannt. Ich kenne diesen Willen als Quelle der Bewegung; dagegen die Materie als Ursache der Bewegung begreifen, heißt augenscheinlich eine Wirkung ohne Ursache, heißt absolut nichts begreifen.

So wenig ich zu begreifen vermag, wie mein Wille meinen Körper bewegt, ebensowenig kann ich mir erklären, wie meine Sinneseindrücke meine Seele bewegen. Ich kann nicht einmal einen Grund dafür finden, weshalb man das eine dieser Geheimnisse für erklärlicher gehalten hat als das andere. Ich meinerseits muß gestehen, daß mir, ob ich mich nun passiv verhalte oder in Tätigkeit befinde, die Möglichkeit der Verbindung beider Substanzen durchaus unbegreiflich erscheint. Es ist äußerst befremdend, daß man gerade von dieser Unbegreiflichkeit selbst ausgeht, um die beiden Substanzen zu verschmelzen, als ob Operationen so verschiedenartiger Naturen sich besser an einem, als an zwei Subjekten erklären ließen.

Das Dogma, welches ich soeben entwickelt habe, ist wie ich gern zugebe, dunkel, hat aber am Ende doch immer einen Sinn und behauptet nichts, was der Vernunft und der Erfahrung widerspricht. Läßt sich vom Materialismus dasselbe sagen? Ist es nicht klar, daß die Bewegung, wenn sie in der Tat eine wesentliche Eigenschaft der Materie ausmachte, von derselben untrennbar sein würde, daß sie stets in gleicher Stärke auftreten, in jedem Teil der Materie die nämliche sein müßte, daß sie sich nicht anderen Körpern mitteilen, sich weder noch vermindern könnte, und daß es sogar unmöglich sein würde, sich die Materie in Ruhe zu denken? Wenn man mir einreden will, die Bewegung bilde zwar keine wesentliche Eigenschaft der Materie, sei ihr indes notwendig, so geht man darauf aus, mich mit Redensarten abzuspeisen, deren Widerlegung leichter sein würde, wenn sie nur ein wenig mehr Sinn hätten. Denn entweder findet die Bewegung der Materie in letzterer selbst ihre Ursache, und dann ist sie ihr wesentlich, oder sie[143] wird durch eine außer derselben liegende Ursache bewirkt, und alsdann ist sie ihr nur insofern notwendig, als die bewegende Ursache auf sie wirkt, und damit erhebt sich die erste Schwierigkeit von neuem.

Die allgemeinen und abstrakten Ideen sind die Quelle der größten menschlichen Irrtümer; noch nie haben wir der dunklen Sprache der Metaphysik die Entdeckung auch nur einer einzigen Wahrheit zu verdanken gehabt, dagegen hat sie die Philosophie mit Absurditäten erfüllt, deren man sich schämt, sobald man sie ihrer schwülstigen Worte entkleidet. Sage mir, mein Freund, ob man deinen Geist in der Tat mit einer wirklichen Idee befruchtet, wenn man dir von einer blinden Kraft erzählt, welche sich über die ganze Natur verbreitet? Man bildet sich ein mit den vagen Worten ›allgemeine Kraft‹, ›notwendige Bewegung‹ etwas zu sagen, und sagt doch durchaus nichts. Die Idee der Bewegung ist mit der Idee der Versetzung von einem Orte an den anderen identisch. Es gibt keine Bewegung ohne irgendeine Richtung; denn ein individuelles Wesen kann sich nicht nach allen Richtungen gleichzeitig bewegen. Nach welcher Richtung muß sich nun die Materie notwendigerweise bewegen? Hat die ganze Materie in ihrer Gesammtheit eine gleichmäßige Bewegung oder hat jedes Atom seine eigene? Nach der ersten Vorstellung müßte das ganze Weltall eine feste und unteilbare Masse bilden, nach der zweiten könnte man es sich nur als ein zerstreutes und so zusammenhangloses Fluidum denken, daß sich niemals zwei Atome vereinigen könnten. Nach welcher Richtung hin wird diese der ganzen Materie gemeinsame Bewegung vor sich gehen? In gerader Linie oder kreisförmig, nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links? Wenn dagegen jedes Molekül der Materie seine besondere Richtung hat, wo wird man die Ursachen aller dieser Richtungen und aller dieser Unterschiede zu suchen haben? Drehte sich jedes Atom oder Molekül der Materie nur um seinen eigenen[144] Mittelpunkt, so würde keines seinen Platz verlassen, und eine gemeinsame Bewegung fände demnach nicht statt, und selbst dann müßte diese kreisförmige Bewegung doch immer eine bestimmte Richtung verfolgen. Der Materie eine Bewegung durch Abstraktion zuschreiben, heißt Phrasen ohne Sinn sprechen, und ihr eine bestimmte Richtung beilegen, heißt auch eine bestimmende Ursache annehmen. Bei jeder Vervielfältigung der besonderen Kräfte habe ich immer wieder neue Ursachen zu erklären, ohne daß ich doch je ein gemeinschaftliches, sie alle leitendes Agens entdecke. Während ich weit davon entfernt bin, mir irgendeine Ordnung in diesem zufälligen Zusammentreffen der Urelemente vorstellen zu können, vermag ich sie mir auch nicht einmal im gegenseitigen Kampfe zu denken, und so ist mir das Chaos des Weltalls noch unbegreiflicher als seine Harmonie. Ich finde es ganz begreiflich, daß Plan und Einrichtung der Welt dem Menschengeist unverständlich sein kann, sobald sich aber ein Mensch unterfängt, sie uns zu erklären, muß er sich auch einer allgemein verständlichen Sprache bedienen.

Weist die bewegte Materie einen Willen nach, so deutet die nach bestimmten Gesetzen bewegte Materie auf einen Verstand hin. Dies ist mein zweiter Glaubensartikel. Handeln, Vergleiche, Wählen sind Operationen eines tätigen und denkenden Wesens. Jene zeigen sich überall, folglich existiert dieses Wesen. Woran nimmst du seine Existenz wahr? werdet ihr mich fragen. Nicht nur an den rollenden Himmelskörpern, an dem Gestirn, das uns das Tageslicht sendet; nicht nur an mir selbst, sondern auch an dem weidenden Schaf, dem fliegenden Vogel, dem fallenden Stein, dem welken Blatt, dem Spiel der Winde.

Ich fälle über die Ordnung der Welt ein Urteil, obgleich mir ihr Endzweck unbekannt ist, weil es zur Verurteilung dieser Ordnung für mich hinreicht, die einzelnen Teile untereinander zu vergleichen, ihr Zusammenwirken und ihre Beziehungen zu studieren und sich von ihrer Harmonie zu[145] überzeugen. Ich weiß, weshalb das Weltall da ist, aber ich werde nicht müde, die Veränderungen zu beobachten, welche in ihm vorgehen, werde nicht müde, mich an dem Anblick der innigen Beziehungen zu erfreuen, welche die Wesen dieser Welt antreibt, sich gegenseitig Hilfe zu leisten. Ich komme mir wie ein Mensch vor, der zum erstenmal eine geöffnete Uhr sieht und nicht aufhören kann, das Werk zu bewundern, obgleich ihm der Gebrauch des Kunstwerks unbekannt ist und er das Zifferblatt noch nicht gesehen hat. Ich weiß freilich nicht, wird er sagen, welchen Nutzen es bringt; allein ich sehe, daß alle Teile vollkommen zueinander passen; ich vermag dem Künstler für die vollendete Ausführung aller einzelnen Teile meine Bewunderung nicht zu versagen und halte mich völlig überzeugt, daß der gleichmäßige Gang aller dieser Räder nur einem gemeinschaftlichen Zwecke dient, welchen zu erkennen mir unmöglich ist.

Laßt uns die besonderen Zwecke, die Mittel, die geregelten Verhältnisse jeder Art vergleichen, und dann der Stimme des inneren Gefühls Gehör geben. Welcher gesunde Geist wird nicht gern auf ihr Zeugnis achten? Welchem unbefangenen Blicke verkündigt nicht die augenscheinliche Ordnung des Weltalls eine höchste geistige Kraft? Und welcher Aufwand von Sophismen ist nicht nötig, um die Harmonie der Wesen und das meisterhafte Zusammenwirken jedes einzelnen Teiles zur Erhaltung der übrigen zu verkennen! Rede man mir von Kombinationen und Wechselfällen vor soviel man will, welchen Nutzen könnt ihr euch davon versprechen, mich zum Schweigen zu bringen, wenn ihr mich nicht zu überzeugen imstande seid? Und wie wollt ihr das unwillkürliche Gefühl in mir zurückdrängen, welches euch wider meinen Willen Lügen straft? Wenn die organischen Körper wirklich auf tausenderlei Weise durch bloßen Zufall eine Verbindung miteinander eingegangen sind, wenn sich anfangs Magen ohne Mund, Füße ohne Kopf, Hände ohne Arme, kurz allerlei unvollkommene[146] Gliedmaßen gebildet haben, die, unvermögend sich zu erhalten, wieder zugrunde gegangen sind, weshalb begegnet denn keiner dieser mißglückten Versuche jetzt mehr unseren Blicken? Weshalb hat sich endlich die Natur Gesetze auferlegt, welchen sie von Anfang an nicht unterworfen war? Es darf mich zwar nicht überraschen, daß etwas an sich Mögliches geschieht, wenn die Schwierigkeit der Ausführung durch die Menge der Versuche aufgewogen ist; das unterschreibe ich gern. Wenn man mir jedoch vorreden wollte, daß zufällig zusammengeworfene Buchdruckerlettern die Aeneide in der Vollendung, in welcher sie vorliegt, gebildet hätten, so würde ich sicherlich auch nicht einen einzigen Schritt tun, um erst zu untersuchen, ob ich es mit einer Lüge zu tun hätte. Man darf mir nicht entgegenhalten, daß ich die Menge der Versuche vergesse. Wieviel solcher Versuche müßte ich wohl annehmen, um an die Wahrscheinlichkeit der Kombination glauben zu können! Ich meinesteils, der ich nur einen einzigen anerkenne, kann dreist das Unendliche gegen eins wetten, daß sie nicht das Ergebnis eines Zufalls ist. Haltet damit den Umstand zusammen, daß Kombinationen und Zufälligkeiten stets nur solche Erzeugnisse hervorzubringen vermögen, welche die Natur der vereinigten Elemente teilen, daß Organisation und Leben niemals aus einer zufälligen Verbindung von Atomen hervorgehen kann und daß ein Chemiker in seinem Schmelztiegel durch keine Mischung empfindende und denkende Wesen erzeugen wird.121[147]

Mit Erstaunen und fast mit Verdruß habe ich Nieuwentit gelesen. Wie hat sich dieser Mann an die Abfassung eines Buches über die Wunder der Natur, welche von der Weisheit des Schöpfers Zeugnis ablegen, heranwagen können? Und wetteiferte sein Werk an Größe mit der Welt, so wäre er doch nicht imstande, seinen Gegenstand zu erschöpfen. Sobald man sich hierbei auf Einzelheiten einlassen will, entzieht sich der Beobachtung das größte Wunder, die Harmonie und der Einklang des Ganzen. Die Erzeugung der lebendigen und organischen Wesen bildet schon allein einen Abgrund für den menschlichen Geist. Die unübersteigliche Schranke, welche die Natur zwischen den verschiedenen Arten errichtet hat, damit sie sich nicht vermischen, beweist uns ihre Absichten mit völliger Klarheit. Sie hat sich nicht darauf beschränkt, die Ordnung festzustellen, sondern auch bestimmte Maßregeln getroffen, um diese Ordnung vor jeder Störung zu bewahren.

Es gibt in dem ganzen Weltall kein Wesen, welches man nicht in gewisser Beziehung als den gemeinsamen Mittelpunkt aller übrigen betrachten könnte, um welchen sie alle dergestalt geordnet sind, daß sie sich sämtlich gegenseitig wie Zweck und Mittel verhalten. In der Unendlichkeit dieser Beziehungen, von denen sich auch keine einzige in der Menge verliert oder Veranlassung zu Verwechslungen gibt, verwirrt und verliert sich der Geist. Welch eine Torheit, anzunehmen, daß man all diese Harmonie von dem blinden Mechanismus der zufällig bewegten Materie herzuleiten vermöge! Vergeblich werden diejenigen, welche die Absicht des Planes leugnen, der sich in den Verhältnissen aller Teile dieses großen Ganzen offenbart, ihr sinnloses[148] Geschwätz durch Abstraktionen, Koordinationen, allgemeine Grundsätze, sinnbildliche Ausdrücke zu verhüllen suchen; was sie auch immer aufstellen mögen, so wird es mir doch stets unmöglich sein, mir ein System so fest geordneter Wesen ohne eine geistige Kraft zu denken, von welcher die Ordnung ausgeht. Es hängt nicht von mir ab, zu glauben, daß die passive und tote Materie imstande gewesen sei, lebende und fühlende Wesen hervorzubringen, daß ein blinder Zufall intelligente Wesen habe erzeugen können, daß das, was nicht denkt, vermocht habe, Schöpfer denkender Wesen zu sein.

Ich glaube demnach, daß die Welt von einem mächtigen und weisen Willen regiert wird; ich sehe es oder empfinde es vielmehr, und dieses Wissen ist für mich von Wichtigkeit. Ist nun aber ebendiese Welt von Ewigkeit her oder ist sie erschaffen? Gibt es einen einzigen Urquell aller Dinge? Gibt es deren zwei oder mehrere, und welches ist ihre Natur? Ich weiß es nicht, und was verschlägt es auch? Je nach der Zunahme meines Interesses für diese Kenntnisse werde ich mich auch bestreben, sie zu erwerben. Bis dahin enthalte ich mich aber aller müßigen Fragen, die meine Eigenliebe beunruhigen können, für meinen Wandel dagegen nutzlos und für meine Vernunft zu hoch sind.

Bleiben sie stets eingedenk, daß ich meine Absicht durchaus nicht lehren, sondern nur auseinandersetzen will. Sei die Materie ewig oder erschaffen, habe sie einen passiven Urgrund oder gar keinen, immer steht so viel fest, daß das Ganze eine Einheit bildet und ein einziges geistiges Wesen offenbart, denn ich gewahre nichts, was nicht in diesem System seinen Platz einnähme und nicht demselben Zweck, nämlich der Erhaltung des Ganzen in der bestehenden Ordnung, dienen müßte. Dieses Wesen nun, welches Willen und Macht hat, dieses selbsttätige Wesen, dieses Wesen endlich, was es auch immer sei, welches das Weltall bewegt und alle Dinge ordnet, nenne ich Gott. Ich verbinde mit[149] diesem Namen die Ideen von Intelligenz, Macht und Willen, die ich mir, infolge meiner Beobachtungen, von demselben gebildet habe, so wie die Idee der Güte, welches eine notwendige Folge ersterer ist. Trotzdem ist mir das Wesen, welchem ich diesen Namen beigelegt habe, noch ebenso unbegreiflich wie vorher. Es entzieht sich meinem Verstande nicht weniger als meinen Sinnen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gerate ich in Verwirrung. Ich weiß mit völliger Gewißheit, daß dieses Wesen existiert und zwar durch sich selbst existiert, weiß auch, daß meine Existenz der seinigen untergeordnet ist und daß sich alle mir bekannten Dinge ihm gegenüber durchaus in derselben Lage befinden. Ich erkenne Gott überall in seinen Werken, ich fühle ihn in mir, erblicke ihn um mich. Sobald ich ihn jedoch seinem inneren Wesen nach schauen will, sobald ich untersuchen will, wo und was er ist, was sein eigentliches Wesen ausmacht, dann entschlüpft er mir, und mein in Verwirrung geratener Geist vermag nichts mehr zu erkennen.

Durchdrungen von dem Gefühl meiner Unzugänglichkeit, werde ich über die Natur Gottes niemals Untersuchungen anstellen, wenn ich mich nicht durch das Gefühl seiner Beziehungen zu mir dazu genötigt sehe. Solche Untersuchungen sind stets vermessen. Nur mit Zittern und Zagen und in der festen Ueberzeugung, daß wir nicht geschaffen sind, das Wesen Gottes zu ergründen, sollte ein weiser Mensch dieselben vornehmen. Denn jedenfalls liegt für die Gottheit eine größere Beleidigung darin, daß man sich eine unrichtige Vorstellung von ihr macht, als daß man gar nicht an sie denkt.

Nachdem ich diejenigen Eigenschaften der Gottheit aufgefunden habe, aus denen ich ihr Dasein zu begreifen vermag, kehre ich zu mir selbst zurück und untersuche, welchen Rang ich in der Ordnung der Dinge, die sie regiert und die ich einer Prüfung zu unterziehen imstande bin, einnehme. Meiner Gattung nach gebührt mir unstreitig die[150] oberste Stelle. Denn durch meinen Willen und durch die Werkzeuge, über welche ich zur Ausführung desselben verfügen kann, besitze ich eine größere Fähigkeit, auf alle Körper meiner Umgebung einzuwirken, oder mich umgekehrt ihrer Einwirkung beliebig darzubieten oder zu entziehen, als irgendeinem von ihnen innewohnt, wider meinen Willen durch einen bloß physischen Impuls auf mich einzuwirken, und ich bin das einzige Wesen, dem sein Verstand eine Uebersicht über das Ganze gestattet. Welches Wesen hienieden außer dem Menschen hat die Gabe, alle übrigen zu beobachten, ihre Bewegungen und Wirkungen zu messen, zu berechnen und vorzusehen und das Gefühl des gemeinsamen Daseins gleichsam mit dem seines individuellen Daseins zu verbinden? Was kann man also wohl an dem Gedanken, daß alles für mich geschaffen ist, lächerlich finden, wenn ich nun doch einmal das einzige Wesen bin, das alles auf sich zu beziehen vermag?

Es ist folglich wahr, daß der Mensch der König der Erde ist, welche er bewohnt;122 nicht nur bändigt er alle Tiere, nicht nur hat er sich durch seine Geschicklichkeit zum Herrn der Elemente gemacht, sondern ihm steht auch allein auf Erden diese Macht zu Gebote; ja selbst die Gestirne, denen er sich nicht zu nähern vermag, können sich infolge seiner unausgesetzten Beobachtungen seiner Machtsphäre nicht entziehen. Man zeige mir auf Erden ein anderes Geschöpf, welches das Feuer zu benutzen und die Sonne zu bewundern versteht! Wie? Ich vermag die Wesen und ihre gegenseitigen Beziehungen zu beobachten und zu erkennen, ich vermag zu empfinden, was Ordnung, Schönheit und Tugend ist; ich vermag das Weltall zu betrachten und mich bis zu der Hand zu erheben, die es lenkt, ich vermag das Gute zu lieben und zu üben, und sollte mich mit den Tieren auf eine Stufe stellen? Niedrige Seele, deine traurige Philosophie macht dich ihnen ähnlich, oder du gibst[151] dir vielmehr vergeblich Mühe, dich zu erniedrigen; deine natürliche Befähigung legt Zeugnis wider deine Grundsätze ab, dein wohlwollendes Herz straft deine Lehre Lügen, und selbst der Mißbrauch deiner Fähigkeiten bestätigt dir zum Trotz ihre Vortrefflichkeit.

Ich meinesteils, der ich für kein System eine Lanze zu brechen brauche, ich, ein einfacher und wahrer Mann, welcher sich von keiner Parteileidenschaft fortreißen läßt und nicht nach der Ehre trachtet, das Haupt einer Sekte zu sein, ich, der ich mit dem Platz, an den mich Gott gestellt hat, zufrieden bin, ich kenne nächst ihm nichts Besseres als meine Gattung, und wenn ich mir meine Stellung in der Ordnung der Wesen selbst zu wählen hätte, für was Besseres könnte ich mich entscheiden, als dafür, Mensch zu sein?

Statt mich stolz zu machen, rührt mich diese Betrachtung vielmehr, denn diese Stellung ist nicht ein Akt meiner freien Wahl und kann nicht dem Verdienst eines Wesens angerechnet werden, welches noch gar nicht existierte. Kann ich mich aber wohl in solcher Weise ausgezeichnet sehen, ohne mir zugleich Glück zu wünschen, diese ehrenvolle Stelle einnehmen zu dürfen, und ohne die Hand zu segnen, welche sie mir angewiesen hat? Bei meiner ersten Einkehr in mich selbst erwacht in meinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit und Segnung gegen den Schöpfer meines Geschlechts, und dieses Gefühl treibt mich zu meiner ersten Huldigung der wohltätigen Gottheit. Ich bete die höchste Macht an und fühle mich von ihrer Wohltat gerührt. Zu diesem Kultus bedarf ich keiner Anleitung, er ist mir von der Natur selbst eingegeben. Ist es nicht eine natürliche Folge der Liebe zu uns selbst, daß wir den ehren, der uns beschützt, und den lieben, der uns wohl will?

Wenn ich nun aber, um jetzt auch meine individuelle Stellung innerhalb meiner Gattung kennen zu lernen, unter den verschiedenen Rangstufen und den Menschen, welche dieselben einnehmen, Umschau halte, was wird dann aus[152] mir? Welch ein Schauspiel! Wo ist die Ordnung, die ich vorher beobachtet hatte? Das Bild der Natur zeigte mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts stellt sich mir nur als Verwirrung und Unordnung dar! Unter den Elementen herrscht Einklang, und die Menschen leben in Chaos! Die Tiere sind glücklich, ihr König allein ist elend! O Weisheit, wo sind deine Gesetze? O Vorsehung, regierst du so die Welt? Gnadevolles Wesen, was ist aus deiner Macht geworden? Auf Erden sehe ich Schmerz und Leiden.

Sollten Sie wohl glauben, junger Freund, daß sich gerade aus diesen traurigen Betrachtungen und diesen scheinbaren Widersprüchen in meinem Geiste die erhabenen Vorstellungen von der Seele entwickelten, auf welche mich meine Untersuchungen bis dahin noch nicht geführt hatten? Indem ich über die menschliche Natur nachdachte, glaubte ich in ihr zwei völlig verschiedene Prinzipien zu entdecken, deren eine ihn zur Erforschung der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der Gerechtigkeit und des moralisch Schönen, bis zu den Regionen der intellektuellen Welt erhob, deren Betrachtung die Wonne des Weisen bildet, während das andere ihn sich nicht über sein eigenes Ich erheben ließ, ihn der Herrschaft der Sinne und ihrer Dienerinnen, der Leidenschaft, unterwarf und durch sie alle dem hinderlich entgegentrat, was ihm das Gefühl des ersteren einflößte. Als ich mich von diesen beiden entgegengesetzten Antrieben fortgerissen fühlte und den steten Kampf in meinem Herzen wahrnahm, sagte ich zu mir selbst: Nein, der Mensch ist keine Einheit; ich will und will auch nicht, ich fühle mich zugleich frei und unfrei, ich erkenne und liebe das Gute und tue trotzdem das Böse; ich zeige mich tätig, wenn ich auf die Vernunft höre, aber passiv, wenn ich mich von meinen Leidenschaften fortreißen lasse, und unterliege ich, so besteht meine größte Qual in dem Gefühl, daß ich hätte Widerstand leisten können.[153]

Hören Sie mich mit Vertrauen an, junger Mann, ich werde stets aufrichtig sein. Wenn das Gewissen das Resultat der Vorurteile ist, so habe ich unzweifelhaft unrecht, und es gibt keine nachweisbare Moral. Wenn es nun aber ein dem Menschen natürlicher Hang ist, sich allem vorzuziehen, und wenn dessenungeachtet dem menschlichen Herzen ein ursprüngliches Gerechtigkeitsgefühl angeboren ist, dann überlasse ich demjenigen, welcher den Menschen zu einem einfachen Wesen macht, die Lösung dieser Widersprüche, und dann will auch ich zugeben, daß er nur aus einer einzigen Substanz bestehe.

Sie werden bemerken, daß ich mit dem Worte Substanz im allgemeinen ein Wesen bezeichne, welches mit irgendeiner ursprünglichen Eigenschaft ausgestattet ist, wobei ich von allen besonderen oder sekundären Modifikationen absehe. Lassen sich nun alle ursprünglichen Eigenschaften, die uns bekannt sind, in einem und demselben Wesen vereinigen, so darf man auch nur eine Substanz annehmen. Kommen jedoch solche vor, die sich gegenseitig ausschließen, so muß es auch ebenso viele verschiedene Substanzen geben, als man dergleichen Ausschließungen vornehmen kann. Sie werden darüber nachdenken; ich aber brauche, was Locke auch immer darüber sagen möge, nur die Ausdehnung und Teilbarkeit der Materie zu kennen, um dessen sicher zu sein, daß sie nicht denken kann; und wenn ein Philosoph auf den Einfall käme, mir gegenüber zu behaupten, daß die Bäume fühlten und die Felsen dächten,123 so könnte ich in ihm, wenn es ihm[154] auch gelänge, mich mit seinen spitzfindigen Schlußfolgerungen in Verlegenheit zu setzen, doch nur einen Sophisten erblicken, der keinen Glauben verdient, und den Steinen lieber Empfindung zuschreiben, als dem Menschen eine Seele zugestehen möchte.

Stellen wir uns einen Tauben vor, welcher leugnet, daß es Töne gibt, weil sie sein Ohr noch nie hat erklingen hören. Ich zeige ihm ein Saiteninstrument, dem ich durch Anschlagen eines anderen, verborgen gehaltenen und gleichgestimmten Instruments Töne entlocke. Der Taube gewahrt die schwingenden Bewegungen der Saite, und ich sage zu ihm: Der Ton bringt diese Wirkung hervor. – Keineswegs, erwidert er, die Ursache der schwingenden Bewegungen[155] der Saite liegt in ihr selbst. Es ist eine allen Körpern gemeinsame Eigenschaft, in solche Schwingungen zu geraten. – Zeige mir dann auch, entgegne ich, dieses Schwingen in den anderen Körpern oder wenigstens die Ursache desselben in dieser Saite. – Das, erwidert der Taube, bin ich freilich nicht imstande; weshalb soll ich aber, weil ich nicht zu begreifen vermag, wie diese Saite in Schwingungen gerät, es mir gerade durch eure Töne erklären, von denen ich nicht den geringsten Begriff habe? Das hieße ja, eine dunkle Tatsache durch eine noch dunklere Ursache erklären wollen. Sorgt entweder dafür, daß ich eure Töne vernehmen kann, oder ich behaupte, daß es gar keine gibt.

Je mehr ich über das Denken und die Natur des menschlichen Geistes nachdenke, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß die Schlußfolgerungen der Materialisten denen dieses Tauben gleichen. Sie sind wahrlich taub gegen die innere Stimme, welche ihnen in einem Ton, der sich nur schwer mißverstehen läßt, zuruft: Eine Maschine denkt nicht; Ueberlegung kann weder durch Bewegung noch durch eine Gestalt hervorgebracht werden. Es lebt in dir ein Etwas, welches die Bande, die es zurückhalten, zu zerreißen sucht. Dein Maßstab kann der Raum nicht sein, das ganze Weltall ist nicht groß genug für dich. Deine Empfindungen, deine Wünsche, deine Unruhe, dein Stolz sogar haben einen anderen Urgrund als dieser beschränkte Körper, an welchen du dich gefesselt fühlst.

Kein materielles Wasen ist durch sich selbst tätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir dies zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft. Ich besitze einen Körper, auf welchen die anderen ebenso einwirken wie er auf sie. Diese wechselseitige Einwirkung aufeinander ist unzweifelhaft; aber mein Wille ist von meinen Sinnen unabhängig, ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege[156] oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich getan habe, was ich habe tun wollen, oder ob ich nur meinen Leidenschaften nachgegeben habe. Zwar habe ich stets die Macht zu wollen, aber nicht immer die Macht zur Ausführung des Gewollten. Wenn ich mich den Versuchungen ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antrieb äußerer Objekte bestimmen. Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwäche Vorwürfe mache, so schenke ich nur meinem Willen Gehör. Ich bin durch meine Laster Sklave, und frei durch meine Gewissensbisse. Das Gefühl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke, daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.

Ich kenne den Willen nur, insoweit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urteil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urteile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. Erwählt das Gute nach dem, was seinem Urteil zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urteil gefällt, so wird auch seine Wahl schlecht sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urteil. Und welches ist nun wieder die Ursache, die sein Urteil bestimmt? Es ist seine geistige Fähigkeit, sein Vermögen, zu urteilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze, über welche hinaus ich nichts mehr verstehe.

Ohne Zweifel reicht meine Freiheit nicht so weit, mein eigenes Wohl nicht zu wollen; ich habe nicht die Freiheit,[157] mein Unglück zu wollen. Meine Freiheit besteht eben darin, daß ich nur das zu wollen imstande bin, was mir heilsam ist, oder was ich wenigstens dafür halte, ohne daß etwas mir Fremdes mich bestimmt. Folgt schon aus dem Umstande, daß es nicht in meiner Gewalt steht, ein anderer zu sein als ich bin, daß ich nun auch nicht mein eigener Herr bin?

Die Quelle einer jeden Handlung liegt in dem Willen eines freien Wesens; einen noch tiefer liegenden Grund vermögen wir nicht nachzuweisen. Nicht das Wort Freiheit ist nichtssagend, sondern das Wort Notwendigkeit. Irgendeine Handlung, irgendeine Wirkung annehmen, die nicht von einem tätigen Prinzip ausgeht, heißt doch fürwahr Wirkungen ohne Ursachen annehmen, heißt in einen Kreis unrichtiger Schlüsse verfallen. Entweder gibt es überhaupt keinen ersten Anstoß, oder jeder erste Anstoß entbehrt einer anderen vorhergehenden Ursache, und es gibt dann keinen wahren Willen ohne Freiheit. Der Mensch ist demnach in seinen Handlungen frei und als solch freies Wesen von einer immateriellen Substanz beseelt. So lautet mein dritter Glaubensartikel. Aus diesen drei ersten werden Sie sich leicht alle übrigen herleiten können, ohne daß ich sie noch weiter aufzuzählen brauche.

Ist der Mensch nun selbsttätig und frei, so handelt er auch aus eigenem Antrieb. Alle seine freien Handlungen sind von dem von der Vorsehung geordneten System unabhängig und können ihr nicht angerechnet werden. Sie will das Böse nicht, das der Mensch tut, indem er die Freiheit, die sie ihm gewährt, mißbraucht. Aber sie hält ihn nicht von der Ausführung desselben zurück, sei es nun, daß das Uebel, welches von einem so schwachen Geschöpf ausgeht, in ihren Augen völlig bedeutungslos ist, sei es, weil sie ihn nicht daran behindern kann, ohne daß zugleich seine Freiheit darunter leidet und durch Herabwürdigung seiner Natur ein noch größeres Uebel hervorgerufen wird. Sie hat ihn frei geschaffen, damit er sich aus eigener Wahl[158] nicht für das Böse, sondern für das Gute entscheide. Sie hat ihn auch in den Stand gesetzt, diese Wahl unter richtiger Benutzung der ihm von ihr verliehenen Gaben zu treffen. Aber sie hat seine Kräfte in dem Grade beschränkt, daß der Mißbrauch der Freiheit, die sie ihm gestattet, die allgemeine Ordnung nicht zu stören vermag. Das Böse, was der Mensch tut, fällt auf ihn allein zurück, ohne daß dadurch die geringste Aenderung im Weltsystem einträte, ohne zu verhindern, daß sich das Menschengeschlecht, selbst wider seinen Willen, noch immer erhalte. Darüber murren, daß Gott der Ausübung des Bösen nicht hindernd entgegentritt, heißt darüber murren, daß er dem Menschengeschlechte so hohe Gaben verliehen hat, daß er mit den Handlungen der Menschen eine Moralität verbunden hat, die sie veredelt, daß er ihnen ein Anrecht auf die Tugend verlieh. Der höchste Genuß liegt in der Zufriedenheit mit sich selbst. Gerade um uns diese Zufriedenheit zu verdienen, wird uns diese Erde angewiesen, werden wir mit Freiheit begabt, von unseren Leidenschaften versucht, von unserem Gewissen zurückgehalten. Was konnte selbst die göttliche Allmacht wohl mehr zu unserem Besten tun? Konnte sie Widerspruch in unsere Natur legen und dem, der unfähig war, Böses zu tun, noch eine besondere Belohnung dafür gewähren, daß er Gutes getan hat? Wie, um den Menschen an der Ausübung des Bösen zu behindern, hätte sie ihn auf den Instinkt beschränken und auf den Standpunkt eines Tiere herabdrücken sollen? Nein, Gott meiner Seele, nie werde ich mich untersagen, dich zu tadeln, daß du mich nach deinem Bilde geschaffen hast, damit ich frei, gut und glücklich sein könne wie du.

Nur der Mißbrauch unserer Anlagen macht uns unglücklich und böse. An unserem Kummer, unseren Sorgen, unseren Leiden sind wir selbst schuld. Das moralische Uebel ist unstreitig unser eigenes Werk, und das physische Uebel würde ohne unsere Fehler, die es uns erst fühlbar gemacht[159] haben, nichts sein. Läßt uns die Natur nicht um unserer Erhaltung willen unsere Bedürfnisse empfinden? Gibt uns der körperliche Schmerz nicht ein Zeichen, daß in der Maschine etwas in Unordnung geraten ist, und eine Mahnung, derselben schleunigst abzuhelfen? Und nun der Tod?... Vergiften die Bösen nicht ihr und unser Leben? Wer möchte wohl immer zu leben wünschen? Der Tod ist das Mittel gegen die Uebel, welche wir uns selbst zufügen. Die Natur hat gewollt, daß wir nicht ewig leiden sollen. Wie wenigen Uebeln ist doch der Mensch unterworfen, der in seiner ursprünglichen Einfachheit fortlebt! Fast ohne Krankheit wie auch ohne Leidenschaften verbringt er seine Tage; den Tod sieht er weder voraus noch fühlt er ihn; sollte er ihn jedoch fühlen, so machen ihm seine Leiden denselben auch wünschenswert, und sofort hört er dann auf, ein Uebel für ihn zu sein. Begnügten wir uns damit, das zu sein, was wir einmal sind, so würden wir unser Schicksal nicht zu beklagen haben, aber dadurch, daß wir einem eingebildeten Glücke nachjagen, öffnen wir tausenderlei wirklichen Uebeln den Weg zu uns. Wer nicht ein kleines Leid zu ertragen versteht, muß sich darauf gefaßt machen, viele über sich ergehen zu lassen. Wenn man seine Gesundheit durch einen zügellosen Lebenswandel untergraben hat, so bemüht man sich, sie durch Arzneimittel wiederherzustellen, und fügt auf diese Weise zu dem Uebel, welches man fühlt, noch dasjenige hinzu, welches man fürchtet. Die Voraussicht des Todes vermehrt seine Schrecken und beschleunigt seine Annäherung. Je mehr man sich bemüht, ihm zu entfliehen, desto mehr fühlt man seine Nähe, und infolge der Angst verwandelt sich das ganze Leben in ein langsames Dahinsterben, indem man gegen die Natur um der Uebel willen murrt, die man sich doch nur durch eigene Schuld zugezogen hat, als man ihre Gesetze verletze.

Mensch, forsche nicht länger nach dem Urheber des Uebels. Du selbst bist dieser Urheber. Es ist kein anderes Uebel[160] vorhanden als dasjenige, welches du begehst, oder leidest, und beides geht von dir selber aus. Das allgemeine Uebel könnte nur in der Unordnung bestehen, und ich erblicke in dem Weltsystem eine Ordnung, die sich stets gleichbleibt. Das besondere Leiden macht sich nur in der Empfindung des leidenden Wesens fühlbar, und diese Empfindung hat der Mensch nicht von der Natur erhalten, sondern selbst in sich erweckt. Wer wenig Betrachtungen angestellt hat und deshalb auch weder Erinnerung noch Voraussicht besitzt, wird dem Schmerz nur in geringem Grad ausgesetzt sein. Beseitigt unsere unglückseligen Fortschritte, beseitigt unsere Irrtümer und Laster, beseitigt das Menschenwerk, und alles ist gut.

Wo alles gut ist, gibt es nichts Ungerechtes. Gerechtigkeit ist von der Güte untrennbar; die Güte ist die notwendige Wirkung einer grenzenlosen Macht und der Selbstliebe, die als eine wesentliche Eigenschaft eines jeden sich fühlenden Wesens betrachtet werden muß. Derjenige, welcher alles kann, gibt seinem Dasein gleichsam vermittels dem aller anderen Wesen eine größere Ausdehnung. Im Hervorbringen und Erhalten äußert sich deshalb die unaufhörliche Tätigkeit der Macht. Gott ist nicht ein Gott der Toten; er würde nicht imstande sein, zu zerstören und Uebeles zuzufügen, ohne sich selbst zu schaden. Wenn alle Macht zu Gebote steht, der kann nur wollen, was gut ist.124 Deshalb muß auch das allgütige Wesen, weil es allmächtig ist, zugleich auch das allergerechteste sein; sonst würde es mit sich selbst in Widerspruch treten, denn der Akt der Liebe zur Ordnung, welcher die Ordnung erzeugt, wird Güte, jener dagegen, welcher die Ordnung erhält, Gerechtigkeit genannt.[161] Gott, sagt man, ist seinen Geschöpfen nichts schuldig. Ich hingegen glaube, daß er ihnen alles schuldig ist, was er ihnen dadurch versprach, daß er sie ins Dasein rief. In der Vorstellung eines Gutes, die er ihnen gab und in dem Bedürfnis nach demselben, das sie empfinden ließ, liegt das Versprechen eingeschlossen, ihnen dies Gut zu gewähren. Je mehr ich in mich einkehre, je mehr ich überlege, desto klarer lese ich in meiner Seele die Worte geschrieben: Sei gerecht, und du wirst glücklich sein. Trotzdem hat sich dies bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge noch nicht erfüllt; dem Bösen geht es wohl, und der Gerechte bleibt unterdrückt. Man lasse aber auch nicht außer acht, wie empört wir uns fühlen, wenn sich diese Erwartung getäuscht sieht. Das Gewissen erhebt sich und murrt gegen seinen Schöpfer, seufzend ruft es ihm zu: Du hast mich getäuscht.

Vermessener, ich habe dich getäuscht! Wer hat dir das gesagt? Ist deine Seele vernichtet? Hast du aufgehört zu sein? O Brutus, o mein Sohn! Schände dein edles Leben nicht, indem du ihm freiwillig ein Ende machst! Laß nicht mit deinem Körper zugleich deine Hoffnung und deinen Ruhm auf den Feldern von Philippi zurück! Weshalb sagst du: Die Tugend ist nichts, während du schon im Begriffe stehst, den Lohn für die deinige zu empfangen? Du werdest sterben, denkst du? Nein, nun erst beginnt dein wahres Leben, und ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe.

Dem Murren der ungeduldigen Sterblichen nach sollte man glauben, Gott sei ihnen den Lohn schuldig, ehe die ihn verdient haben, und er habe die Verpflichtung, ihnen ihre Tugend im voraus zu zahlen. O, laß uns nur erst gut sein, dann werden wir auch glücklich sein! Laßt uns den Preis nicht vor dem Siege, noch den Lob vor der Arbeit fordern! Nicht in den Schranken, sagt Plutarch, werden die Sieger in unseren heiligen Spielen gekrönt, sondern erst nachdem sie die Rennbahn durchlaufen haben.[162]

Wenn die Seele immateriell ist, so vermag sie auch den Körper zu überleben; und wenn sie ihn überlebt, so steht die Vorsehung gerechtfertigt da. Hätte ich auch keinen anderen Beweis für die Immaterialität der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde mich schon dies allein von jedem Zweifel zurückhalten. Eine so schreiende Dissonanz in der allgemeinen Harmonie würde mich antreiben, ihre Lösung zu suchen. Ich würde mir sagen: Mit dem Leben endet nicht alles für und, alles kehrt mit dem Tode in die ursprüngliche Ordnung zurück. Die Frage: Wo ist der Mensch, wenn alles Sinnliche an ihm zerstört ist? würde mich freilich in einige Verlegenheit setzen. Doch auch diese Frage verliert alle Schwierigkeit für mich, sobald ich zwei Substanzen angenommen habe. Da ich während meines leiblichen Lebens nur durch meine Sinne wahrzunehmen vermag, so ist es sehr einleuchtend, daß mir das, was ihnen nicht unterworfen ist, entgehen muß. Es läßt sich nun ganz wohl begreifen, daß sich nach Aufhebung der Vereinigung des Körpers und der Seele ersterer sich auflösen und letztere fortbestehen kann. Weshalb sollte auch die Vernichtung des Körpers die Vernichtung der Seele nach sich ziehen? Im Gegenteil befanden sie sich bei der großen Verschiedenheit ihrer Natur infolge ihrer Vereinigung in einem gewaltsamen Zustand und kehren nun beide, sobald diese aufhört, in ihren natürlichen Zustand zurück. Die tätige und lebende Substanz gewinnt alle Kraft wieder, die sie aufwandte, um die passive und tote Substanz in Bewegung zu setzen. Ach, meine Fehler machen es mir nur allzu fühlbar, daß der Mensch während seines Lebens eigentlich nur halb lebt, und das Leben der Seele erst mit dem Tode des Körpers beginnt.

Was für ein Leben ist dies nun aber? Und ist die Seele ihrer Natur nach unsterblich? Ich weiß es nicht. Mein begrenzter Verstand begreift nichts Schrankenloses.[163]

Alles was man unendlich nennt, ist mir unbegreiflich. Was kann ich wohl verneinen oder bejahen? Vermag ich ein Urteil über Ideen zu fällen, die mir ganz fremd sind? Ich glaube, daß die Seele den Körper so lange überlebt, als es die Aufrechthaltung der Ordnung erheischt; wer weiß, ob dies ihre ewige Fortdauer bedingt? So viel erkenne ich, daß sich der Körper infolge der Trennung von der Seele zerstört und auflöst, aber ich vermag mir nicht eine ähnliche Zerstörung des denkenden Wesens vorzustellen, und da ich nicht imstande bin, mir zu denken, wie es sterben kann, so nehme ich an, daß es nicht stirbt. Da mir diese Annahme Trost gewährt und nichts Unvernünftiges hat, weshalb sollte ich Anstand nehmen, mich derselben hinzugeben?

Ich bin mir meiner Seele bewußt, ich erkenne sie durch die Empfindung und das Denken; ich weiß, daß sie ist, wenn ich auch nicht weiß, worin ihr Wesen besteht. Ueber Ideen, die ich nicht habe, kann ich nicht aburteilen. Nur so viel weiß ich mit Gewißheit, daß sich das Bewußtsein (die Identität) des Ich nur durch das Gedächtnis verlängert, und daß ich, um in Wirklichkeit ein und derselbe zu sein, mich erinnern muß, daß ich schon vorher gewesen bin. Nun würde ich mich aber nach meinem Tode nicht dessen erinnern können, was ich während meines Lebens gewesen bin, wenn ich mich nicht zugleich auch dessen erinnerte, was ich gefühlt, und folglich auch dessen, was ich getan habe. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß gerade in dieser Erinnerung dereinst das Glück der Guten und die Qual der Bösen bestehen wird. Hienieden beschäftigen tausend glühende Leidenschaften das innere Gefühl und schläfern das Gewissen ein. Die Demütigungen und Widerwärtigkeiten, welche die Ausübung der Tugend in ihrem Gefolge hat, verhindern uns, alle Reize derselben zu empfinden. Wenn wir aber, von den Täuschungen befreit, die der Körper und die Stimme in uns hervorrufen, das höchste Wesen schauen und die ewigen Wahrheiten, deren Urquell[164] es ist, erkennen werden, wenn die Schönheit der Weltordnung alle unsere Seelenkräfte erheben wird, und wenn wir ausschließlich damit beschäftigt sein werden, das, was wir getan haben, mit dem vergleichen, was wir hätten tun sollen: dann wird die Stimme des Gewissens ihre Kraft und Herrschaft wieder erlangen, dann wird sich in der reinen Freude, die aus der Zufriedenheit mit sich selbst entsteht, und in der bitteren Reue darüber, so tief gesunken zu sein, durch unerschöpfliche Empfindungen deutlich das Schicksal zu erkennen geben, welches sich ein jeder bereitet hat. Fragen Sie mich nicht, mein geliebter Freund, ob es auch noch andere Quellen des Glücks und der Qual gibt; ich weiß es nicht. Allein schon diejenige, welche ich mir vorstelle, reicht hin, um mir in diesem Leben Trost zu geben und mich ein anderes hoffen zu lassen. Ich behaupte durchaus nicht, daß die Guten werden belohnt werden, denn welch anderes Gut kann wohl ein so reich begabtes Wesen erwarten, als seiner Natur gemäß fortzuleben? Indes behaupte ich, daß sie glücklich sein werden, weil ihr Schöpfer, der Ausfluß aller Gerechtigkeit, der ihnen Empfindung gegeben, sie nicht zum Leiden geschaffen hat, und weil sie außerdem, da sie mit ihrer Freiheit auf Erden keinen Mißbrauch getrieben haben, ihre Bestimmung nicht durch eigene Schuld verscherzt haben. Sie haben jedoch in diesem Leben gelitten und werden nun dafür in einem anderen entschädigt werden. Diese Ansicht gründet sich weniger auf das menschliche Verdienst, als vielmehr auf die Vorstellung der Güte, die mir vom göttlichen Wesen untrennbar zu sein scheint. Ich setze dabei nur voraus, daß die Gesetze der Weltordnung beobachtet werden und Gott unveränderlich ist.125

Fragen Sie mich auch nicht, ob die Qualen der Bösen ewig dauern werden, und ob es ein Beweis der Güte ihres Schöpfers ist, sie zu ewigen Qualen zu verdammen. Auch[165] dieses ist mir unbekannt, und ich bin von der eitlen Neugier frei, über solche nutzlose Fragen Licht zu verbreiten. Was geht mich das Los der Bösen an? Ich nehme wenig Anteil an ihrem Schicksal. Dessenungeachtet kann ich mich nicht mit dem Gedanken befreunden, daß sie zu endlosen Qualen verdammt sein sollten. Wenn die höchste Gerechtigkeit Rache ausübt, so nimmt sie schon in diesem leben ihren Anfang. Ihr selbst, ihr Völker, seid mit euren Irrtümern ihre Vollstrecker. Die Uebel, die ihr euch zufügt, bilden die Strafe für die Verbrechen, durch welche jene hervorgerufen sind. In euren unersättlichen, von Neid, Habsucht und Ehrgeiz verzehrten Herzen strafen die vergeltenden Leidenschaften eure Frevel inmitten eures scheinbaren Glücks. Weshalb sollen wir die Hölle erst in einem anderen Leben suchen? Schon in diesem Leben ist sie im Herzen der Bösen zu finden.

Wo unsere vergänglichen Bedürfnisse endigen, wo unsere unsinnigen Lüfte aufhören, müssen auch unsere Leidenschaften schweigen und unsere Verbrechen ein Ende nehmen. Welcher Verderbtheit könnten Geister, die ihres Körpers entkleidet sind, noch fähig sein? Weshalb sollten sie böse sein, da sie keine Bedürfnisse mehr fühlen? Wenn sie, von unserer groben Sinnlichkeit befreit, all ihr Glück einzig und allein im Anschauen der Wesen finden, so sind sie nur imstande, das Gute zu wollen, und ist es wohl möglich, daß derjenige, welcher nicht mehr in das Böse willigt, für immer elend sein sollte? Diese Ansicht sagt mir am meisten zu, ohne daß ich mir jedoch die Mühe nehme, ein endgültiges Urteil darüber abgeben zu wollen. O gnädiges und gütiges Wesen! Was auch immer deine Ratschlüsse sein mögen, ich verehre sie. Wenn du die Bösen ewig strafst, so erkennt meine schwache Vernunft in Demut deine Gerechtigkeit an. Wenn jedoch die Gewissensbisse dieser Unglücklichen im Laufe der Zeit schwächer werden, und ihre Leiden ein Ende nehmen sollten, wenn uns dereinst alle ohne Unterschied der gleiche[166] Friede erwartet, so will ich dich dafür preisen. Muß ich nicht auch im Bösen meinen Bruder erblicken? Wie oft hat nur wenig daran gefehlt, daß ich ihm ähnlich wurde! Möchte er, vom Elend befreit, auch die Bosheit verlieren, diese Begleiterin des Elends! Möchte er ebenso glücklich werden wie ich bin; weit davon entfernt, daß sein Glück meine Eifersucht erregte, würde es vielmehr das meinige nur erhöhen.

Nachdem ich Gott auf diese Weise in seinen Werken betrachtet und an ihm diejenigen seiner Eigenschaften studiert habe, deren Kenntnis für mich von Wichtigkeit war, ist es mir gelungen, die anfangs unvollkommene und beschränkte Idee, welche ich mir von diesem unendlichen Wesen gebildet hatte, stufenweise zu erweitern und zu vervollkommnen. Wenn diese Idee nun auch edler und erhabener geworden ist, so hat sie dafür aber der menschlichen Vernunft gegenüber viel von ihrer Verständigkeit eingebüßt. Je mehr ich mich im Geiste dem ewigen Licht nähere, desto mehr blendet und verwirrt mich sein Glanz, und ich sehe mich genötigt, alle irdischen Begriffe fahren zu lassen, die es mir bisher erst möglich gemacht hatten, mir eine Vorstellung von ihm zu bilden. Nun verliert Gott für mich alles Körperliche und Sinnliche; die höchste Vernunft, welche die Welt regiert, ist nicht mehr die Welt selbst; vergeblich erhebe ich bis zur Ermattung meinen Geist zu ihr, um ihr unfaßbares Wesen zu erfassen. Wenn ich erwäge, daß sie es ist, die der lebenden und tätigen Substanz, welche die beseelten Körper regiert, erst Leben und Tätigkeit verleiht, und wenn ich dann behaupten höre, daß meine Seele geistiger Natur und Gott ebenfalls ein Geist ist, so erfüllt mich diese Herabwürdigung des göttlichen Wesens mit gerechtem Unwillen. Als ob Gott und meine Seele von gleicher Natur sein könnten! Als ob Gott nicht das einzige absolute, das einzige wirklich durch sich selbst tätige, fühlende, denkende, wollende Wesen wäre, von welchem wir unser[167] Denken wie Fühlen, unsere Tätigkeit wie unseren Willen, unsere Freiheit wie unser Wesen erhalten haben. Wir sind nur deshalb frei, weil er will, daß wir es sein sollen, und seine unerforschliche Substanz ist für unsere Seele dasselbe, was unsere Seelen für unseren Körper sind. Ob er die Materie, die Körper, die Geister, die Welt erschaffen hat, ist mir unbekannt. Die Idee der Schöpfung verwirrt mich und übersteigt meine Fassungskraft. Ich glaube sie, so viel mir daran begreiflich ist. Indes weiß ich, daß er das Weltall und alles Existierende gebildet, daß er alles geschaffen, alles geordnet hat. Gott ist unzweifelhaft ewig. Ist aber mein Geist imstande, die Idee der Ewigkeit zu begreifen? Weshalb will ich mich mit Worten abspeisen lassen, mit denen ich keinen Begriff verbinden kann? So viel begreife ich jedoch, daß er existierte, ehe noch die Dinge waren, daß er sein wird, solange sie fortdauern werden, und daß er selbst dann noch sein würde, wenn dereinst alles aufhören sollte. Daß ein Wesen, welches ich nicht zu begreifen vermag, andere Wesen ins Dasein ruft, ist nur dunkel und unbegreiflich; daß dagegen Sein und Nichtsein von selbst ineinander übergehen sollten, ist ein handgreiflicher Widerspruch, ist eine augenscheinliche Absurdität.

Gott ist intelligent. Wie ist er es jedoch? Der Mensch ist intelligent, wenn er sich ein richtiges Urteil bildet. Nun hat er aber die höchste Intelligenz nicht erst nötig, sich Urteile zu bilden; für sie gibt es weder Prämissen noch Schlußfolgerungen. Sie ist die absolute Anschauung; wie sie alles überblickt, was ist, so sieht sie auch in gleicher Weise alles, was sein kann; wie alle Wahrheiten für sie nur eine einzige Idee ausmachen, so auch alle Orte nur einen einzigen Punkt und alle Zeiten einen einzigen Augenblick. Die menschliche Macht wirkt durch Mittel, die göttliche Macht wirkt durch sich selbst. Gott kann, weil er will; seine Macht ist der Ausfluß seines Willens. Gott ist gütig, nichts tritt deutlicher zutage; aber die Güte des Menschen[168] zeigt sich in der Liebe zu seinen Mitmenschen, während sich die Güte Gottes in seiner Liebe zur Ordnung offenbart, denn durch die Ordnung erhält er alles Bestehende und verbindet er jeden Teil im Ganzen. Gott ist gerecht, ich bin davon überzeugt; die Gerechtigkeit ist die Folge seiner Güte; an der Ungerechtigkeit der Menschen sind sie selbst schuld, nicht er. Der sich in der moralischen Welt kundgebende Zwiespalt, welcher in den Augen der Philosophen gegen die Vorsehung zeugt, gilt in den meinigen gerade als ein Beweis für dieselbe. Während aber die Gerechtigkeit des Menschen jedem gibt, was ihm gebührt, fordert die Gerechtigkeit Gottes von jedem Rechenschaft über das, was er ihm gegeben hat.

Wenn ich so stufenweise zur Entdeckung dieser Eigenschaften gelange, von welchen ich keine absolute Vorstellung habe, so geschieht es doch nur durch künstliche Schlußfolgerungen, durch die richtige Anwendung meiner Vernunft; aber trotzdem nehme ich sie an, wenn ich sie auch nicht zu fassen vermag, und das heißt doch eigentlich nichts annehmen. Vergeblich sage ich zu mir: So ist Gott, ich fühle es, ich trage den Beweis in mir, trotzdem begreife ich doch nicht besser, wie Gott so sein kann.

Kurz, je mehr ich mich bemühe, mich zum Anschauen seines unendlichen Wesens zu erheben, desto weniger vermag ich es zu begreifen. Aber es ist, das ist für mich genügend; je weniger ich es begreife, desto mehr bete ich es an. In Demut spreche ich zu ihm: Wesen aller Wesen, ich bin, weil du bist. Wenn meine Gedanken unaufhörlich bei dir weilen, erhebe ich mich zur Quelle meines Daseins. Ich mache den würdigsten Gebrauch von meiner Vernunft, wenn ich sie vor dir schweigen lasse. Es ist Wonne für meinen Geist, ein zauberhafter Reiz für meine Schwachheit, mich von deiner Größe überwältigt zu fühlen.

Nachdem ich nun auf diese Weise die Hauptwahrheiten, deren Kenntnis für mich von Wichtigkeit ist, aus dem Eindrucke[169] der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände und aus dem inneren Gefühle, welches mich antreibt, mich bei der Verurteilung der Ursachen von meinen natürlichen Einsichten leiten zu lassen, gefolgert habe, so bleibt mir noch zu untersuchen übrig, welche Grundsätze ich daraus für meinen Wandel herzuleiten habe und welche Regeln ich mir vorschreiben muß, um meine Bestimmung hienieden nach den Absichten dessen zu erfüllen, der mir meinen Platz auf Erden angewiesen hat. Treu meiner bisherigen Methode, entnehme ich diese Regeln durchaus nicht den Prinzipien einer erhabenen Philosophie, sondern ich finde sie im Grunde meines Herzens von der Natur mit unauslöslichen Zügen eingegraben. Ich habe über das, was ich tun will, nur mich selbst zu befragen; alles, von dem mir mein Gefühl sagt, daß es gut ist, ist auch wirklich gut; alles, was mein Gefühl schlecht nennt, ist schlecht. Der beste aller Gewissensräte ist das Gewissen, und erst dann, wenn man mit ihm feilschen will, muß man zu Spitzfindigkeiten seine Zuflucht nehmen. Die erste aller Sorgen, die den Menschen beschäftigt, ist die Sorge für sich selbst. Wie oft raunt uns indes eine Stimme zu, daß wir unrecht handeln, wenn wir unser Wohl auf Kosten anderer zu gründen suchen! Wir wähnen dem Antrieb der Natur zu folgen und setzen ihr im Gegenteil Widerstand entgegen; indem wir nur auf das hören, was sie unseren Sinnen sagt, setzen wir das hintan, was sie unserem Herzen sagt. Das aktive Sein gehorcht, das passive Sein befiehlt. Das Gewissen ist die Stimme der Seele, die Leidenschaften sind die Stimme des Körpers. Kann es uns überraschen, daß diese beiden Stimmen sich oft im Widerstreit befinden? Und auf welche von ihnen soll man alsdann hören? Nur zu oft täuscht uns die Vernunft, und wir haben deshalb das unveräußerliche Recht, uns ihren Ratschlägen nicht zu fügen; das Gewissen täuscht uns dagegen niemals; es ist der wahre Führer des Menschen; was der Instinkt für den Körper, ist das Gewissen[170] für die Seele.126 Wer sich von ihm leiten läßt, gehorcht der Natur und braucht nicht zu befürchten, sich zu verirren. Dieser Punkt, fuhr mein Wohltäter fort, als er bemerkte, daß ich im Begriff stand, ihn zu unterbrechen, ist von nicht[171] zu unschätzbarer Wichtigkeit. Erlauben Sie, daß ich bei der Erläuterung desselben noch etwas länger stehenbleibe.

Die ganze Moralität unserer Handlungen beruht auf dem Urteil, welches wir uns selbst über dieselben bilden. Wenn es wahr ist, daß das Gute gut ist, so muß es dies im Grund unserer Herzen ebenso wie in unseren Werken sein, und der erste Lohn der Gerechtigkeit liegt in dem Gefühl, daß man sie geübt hat. Wenn die moralische Güte mit unserer Natur im Einklang steht, so kann der Mensch nur insoweit geistig gesund und kräftig sein, als er gut ist. Ist dies jedoch nicht der Fall, ist vielmehr der Mensch böse, so vermag er, ohne sich zu verderben, auch nicht aufhören, es zu sein, und die Güte schlägt bei ihm dann zu einem Verbrechen gegen die Natur um. Geschaffen, seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen, wie der Wolf, seine Beute zu erwürgen, würde ein unter solcher Umständen Menschlichkeit verratender Mensch ein ebenso entartetes Geschöpf sein, wie ein Erbarm übender Wolf, und nichts als die Tugend würde Gewissensbisse in uns wachrufen.

Halten wir uns selbst Einkehr, mein junger Freund, prüfen wir einmal, mit Beiseitesetzung alles persönlichen Interesses, wozu uns unsere Neigungen treiben. Was für ein Anblick ruft angenehmere Gefühle in uns hervor: der der Qualen oder des Glückes anderer? Welche Handlungen bereiten uns die größte Freude und lassen den wohltuendsten Eindruck in uns zurück: ein Akt der Wohltätigkeit oder ein Akt der Bosheit? An wem nehmen wir auf unseren Theatern den regsten Anteil? Erfüllen uns die Freveltaten mit Vergnügen? Fließen unsere Tränen für die bestraften Missetäter? Alles, behauptet man, sei uns gleichgültig, unseren eigenen Vorteil ausgenommen; und gerade im Gegenteil tröstet uns in unseren Leiden die Süßigkeit der Freundschaft und der Nächstenliebe, und sogar mitten in unseren Vergnügen würde uns das Gefühl einer nur allzu großen Vereinsamung und des Elends beschleichen,[172] wenn wir niemanden hätten, mit dem wir sie zu teilen vermöchten. Wenn im Menschenherzen nichts von Moral vorhanden ist, was ist dann die Ursache jener hohen Bewunderung heldenmütiger Taten und jener begeisterten Liebe zu großen Seelen? Welche Beziehung kann zwischen diesem Enthusiasmus für die Tugend und unserem Sonderinteresse stattfinden? Weshalb möchte ich lieber Kato sein, der seine Eingeweide zerreißt, als der triumphierende Cäsar? Nehmt aus unseren Herzen diese Liebe zum Schönen, und ihr nehmt damit zugleich dem Leben allen Reiz. Derjenige, in dessen beschränkter Seele verächtliche Leidenschaften diese köstlichen Gefühle erstickt haben, derjenige, welcher es in seinem Streben, sich nur auf sich selbst zu beschränken, endlich so weit gebracht hat, nur noch sich allein zu lieben, geht freudenleer durch das Leben. Nie schlägt sein kaltes Herz mehr vor Wonne, nie feuchten Tränen süßer Rührung mehr sein Auge, nie hat er sich eines wahren Genusses mehr zu erfreuen. Der Unglückliche fühlt nicht mehr, lebt nicht mehr; er ist bereits tot.

Wie groß indes auch immer die Zahl der Bösen auf Erden sein mag, so gibt es trotzdem nur wenige solcher völlig gefühllosen Herzen, welche, mit Ausnahme ihres eigenen Interesses, für alles, was gerecht und gut ist, unempfindlich geworden sind. Die Ungerechtigkeit ist uns nur in dem Fall angenehm, daß wir Vorteil aus ihr ziehen; in jedem anderen hegt man den Wunsch, daß der Unschuldige in Schutz genommen werde. Gewahren wir in einer Straße oder sonst auf einem Wege einen Akt der Gewalt oder Ungerechtigkeit, so steigt augenblicklich eine Regung des Zornes und des Unwillens in uns empor und treibt uns an, die Partei des Unterdrückten zu ergreifen; allein eine mächtigere Pflicht hält uns zurück, denn die Gesetze entziehen uns das Recht, die Unschuld zu beschützen. Sind wir dagegen Zeugen eines Aktes der Güte oder des Edelmutes, welche Bewunderung, welche Liebe flößt er uns ein![173]

Wer würde nicht zu sich selbst sagen: So möchte ich auch gehandelt haben! Es kann uns sicherlich höchst wenig kümmern, ob ein Mensch vor zweitausend Jahren schlecht oder gerecht gewesen ist, und nichtdestoweniger fesselt uns die alte Geschichte in dem nämlichen Grad, als ob sich alle Ereignisse derselben in unseren Tagen zugetragen hätten. Was habe ich mit dem Verbrechen des Catilina zu schaffen? Kann ich etwa Besorgnis hegen, sein Opfer zu werden? Warum habe ich also vor ihm denselben Abscheu, der mich vor ihm erfüllen würde, wenn er mein Zeitgenosse wäre? Wir hassen die Bösen nicht allein um deswillen, daß sie uns Schaden zufügen, sondern weil sie böse sind. Wir wünschen nicht allein selbst glücklich zu sein, sondern wünschen auch das Glück anderer, und sobald dieses Glück das unsrige nicht beeinträchtigt, so trägt er zur Erhöhung unseres eigenen bei. Kurz man hat, mag man wollen oder nicht, Mittleid mit den Unglücklichen; man leidet mit, wenn man Zeuge ihrer Leiden ist. Selbst die Gesundesten können sich von diesem Triebe nicht völlig freimachen; oft setzt er sie mit sich selbst in Widerspruch. Der Räuber, welcher die Vorüberziehenden ausplündert, deckt trotzdem die Blöße der Armen, und der wildeste Mörder versagt einem Ohnmächtigen seine Hilfe nicht.

Man spricht von der Stimme des Gewissens, welche im geheimen verborgene Verbrechen straft und oftmals Verräterin an ihnen wird. Ach, wer unter uns hätte diese nicht zu beschwichtigende Stimme noch nie vernommen? Man spricht aus Erfahrung und möchte gern dieses tyranische Gefühl, das uns so große Pein verursacht, zum Schweigen bringen. Gehorchen wir der Natur; dann werden wir wahrnehmen, eine milde Herrschaft sie ausübt, und welch ein Zauber darin liegt, sich ein günstiges Zeugnis ausstellen zu können, nachdem man nur auf ihre Ratschläge gehört hat. Der Böse hat vor sich selbst Furcht und sucht sich selbst zu entfliehen; er wird erst heiter, wenn er aus[174] sich selbst heraustritt. Unruhig irren seine Blicke umher und suchen nach einem Gegenstande, der ihn belustigen könne. Ohne bittere Satire, ohne verletzenden Spott würde er sich einer steten Trauer hingeben; im Hohngelächter besteht sein einziges Vergnügen. Die Heiterkeit des Gerechten ist dagegen eine innere; sein Lachen verrät nicht Bosheit, sondern eine Freude, deren Quelle in ihm selbst liegt. Ob er für sich allein ist oder sich mitten in einer Gesellschaft befindet, stets wird ihn ein gleichmäßiger Frohsinn erfüllen. Er schöpft seine Freude nicht etwa aus denen, mit welchen er in Berührung kommt, sondern teilt ihnen vielmehr die seinige mit.

Lassen Sie alle Völker der Erde vor ihren Blicken vorüberziehen, erforschen Sie alle Gebiete der Geschichte: unter so vielen unmenschlichen und wunderlichen Arten der Gottesverehrung, unter dieser außerordentlichen Verschiedenheit der Sitten und Charaktere werden Sie trotzdem überall die nämliche Ideen von Gerechtigkeit und Redlichkeit, überall die nämlichen Grundsätze der Moral, überall die nämlichen Begriffe von Gut und Böse vorfinden. Das alte Heidentum brachte wahrhaft abscheuliche Gottheiten hervor, die man hienieden als Schurken zur Strafe gezogen hätte, und die uns die Verübung von Freveltaten und die rückhaltlose Befriedigung der Leidenschaften als ein Bild des höchsten Glückes vorhielten. Gleichwohl stieg das durch himmlische Autorität geheiligte Laster vergebens aus seiner ewigen Wohnung herab; der moralische Instinkt ließ ihm keine Stätte in dem Menschenherzen. Während man Jupiters Ausschweifungen pries, bewunderte man die Enthaltsamkeit des Xenokrates; die keusche Lukretia verehrte die unzüchtige Venus; der heldenmütige Römer brachte der Gottheit der Furcht Opfer dar; er rief den Gott an, der seinen Vater verstümmelte, und starb ohne Murren von der Hand seines eigenen. Den verächtlichsten Gottheiten huldigten gerade die größten Männer. Die heilige Stimme der Natur,[175] stärker als die der Götter, wußten sich auf Erden zu Ehren zu bringen und schien die Schuld mit den Schuldigen in den Himmel zu verweisen.

Es liegt folglich in der Tiefe der Seele ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, wie auch unsere eigenen Grundsätze sein mögen, nicht nur unsre Handlungen, sondern auch die Handlungen anderer als gut oder böse anerkennen, und dieses Prinzip nenne ich Gewissen.

Bei diesem Worte höre ich aber schon von allen Seiten das Geschrei der sogenannten Weisen. Irrtümer der Kindheit, Vorurteile der Erziehung, tönt es in seltener Einstimmigkeit um mich her. Im Menschengeist ist nur das vorhanden, was er der Erfahrung entnommen hat, und unserem Urteil über die Dinge liegen nur die Ideen, welche wir uns angeeignet haben, zugrunde. Ja, sie bleiben hierbei noch nicht einmal stehen, sie wagen es sogar, die klare und allgemeine Uebereinstimmung aller Völker zu verwerfen, und suchen gegen die eklatanter Gleichheit des Urteils der Menschen im Dunkeln nach irgendeinem obskuren, ihnen allein bekannten Beispiele, als ob alle von der Natur eingepflanzten Triebe durch die Entartung eines Volkes vernichtet würden, und mit dem Vorkommen einzelner Mißgeburten das ganze Geschlecht ausgerottet wäre. Was nützen indes dem skeptischen Montaigne seine sorgenvollen Bemühungen, in irgendeinem Winkel der Welt einen den Begriffen der Gerechtigkeit zuwiderlaufenden Gebrauch zu entdecken? Was nützt es ihm, den verdächtigsten Reisenden eine Autorität beizulegen, die er den berühmtesten Schriftstellern versagt? Sollten wirklich einige nicht einmal völlig feststehende und seltsame Gebräuche, die aus örtlichen, uns unbekannten Gründen hervorgegangen sind, die allgemeine aus der Uebereinstimmung aller Völker abgeleitete Folgerung umstoßen können? Mögen auch die Völker in allem übrigen verschieden sein, so herrscht doch in diesem Punkt eine vollkommene[176] Einstimmigkeit. O Montaigne, der du dich immer mit solchem Stolze deines Freimuts und deiner Wahrheitsliebe rühmst, sei aufrichtig und wahr, wenn es einem Philosophen überhaupt möglich ist, und sage mir, ob es irgendein Land auf Erden gibt, wo es einem zum Verbrechen angerechnet wird, sein Wort zu halten, gütig, wohltätig und edelmütig zu sein, wo der Ehrliche verachtet und der Treulose geehrt wird?

Jeder, behauptet man, trägt aus eigenem Interesse zum allgemeinen Besten bei. Woher kommt es denn aber, daß der Gerechte zu seinem eigenen Schaden dazu beiträgt? Was soll das heißen: aus eigenem Interesse in den Tod gehen? Allerdings bezweckt jeder bei seinen Handlungen nur sein eigenes Bestes. Wenn es indes nicht auch ein moralisches Bestes gibt, welches hierbei ebenfalls berücksichtigt werden muß, so wird man aus dem eigenen Interesse immer nur die Handlungen der Bösen erklären können; es ist sogar glaubhaft, daß man gar nicht erst den Versuch machen wird, darüber hinauszugehen. Traurig wäre es aber um eine Philosophie bestellt, welche durch tugendhafte Handlungen in Verlegenheit geriete, die sich nur dadurch aus derselben zu ziehen vermöchte, daß sie ihnen niedrige Gesinnungen und unlautere Beweggründe andichtet, und nach deren Grundsätzen man sich genötigt sähe, Sokrates herabzuwürdigen und Regulus zu verleumden. Wenn unter uns je ähnliche Lehren Eingang fänden, so würde sich die Stimme der Vernunft augenblicklich gegen sie erheben und niemals gestatten, daß sich auch nur ein einziger Anhänger damit entschuldigen dürfte, er hätte es aufrichtig gemeint.

Es liegt nicht in meiner Absicht, hier auf metaphysische Untersuchungen einzugehen, die meine Fassungskraft nicht weniger als die Ihrige übersteigen und im Grunde genommen zu nichts führen. Ich habe Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, daß ich mit Ihnen nicht philosophieren,[177] sondern Ihnen nur Anleitung geben will, Ihr eigenes Herz zu beraten. Wenn alle Philosophen der Welt Ihnen den Beweis lieferten, daß ich unrecht hätte, Ihr Gefühl Ihnen aber sagte, ich hätte recht, so würde ich nicht mehr begehren.

Zu diesem Zweck ist nichts weiter nötig, als daß Sie lernen, unsere erworbene Ideen von unseren natürlichen Empfindungen zu unterscheiden, denn unserer Erkenntnis geht notwendigerweise unsere Empfindung vorher, und wie wir nicht erst zu lernen brauchen, unser eigenes Bestes zu wollen und das, was uns Schaden zufügt, zu fliehen, sondern diesen Trieb der Natur verdanken, so ist uns auch die Liebe zum Guten und der Haß gegen das Böse ebenso natürlich wie die Liebe zu uns selbst. Die Tätigkeit des Gewissens äußert sich nicht in Urteilen, sondern in Empfindungen. Obgleich uns alle unsere Vorstellungen von außen zugeführt werden, so liegen doch die Empfindungen, die ihnen erst ihren eigentlichen Wert beilegen, in uns selbst, und nur durch sie erkennen wir die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, die zwischen uns und den Dingen, welche wir suchen oder fliehen müssen, stattfindet.

Ein Dasein haben, heißt empfinden. Unsere Empfindung geht unstreitig unserer Intelligenz vorauf, und wir haben Empfindungen vor den Ideen gehabt.127 Welches auch immer die Ursache unseres Daseins sein möge, so hat sie dadurch für unsere Erhaltung Sorge getragen, daß sie uns Empfindungen gab, die mit unserer Natur im Einklang stehen,[178] und man wird nicht leugnen können, daß wenigstens diese angeboren sind. Diese Empfindungen sind, soweit sie das Individuum selbst anlangen, die Liebe zu sich selbst, die Furcht vor dem Schmerze, das Grausen vor dem Tode, das Verlangen nach Wohlbefinden. Wenn aber, was unzweifelhaft feststeht, der Mensch seiner Natur nach gesellig ist, oder es wenigstens seiner Bestimmung nach werden soll, so können ihm auch andere angeborene Empfindungen nicht fehlen, die sich auf sein Geschlecht beziehen; denn schenkt man nur dem physischen Bedürfnis Beobachtung, so muß man zugeben, daß dieses sicherlich eher geeignet ist, die Menschen voneinander zu führen, als eine Annäherung unter ihnen zuwege zu bringen. Folglich hat der Impuls des Gewissens seine Quelle in dem moralischen System, welches durch die doppelte Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu seinen Nebenmenschen gebildet wird. Das Gute erkennen, heißt noch nicht es lieben; der Mensch hat davon keine angeborene Kenntnis; sobald er es indes mit Hilfe seiner Vernunft erkennt, so treibt ihn sein Gewissen an, es zu lieben, und dies Gefühl gehört zu den uns angeborenen.

Ich bin deshalb der Ansicht, junger Freund, daß es nicht unmöglich ist, das unmittelbare Prinzip des Gewissens, selbst unabhängig von der Vernunft, nur aus unserer Natur zu erklären. Würde dies sich als unmöglich herausstellen, so würde es auch gar nicht einmal notwendig sein; denn da diejenigen, welche dies von dem ganzen Menschengeschlechte angenommene und anerkannte Prinzip in Abrede stellen, sich auf keinen Beweis einlassen, daß es nicht existiert, sondern sich mit der vagen Behauptung begnügen, so können wir mit ganz demselben Rechte behaupten, daß es existiert, und uns noch außerdem auf das innere Zeugnis und die Stimme des Gewissens berufen, welches für sich selbst zeugt. Wenn der erste Schimmer des Urteils uns blendet, so daß sich die Gegenstände unseren Blicken anfangs nur in verschwommenen Umrissen zeigen, so wollen wir warten, bis[179] sich unsere schwachen Augen wieder öffnen und erst kräftiger werden, und bald werden wir die nämlichen Gegenstände im Lichte der Vernunft wieder so erblicken, wie sie uns die Natur von Anfang an zeigte. Oder wir wollen vielmehr einfacher und weniger eitel sein, wollen uns auf die ursprünglichen Empfindungen, die wir in uns finden, beschränken, weil sie es sind, auf welche uns unsere Ueberlegung stets wieder zurückführt, wenn sie uns nicht etwa auf Irrtümer geleitet hat.

Gewissen, Gewissen! O du göttlicher Instinkt, ewige und himmlische Stimme, du zuverlässiger Führer eines zwar unwissenden und beschränkten, aber intelligenten und freien Wesens, du unfehlbarer Richter über Gut und Böse, der du dem Menschen Gottähnlichkeit verleihst, dir hat er die Vollkommenheit seiner Natur und die Sittlichkeit seiner Handlungen zu verdanken. Ohne dich empfinde ich nichts in mir, was mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, infolge eines regellosen Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrtum zu Irrtum zu taumeln.

Gott sei Dank, haben wir mit all diesem schreckenerregenden Apparate der Philosophie nichts zu schaffen; wir können Menschen sein, ohne Gelehrte zu sein. Da es uns erspart ist, unser Leben mit dem Studium der Moral hinzubringen, können wir mit ungleich geringerem Aufwand einen weit sichereren Führer durch dieses unermeßliche Gewirr der menschlichen Meinungen erhalten. Indessen genügt es nicht, daß dieser Führer vorhanden ist, man muß ihn auch als solchen anerkennen und ihm zu folgen verstehen. Wie kommt es, wenn er zu allen Herzen redet, daß es doch so wenige gibt, die auf ihn hören? Nur deshalb, weil er die Sprache der Natur zu uns redet, welche wir nicht mehr verstehen, da alles dazu beigetragen hat, sie uns vergessen zu lassen. Das Gewissen ist schüchtern; es liebt die Zurückgezogenheit und den Frieden; die Welt und ihr Geräusch schüchtern es ein. Die Vorurteile, in deren Begleitung es[180] erwacht, sind seine grausamsten Feinde. Es flieht oder verstummt vor ihnen. Ihre lärmende Stimme übertönt die seinige und hindert sie, sich vernehmbar zu machen. Der Fanatismus unterfängt sich, dem Gewissen nachzuäffen und im Namen desselben zum Verbrechen aufzufordern. Werden seine Mahnungen zu häufig unbeachtet gelassen, so verliert es endlich den Mut; es spricht nicht mehr zu uns und antwortet uns nicht mehr, und nachdem es sich so lange eine verächtliche Behandlung hat gefallen lassen müssen, gehört nicht weniger Mühe dazu, es wieder zum Reden zu bringen, als es gekostet hat, ihm Schweigen aufzuerlegen.

Wie oft wurde ich nicht bei meinen Untersuchungen von der Kälte, die ich in mir fühlte, auf das unangenehmste berührt! Wie oft spritzten nicht Traurigkeit und Ueberdruß ihr Gift in meine wichtigsten Betrachtungen und machten sie mir dadurch unerträglich! Mein vertrocknetes Herz schenkte der Liebe zur Wahrheit nur einen matten und lauen Eifer. Ich sprach zu mir: Weshalb soll ich mich abquälen, nach etwas zu forschen, was gar nicht vorhanden ist? Das moralische Gute beruht nur in der Einbildung, es gibt nichts Gutes als den Sinnesgenuß. O, wie schwer ist es doch, wieder Geschmack an den Freuden der Seele zu gewinnen, wenn man ihn erst einmal verloren hat! Mit wieviel größerer Schwierigkeit ist es aber noch verbunden, ihn sich anzueignen, wenn man ihn noch nie gehabt hat! Gäbe es einen Menschen, der bis zu der Stufe der Verkommenheit hinabgesunken wäre, daß er in seinem ganzen Leben nichts getan hätte, dessen Erinnerung ihn mit sich selbst zufrieden machen könnte und ihm einen frohen Rückblick auf sein vergangenes Leben gestattete, so würde einem solchen Menschen die Fähigkeit mangeln, sich je selbst zu erkennen, und da er nicht fühlte, wie sehr die Güte zu seiner Natur gehört, so würde er notwendigerweise böse bleiben und ewig unglücklich sein. Aber wähnen Sie etwa, daß es auf dem ganzen Erdenrund auch nur einen einzigen[181] Menschen gibt, der so verdorben wäre, daß sich sein Herz nie versucht gefühlt hätte, Gutes zu tun? Eine solche Versuchung ist so natürlich und so süß, daß es unmöglich ist, ihr auf immer zu widerstehen, und die Erinnerung an die Freude, die sie uns einmal bereitet hat, reicht hin, um sie unablässig von neuem wachzurufen. Unglücklicherweise läßt sie sich anfangs nur mit Beschwerden befriedigen; man hat tausenderlei Vorwände, der Neigung seines Herzens kein Gehör zu schenken. Die falsche Klugheit hält es in den engen Schranken des menschlichen Ichs zusammen, und es sind tausend mutige Anstrengungen nötig, bis es sie zu durchbrechen wagt. Freude am Gutestun ist der Lohn für die vollbrachte Tat, und dieser Lohn wird nur dem zuteil, der ihn sich wirklich verdient hat. Nichts ist liebenswürdiger als die Tugend, aber ihre Ausübung muß uns Genuß gewähren, wenn sie so finden sollen. Wenn man sich ihr ganz zu eigen geben will, so nimmt sie, wie Proteus in der Sage, anfangs tausend abschreckende Gestalten an und zeigt sich endlich nur denen in ihrer wirklichen Gestalt, die sie sich auch nicht einen Augenblick haben entschlüpfen lassen.

Im unaufhörlichen Kampfe mit meinen natürlichen Empfindungen, welche für das allgemeine Beste sprachen, und mit meiner Vernunft, die alles auf mich bezog, wäre ich mein ganzes Leben hindurch beständigen Schwankungen unterworfen gewesen, hätte das Böse getan und das Gute geliebt, kurz, hätte in fortwährendem Widerspruch mit mir selbst gelebt, wenn nicht ein neues Licht mein Herz erleuchtet, wenn nicht die Wahrheit, die meinen Ansichten eine feste Richtung gab, meinem Wandel eine sichere Bahn vorzeichnet und mich wieder mit mir selbst in Einklang gebracht hätte. Vergeblich ist es, die Tugend auf die Vernunft allein gründen zu wollen; welche sichere Grundlage könnte man ihr damit wohl geben? Die Tugend, sagt man, ist die Liebe zur Ordnung. Aber kann und darf[182] denn diese Liebe in mir den Sieg über die Liebe zu meinem Wohlsein davontragen? Gebe man mir doch einen klaren und ausreichenden Grund an, weshalb ich jener den Vorzug einräumen soll. Im Grunde genommen beruht ihr angebliches Prinzip nur auf einem bloßen Spiele mit Worten, denn ich kann mit demselben Rechte behaupten, das Laster sei die Liebe zur Ordnung, allerdings in einem ganz anderen Sinne. Ueberall, wo sich Empfindung und Verstand findet, gibt es eine gewisse moralische Ordnung. Dabei darf nun freilich der Unterschied nicht übersehen werden, daß der Gute sich dem Ganzen, der Böse dagegen das Ganze sich unterordnet. Letzterer macht sich zum Mittelpunkt aller Dinge, ersterer mißt seinen Radius und hält sich in der Peripherie. Damit ist er zu Gott, dem gemeinsamen Mittelpunkte, und zu allen konzentrischen Kreisen, welche von den Geschöpfen gebildet werden, in das richtige Verhältnis getreten. Gibt es keine Gottheit, so kann man nur dem Bösen Vernunft zugestehen; der Gute handelt dann aber wie ein Unvernünftiger.

O mein Sohn, könnten Sie dereinst empfinden, welche Last einem abgenommen ist, wenn man endlich, nachdem man die Richtigkeit der menschlichen Meinungen und die Bitterkeit der Leidenschaften gekostet hat, in seiner nächsten Nähe den Weg zur Weisheit, den Lohn für die Mühen dieses Lebens und die Quelle des Glückes findet, woran man schon verzweifelt hatte! Alle Pflichten des Naturgesetzes, welche die Ungerechtigkeit der Menschen fast schon aus meinem Herzen verwischt hatte, prägen sich demselben wieder ein im Namen der ewigen Gerechtigkeit, die sie mir auferlegt und zuschaut, wie ich sie erfülle. Jetzt erblicke ich in mir nur noch das Werk und das Werkzeug des erhabenen Wesens, welches das Gute will und tut und auch mein wahres Glück herbeiführen wird, wenn mein Wille mit dem seinigen in Einklang steht und ich von meiner Freiheit einen weisen Gebrauch mache. Ich füge mich in[183] die Ordnung, die es hergestellt hat, überzeugt, daß ich dereinst selbst einen vollen Anteil an dieser Ordnung haben und darin meine Glückseligkeit finden werde, denn was kann uns wohl mit einer höheren Glückseligkeit erfüllen, als das Gefühl, einem System anzugehören, in welchem alles gut ist? Foltern mich Schmerzen, so trage ich sie in Geduld und tröste mich mit dem Gedanken, daß sie vorübergehend sind und von einem Körper ausgehen, der doch nicht für immer mein eigen ist. Verrichte ich ohne Zeugen eine gute Handlung, so weiß ich, daß sie doch gesehen wird, und glaube, daß mein Wandel in diesem Leben von Einfluß auf das künftige Leben sein wird. Muß ich Unrecht leiden, so sage ich mir: Das gerechte Wesen, welches alles lenkt und regiert, wird mich wohl zu entschädigen wissen. Die Bedürfnisse meines Körpers, die Leiden meines Lebens machen mir den Gedanken an den Tod erträglicher. Wenn ich einmal von allem scheiden muß, werde ich desto weniger Bande zu zerreißen brauchen.

Warum ist meine Seele meinen Sinnen unterworfen und an diesen Körper gekettet, der sie unterjocht und behindert? Ich weiß es nicht. Bin ich in die Ratschlüsse Gottes eingedrungen? Aber, ohne daß man mich der Vermessenheit zeihen könnte, darf ich wenigstens einfache Vermutungen aufstellen. Ich sage mir: Was für ein Verdienst würde wohl für den menschlichen Geist, wenn er frei und rein geblieben wäre, darin liegen, die Ordnung, die er festgestellt sähe und die zu stören es ihm an allem Interesse fehlte, zu lieben und zu befolgen? Wohl ist es wahr, daß er glücklich sein würde, aber es würde seinem Glücke doch der höchste Grad mangeln, nämlich der Ruhm der Tugend und das gute Zeugnis seiner selbst. Er würde nur wie die Engel sein, während ein tugendhafter Mensch unzweifelhaft einst mehr sein wird als sie. Vereint mit einem sterblichen Körper durch ebenso mächtige wie unbegreifliche Bande, wird die Seele durch die Sorge für die Erhaltung dieses[184] Körpers angetrieben, alles auf ihn zu beziehen, und wendet ihm deshalb ein Interesse zu, welches der allgemeinen Ordnung, die sie nichtdestoweniger zu erkennen und zu lieben fähig ist, zuwiderläuft. Unter diesen Verhältnissen wird dann der rechte Gebrauch ihrer Freiheit zugleich Verdienst und Belohnung, und sie bereitet sich durch Bekämpfung ihrer irdischen Leidenschaften und Aufrechterhaltung ihres ursprünglichen Willens ein unwandelbares Glück.

Wenn nun sogar in dem Zustande der Erniedrigung, in dem wir uns dies Leben hindurch befinden, alle unsere ursprünglichen Triebe gesetzmäßig sind, wenn alle unsere Laster ihre Quellen nur in uns selber finden, weshalb beklagen wir uns dann, daß wir von ihnen beherrscht werden? Weshalb machen wir mit unseren Vorwürfen den Urheber der Dinge für die Uebel, die wir uns selbst zufügen, und für die Feinde verantwortlich, die wir gegen uns selbst waffnen? Ach, laßt uns nur den Menschen nicht verderben, dann wird er beständig gut sein ohne Leiden und beständig glücklich ohne Gewissensbisse. Die Schuldigen, welche vorgeben, zum Verbrechen gezwungen zu sein, sind ebenso lügnerisch als schlecht. Wie können sie sich gegen die Einsicht verschließen, daß die Schwäche, über welche sie sich beklagen, ihr eigenes Werk ist? daß ihre erste Verderbnis ihrem eigenen Willen entspringt, daß sie nur um deswillen, weil sie anfangs ihren Versuchungen nachgeben wollten, ihnen endlich auch wider ihren Willen nachgeben müssen und dieselben unwiderstehlich machen? Unzweifelhaft hängt es jetzt nicht mehr von ihnen ab, nicht böse und schwach zu sein, aber es hing von ihnen ab, es nicht zu werden. O, mit welcher Leichtig keit würden wir sogar während dieses Lebens Meister über uns und unsere Leidenschaften bleiben, wenn wir zu der Zeit, in welcher sich noch keine bestimmten Gewohnheiten in uns festgesetzt haben, in welcher unser Geist sich erst zu entfalten beginnt, diesen mit Gegenständen zu beschäftigen verständen, welche er kennen muß, um diejenigen, die ihm[185] noch unbekannt sind, würdigen zu können; wenn wir den aufrichtigen Wunsch hegten, uns aufzuklären, nicht um in den Augen anderer zu glänzen, sondern um unserer Natur gemäß gut und verständig zu sein, um unser Glück in der Erfüllung unserer Pflichten zu finden! Dieses Studium erscheint uns freilich langweilig und mühselig, weil wir erst dann daran denken, wenn wir durch das Laster schon verderbt sind, wenn wir uns unseren Leidenschaften schon überlassen haben. Bevor wir noch das Gute und Böse kennen, bilden wir uns schon ein festes Urteil und legen den Dingen einen bestimmten Wert bei, und da wir dann an alles diesen falschen Maßstab legen, so fassen wir nichts nach seinem wirklichen Werte auf.

Es gibt ein Alter, wo das noch freie, aber warmblütige, unruhige und nach einem unbekannten Glücke heftig verlangende Herz demselben mit einer gewissen neugierigen Unruhe nachjagt und sich endlich, durch die Sinne getäuscht, an dem trügerischen Bilde desselben anklammert und es da zu finden glaubt, wo es nicht vorhanden ist. Diese Täuschungen haben für mich nur allzulange angehalten. Ach, nur zu spät habe ich sie als solche erkannt und sie nie völlig in mir auszurotten vermocht! Sie werden so lange dauern wie dieser sterbliche Leib, in welchem sie ihre Quelle finden. Mögen sie mir immerhin in ihrer verführerischen Gestalt entgegentreten, täuschen werden sie mich gewiß nicht mehr. Ich erkenne sie jetzt als das, was sie sind. Obwohl ich ihnen folge, verachte ich sie doch. Weit davon entfernt, in ihnen eine Quelle meines Glückes zu erblicken, sehe ich in ihnen vielmehr ein Hinderniss desselben. Ich sehe mich nach dem Augenblicke, wo ich, erlöst von den Fesseln des Leides, ohne Widerspruch und ungeteilt, ganz in sein und nur meiner selbst bedürfen werde, um glücklich zu sein. Mittlerweile bin ich es schon in diesem Leben, weil mir alle Uebel desselben gering erscheinen, weil ich es fast als etwas meinem Wesen Fremdartiges betrachte und weil alles[186] wahrhaft Gute, was ich aus demselben zu gewinnen vermag, völlig in meiner Gewalt steht.

Um mich schon im voraus, soweit es möglich ist, zu diesem Zustande des Glückes, der Kraft und der Freiheit zu erheben, stelle ich fortwährend erhabene Betrachtungen an. Ich denke über die Weltordnung nach, nicht um sie mir durch eitle Systeme zu erklären, sondern um sie unausgesetzt zu bewundern und den weisen Schöpfer anzubeten, der sich in ihr offenbart. Ich rede mit ihm und lasse all meine Fähigkeiten von seinem göttlichen Wesen durchdringen; seine Wohltaten rühren mich, für seine Gaben preise ich ihn, aber ich richte an ihn keine Bitte. Was in aller Welt sollte ich auch von ihm erbitten? Etwa, daß er um meinetwillen den Lauf der Dinge ändere und mir zugunsten Wunder tue? Könnte ich, der ich die von seiner Weisheit aufgerichtete und durch seine Vorsehung aufrechterhaltene Ordnung über alles lieben muß, wohl den Wunsch hegen, daß diese Ordnung um meinetwillen gestört würde? Nein, dieser vermessene Wunsch verdiente weit eher Strafe als Erhörung. Ebensowenig flehe ich an, mir die Kraft zu verleihen, Gutes zu tun. Weshalb ihn noch um etwas bitten, was er mir schon gegeben hat? Empfing ich nicht von ihm das Gewissen, das Gute zu lieben, die Vernunft, es zu erkennen, die Freiheit, es zu erwählen? Tue ich das Böse, so kann mir nichts zur Entschuldigung dienen; ich tue es, weil ich es will. Bitten, er möge meinen Willen ändern, hieße von ihm das begehren, was er von mir selbst verlangt, hieße das Ansinnen an ihn stellen, er solle mein Werk verrichten und mir dann den Lohn dafür erteilen. Mit meinem Zustande nicht zufrieden sein, heißt nicht mehr: Mensch sein wollen, heißt etwas anderes wollen, als was ist, heißt die Unordnung und das Uebel wollen. O, du Quelle der Gerechtigkeit und Wahrheit, gnädiger und gütiger Gott, in meinem Vertrauen zu dir ist der höchste Wunsch meines Herzens, daß dein Wille geschehe. Erst wenn ich meinen[187] Willen mit dem deinigen vereinige, tue ich, was du tust; ich füge mich deinem gütigen Willen; schon im voraus meine ich teil an der höchsten Glückseligkeit zu haben, welche der Lohn dafür ist.

Bei dem gerechten Mißtrauen, das ich gegen mich selbst hege, ist das einzige, was ich von Gott erbitte, oder was ich vielmehr von seiner Gerechtigkeit erwarte, daß er, wenn ich in einen mir gefährlichen Irrtum versinke, mich wieder auf den rechten Weg bringen wolle. Um aufrichtig zu sein, bekenne ich, daß ich mich nicht für unfehlbar halte. Vielleicht enthalten meine Ansichten, welche mir für ausgemachte Wahrheiten gelten, ebensoviele Unrichtigkeiten; denn welcher Mensch gibt die seinigen wohl gern auf? Und wie viele Menschen stimmen in allen Punkten überein? Mag die Täuschung, in der ich befangen bin, immerhin in mir selbst ihre Quelle finden, so vermag Gott doch allein mir die Augen über sie zu öffnen. Ich habe, um zur Wahrheit zu gelangen, alles getan, was in meinen Kräften stand, aber ihre Quelle liegt in zu steiler Höhe. Wenn mir die Kräfte fehlen, noch weiter zu ihr vorzudringen, worin kann man mich dann einer Schuld zeihen? Ihre Aufgabe ist es, sich mir zu nahen.«

Der wackere Geistliche hatte mit Leidenschaft gesprochen; er war bewegt, und ich war es gleichfalls. Mir war es, als hörte ich den göttlichen Orpheus seine ersten Hymnen singen und die Menschen in der Verehrung der Götter unterrichten. Trotzdem erkannte ich sehr wohl, wie viele Einwände sich gegen ihn erheben ließen. Ich machte jedoch keinen einzigen, weil sie weniger geeignet waren zu überzeugen, als in Verlegenheit zu setzen, und meine innerste Ueberzeugung auf seiner Seite Stand. Je mehr ich empfand, daß er sich bei seiner Mitteilung nur von seinem Gewissen hatte leiten lassen, desto mehr schien mir auch mein Gewissen alle seine Worte zu bestätigen.[188]

»Die Ansichten, die Sie mir soeben entwickelt haben,« begann ich endlich, »erscheinen mir neuer in bezug auf das, was Sie nicht zu wissen gestehen, als hinsichtlich dessen, was Sie zu glauben behaupten. Ich erkenne darin so ziemlich die Grundsätze des Theismus oder der natürlichen Religion, welche die Christen merkwürdigerweise gern mit dem Atheismus oder der Irreligion verwechseln, obwohl diese den schroffsten Gegensatz zu dem Atheismus bildet. Bei meinem augenblicklichen Glaubenszustande muß ich indes, um Ihre Ansichten annehmen zu können, mehr hinauf als herab steigen, und ich halte es für schwierig, gerade auf dem Punkte stehenzubleiben, welchen Sie erreicht haben, sofern man nicht ebenso weise ist als Sie.

Allein um wenigstens ebenso aufrichtig zu sein, will ich mit mir zu Rate gehen. Auch mich soll nach Ihrem Beispiel das innere Gefühl dabei leiten, und Sie haben mich ja selbst gelehrt, daß es, nachdem man ihm einmal ein so langes Stillschweigen auferlegt hat, nicht das Werk eines Augenblicks sein kann, es wieder nachzurufen. Ich werde den Inhalt Ihrer Mitteilungen in meinem Herzen bewahren; ich muß über demselben nachdenken. Wenn ich nach reiflicher Ueberlegung von der Wahrheit Ihrer Ansichten ebenso überzeugt bin wie Sie, dann sollen Sie mein letzter Apostel sein, und ich werde Ihr Proselyt bis zum Tode bleiben. Fahren Sie inzwischen fort, mich zu unterrichten. Von dem, was mir zu wissen nötig ist, haben Sie mir erst die Hälfte gesagt. Reden Sie mit mir noch über die Offenbarung, über die Heilige Schrift, über jene dunklen Glaubenssätze, über welche ich mich seit meiner Kindheit im unklaren befinde, ohne sie begreifen oder glauben zu können, und ohne zu wissen, wie weit ich sie annehmen oder verwerfen soll.«

»Ja, mein Sohn,« erwiderte er, indem er mich umarmte, »ich werde Ihnen keinen meiner Gedanken verheimlichen. Ich will Ihnen mein Herz nicht nur halb öffnen; allein[189] der Wunsch, den Sie mir eben zu erkennen gaben, war notwendig, um mir das Recht einzuräumen, jede Zurückhaltung Ihnen gegenüber schwinden zu lassen. Ich habe Ihnen bisher nichts mittgeteilt, wovon ich nicht glaubte, daß es Ihnen zum Nutzen gereichen könnte, und wovon ich nicht im Innersten überzeugt wäre. Mit der Untersuchung, die mir nun noch anzustellen übrigbleibt, verhält es sich freilich ganz anderes. Ich sehe bei derselben nur Hindernisse, Geheimnis und Dunkelheit; nur mit Unsicherheit und Mißtrauen gehe ich an die mir gestellte Aufgabe. Mit Zittern entschließe ich mich nur dazu und werde Ihnen eher meine Zweifel als meine eigene Meinung aussprechen. Hätten Sie schon festere Ansichten, so würde ich Anstand nehmen, Sie mit den meinigen bekannt zu machen; allein in dem Zustand, in welchem Sie sich gegenwärtig befinden, wird es für Sie vorteilhaft sein, wenn Sie meine Denkweise annehmen.128 Räumen Sie übrigens meinen Erörterungen nur so viel Autorität ein, als Ihre Vernunft ihnen zugesteht. Ich weiß ja nicht, ob ich mich irre. Bei Auseinandersetzungen ist es schwer, einen absprechenden Ton immer zu vermeiden. Seien Sie jedoch eingedenk, daß hier alle meine Behauptungen nur Gründe zum Zweifeln sind. Suchen Sie die Wahrheit selbst, ich für mein Teil verspreche Ihnen nur volle Aufrichtigkeit.

Sie finden in meiner Darstellung nur die natürliche Religion. Es erscheint äußerst befremdend, daß wir noch einer anderen bedürfen sollen. Woraus soll ich diese Notwendigkeit erkennen? Inwiefern kann ich mich schuldig machen, wenn ich Gott nach den Einsichten, mit welchen er meinen Geist ausstattet, und nach den Gefühlen, mit welchen er mein Herz beseelt, diene? Welche Reinheit der Moral, welches dem Menschen nützliche und für seinen Schöpfer ehrenvolle Dogma kann ich aus einer positiven[190] Lehre schöpfen, welches ich nicht auch ohne dieselbe durch die richtige Anwendung meiner Anlagen mir selbst zu entwickeln imstande wäre? Weisen Sie mir nach, was sich zur Ehre Gottes, zum Heil der Gesellschaft und zu meinem eigenen Besten noch zu den Pflichten des Naturgesetzes hinzufügen ließe, und welche Tugend wohl Ihrer Ansicht nach ein neuer Kultus hervorbringen könnte, die man nicht auch mit logischer Notwendigkeit aus dem meinigen zu folgern imstande wäre? Die erhabensten Ideen von der Gottheit verdanken wir allein der Vernunft. Betrachten Sie das Schauspiel der Natur, hören Sie auf die innere Stimme. Hat Gott nicht unseren Augen, unserem Gewissen, unserer Urteilskraft alles offenbart? Was vermögen uns die Menschen mehr zu sagen? Ihre Offenbarungen können nur darauf auslaufen, Gott herabzuwürdigen, indem sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen. Statt unsere Begriffe von dem höchsten Wesen aufzuklären, verwirren, wie ich bemerke, die einzelnen Dogmen dieselben nur; statt sie zu veredeln, machen sie sie verächtlich. Ich nehme wahr, daß sie zu den unbegreiflichen Geheimnissen, welche dasselbe umgeben, noch sinnlose Widersprüche hinzufügen und den Menschen stolz, unduldsam und grausam machen, daß sie endlich, statt Frieden auf Erden herzustellen, Feuer und Schwert bringen. Ich frage mich, wozu das alles nütze, ohne eine Antwort darauf zu finden. Ich nehme hienieden nichts als die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts wahr.

Man wendet mir ein, eine Offenbarung sei nötig gewesen, um die Menschen über die Art und Weise zu belehren, in welcher Gott verehrt sein wolle; als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeit der höchst seltsamen Gottesverehrungen an, welche von den Menschen eingeführt worden sind, und will nicht begreifen, daß gerade diese Mannigfaltigkeit schon eine Folge der Einbildung ist, es gebe Offenbarungen. Seitdem sich die Menschen herausgenommen[191] haben, Gott eine Sprache zu verleihen, hat ihn jeder auf seine Weise sprechen und sich von ihm sagen lassen, was er gewollt hat. Wenn man nur auf das gelauscht hätte, was Gott zum Herzen des Menschen redet, so würde es nur eine einzige Religion auf Erden gegeben haben.

Man bedurfte eines gleichmäßigen Gottesdienstes. Ich will es nicht bestreiten. Aber war denn dieser Umstand von solcher Wichtigkeit, daß man zu seiner Erreichung den ganzen Apparat der göttlichen Macht in Bewegung setzen mußte? Man wolle nur die äußere Form der Religion nicht mit der Religion verwechseln. Gott verlangt den Dienst des Herzens, und ist dieser nur aufrichtig, so ist er stets gleichförmig. Es verrät eine sehr törichte Eitelkeit, wenn man sich dem Wahne hingibt, Gott nehme an der Form der Kleidung des Priesters, an der Reihenfolge der von ihm vorgetragenen Worte, an den Gebärden, welche er am Altar macht, und an seinen Kniebeugungen ein so großes Interesse. O, mein Freund, halte dich fern von solchem Wahn! Wie hoch du dich in deiner Einbildung auch erheben mögest, du wirst doch der Erde immer nahe genug bleiben. Gott will im Geist und in der Wahrheit angebeten werden; das ist die Pflicht aller Religionen, aller Länder, aller Menschen. Soll aber etwa um der guten Ordnung willen das Aeußere des Kultus gleichförmig sein, so ist dies lediglich eine Sache der Polizei; dazu bedarf es keiner Offenbarung.

Dies waren freilich nicht die ersten Betrachtungen, die ich anstelle. Fortgerissen von den Vorurteilen der Erziehung und dieser gefährlichen Eigenliebe, die stets darauf ausgeht, den Menschen über seine Sphäre hinaus zu versetzen, bemühte ich mich, da sich meine schwachen Begriffe nicht bis zu dem höchsten Wesen zu erheben vermochten, es zu mir herabzuziehen. Ich suchte die unendliche entfernten Beziehungen, die es zwischen seiner und meiner Natur hergestellt hat, ein ander näherzubringen. Ich wünschte unmittelbarere[192] Mitteilungen, einen eingehenderen, mir allein erteilten Unterricht, und nicht zufrieden damit, Gott dem Menschen ähnlich zu machen, lüstete mich, um auch unter meinen Mitmenschen einen Vorzug zu haben, nach übernatürlichen Aufschlüssen. Ich begehrte einen besonderen Gottesdienst für mich, begehrte, daß Gott mir offenbare, was er anderen nicht offenbart habe, oder für was andere nicht dasselbe Verständnis zeigen würden wie ich.

Da ich den Punkt, bis zu welchem ich gelangt war, für den gemeinsamen Punkt hielt, von welchem alle Gläubigen ausgingen, um zu einem geläuterten Gottesdienste hindurchzudringen, so fand ich in den Dogmen der Naturreligion nur die Elemente aller Religion. Ich erwog die große Verschiedenheit unter den auf Erden herrschenden Sekten, die sich sämtlich gegenseitig der Lüge und des Irrtums zeihen; ich fragte: In welcher ist der wahre Glaube zu finden? Jeder antwortete mir: In der meinigen; jeder erklärte: Ich und meine Glaubensgenossen denken allein recht; alle anderen befinden sich im Irrtum. Und woher weißt du, daß deine Sekte die rechte ist? Weil Gott es gesagt hat.129 Und von wem weißt du, daß Gott es gesagt[193] hat? Von meinem Pfarrer, welcher es sicher weiß. Mein Pfarrer befiehlt mir, ich solle dies glauben, und folglich glaube ich es. Er gibt mir die Versicherung, daß alle, welche anders sprechen als er, lügen, und deshalb höre ich nicht auf sie.

Wie, dachte ich, ist nicht die Wahrheit eine einige? Und kann das, was bei mir wahr ist, sich bei euch als Unwahrheit herausstellen? Wenn der, welcher den rechten Weg einschlägt und der, welcher in der Irre umhergeht, dieselbe Methode verfolgen, wie kann ich dann dem einen ein größeres Verdienst oder ein größeres Unrecht beimessen als dem anderen? Ihre Wahl ist ein Spiel des Zufalls; sie ihnen anrechnen, würde ein Akt der Unbilligkeit sein; es hieße sie dafür belohnen oder bestrafen, daß sie in diesem oder jenem Lande geboren sind. Wer sich unterfängt, die Behauptung aufzustellen, daß Gott uns einst in dieser Weise richten werde, beleidigt seine Gerechtigkeit.

Entweder sind alle Religionen gut und wohlgefällig, oder, wenn er den Menschen eine besondere vorschreibt und die, welche sie nicht anerkennen, bestraft, so hat er dieselbe auch an sicheren und untrüglichen Merkmalen kenntlich gemacht, an welchen sie unterschieden und als die einzig wahre erkannt werden kann. Diese Kennzeichen finden sich zu allen Zeiten und allen Orten und sind allen Menschen, großen und kleinen, gelehrten und ungelehrten, Europäern, Indiern, Afrikanern und Wilden gleich verständlich. Gäbe es eine Religion auf Erden, die alle, welche nicht ihre Anhänger wären, der ewigen Verdammnis überantwortete, und lebte an irgendeinem Orte der Welt ein einziger Sterblicher,[194] der aufrichtig nach Wahrheit strebte und sich trotzdem von der Richtigkeit dieser Religion hätte überzeugen können, so wäre der Gott, den dieselbe lehrte, der ungerechteste und grausamste der Tyrannen.

Laßt uns deßhalb aufrichtig nach der Wahrheit streben; laßt uns nichts auf das Recht der Geburt, nichts auf die Autorität der Väter und der Geistlichen geben, sondern laßt uns alles, was sie uns von Jugend auf gelehrt haben, unserem Gewissen und unserer Vernunft zur Prüfung vorlegen. Vergeblich werden sie mir zurufen: Gib deine Vernunft gefangen! Ein gleiches kann auch der von mir verlangen, welcher mich täuscht. Ich bedarf der Vernunftgründe, um meine Vernunft gefangen zu geben.

Alle Gotteserkenntnis, die ich mir durch Betrachtung des Weltalls und durch eine richtige Anwendung meiner Seelenkräfte selbst zu erwerben vermag, beschränkt sich auf das, was ich Ihnen soeben auseinandergesetzt habe. Wer nach höherem Wissen verlangt, muß zu außerordentlichen Mitteln seine Zuflucht nehmen. Als ein solches Mittel kann aber menschliche Autorität nicht gelten, denn da kein Mensch einer anderen Gattung angehört als ich selbst, so vermag ich alles was ein Mensch auf natürlichem Wege zu erkennen imstande ist, gleichfalls zu erkennen, und ein an derer Mensch ist ebensogut Irrtümern unterworfen wie ich. Glaube ich was er sagt, so geschieht es nicht seiner Behauptung, sondern seines Beweises wegen. Folglich ist im Grunde genommen das Zeugniss der Menschen nur das meiner eigenen Vernunft und gibt mir nicht mehr Aufschlüsse als die natürlichen Mittel, welche mir Gott zur Erkenntnis der Wahrheit gegeben hat.

Was vermagst du, Apostel der Wahrheit, mir deshalb zu sagen, worüber ich nicht Richter bleibe? Gott selbst hat gesprochen, vernimm seine Offenbarung! Das ist etwas anderes. Gott hat also geredet! Das ist freilich ein großes Wort. Und zu wem hat er denn geredet? Zu den Menschen.[195]

Wie kommt es aber, daß ich davon nichts vernommen habe? Er hat anderen Menschen den Auftrag erteilt, dir sein Wort zu verkündigen. Ich verstehe: es sind Menschen, die mir mitteilen wollen, was Gott gesagt hat. Lieber hätte ich Gott doch selbst gehört; es wäre ihm dies nicht schwerer gewesen, und ich hätte keine Täuschung zu fürchten brauchen. Vor Täuschungen sichert er dich, indem er die Sendung seiner Worte beglaubigt. Und wodurch tut er dies? Durch Wunder. Und wo sind diese Wunder zu finden? In Büchern. Und wer hat diese Bücher geschrieben? Menschen. Wer aber hat diese Wunder gesehen? Menschen, die sie bezeugen. Wie, immer nur menschliche Zeugnisse! Immer nur Menschen, die mir berichten, was andere Menschen ihnen berichtet haben! Wie viele Menschen stehen zwischen Gott und mir! Laßt uns trotzdem sehen, prüfen, vergleichen, berichten. O, würde ich wohl Gott, wenn es ihm gefallen hätte, mich mit all dieser anstrengenden Arbeit zu verschonen, weniger aufrichtig gedient haben?

Erwägen Sie, junger Freund, auf welche mühselige Untersuchung ich mich hiermit eingelassen habe, eine wie vielseitige Gelehrsamkeit dazu gehört, bis in das graueste Altertum zurückzugehen, ferner die Weissagungen, die Offenbarungen, die Tatsachen, all die Denkmäler des Glaubens zu untersuchen, abzuwägen und gegeneinander zu halten, und endlich Zeit, Ort, Urheber und begleitende Umstände zu bestimmen! Ein wie richtiges kritisches Urteil ist mir nötig, um Verbürgtes von Unverbürgtem zu unterscheiden, um die Einwürfe mit den Entgegnungen, die Uebersetzungen mit den Originalen zu vergleichen; um mir über die Unparteilichkeit, die gesunde Vernunft und die Einsicht der Zeugen ein festes Urteil zu bilden; um mich zu überzeugen, ob dieselbe nichts unterdrückt, nichts hinzufügt, nichts an eine unrichtige Stelle gesetzt, geändert oder gefälscht haben; um die noch bleibenden Widersprüche zu lösen; im zu beurteilen, welches Gewicht das Schweigen der Gegner[196] bei den gegen sie vorgebrachte Tatsache verdient, ob ihnen die angeführten Gründe bekannt geworden sind, ob sie es der Mühe wert erachtet haben, dieselben einer Antwort zu würdigen; ob die Bücher eine so allgemeine Verbreitung gefunden hatten, daß sich annehmen läßt, die bis auf unsere Zeit erhaltenen seien auch zu ihnen gelangt; ob wir ehrlich genug sind, der Verbreitung der ihrigen unter uns kein Hindernis entgegenzustellen und ihre erheblichen Bedenken so zu lassen, wie sie dieselben ausgesprochen haben.

Sobald nun die unbestreitbare Glaubwürdigkeit aller dieser schriftlichen Zeugnisse anerkannt ist, so muß ferner noch der Beweis für die Mission ihrer Urheber geliefert werden. Man muß die Gesetze der Schicksale, muß die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten genau kennen, um zu beurteilen, welche Weissagungen nicht ohne Wunder in Erfüllung gehen können, muß den Geist der Ursprachen erfaßt haben, um zu unterscheiden, was in diesen Sprachen wirkliche Weissagung oder nur rethorische Figur ist; muß wissen, welche Tatsachen mit der Ordnung der Natur in Einklang stehen und welche gegen dieselbe verstoßen, um zu erklären, bis zu welchem Punkt ein geschickter Mensch die Augen der Einfältigen zu blenden und sogar Aufgeklärte in Erstaunen zu setzen vermag. Man muß untersuchen, welcher Art ein Wunder sein und welche Glaubwürdigkeit es haben muß, wenn es nicht allein Glauben verdient, sondern sogar jeder Zweifel daran als strafwürdig erscheinen soll. Man muß die Beweise für die wahren und die falschen Wunder miteinander vergleichen und sichere Regeln falschen Wunder miteinander vergleichen und sichere Regeln für ihre Unterscheidung aufstellen, muß endlich den Nachweis führen, weshalb Gott zur Bekräftigung seines Wortes Mittel gewählt hat, welche selbst in so hohem Grade der Bekräftigung bedürfen, als ob er die Leichtgläubigkeit der Menschen verspotten wolle und die wahren Mittel, sie zu überzeugen, absichtlich vermiede.[197]

Angenommen, es gefiele der göttlichen Majestät, sich so weit herabzulassen, einen Menschen zum Organe seines heiligen Willens zu machen. Ist es aber wohl vernünftig, ist er gerecht, zu verlangen, daß die ganze Menschheit der Stimme dieses Dieners gehorche, ohne daß er derselben in dieser Eigenschaft unzweideutig bekannt gemacht ist? Liegt Billigkeit darin, ihn zu seiner Beglaubigung nur mit einigen besonderen Wundern auszurüsten, die vor wenigen unbekannten Leuten verrichtet wurde, während alle übrige Menschen nur durch Hörensagen davon Kenntnis erhalten? Wenn man in allen Ländern alle Wunder für wahr hielte, welche das Volk und die Schwachköpfe nach ihrer Behauptung gesehen haben, so würde jede Sekte die rechte sein; es würde mehr Wunder als Naturereignisse geben, und das größte aller Wunder würde darin bestehen, daß da, wo die Fanatiker Verfolgung erleiden, gar keine Wunder vorkämen. Gerade die unwandelbare Ordnung der Natur läßt am besten die weise Hand erkennen, welche sie regiert. Kämen viele Ausnahmen vor, so würde ich nicht mehr wissen, was ich davon denken sollte; und ich für mein Teil habe einen zu festen Glauben an Gott, um an die große Menge von Wundern, die seiner so wenig würdig sind, glauben zu können.

Angenommen, es erschiene ein Mensch und spräche zu uns: Sterbliche, ich verkündige euch den Wille des Allerhöchsten; erkennet in meinen Worten den Auftrag dessen, der mich gesandt hat, ich befehle der Sonne, ihre Bahn zu ändern, den Stern, sich anders zu gruppieren, den Bergen, sich zu ebnen, den Fluten, sich zu erheben, der Erde, eine andere Stellung unter den Planeten einzunehmen, wer würde in diesen Wundern nicht sofort den Herrn der Natur erkennen? Betrügern leistet sie keinen Gehorsam; deren Wunder finden an den Gassenecken, in Wüsten und Zimmern statt, und hier, einer kleinen Zahl von Zuschauern gegenüber, die von vornherein geneigt sind, alles zu glauben,[198] fällt es ihnen nicht schwer, ihre Betrügereien auszuüben. Wer möchte sich wohl unterfangen, mir zu sagen, wieviel Augenzeugen nötig sind, um ein Wunder glaubwürdig zu machen? Wenn die Wunder, welche ihr zum Beweise eurer Lehre verrichtet habt, erst selbst wieder der Beweise bedürfen, wozu nützen sie dann? Dann hättet ihr sie ebensogut unterlassen können.

Schließlich bleibt uns noch die wichtigste Untersuchung hinsichtlich der in Frage stehenden Lehre übrig; denn da diejenigen, welche behaupten, Gott tue hienieden Wunder, gleichermaßen versichern, daß der Teufel dieselben bisweilen nachahme, so sind wir selbst bei den bestbeglaubigten Wundern noch um nichts weitergekommen, und da sich Pharaos Zauberer sogar in Moses Gegenwart herausnahmen, die nämlichen Zeichen zu tun, welche er auf Gottes ausdrücklichen Befehl tat, warum hätten sie dann nicht in seiner Abwesenheit mit demselben Rechte die gleiche Autorität beanspruchen können? Folglich muß, nachdem die Lehre erst durch das Wunder bewiesen werden ist, das Wunder wieder durch die Lehre bewiesen werden,130 aus Besorgnis,[199] daß sonst am Ende Teufelswerk für Gotteswerk angesehen werde. Was denken Sie aber von einem solchen Zirkelschluß?

Da dieser Lehre von Gott stammt, so muß sie auch die heilige Eigenart der Gottheit an sich tragen. Nicht allein muß sie die verworrenen Begriffe läutern, welche sich infolge unseres Nachdenkens über sie in unserem Geiste festgesetzt haben, sondern sie muß nun auch einen Kultus, eine Moral und Grundsätze darbieten, welche mit den Eigenschaften, durch welche wir allein ihr Wesen zu begreifen vermögen, in Einklang stehen. Wenn sie uns also nur ungereimte und der Vernunft widersprechende Dinge lehrte, wenn sie uns nur mit Gefühlen der Abneigung gegen unsere Nebenmenschen und der Angst vor uns selbst erfüllte, wenn sie uns Gott nur als einen zornigen, eifersüchtigen, Rache schnaubenden, parteiischen, von Menschenhaß beseelten Gott ausmalte, als einen Gott des Krieges und der Schlachten, der stets darauf ausgeht, zu zerstören und mit seinen Blitzen zu zerschmettern, stets von Qualen und Aengsten redet und sich sogar rühmt, die Unschuldigen zu bestrafen, so würde sich mein Herz wahrlich nicht zu diesem schrecklichen Gotte hingezogen fühlen, und ich würde Bedenken tragen, die Naturreligion mit einer solchen zu vertauschen, denn Sie werden begreifen, daß man hier notwendigerweise zu einer Wahl schreiten müßte. Euer Gott, würde ich den Anhängern dieser Lehre erklären, ist nicht der unsrige. Der Gott, welcher sich von Anfang an ein einziges Volk auserwählt und das ganze übrige Menschengeschlecht von sich stößt, ist nicht der gemeinsame Vater der Menschen; der[200] Gott, welcher die größte Zahl seiner Geschöpfe zur ewigen Qual bestimmt, ist nicht der gnädige und gütige Gott, den mich meine Vernunft erkennen läßt.

Bezüglich der Dogmen sagt mir meine Vernunft, daß sie klar, lichtvoll und von unbestreibarer Wahrheit sein müssen. Wenn die natürliche Religion unzulänglich ist, so ist es infolge des Dunkels, in welchem sie die erhabenen Wahrheiten läßt, mit denen sie uns bekannt macht. Die Aufgabe der Offenbarung besteht darin, uns diese Wahrheiten auf eine dem Verständnis des menschlichen Geistes angemessene Weise zu lehren, sie für seine Fassungskraft geeignet und so begreiflich zu machen, daß er sie glauben kann. Durch das Verständnis wird der Glaube sicherer und befestigt sich. Die klarste aller Religionen ist unfehlbar die beste; diejenigen dagegen, welche den Kultus, den sie mir predigt, mit Geheimnissen und Widersprüchen belastet, bewegt mich gerade dadurch, Mißtrauen in sie zu setzten. Der Gott, den ich anbete, ist nicht ein Gott der Finsternis; er hat mir den Verstand nicht gegeben, um mir den Gebrauch desselben zu untersagen. Von mir verlangen, meine Vernunft gefangen zu geben, heißt ihren Schöpfer beleidigen. Der Diener der Wahrheit wirft sich nicht zum Herrn meiner Vernunft auf, sondern erleuchtet sie vielmehr.

Wir haben von aller menschlicher Autorität abstrahiert, und ich könnte auch nicht begreifen, wie ein Mensch ohne sie einen anderen, dem er eine vernunftwidrige Lehre predigt, überzeugen könnte. Wir wollen zwei solche Menschen einmal einander gegenüberstellen und hören, was sie sich wohl in der scharfen Sprache, die beiden Parteien eigentümlich zu sein Pflegt, werden sagen können.

Der Inspirierte. Die Vernunft lehrt dich, daß das Ganze größer ist als ein Teil desselben; ich aber erkläre dir im Namen Gottes, daß der Teil größer ist als das Ganze.

Der Vernünftler. Und wer bist du, daß du dir herausnimmst, mir zu sagen, Gott widerspreche sich? Und[201] in wen soll ich mehr Vertrauen setzten, in ihn, der mich vermittels meiner Vernunft die ewigen Wahrheiten lehrt, oder in dich, der mir in seinem Namen etwas Widersinniges verkündigt?

Der Inspirierte. In mich, denn der mir erteilte Auftrag ist zuverlässiger. Ich werde dir unwiderleglich beweisen, daß er mich sendet.

Der Vernünftler. Wie? Du willst mir beweisen, daß Gott dich gesandt habe, um wider ihn selbst zu zeugen? Und welcher Art werden deine Beweise sein, um mir die Ueberzeugung abzugewinnen, es lasse sich mit größerer Sicherheit erwarten, daß Gott durch deinen Mund als durch den Verstand, den er selbst mir verliehen hat, zu mir rede?

Der Inspirierte. Der Verstand, den er dir selbst verliehen hat! O du elendes, nichtiges Menschenkind! Als ob du der erste Gottlose wärest, der sich durch seine, von der Sünde verderbte Vernunft irreleiten ließe!

Der Vernünftler. Mann Gottes, du würdest ebenso wenig der erste Betrüger sein, der in seiner Anmaßung einen Beweis seiner Sendung fände.

Der Inspirierte. Wie! Die Philosophen ergehen sich auch in Beleidigungen?

Der Vernünftler. Mitunter, wenn ihnen die Heiligen darin ein Beispiel geben.

Der Inspirierte. O, ich habe das Recht, eine solche Sprache zu führen; ich spreche im Namen Gottes.

Der Vernünftler. Du tätest gut, erst deine Vollmacht auszuweisen, bevor du von deinen Privilegien Gebrauch machst.

Der Inspirierte. Meine Berechtigung steht vollkommen fest; Erde und Himmel werden für mich zeugen. Ich bitte dich, nur aufmerksam meinen Schlüssen zu folgen.

Der Vernünftler. Deinen Schlüssen! Schüsse ziehen ist dir völlig fremd. Mich lehren, daß meine Vernunft[202] mich täusche, heißt das nicht gleichzeitig auch alles zurückzuweisen, was mir dieselbe zu deinen Gunsten gesagt haben würde? Wer die Vernunft verwerfen will, muß zu überzeugen verstehen, ohne sich ihrer zu bedienen. Denn angenommen, du hättest mich durch deine Gründe in der Tat überzeugt, wie könnte ich mir Gewißheit verschaffen, ob nicht etwa nur meine durch die Sünde verderbte Vernunft die Schuld daran trägt, daß ich auf das, was du mir sagtest, eingehe? Außerdem, welchen Beweis, welche überführenden Gründe würdest du anwenden können, die überzeugender wären als das Axiom, dessen Irrtümlichkeit sie nachweisen sollen? Daß ein richtiger Vernunftschluß eine Lüge sei, ist gerade ebenso glaublich, als daß der Teil größer sei als das Ganze.

Der Inspirierte. Welch ein Unterschied! Gegen meine Beweise läßt sich nichts Stichhaltiges einwenden; sie sind übernatürlicher Art.

Der Vernünftler. Uebernatürlich? Was bedeutet dies Wort? Ich verstehe es nicht.

Der Inspirierte. Aenderungen des Naturlaufs, Weissagungen, Wunder und Zeichen jeglicher Art.

Der Vernünftler. Zeichen! Wunder! Noch nie habe ich von alledem etwas gesehen.

Der Inspirierte. Andere haben sie dafür statt deiner gesehen. Wolken von Zeugen... das Zeugnis ganzer Völker.

Der Vernünftler. Ist das Zeugnis ganzer Völker übernatürlicher Art?

Der Inspirierte. Nein, sobald es jedoch einstimmig ist, dann ist es unanfechtbar.

Der Vernünftler. Es gibt nichts Unanfechtbareres als die Grundsätze der Vernunft, und Menschenzeugnis vermag keine Ungereimtheit zu beglaubigen. Noch einmal: laß mich selbst übernatürliche Beweise sehen, denn das Zeugnis[203] des Menschengeschlechtes kann ich nicht als einen solchen anerkennen.

Der Inspirierte. O du verhärtetes Herz! Die Gnade spricht noch nicht zu dir.

Der Vernünftler. Die Schuld liegt nicht an mir, denn deiner Lehre zufolge muß man die Gnade schon empfangen haben, um sie erbitten zu können. Rede du deshalb an ihrer Statt zuerst zu mir.

Der Inspirierte. Ach, das ist es ja, was ich tue, aber du willst auf mich nicht hören. Allein was denkst du über Weissagungen?

Der Vernünftler. Ich sage erstens, daß ich ebensowenig Weissagungen gehört als Wunder gesehen habe, und ferner sage ich dir, daß ich keiner Weissagung eine Autorität beizulegen vermag.

Der Inspirierte. Diener des Teufels! Und weshalb willst du die Weissagungen nicht als Autorität gelten lassen?

Der Vernünftler. Weil dreierlei dazu nötig wäre, das gleichzeitig unmöglich eintreten kann, nämlich: daß ich Zeuge der Weissagung gewesen wäre und ebenso als Zeuge der Erfüllung derselben beiwohnte, und daß mir der Beweis geliefert würde, diese Erfüllung habe nicht das Ergebnis des Zufalls sein können; denn Wäre die Weissagung auch bestimmter, klarer und lichtvoller als ein mathematischer Grundsatz, so würde streng genommen die etwas eintretende Erfüllung noch nichts für den beweisen, von dem die Weissagung ausgegangen ist, weil die Klarheit einer aufs Geratewohl gemachten Vorhersagung ihre Erfüllung nicht unmöglich macht.

Siehe also, worauf deine angeblichen übernatürlichen Beweise, deine Wunder und deine Weissagungen hinauslaufen, lediglich darauf, dies alles auf fremdes Zeugnis hin glauben zu müssen und die Autorität Gottes, der durch meine Vernunft zu mir redet, der Autorität der Menschen[204] zu unterwerfen. Wenn die ewigen Wahrheiten, welche mein Geist begreift, irgendwie erschüttert werden könnten, so würde für mich keine Art von Gewißheit mehr existieren, und statt mich der sicheren Ueberzeugung hinzugeben, daß du im Namen Gottes zu mir redest, würde ich nicht einmal mehr die volle Gewißheit haben, ob es überhaupt ein göttliches Wesen gibt.

Da häufen sich also viele Schwierigkeiten auf, mein Sohn, und doch ist damit noch nicht alles abgemacht. Unter der großen Menge von verschiedenen Religionen, die sich gegenseitig verfolgen und gegeneinander abschließen, kann doch nur eine einzige die richtige sein, wenn es überhaupt eine solche gibt. Um diese herauszuerkennen, genügt es nicht, eine von ihnen zu prüfen, sonder man muß sie alle einer sorgfältigen Untersuchung unterziehen, und nach seiner Richtung hin darf man sich ein absprechendes Urteil über die Gegenpartei erlauben, ehe man sie angehört hat.131 Man muß die Einwürfe mit den Beweisen vergleichen, muß wissen, was jeder den anderen gegenüber für Einwendungen zu machen hat und was er ihnen antwortet. Je erwiesener uns eine Ansicht erscheint, desto gründlicher müssen wir zu erforschen suchen, worauf sich die große Anzahl der Gegner bei ihrer Verwerfung derselben stützt. Man müßte in der Tat sehr einfältig sein, wenn man sich dem Wahn hingebe[205]

wollte, es genügte, die Lehrer seiner eigenen Partei zu hören, um sich über die Gründe der Gegenpartei zu unterrichten. Wo sind die Theologen, die ihre Ehre in der ungeschminktesten Aufrichtigkeit suchen? Wo sind diejenigen, die nicht erst die Gründe ihrer Gegner abzuschwächen suchen, um sie desto leichter widerlegen zu können? Jeder glänzt in seiner Partei; aber wie einfältig würde sich mancher, der sich in der Mitte seiner Anhänger mit seinen Beweisgründen bläht, mit den nämlichen Beweisen unter den Mitgliedern einer anderen Partei ausnehmen. Wollen sie sich indes aus Büchern unterrichten, welche Gelehrsamkeit müssen Sie sich dann erwerben! Wie viele Sprachen erlernen! Wie viele Bibliotheken durchblättern! Wieviel Zeit auf die Lektüre verwenden! Wer soll uns ferner bei der Auswahl leiten? Schwerlich wird man in einem Lande die besten Bücher der Gegenpartei vorfinden, geschweige denn die aller Parteien, und die träfe man sie auch an, so würden sie doch bald Widerlegung gefunden haben. Der Abwesende hat stets unrecht, und schlechte, aber mit Sicherheit vorgetragene Gründe vernichten leicht die Wirkung guter, die in verächtlichem Tone mitgeteilt werden. Uebrigens geben gerade die Bücher nur zu häufig Veranlassung zu irrtümlichen Anschauungen, und nichts spiegelt die Meinung ihrer Verfasser weniger treu ab. Wenn Sie sich etwa nach dem Buche von Bossuet132 ein Urteil über die katholische Religion haben bilden wollen, so werden Sie sich, nachdem Sie unter uns gelebt, davon überzeugt haben, daß Sie dadurch nicht zum Zwecke geführt wurden. Sie haben wahrgenommen, daß die Lehre, mit welcher man auf die Einwände der Protestanten antwortet, von derjenigen, in welcher man[206] das Volk unterrichtet, abweicht, und daß Bossuets Werk keineswegs mit den von der Kanzel erschallenden Lehren übereinstimmt. Um sich ein richtiges Urteil über eine Religion zu bilden, muß man sie nicht aus den Büchern ihrer Bekenner studieren, sondern sie aus dem Verkehr mit denselben lernen. Dadurch erhält man einen sehr verschiedenen Eindruck. Jeder hat seine Traditionen, seine Ansichten, seine Gebräuche und Vorurteile, in denen sich der eigentliche Charakter seines Glaubens ausspricht, und die es uns erst in ihrer Gesamtheit ermöglichen, diesen Glauben zu beurteilen.

Wie viele große Völker drucken übrigens gar keine Bücher und lesen auch die unsrigen nicht! Wie können sie imstande sein, über unsere Ansichten zu urteilen, und umgekehrt wieder wir über die ihrigen? Wir machen uns über sie lustig, sie aber schauen mit Verachtung auf uns herab133, und wenn unsere Reisenden sie lächerlich machen, so fehlt es ihnen, um uns Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nur an Reisenden unter uns. In welchem Lande gäbe es nicht vernünftige, aufrichtige, rechtschaffene, wahrheitsliebende Leute, die nur nach der Wahrheit suchen, um sich zu ihr zu bekennen? Jeder erblickt sie indes in seinem Kultus und findet den Kultus der übrigen Nationen albern. Folglich können diese fremden Kulte entweder nicht so wunderlich sein, als sie uns vorkommen, oder das Vernünftige, das wir in dem unsrigen finden, kann noch nicht als Beweis gelten.

Wir haben in Europa drei Hauptreligionen. Die eine erkennt nur eine einzige Offenbarung an, die andere zwei, die dritte drei. Jede verabscheut, ja verflucht die beiden anderen und zeiht sie der Blindheit, der Verhärtung, der Halsstarrigkeit, der Lüge. Welcher unparteiische Mann wird auf das Wagnis einlassen, zwischen ihnen eine Entscheidung[207] zu treffen, wenn er nicht vorher ihre Beweise genau erwogen, ihre Gründe sorgfältig angehört hat? Diejenige, welche nur eine Offenbarung gelten läßt, ist die älteste und scheint die sicherste zu sein; die, welche drei an nimmt, ist die neueste und hat den Schein der größten Konsequenz für sich; die endlich, welche nur zwei anerkennt und die dritte verwirft, kann füglich die beste sein, hat aber sicherlich alle Vorurteile gegen sich; ihre Inkonsequenz springt in die Augen.

Bei allen drei Offenbarungen sind die heiligen Urkunden in Sprachen geschrieben, die den Völkern, welche an sie glauben, unbekannt sind. Die Juden verstehen Hebräische nicht mehr, die Christen verstehen weder Hebräisch noch Griechisch, die Türken und Perser verstehen kein Arabisch, und selbst die heutigen Araber reden die Sprache Mohammeds nicht mehr. Ist es nicht eine höchst eigentümliche Art und Weise, die Menschen zu unterrichten, wenn man sich dabei stets einer Sprache bedient, die sie gar nicht verstehen? Man übersetzt ja aber diese Schriften, wird man mir einwenden. Schöne Antwort! Wer will die Bürgschaft dafür übernehmen, daß sie auch treu übersetzt sind, ja, daß eine neue Uebersetzung überhaupt nur möglich ist? Und weshalb bedarf Gott, wenn er doch schon einmal so viel tut, daß er zu den Menschen redet, noch eines Dolmetschers?

Ich werde nie ein Verständnis dafür haben, daß das, was jeder Mensch zu wissen verpflichtet ist, in Büchern eingeschlossen sein soll, und daß derjenige, welcher weder über diese Bücher, noch über Leute, die sie verstehen, zu verfügen hat, um dieser unfreiwilligen Unwissenheit willen bestraft werden soll. Immer nur Bücher! Was für eine Sucht! Weil Europa voller Bücher ist, so betrachten die Europäer sie als unbedingt notwendig, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß man auf drei Vierteilen des Erdbodens noch nie dergleichen gesehen hat. Sind nicht alle Bücher[208] von Menschen geschrieben worden? Inwiefern sollte der Mensch nun ihrer erst bedürfen, um seine Pflichten kennen zu lernen? Und durch welche Mittel lernte er sie vor Abschaffung jener Bücher kennen? Entweder schöpft er die Kenntnis seiner Pflichten aus sich selbst, oder ist der Kenntnis derselben entbunden.

Unsere Katholiken betonen vor allem die Autorität der Kirche. Was gewinnen sie indes damit, wenn sie zur Feststellung dieser Autorität eines ebenso großen Aufwandes von Beweisen bedürfen, als die anderen Konfessionen zur unmittelbaren Begründung ihrer Lehre nötig haben? Die Kirche entscheidet, daß der Kirche das Entscheidungsrecht zusteht. Ist das nicht eine außerordentlich fein erwiesene Autorität? Bleiben Sie dabei nicht stehen, sondern kehren Sie zu unseren Erörterungen zurück.

Kennen Sie viele Christen, welche sich die Mühe gegeben haben, das, was das Judentum gegen sie vorbringt, einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen? Wenn einigen davon etwas bekannt worden ist, so haben sie es in den Büchern der Christen gelesen. Eine herrliche Art und Weise, sich über die Gründe ihrer Gegner zu unterrichten! Allein was läßt sich da anfangen? Wollte irgend jemand das Wagestück unternehmen, unter uns Schriften zu veröffentlichen, in denen das Judentum offene Begünstigung fände,134 so würden wir Verfasser, Herausgeber, und Buchdrucker zur Strafe ziehen. Dieses polizeiliche Verfahren ist bequem und sicher, um stets recht zu haben. Es muß in der Tat ein Vergnügen sein, Leute zu widerlegen, die nicht zu sprechen wagen.135[209]

Denjenigen unter uns, welchen Gelegenheit gegeben ist, mit Juden Umgang zu pflegen, ist damit nicht viel mehr geholfen. Die Unglücklichen tragen nur zu sehr das Gefühl in sich, daß sie in vollständiger Abhängigkeit von uns leben. Die Tyrannei, welche man gegen sie ausübt, macht sie furchtsam; sie wissen, wie schnell die christliche Liebe zu Mitteln der Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihre Zuflucht nimmt. Was können sie sich wohl zu sagen unterfangen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von uns der Gotteslästerung geziehen zu werden? Die Habgier stachelt unseren Eifer an, und sie sind viel zu reich, um nicht unrecht zu bekommen. Die Gelehrtesten und Aufgeklärtesten zeigen auch stets die größte Vorsicht. Es wird vielleicht gelingen, irgendeinen Elenden zu bekehren, der sich dafür bezahlen läßt, seine Glaubensgenossen zu verleumden; man wird vielleicht mit einigen feilen Trödlern ein Gespräch anknüpfen können, die aus Schmeichelei den Nachgiebigen spielen werden; man wird über ihre Unwissenheit oder ihre Gemeinheit einen Triumph feiern, während ihre gelehrten Glaubensgenossen im stillen diese Torheit belächelt werden. Läßt sich aber deshalb annehmen, daß sie an Orten, wo sie sich in Sicherheit fühlten, ihren Gegnern ebenso leichtes Spiel einräumen würden? In der Sorbonne ist es so klar wie der Tag, daß sich die messianischen Weissagungen auf Jesum Christum beziehen. Bei den Rabbinern in Amsterdam gilt es für ganz ebenso klar, daß sie nicht den geringsten Bezug auf ihn haben. Ich werde mir eine vollständige Kenntnis der Gründe der Juden zutrauen, solange sie nicht einen freien Staat, nicht Schulen und Universitäten haben, in denen sie ohne Gefahr reden und disputieren können. Dann erst sind wir zu erfahren imstande, was sie zu sagen haben.[210]

In Konstantinopel sprechen sich die Türken über ihre Gründe aus, während wir die unsrigen nicht vorzubringen wagen. Dort müssen wir uns demütigen. Haben nun die Türken unrecht, wenn die von uns verlangen, wir sollen Mohammed, an den wir nicht glauben, dieselbe Ehrfurcht erweisen, die wir von den Juden Christo gegenüber begehren an den sie ebensowenig glauben? Oder ist das Recht auf unsrer Seite? Nach welchem Grundsatz der Gerechtigkeit müssen wir diese Frage entscheiden?

Zwei Dritteile der Menschheit gehören weder zu den Juden noch zu den Mohammedanern noch zu den Christen, und wie viele Millionen Menschen haben von Moses, Jesus Christus oder Mohammed nie etwas gehört! Allerdings stellt man dies in Abrede; man stellt die Behauptung auf, daß unsere Missionare überall hinkämen. Das ist bald gesagt! Haben sie aber wirklich schon das bisher noch ganz unbekannte Innere Afrikas durchwandert, in welches bis jetzt noch nie ein Europäer gedrungen ist? Gelangen sie bis in die innere Tatarei, und begleiten sie zu Pferde die umherschweifenden Horden, denen sich nie ein Fremder zu nahen wagt, und die kaum den Groß-Lama kennen, geschweige denn, daß sie je etwas vom Papste gehört hätten? Durchziehen sie die unermeßlichen Binnenländer Amerikas, wo ganze Stämme noch nicht einmal wissen, daß Völker aus einem fremden Weltteile den Fuß in den ihrigen gesetzt haben? Betreten sie Japan, aus welchem ihre Ränke sie für immer verbannt haben, und wo ihre Vorgänger den folgenden Geschlechtern nur als schlaue Ränkeschmiede bekannt sind, die sich mit scheinheiligem Eifer eingenistet hatten, um sich unvermerkt der Herrschaft zu bemächtigen? Können sie sich die Harems der asiatischen Türken erschließen, um Tausenden von armen Sklaven das Evangelium zu verkündigen? Was haben die Frauen in jenem Weltteile begangen, daß kein Missionar imstande ist, ihnen den Glauben zu predigen? Werden sie deshalb alle in die Hölle[211] hinabgestoßen werden, weil sie hier hinter Schloß und Riegel gehalten worden sind?

Und wenn es selbst wahr wäre, daß das Evangelium auf der ganzen Erde verkündigt würde, was würde man damit gewinnen? Den Tag vor der Ankunft des ersten Missionars in einem Lande ist sicherlich irgend jemand gestorben, der seine Predigt nicht mehr zu hören vermochte. Was in aller Welt sollen wir nun mit diesem einen Anfangen? Ja, fände ich auf der ganzen Erde nur ein einziger Mensch, welchem man nie Jesum Christum gepredigt hätte, so würde doch der Einwurf hinsichtlich dieses einen nicht weniger zutreffend sein, als wenn es um ein Viertel der ganzen Menschheit handelte.

Was haben die Diener der Evangeliums, wenn sie unter fremden Völkern ihr Lehramt begannen, denselben gesagt, daß man vernünftigerweise auf ihr bloßes Wort hin annehmen könnte und das nicht erst die genaueste Untersuchung verlangte? Ihr verkündet mir einen Gott, der von zweitausend Jahren am anderen Ende der Welt in irgendeiner kleinen Stadt geboren und gestorben ist, und behauptet, daß alle, die nicht an dieses Geheimnis glauben, verdammt werden würden. Das klingt doch allzu wunderlich, um auf die blosse Autorität eines mir unbekannten Menschen hin Glauben zu verdienen. Weshalb hat euer Gott die Ereignisse, zu deren Kenntnis er mich verpflichten will, auf einem so weit entlegenen Schauplatz eintreten lassen? Kann es als Verbrechen angerechnet werden, das nicht zu wissen, was bei den Antipoden vor sich geht? Kann ich erraten, daß es auf der anderen Halbkugel ein hebräisches Volk und eine Stadt Jerusalem gegeben hat? Mit demselben Fug und Recht könnte man mit die Verpflichtung auferlegen, zu wissen, was sich auf dem Monde zuträgt. Ihr kommt, wie ihr vorgebt, mich darüber zu belehren; allein weshalb seid ihr gekommen, meinen Vater schon diese Kunde zu bringen? Oder weshalb verdammt ihr diesen rechtschaffenen[212] Greis um deswillen, daß er nichts davon erfahren hat? Soll er eurer Trägheit zuliebe ewig bestraft werden, er, der so gut, so wohltätig war und nur die Wahrheit suchte? Seit aufrichtig und setzt euch einmal an meine Stelle! Saget selbst, ob man von mir wohl verlangen kann, auf euer alleiniges Zeugnis hin alle die unglaublichen Dinge, die ihr mir berichtet, zu glauben, und ob eine so große Reihe von Ungerechtigkeiten mit dem gerechten Gott, den ihr mir verkündet, vereinbar ist? Laßt mich doch erst, wenn ich bitten darf, jenes weit entlegene Land136 besuchen, wo sich viele im meinem Vaterland unerhörte Wunderdinge ereignen. Ich möchte doch in Erfahrung bringen, weshalb die Einwohner jenes Jerusalems Gott wie einen Missetäter behandelt haben. Sie haben ihn, wendet ihr mir ein, eben nicht als Gott erkannt. Was soll den ich nun aber tun, ich, der ich, außer von euch, niemals etwas von ihm vernommen habe? Ihr fügt freilich hinzu, sie seien dafür bestraft, zerstreut, unterdrückt, unterjocht worden; keiner von ihnen nahe sich mehr dieser Stadt. Unleugbar haben sie alles wohl verdient; was sagen indes die heutigen Bewohner zu dem Gottesmord ihrer Vorfahren? Auch sie leugnen seine Gottheit, sie erkennen Gott ebensowenig als Gott an. Wäre es dann nicht ebensogut gewesen, die Nachkommen der ersten Bewohner dort zu lassen?

Wie, in der nämlichen Stadt, in welcher Gott gestorben ist, haben ich weder die alten, noch die gegenwärtigen Einwohner anerkannt, und trotzdem verlangt ihr, daß ich, der ich zweitausend Jahre später und zweitausend Meilen davon[213] entfernt geboren bin, ihn anerkennen soll? Könnt ihr denn nicht begreifen, daß ich, ehe ich der Schrift, welche ihr die heilige nennt, und deren Inhalt mir unverständlich ist, Glauben zu schenken vermag, erst noch von anderen als euch erfahren muß, wann und von wem sie verfaßt, wie sie erhalten und zu euch gelangt ist, und durch was für Gründe sich die Bewohner dieses Landes selbst zur Verwerfung derselben haben bestimmen lassen, obwohl sie alles, was ihr mich lehrt, ebensogut wissen als ihr? Euer eigenes Gefühl wird euch sagen, daß ich notwendigerweise nach Europa, nach Asien, nach Palästina gehen müßte, um alle selbst zu prüfen; ich müßte ein offenbarer Narr sein, wollte ich euch vorher Gehör schenken.

Diese Erklärung erscheint mir nicht sehr vernünftig, sondern ich behaupte auch geradezu, daß jeder vernünftige Mensch in ähnlichem Fall ebenso sprechen und Missionar, der sich vor Bestätigung seiner Beweisquellen zu lehren und zu taufen beeilte, kurz abweisen müßte. Nun behaupte ich aber, daß es keine Offenbarung gibt, gegen welche sich nicht diese oder ähnliche Einwürfe137 von ebensoviel oder noch von größerer Kraft als gegen das Christentum erheben ließen. Daraus folgt, daß man, wenn es nur eine wahre Religion gäbe, und jeder Mensch sich bei Strafe der Verdammnis zu ihr bekennen müßte, sich genötigt sähe, sein ganzes Leben nur damit hinzubringen, sie alle zu studieren, sich in alle zu vertiefen, sie untereinander zu vergleichen und die Länder zu durchreisen, in denen sie ausgeübt werden. Niemand ist von dieser Menschenpflicht entbunden, niemand hat die Berechtigung, sich auf fremdes Urteil zu verlassen. Der Handwerker, der nur vom Ertrage seiner Arbeit lebt, der Landmann, der nicht lesen kann, das zarte und schüchterne[214] junge Mädchen, der Sieche, der sich nur mit Mühe von seinem Bette zu erheben vermag – sie alle ohne Ausnahme müßten studieren, nachdenken, disputieren, reisen, die Welt durchpilgern. Es würde kein fest ansässiges Volk mehr geben. Die ganze Erde würde mir Pilgern bedeckt sein, die unter großen Kosten und langwierigen Mühseligkeiten die Welt durchirrten, um selbst die verschiedenen Religionen, zu denen man sich bekennt, zu untersuchen, zu vergleichen und zu prüfen. Dann gute Nacht, ihr Handwerke, Künste, menschlichen Wissenschaften und alle bürgerlichen Beschäftigungen! Dann könnte es kein anderes Studium mehr als das der Religionen geben. Mit genauer Not würde derjenige, welcher sich der festesten Gesundheit zu erfreuen gehabt, seine Zeit am besten ausgekauft, von seiner Vernunft den besten Gebrauch gemacht und am längsten gelebt hätte, in seinem Greisenalter wissen, woran er sich zu halten hätte; und es würde schon sehr viel sein, wenn er noch vor seinem Tode lernte, in welcher Religion er hätte leben sollen.

Wollen Sie diese Methode mildern und der menschlichen Autorität auch nur den geringsten Spielraum lassen, so räumen Sie ihr damit angeblich alles ein. Wenn der Sohn eines Christen wohl daran tut, sich ohne vorhergehende tiefe und unparteiische Prüfung zu der Religion seines Vaters zu halten, weshalb sollte dann der Sohn eines Türken dadurch ein Unrecht begehen, daß er sich ebenfalls zu der Religion seines Vaters138 bekennt? Ich fordere alle Intoleranten auf, mir darauf irgendeine Antwort zu erteilen, die imstande ist, einen vernünftigen Menschen zu befriedigen.[215]

Durch diese Gründe in die Enge getrieben, wollen einige Gott lieber ungerecht erscheinen und ihn die Unschuldigen um der Sünden ihrer Väter willen bestrafen lassen, als daß sie ihr barbarisches Dogma aufgeben. Andere suchen sich dadurch aus der Verlegenheit zu ziehen, daß sie zuvorkommenderweise einen Engel senden, um jeden zu unterrichten, der trotz seiner unüberwindlichen Unwissenheit doch einen sittlich guten Lebenswandel geführt hätte. Eine herrliche Erfindung, dieser Engel! Nicht zufrieden damit, uns ihren Maschinerien zu unterwerfen, versetzten sie sogar Gott in die Notwendigkeit, dergleichen in Anwendung zu bringen.

Erkennen Sie daran, mein Sohn, bis zu welcher Ungereimtheit Stolz und Intoleranz führen, wenn jeder auf seinem Kopfe bestehen will und der ganzen übrigen Menschheit gegenüber allein recht zu haben glaubt. Ich nehme den Gott des Friedens, welchen ich anbete und Ihnen verkündige, zum Zeugen, daß alle meine Forschungen aufrichtig gewesen sind; als ich mich jedoch davon überzeugte, daß sie erfolglos waren und stets bleiben würden, und daß ich mich gleichsam auf ein uferloses Meer hinausgewagt hatte, da bin ich wieder umgekehrt und habe meinen Glauben auf meine ursprünglichen Ideen beschränkt. Ich habe mich niemals dem Glauben hingeben können, daß mir Gott wirklich unter Androhung der Höllenstrafe beföhle, so gelehrt zu sein. Aus dem Grunde habe ich den alle Bücher zugeschlagen; ein einziges liegt offen vor aller Augen dar: das der Natur. Aus diesem großem und erhabenen Buche lerne ich dem Schöpfer dienen und anbeten. Niemand ist zu entschuldigen, welcher in demselben nicht liest, weil es zu allen Menschen in einer jedem geistigen Wesen verständlichen Sprache redet. Und wäre ich auch auf einer wüsten Insel geboren, hätte ich außer mir nie einen Menschen gesehen, hätte ich nie erfahren, was sich vorzeiten in einem Winkel der Erde ereignet hat, so würde ich doch, wenn ich[216] nur meine Vernunft übte und sie sorgfältig ausbildete, wenn ich nur die mir von Gott verliehenen unmittelbaren Fähigkeiten richtig gebrauchte, von mir selbst ihn erkennen und lieben lernen, ja würde seine Werke lieben, das Gute, was er will, wollen, um sein Wohlgefallen zu erringen, alle meine Pflichten auf Erden erfüllen lernen.

Und was könnte mich wohl alles menschliche Wissen mehr lehren?

Was die Offenbarung betrifft, so würde ich vielleicht, wenn ich ein schärferer Denker und besser geschult wäre, ihre Wahrheit und ihren Nutzen für diejenigen begreifen, welche das Glück haben, sie zu erkennen; allein wenn mir auch zu ihren Gunsten Beweise, die ich nicht zu bestreiten vermag, nicht entgehen, so verhehle ich mir doch auch nicht, daß sich Einwürfe gegen sie geltend machen, die ich nicht widerlegen vermag. Es gibt so viele triftige Gründe für und wider, daß ich, da ich nicht weiß, nach welcher Seite hin ich mich entscheiden soll, sie weder anerkenne noch verwerfe. Nur die Verpflichtung zu ihrer Anerkennung verwerfe ich entschieden, weil diese vermeintliche Verpflichtung mit der Gerechtheit Gottes unvereinbar ist, da er, weit davon entfernt, die Hindernisse des Heils dadurch zu beseitigen, sie vielmehr vervielfältigt und für den größten Teil der Menschheit unübersteiglich gemacht hätte. Dies ausgenommen verharre ich hinsichtlich dieses Punktes in einem ehrfurchtsvollem Zweifel. Ich bin nicht so vermessen, mich für unfehlbar zu halten. Andere Menschen sind imstande gewesen, über das, was mir unterschieden und zweifelhaft scheint, zu entscheiden; ich denke für mich und nicht für sie. Wie ich nicht tadle, will ich ihnen auch nicht nachahmen. Vielleicht ist ihr Urteil richtiger als das meinige; aber ich trage nicht die Schuld, wenn es das meinige nicht ist.

Ich lege Ihnen gern das Geständnis ab, daß mich die Majestät der heiligen Schriften in Erstaunen setzt und mir[217] die Heiligkeit des Evangeliums zu Herzen spricht.139 Sehen Sie sich die Bücher der Philosophen mit all ihrer hochtrabenden Sprache an; wie unbedeutend nehmen sie sich doch neben denselben aus. Ist es möglich, daß ein so erhabenes und zugleich so einfaches Buch von Menschen berührt? Ist es möglich, daß derjenige, dessen Geschichte es erzählt, selbst nur ein Mensch ist? Ist das wohl der Ton, den ein Enthusiast oder ein ehrgeiziger Sektierer anschlägt? Welche Sanftmut! Welche Sittenreinheit! Welche rührende Anmut in seinen Unterweisungen! Welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen! Welche tiefe Weisheit in seinen Reden! Welche Geistesgegenwart! Welche Feinheit und welches Schlagende in seinen Antworten! Welche Herrschaft über seine Leidenschaften! Wo ist der Mann, wo der Weise, der ohne Schwäche und Ostentation so zu handeln, zu leiden und zu sterben versteht? Wenn Plato sein Ideal eines Gerechten malt,140 der mit aller Schmach des Verbrechens überhäuft, aber doch jedes Lohnes der Tugend würdig durch das Leben geht, so zeichnet er Jesum Christum Zug für Zug. Die Aehnlichkeit ist so treffend, daß sie allen Kirchenvätern auffiel und daß man sich unmöglich darüber täuschen kann.141 Welche Vorurteile müssen einen Menschen erfüllen, welche Verblendung142 muß sich seiner bemächtigt haben, wenn[218] er es wagt, den Sohn des Sophroniskus mit Marias Sohne zu vergleichen! Was für ein Abstand zwischen beiden! Sokrates, der ohne Schmerzen, ohne Schmach starb, führte seine Rolle mühelos bis zum Ende durch; und hätte dieser leichte Tod seinem Leben nicht zur Ehre gereicht, so könnte man gerechten Zweifel hegen, ob Sokrates mit all seinem Geiste etwas anderes als ein Sophist gewesen sei. Er erfand, wie man sagt, die Moral; andere hatten sie jedoch schon vor ihm ausgeübt. Er sprach nur aus, was sie getan hatten, und zog aus ihren Beispielen nur die Lehren. Aristides war gerecht gewesen, ehe Sokrates den Begriff der Gerechtigkeit definiert hatte; Leonidas war für sein Vaterland gestorben, ehe Sokrates die Vaterlandsliebe zur Pflicht gemacht hatte; Sparta war nüchtern, ehe Sokrates die Nüchternheit gepriesen hatte, und ehe er den Begriff der Tugend festgestellt, besaß Griechenland einen Ueberfluß an tugendhaften Menschen. Aber woher hatte Jesus unter den Seinigen diese erhabene und reine Moral genommen, zu der er allein sie durch Lehre und Vorbild anzuhalten suchte?143 Aus dem Schoße des gewaltigen Fanatismus heraus ließ sich die höchste Weisheit vernehmen, und die Einfachheit der heldenmütigsten Tugenden ehrte das verächtlichste aller Völker. Der Tod des Sokrates welcher eintrat, während er ruhig mit seinen Freunden philosophierte, ist der süßeste, den man sich nur wünschen kann. Der Tod Jesu dagegen, der unter Martern, geschmäht, verspottet und von seinem ganzen Volke verflucht, seinen Geist aufgab, ist der entsetzlichste, den man fürchten kann. Sokrates segnet, während er den Giftbecher ergreift, den Gefangenwärter, welcher ihm denselben unter den Tränen darreicht. Jesus betet unter den furchtbarsten Todesqualen für seine entmenschten Henker. Ja, wenn Sokrates Leben und Tod eines[219] Weisen würdig sind, so erkennen wir bei Christo das Leben und den Tod eines Gottes. Sollen wir nun etwa die evangelische Geschichte für eine willkürliche Erdichtung ausgeben? Mein Freund, so vermag man nicht zu dichten; und die Züge aus dem Leben des Sokrates, die niemand bezweifelt, sind weniger beglaubigt als die Taten Jesu Christi. Im Grunde genommen hieße dies auch nur die Augen vor den Schwierigkeiten verschließen, anstatt sie völlig aus dem Wege zu räumen. Daß mehrere Menschen144 miteinander dies Buch in freier Dichtung und unter gegenseitiger Uebereinstimmung verfaßt haben sollten, würde noch viel unbegreiflicher sein, als das ein einziger Mensch den Stoff dazu geliefert hat. Nie wären jüdische Schriftsteller imstande gewesen, diesen Ton anzuschlagen oder diese Moral aufzustellen, und das Evangelium enthält so große, so auffallende, so völlig unnachahmliche Kennzeichen der Wahrheit, daß der Verfasser einer solchen Dichtung in noch weit höherem Grade unsere Bewunderung verdienen würde, als der Held selbst. Trotz alledem ist dies Evangelium auch voll unglaublicher Dinge, voll solcher Dinge, die der Vernunft widerstreiten und die ein vernünftiger Mensch zu begreifen und anzunehmen vermag. Was nun tun inmitten aller dieser Widersprüche? Stets bescheiden und bedachtsam sein, mein Sohn; schweigend in Ehren halten, was man weder verwerfen noch begreifen kann, und sich in Demut vor dem großem Wesen beugen, welchen allein die Wahrheit kennt.

Das ist der unfreiwillige Skeptizismus, auf welchem ich stehengeblieben bin; indes berührt mich dieser Skeptizismus keineswegs peinlich, weil er sich nicht auf solche Punkte[220] erschreckt, die auf das Handeln bestimmend einwirken, und weil ich über die Prinzipien aller meiner Pflichten durchaus entschieden bin. Ich diene Gott in der Einfalt meine Herzens. Ich suche nur das zu erfahren, was mir in bezug auf meinem Wandel von Wichtigkeit ist. Was nun aber jene Dogmen anlangt, die weder auf mein Handeln noch auf die Sittlichkeit Einfluß ausüben, und um derentwillen sich so viele Menschen Sorgen machen, so fühle ich mich ihretwegen nicht im geringsten beunruhigt. Ich erblicke in allen einzelnen Religionen ebenso viele Heilsanstalten, welche in jedem Lande eine gleichförmige Art öffentlicher Gottesverehrung vorschreiben, und welche alle im Klima, in der Regierungsform, im Volksgeist oder in sonst einer lokalen Ursache wurzeln können, so daß der Vorzug, welchen eine vor der anderen hat, lediglich nach Zeit und Ort zu bemessen ist. Ich halte sie, falls man Gott in ihnen nur in angemessener Weise dient, alle für gut. Das Wesen des Gottesdienstes beruht auf dem Dienste des Herzens. Gott verwirft keine Huldigung, wenn sie aufrichtig ist, unter welcher Form sie ihm auch dargebracht wird. In der Religion, zu welcher ich mich bekenne, zum Dienst der Kirche berufen, erfülle ich die mir aufgelegten Obliegenheiten mit größtmöglicher Pünktlichkeit, und mein Gewissen würde mir Vorwürfe machen, wenn ich mir wissentlich in irgendeinem Punkt eine Pflichtvergessenheit zuschulden kommen ließe. Es ist Ihnen bekannt, daß ich nach längerem Kirchenbann durch Vermittlung des Herrn von Mellarède endlich die Erlaubnis erhielt, meine amtlichen Funktionen wieder aufzunehmen, um mein Leben fristen zu können. Früher las ich die Messe mit jener Gleichgültigkeit, in die man mit der Zeit auch bei den ernstesten Handlungen verfällt, sobald man sie zu oft verrichtet. Seit Annahme meiner jetzigen Grundsätze halte ich das Hochamt mit weit höherer Ehrfurcht ab; ich fühle mich durchdrungen von der Majestät des höchsten Wesens, von seiner Gegenwart und von der[221] Unzulänglichkeit des Menschliche Verstandes, der nur in so geringem Grade zu begreifen vermag, was sich auf seinem Schöpfer bezieht. Indem ich mir dessen bewußt bin, daß ich ihm unter einer vorgeschriebenen Form die Gelübde des Volkes darbringe, halte ich alle Gebräuche auf das strengste inne; ich lese mit Aufmerksamkeit, ich lasse es mir angelegen sein, nie auch nur das geringste Wort oder die geringste Zeremonie zu übersehen. Wenn ich mich dem Augenblicke der Konzentration nähere, so sammle ich mich erst, um sie in der andächtigen Stimmung vornehmen zu können, welche die Kirche und die Heiligkeit des Sakraments erheischen. Ich bemühe mich, meine Vernunft vor der höchsten Vernunft zum Schweigen zu bringen; ich sage mir: Wer bist du, daß du dich unterfangen könntest, die unendliche Macht zu ermessen? Mit Ehrfurcht spreche ich die Einsetzungsworte und lege ihrer Wirkung all den Glauben bei, der in meinem Herzen wohnt. So viel Unbegreifliches nun auch an diesem Geheimnisse sein mag, so hege ich gleichwohl keine Besorgnis, am Tage des Gerichts dafür bestraft zu werden, daß ich es je in meinem Herzen entweiht habe.

Beehrt mit diesem heiligen Amte, wenn auch nur oft auf der untersten Rangstufe, werde ich nie etwas tun oder sagen, was mich unwürdig machen könnte, die erhabenen Pflichten desselben zu erfüllen. Ich werde den Menschen beständig die Tugend predigen, ich werde sie beständig ermahnen, Gutes zu tun, und ihnen, soweit es in meinen Kräften steht, mit einem guten Beispiele vorangehen. Es wird nicht an mit liegen, wenn ich ihnen nicht Liebe zur Religion einflöße, nicht an mir liegen, wenn ihr Glaube an die Dogmen, die wahrhaft nützlich sind und die jeder Mensch zu glauben verpflichtet ist, nicht befestigt wird: aber da sei Gott vor, daß ich ihnen je das grausame Gesetz der Intoleranz predige, daß ich sie je antreibe, ihren Nächsten zu verabscheuen und zu anderen Menschen zu sagen: Ihr werdet verdammt werden,[222] zu sagen: Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil!145 Wäre ich mit einem höheren Range bekleidet, so könnte mir diese Zurückhaltung allerdings Verdrießlichkeiten bereiten, so aber bin ich unbedeutend, um viel befürchten zu müssen, und ich kann nicht leicht zu einer noch tieferen Stufe herabsinken, als ich einnehme. Was aber auch immer geschehen möge, so werde ich mich doch in meinen Reden nie gegen die göttliche Gerechtigkeit vergehen und nie wider den Heiligen Geist lügen.

Ich habe lange sehnlich gewünscht, Pfarrer zu werden; ich wünsche es noch immer, hoffe aber nicht mehr darauf. Mein lieber Freund, ich kann mir nichts Schöneres als den Beruf eines Pfarrers denken. Ein guter Pfarrer ist ein Diener der Güte, wie eine gute Obrigkeit eine Dienerin der Gerechtigkeit ist. Ein Pfarrer hat nie etwas Böses zu tun; vermag er das Gute auch nicht immer selbst zu tun, so wird er seine Gelegenheit vorübergehen lassen, dazu aufzufordern, und versteht er sich Achtung zu verschaffen, so setzt er es auch oft durch. Ach, wie glücklich würde ich sein, wenn ich mir je die Verwesung einer armen Pfarrei bei guten Leuten in unserem Gebirg übertragen würde, denn ich glaube, es würde zum Glück meiner Pfarrkinder ausfallen. Reichtum würde ich ihnen zwar nicht verleihen können, aber ihre Armut würde ich mit ihnen teilen; ich würde diese von der ihr anklebenden Schande und Verachtung freimachen, die noch unerträglicher sind als[223] der Mangel selbst. Ich würde sie Eintracht und Gleichheit lieben lehren, die das Elend oft verscheuchen und es wenigstens immer erträglich machen. Wenn sie bemerken würden, daß ich in nicht besser daran wäre als sie und trotzdem zufrieden lebte, so würden sie sich in ihr Schicksal finden und in gleicher Zufriedenheit wie ich leben lernen. Bei meinen Belehrungen würde ich mich weniger an den Geist der Kirche als an den Geist des Evangeliums halten, dessen dogmatischer Gehalt einfach, dessen Moral erhaben ist und dessen Inhalt uns nur mit wenigen religiösen Gebräuchen, aber dafür mit desto mehr Werken der Liebe bekannt macht. Ehe ich sie lehrte, was man tun müsse, würde ich mich bemühen, es ihnen an meinem Beispiel zu zeigen, damit sie zur Einsicht gelangten, daß meine Werke mit meinen Worten in Einklang ständen. Lebten in meiner Nachbarschaft oder in meiner Parochie Protestanten, so würde ich bei allen Werken der christlichen Barmherzigkeit zwischen ihnen und meinen wirklichen Pfarrkindern keinen Unterschied machen. Ich würde sie alle ohne Unterschied anhalten, sich untereinander zu lieben, sich als Brüder zu betrachten, alle Religionen zu achten und jeder in der seinigen in Frieden zu leben. In jemanden dringen, die Religion, in der er geboren ist, zu verlassen, heißt meinem Bedünken nach ihn auffordern, ein Unrecht zu begehen, und folglich selbst unrecht tun. Bis wir indes höherer Einsichten teilhaftig werden, wollen wir die öffentliche Ordnung bewahren, in allen Ländern die Gesetze achten, die Gottesverehrung, die sie uns vorschreiben, nicht stören und die Bürger nicht zum Ungehorsam verleiten; wissen wir doch keineswegs mit Sicherheit, ob es für sie ein Glück wäre, sich von ihren Ansichten loszusagen, um andere gegen sie einzutauschen; nur das wissen wir mit aller Sicherheit, daß es ein Unrecht ist, den Gesetzen nicht zu gehorchen.

Ich habe Ihnen hiermit, mein junger Freund, mein Glaubensbekenntnis mündlich so abgelegt, wie es Gott in[224] meinem Herzen liest. Sie sind der erste, den ich habe in mein Herz blicken lassen, und werden vielleicht auch der einzige bleiben. Solange es noch einen festen Glauben unter den Menschen gibt, darf man friedliche Seelen nicht beunruhigen, noch den Glauben der Einfältigen durch Schwierigkeiten erschüttern, die sie nicht aus dem Wege zu räumen vermögen, und die sie beunruhigen, ohne ihnen Aufklärung zu geben. Wenn aber erst einmal alles schwankend geworden ist, muß man den Stamm auf Kosten der Zweige erhalten. Aufgeregte, unsichere, fast eingeschlummerte Gewissen, und solche, die sich in einem ähnlichem Zustand wie das Ihrige befinden, bedürfen der Stärkung und Erweckung, um sie wieder auf den Grund der ewigen Wahrheit zu stellen, muß man die wankenden Pfeiler, an denen sie noch ein Stütze zu haben glauben, vollends einreißen.

Sie stehen jetzt in dem entscheidenden Alter, wo sich der Geist öffnet, um endlich Gewissheit zu erlangen, in welchem das Herz seine Form und seinen Charakter erhält, und man sich für das ganze Leben, sei es zum Guten oder zum Bösen, entscheidet. Später ist unser Wesen bereits härter geworden, und neue Eindrücke lassen keine Spuren mehr zurück. Junger Mann, lassen sie Ihrer jetzt noch geschmeidigen Seele das Gepräge der Wahrheit aufdrücken! Wenn ich meiner selbst sicherer wäre, würde ich Ihnen gegenüber einen dogmatischen und keinen Widerspruch zulassenden Ton angeschlagen haben. Aber ich bin ein Mensch, bin unwissend und dem Irrtum unterworfen. Was konnte ich also tun? Ich habe Ihnen mein Herz rückhaltlos geöffnet; was ich für gewiß halte, habe ich Ihnen so dargestellt; meine Zweifel habe ich Ihnen als Zweifel, meine Ansichten als Ansichten zu erkennen gegeben. Ich habe Ihnen weder die Gründe meines Zweifelns noch meines Glaubens verhehlt. Jetzt tritt an Sie die Aufgabe heran, zu urteilen. Sie haben sich Zeit genommen; diese Vorsicht[225] ist weise und flößt mir eine gute Meinung von Ihnen ein. Lassen Sie es Ihr Erstes sein, Ihr Gewissen in den Zustand zu versetzen, indem es sich nach Aufklärung sehnt. Seien Sie aufrichtig gegen sich selbst. Eignen sie sich von meinen Ansichten dasjenige an, wovon sie sich überzeugt halten, das übrige aber verwerfen Sie. Bis jetzt sind Sie durch das Laster noch nicht in hohem Grade verderbt, daß Sie Gefahr liefen, eine schlechte Wahl zu treffen. Ich würde Ihnen den Vorschlag machen, daß wir uns darüber miteinander berieten, wenn man sich nicht beim Disputieren sofort erhitzte. Eitelkeit und Eigensinn mischen sich ein, und mit der Aufrichtigkeit ist es dann vorbei. Mein Freund, disputieren Sie niemals, denn durch bloßes Disputieren klärt man weder sich selbst noch andere auf. Ich für meinen Teil habe erst nach jahrelangem Nachdenken meine Ueberzeugung gewonnen. An ihr halte ich nun fest; mein Gewissen ist ruhig, mein Herz zufrieden. Wenn ich eine neue Prüfung meiner Ansichten vornehmen wollte, so würde ich nicht mit einer reineren Liebe zur Wahrheit an dieselbe herantreten, und mein jetzt schon weniger tätiger Geist würde auch weniger imstande sein, sie zu erkennen. Ich werde bleiben wie ich bin, aus gerechter Furcht, es könnte die Neigung, mich Betrachtungen hinzugeben, allmählig in eine müßige Leidenschaft ausarten, mich in der Ausübung meiner Pflichten erkalten und in meine frühere Zweifelsucht zurücksinken lassen, ohne daß ich Kraft fände, dieselbe siegreich zu bekämpfen. Mehr als die Hälfte meines Lebens ist abgelaufen; ich habe nur noch gerade so viel Zeit als ich gebrauche, um aus den Lehren der Vergangenheit Nutzen zu ziehen, und meine Irrtümer durch meine Tugenden wieder gutzumachen. Irre ich, so geschieht es wider Willen. Derjenige, welcher im Innersten meines Herzens liest, weiß gar wohl, daß ich meine Blindheit nicht liebe. Außerstande, mich durch eigene Einsichten aus ihr emporzuarbeiten, bleibt mir als einziges Mittel, Befreiung von ihr zu finden ein[226] fleckenloses Leben, und wenn Gott dem Abraham selbst aus Steinen Kinder zu erwecken vermag, so ist jeder Mensch zu der Hoffnung berechtigt, er werde erleuchtet werden, wenn er sich dessen würdig macht.

Wenn meine Betrachtungen Sie dazu bewegen, so zu denken wie ich, so daß Sie sich meine Ansichten aneignen und wir in unserem Glaubensbekenntnisse völlig übereinstimmen, dann gebe ich Ihnen folgenden Rat: Setzten Sie Ihr Leben nicht mehr den Versuchungen des Elends und der Verzweiflung aus. Führen Sie nicht länger ein schimpfliches Leben in Abhängigkeit von anderen, stehen Sie davon ab, es durch armseliges Bettelbrot zu fristen. Kehren Sie in ihr Vaterland zurück, nehmen Sie die Religion Ihrer Väter wieder an, befolgen Sie die Vorschriften derselben mit aller Aufrichtigkeit Ihres Herzens und sagen Sie sich nie wieder von ihr los. Sie ist sehr einfach und sehr heilig. Unter allen Religionen der Erde halte ich sie für diejenige deren Moral die reinste ist, und welche die Vernunft am besten zu befriedigen vermag. Was die Reisekosten anlangt, so seien Sie deshalb unbesorgt; sie werden aufgebracht werden. Ebensowenig überlassen Sie sich einer falschen Scham, als ob ihre Rückkehr demütigend für Sie wäre; das Begehen eines Fehlers, nicht aber die Verbesserung desselben muß uns die Schamröte in die Wangen treiben. Sie stehen noch in dem Alter, indem man für alles Verzeihung erhält, in dem man jedoch nicht mehr ungestraft sündigen darf. Wenn Sie nur der Stimme Ihres Gewissens Gehör schenken wollen, so werden tausend eitle Hindernisse vor ihr verschwinden. Sie werden begreiflich finden, daß es bei der Ungewißheit, in welcher wir schweben, eine nicht entschuldigende Vermessenheit ist, sich zu einer anderen Religion zu bekennen als zu der, in welcher man geboren ist, und daß es eine Falschheit ist, die, zu der man sich einmal bekennt, nicht mit aller Aufrichtigkeit auszuüben. Lebt man im Irrtum, so beraubt[227] man sich dadurch eines nicht zu unterschätzenden Entschuldigungsgrundes vor dem Richterstuhl des höchsten Richters. Sollte er dem Irrtum, in welchem man erzogen ist, nicht eher verzeihen, als den, in welchen man nach eigener Wahl gefallen ist?

Mein Sohn, erhalten Sie Ihre Seele beständig in dem Zustande, daß sie das Dasein eines Gottes wünscht, und es wird dann nie ein Zweifel an seinem Dasein in Ihrer Seele aufsteigen. Seien Sie übrigens, für welche Konfession Sie sich entscheiden mögen, eingedenk, daß die wahren Pflichten der Religion von den Einrichtungen der Menschen unabhängig sind, daß ein rechtschaffenes Herz der wahre Tempel Gottes ist, daß es in jedem Lande und in jeder Religion als die Summe des Gesetzes gilt, Gott über alles und seinen Nächsten als sich selbst zu lieben, daß es keine Religion gibt, die von den Pflichten der Sittenlehre entbindet, daß diese das eigentliche Wesen der Religion ausmachen, daß der innere Gottesdienst die erste dieser Pflichten ist, und daß es ohne den Glauben keine wahrhafte Tugend gibt.

Fliehen Sie diejenigen, die unter dem Vorwande, die Natur erklären zu wollen, trostlose Lehren in die Menschenherzen ausstreuen, und deren durchscheinender Skeptizismus hundertmal absprechender und entschiedener ist als der bestimmte Ton ihrer Gegner. Unter dem anmaßungsvollen Vorgeben, sie allein seien erleuchtet, wahr und aufrichtig, unterwerfen sie uns herrisch ihren absprechenden Entscheidungen, und geben sich das Ansehen, als ob sie uns in den unverständlichen Systemen, die sie in ihrer Phantasie aufgebaut haben, den wahren Grund der Dinge enthüllten. Da sie übrigens alles, was die Menschen hoch und heilig halten, umstoßen, vernichten und mit Füßen treten, so rauben sie den Bekümmerten den letzten Trost in ihren Leiden während sie den Mächtigen und den Reichen den einzigen Zügel ihrer Leidenschaften abnehmen. Sie lassen beim Verbrechen[228] die Gewissensbisse im Grunde des Herzens nicht aufkommen, nehmen der Tugend die Hoffnung und rühmen sich obendrein, Wohltäter des Menschengeschlechts zu sein. Niemals ist ihrer Behauptung nach die Wahrheit den Menschen schädlich. Ich glaube ebenso fest wie sie, und gerade dies ist meiner Meinung ein sprechender Beweis dafür, daß das, was sie lehren, nicht Wahrheit ist.146[229]

Guter Jüngling, seien sie aufrichtig und wahr ohne Stolz. Lernen Sie die Kunst, auch einmal etwas nicht zu wissen; dann werden Sie weder sich noch andere täuschen.[230] Wenn Ihre Fähigkeiten bei weiterer Ausbildung Sie jemals in den Stand setzen, als öffentlicher Redner aufzutreten, so folgen Sie stets nur der Stimme Ihres Gewissens, ohne[231] sich darum zu kümmern, ob man Ihnen Beifall zollt oder nicht. Der Mißbrauch des Wissens erzeugt den Unglauben. Jeder Gelehrte sieht mit Verachtung auf die Meinung der Volksmenge herab; jeder will seine Meinung für sich allein[232] haben. Die hochmütige Philosophie führt zur Freigeisterei, wie blinde Frömmigkeit zum Fanatismus. Halten Sie sich von beiden Extremen gleich weit entfernt; entfernen Sie sich nie von dem Wege der Wahrheit oder von dem, was Ihnen in der Einfalt Ihres Herzens als Wahrheit erscheinen wird, weder aus Eitelkeit noch aus Schwäche. Wage Sie, auch vor den Philosophen Ihren Gott zu bekennen, predigen Sie den Unduldsamen rücksichtslos Humanität. Sie werden vielleicht allein für Ihre Meinung eintreten müssen, aber Sie werden in sich selbst ein Zeugnis tragen, das Ihnen das der Menschen ersetzen wird. Mögen diese Sie lieben oder hassen, mögen sie Ihre Schriften lesen oder verachten, das hat nichts auf sich. Sagen Sie, was wahr ist, tun Sie, was gut ist. Darauf kommt es an, daß der Mensch hienieden seine Pflichten erfüllt; am besten arbeitet man für sich, wenn man sich selbst vergißt. Mein Sohn, das Sonderinteresse verleitet uns zu Täuschungen, nur die Hoffnung des Gerechten täuscht nimmer.«


* * *


Ich habe dies Bekenntnis hier eingeschoben, nicht als ein Richtschnur für die Gedanken, an die man sich in Sachen der Religion zu halten hat, sondern als ein Beispiel der Art und Weise, wie man dies Thema in vernünftiger Weise behandeln kann, damit man sich nicht von der Methode, die ich aufzustellen gesucht habe, zu entfernen braucht. Solange man sich nicht von der Autorität der Menschen oder von den Vorurteilen des Landes, in welchem man geboren ist, beeinflussen läßt, können uns die bloßen Einsichten der Vernunft in die Einrichtung der Natur nicht weiter als bis zur natürlichen Religion führen, und auf die beschränke ich mich bei meinem Emil. Wenn er noch eine andere haben soll, so steht mir nicht mehr das Recht zu, ihm hierbei als Führer zu dienen. Es ist allein seine Sache, sie zu wählen.[233]

Wir arbeiten im Einklang mit der Natur; während sie den physischen Menschen bildet, bemühen wir uns, den moralischen Menschen auszubilden. Allein wir vermögen nicht mit ihr gleichen Schritt zu halten. Der Körper ist bereits kräftig und stark, wenn die Seele noch kraftlos und schwach ist, und was Menschenkunst auch aufbieten möge, so eilt die körperliche Entwicklung der Vernunft doch stets voraus. Die zu frühzeitige körperliche Reife zurückzuhalten und die Vernunft anzuregen, haben wir bisher unsere Hauptsorge sein lassen, damit der Mensch immer so viel als möglich in sich einiger sei. Dadurch, daß wir sein Naturell entwickelten, haben wir seine erwachende Sinnlichkeit abgelenkt. Die geistigen Objekte mäßigten den Eindruck der sinnlichen Objekte. Indem wir mit ihm bis auf dem Urgrund aller Dinge zurückgingen, haben wir die Sinne nicht die Herrschaft über ihn gewinnen lassen. Es war natürlich, daß wir uns von dem Studium der Natur zur Aufsuchung ihres Schöpfers erhoben.

In wie vieler Beziehung haben wir uns wieder einen neuen Einfluß über unseren Zögling verschafft, wenn wir erst bis dahin gelangt sind! Wieviel neue Mittel, zu seinem Herzen zu reden, sind uns dadurch an die Hand gegeben! Nun erst findet er sein wahres Interesse daran, gut zu sein, das Gute zu tun, auch ungesehen von der Menschen Augen und ohne Zwang der Gesetze, gerecht zu sein im Widerstreite des göttlichen Willens mit seinem eigenen, seine Pflicht zu erfüllen selbst mit Daransetzung seines Lebens, und die Tugend in seinem Herzen zu bewahren, nicht allein aus Liebe zur Ordnung, welcher jeder stets die Liebe zu sich selbst vorzieht, sondern aus Liebe zum Urheber seines Daseins, einer Liebe, welche mit jener Selbstliebe zusammenschmilzt, um sich endlich der dauernden Gleichgültigkeit erfreuen zu können, die ihm die Ruhe eines guten Gewissens und die Betrachtung des höchsten Wesens in einem anderen Leben verheißen, nachdem er das irdische gut angewendet[234] hat. Schwindet dieser Glaube, dann erblicke ich unter den Menschen nur noch Ungerechtigkeit, Heuchelei und Lüge. Das Sonderinteresse, welches bei einem Konflikte, verschiedener Interessen notwendig das Uebergewicht erhält, lehrt jeden, das Laster mit der Maske der Tugend zu schmücken. Alle anderen Menschen sollen mein Bestes auf Kosten des ihrigen herbeiführen. Alles soll sich nur um mich drehen; mag das ganze Menschengeschlecht in Not und Elend dahinsterben, wenn es nur so möglich ist, mir einen Augenblick des Schmerzes und Hungers zu ersparen. So klingt die innere Sprache eines jeden Ungläubigen, der sich der sich nur auf seine Vernunft verläßt. Ja ich werde, solange ich lebe, behaupten: Wer in seinem Herzen spricht »Es ist kein Gott« und trotzdem eine andere Sprache führt, der ist entweder ein Lügner oder ein Unsinniger.

Doch, lieber Leser, ich fühle nur zu wohl, daß du trotz aller meiner Mühe meinen Emil in einem ganz anderen Licht erblicken wirst als ich. Du wirst ihn dir stets euren jungen Leuten ähnlich vorstellen, beständig leichtsinnig, ausgelassen, flatterhaft, von Lustbarkeit zu Lustbarkeit, von Vergnügen zu Vergnügen eilend, ohne sich je von irgend etwas fesseln zu lassen. Es wird dein Lachen erregen, wenn du siehst, wie ich aus einem feurigen, lebhaften leidenschaftlichen, aufbrausenden jungen Mann einen beschaulichen Charakter, einen Philosophen, einen förmlichen Theologen bilde. Du wirst sagen: Dieser Träumer macht stets auf Hirngespinste Jagt; indem er uns einen Zögling seines eigenen Machwerks vorhält, bildet er ihn nicht bloß, nein, er erschafft ihn, läßt ihn fertig aus seinen Gehirn hervorgehen, und während er sich immer einbildet, der Natur zu folgen, entfernt er sich doch jeden Augenblick weiter von ihr. Wenn ich nun meinerseits meinen Zögling mit dem eurigen vergleiche, so entdecke ich kaum etwas, was sie miteinander gemein haben könnten. Bei einer so verschiedenen Erziehung müßte es ja auch fast als ein Wunder erscheinen,[235] wenn er ihnen in irgendeiner Beziehung ähnlich wäre. Da er seine Kindheit in all der Freiheit, die jene sich im Jünglingsalter nehmen, zugebracht hat, so beginnt er sich in seinem Jünglingsalter selbst in das Gesetz zu fügen, dem man sie schon als Kinder unterwarf. Dieses Gesetz wird jenen zur Geißel, unter welcher sie sich nur mit Schauder beugen; sie erblicken darin die unausgesetzte Tyrannei ihrer Lehrer und kommen endlich zu dem Wahne, daß sie nur dadurch aus der Kindheit herauszutreten vermögen, daß sie jede Art von Joch abschütteln;147 dann suchen sie sich den langen Zwang, in dem man sie gehalten hat, schadlos zu halten, wie ein Gefangener, wenn er endlich seiner Fesseln entledigt ist, seine Glieder streckt, dehnt und schüttelt. Emil dagegen setzt seine Ehre darein, ein Mann zu werden und sich freiwillig dem Joche der sich regenden Vernunft zu unterwerfen. Da sein Körper bereits völlig ausgebildet ist, so bedarf er der gewohnten Bewegung nicht länger und beginnt nun sich von selbst ruhig zu verhalten, während sein erst halb entwickelter Geist seine Schwingen regt. So ist das Alter der Vernunft für jene das Alter der Ungebundenheit, für diesen das Alter der zunehmenden Urteilskraft.

Wollt ihr aber wissen, wer von ihnen, sie oder er, hierin der Ordnung der Natur am nächsten kommt, so betrachtet den Abstand zwischen denjenigen, welche ihr mehr oder weniger fernstehen; betrachtet die jungen Leute auf dem Lande und seht, ob sie sich derselben Ausgelassenheit hingeben wie die eurigen. »In ihrer Kindheit«, sagt Herr le Beau, »sieht man die Wilden beständig tätig und unaufhörlich mit allerlei Spielen beschäftigt, die den Körper[236] in steter Bewegung erhalten. Kaum sind sie aber in das Jünglingsalter getreten, so werden sie gesetzt und in sich gekehrt und beteiligen sich höchstens noch an ernsten und mit Gefahren verknüpften Spielen.«148 Da Emil in aller Freiheit junger Bauern und Wilden aufgewachsen ist, so muß auch bei ihm, wenn er heranwächst, eine gleiche Veränderung und ein gleicher Stillstand wie bei jenen eintreten. Der ganze Unterschied besteht darin, daß seine Tätigkeit nicht nur Spiel und Ernährung zum Zwecke hat, sondern daß er unter seinen Arbeiten und Spielen auch denken lernte. Hat er nun auf diesem Wege jenes Ziel erreicht, so ist auch schon die Neigung in ihm vorhanden, die Bahn zu wandeln, welcher ich ihn jetzt führen will. Die Gegenstände des Nachdenkens, die ich ihm darbiete, reizen seine Wißbegierde, weil sie an sich schön und für ihn völlig neu sind, und weil er imstande ist, sie zu begreifen. Wie sollen sich dagegen eure jungen Leute, die sich durch eure Faden Lektionen, durch eure langatmigen Moralpredigten und euer ewiges Katechismuslernen gelangweilt und ermattet fühlen, nicht gegen eine Geistesbildung sträuben, die man ihnen so abstoßend gemacht, sich nicht gegen die lästigen Vorschriften auflehnen, mit denen man sie unaufhörlich überschüttet hat, sich nicht gegen die Betrachtungen über ihren Schöpfer ihres Daseins verschießen, den man ihnen stets als Feind ihrer Freuden dargestellt hat? Alles dies hat ihnen nur Widerwillen, Abneigung und Ekel eingeflößt. Der Zwang hat sie davon zurückgeschreckt. Welches Mittel sollte nun, wo sie anfangen über sich selbst zu bestimmen, sie wohl dazu bewegen können, daß sie sich damit auch ferner beschäftigen? Was ihr Wohlgefallen erregen soll, muß neu sein; mit dem, worüber man mit Kindern spricht, muß man sie verschonen. Mit meinem Zögling verhält es sich ebenso. Sobald er ein Mann wird, rede ich mit ihm wie mit einem Manne und sage ihm nur[237] solche Dinge die ihm neu sind. Gerade, weil andere sie langweilig finden, müssen sie seinem Geschmacke zusagen.

Indem ich auf diese Weise den Fortschritt der Natur zugunsten der Vernunft zurückhalte, lasse ich Emil doppelt Zeit gewinnen. Habe ich aber diesen Fortschritt in der Tat aufgehalten? Nein, ich habe nur die Einbildungskraft verhindert, ihn zu beschleunigen; ich habe durch Lehren anderer Art den unzeitigen Lehren, welche der Jüngling von anderer Seite her erhält, das Gleichgewicht gehalten. Wenn wir ihn, sobald ihn der Strom unserer erziehlichen Mittel mit fortreißt, durch andere Erziehungsmittel in eine entgegengesetzte Richtung hineindrängen, so heißt dies nicht, ihn von seinem rechtmäßigen Platz zu entfernen, sondern auf demselben erhalten.

Endlich erscheint nun aber auch der richtige Zeitpunkt der Natur; er muß kommen. Da der Mensch sterben muß, so muß er sich fortpflanzen, damit die Gattung fortdauere und die Weltordnung erhalten werde. Sobald euch nun die Zeichen, welche ich oben besprochen habe, zu erkennen geben, daß der kritische Augenblick sich naht, so gebt ihm gegenüber sofort den bisherigen Ton und zwar für immer auf. Er steht zwar noch unter euerer Obhut, ist aber nicht mehr euer Zögling. Er ist ein Mann, behandelt ihn deshalb auch von nun an als solchen.

Wie! Ich soll auf meine Autorität verzichten, wenn ich sie gerade am nötigsten gebrauche? Ich soll den soeben erst in das mannbare Alter eingetretenen Jüngling in dem Augenblicke sich selbst überlassen, wo er sich am wenigsten selbst zu leiten versteht und am meisten zu Ausschweifungen geneigt ist? Ich soll mich meiner Rechte begeben, wenn es für ihn von der größten Bedeutung ist, daß ich dieselben in Anwendung bringe? Deiner Rechte? Wer redet denn von Verzichtleistung auf dieselben? Jetzt erst beginnen sie für ihn. Was ihr bis jetzt von ihm erlangtet, habt ihr nur auf dem Wege der Gewalt oder List erreicht.[238]

Autorität und Gebote der Pflicht waren ihm unbekannt. Nur durch Anwendung von Zwang oder Täuschung konnte man ihn zum Gehorsam bringen. Nun überschaut aber die vielen neuen Bande, mit denen ihr sein Herz umgeben habt! Vernunft, Freundschaft, Dankbarkeit, tausendfache Regungen der Zärtlichkeit sprechen in seinem Tone zu ihm, den er nicht mißverstehen kann. Das Laster hat ihn gegen ihre Stimme noch nicht taub gemacht. Bis jetzt ist er nur für die natürlichen Leidenschaften empfänglich. Die Hauptleidenschaft, die Liebe zu sich selbst, liefert ihn euch in die Hände, ebenso die Gewohnheit. Entreißt ihn euch auch die Aufwallung eines Augenblicks, so führt ihn doch die Reue sofort wieder zu euch zurück. Das Gefühl, das ihn an euch fesselt, ist allein von Dauer; alle übrigen sind flüchtig und verwischen sich gegenseitig. Laßt ihn nur nicht verderben, so wird er sich stets folgsam zeigen. Erst wenn er schon verdorben ist, beginnt er widersetzlich zu werden.

Ich räume ein, daß er, wenn ihr den in ihm aufsteigenden Begierden offen entgegenträtet und die neuen Bedürfnisse, die sich in ihm fühlbar machen, unklugerweise als Verbrechen behandelt, euch nicht lange Gehör schenken würde; solltet ihr indes von meiner Methode abgehen, so bürge ich euch für nichts mehr. Seid stets eingedenk, daß ihn nur ein Diener der Natur seid, dann werdet ihr nie als Feinde derselben auftreten.

Wofür soll man sich nun aber entscheiden? Man geht hierbei gewöhnlich von der Voraussetzung aus, daß es nur eine Alternative gebe, entweder seine Neigungen zu begünstigen oder zu bekämpfen, sein Tyrann zu werden oder seinen Leidenschaften Vorschub zu leisten. Mit beidem sind jedoch so gefährliche Folgen verknüpft, daß man bei der Wahl nicht vorsichtig genug zu Werke gehen kann.

Das erste Mittel, welches sich darbietet, um dieser Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, besteht darin, ihn so früh wie möglich zu verheiraten. Es ist unstreitig der[239] sicherste und naturgemäßeste Ausweg; trotz dem hege ich gerechten Zweifel, ob es auch der beste und vorteilhafteste ist. Ich werde weiter unten meine Gründe dafür anführen. Vorläufig will ich indes zugeben, daß man junge Leute im mannbaren Alter verheiraten muß. Aber dieses Alter erscheint vor der Zeit; wir selbst haben dazu beigetragen, daß er zu früh eintritt; man muß es also bis zur völligen Reife hinauszuschieben versuchen.

Brauchte man nur auf die Neigungen zu hören und ihren Anzeichen nachzugehen, so ließe sich das bald erreichen. Allein es gibt so viel Widersprüche zwischen den Rechten der Natur und unseren sozialen Gesetzen, daß man zu einer Ausgleichung derselben fortwährend zu Ausflüchten und Winkelzügen seine Zuflucht nehmen muß. Es gehört ein großer Aufwand von Kunst dazu, um den sozialen Menschen vor einer völligen Verkünstelung zu bewahren.

Aus den oben auseinandergesetzten Gründen bin ich der Ansicht, daß man die von mir angegebenen sowie andere ähnliche Mittel die Unkenntnis der Begierden und die Reinheit der Sinne wenigstens bis zum zwanzigsten Jahre zu erhalten vermag. Dies ist so wahr, daß bei den germanischen Völkern ein jünger Mann, welcher vor diesem Alter die Keuschheit verletzte, auf immer für ehrlos galt, und mir Recht suchen die Geschichtschreiber den Grund zu der Körperkraft derselben und zu der Menge ihrer Kinder in der Enthaltsamkeit während der Jugend.

Dieser Zeitpunkt läßt sich sogar noch viel weiter hinausschieben, und noch vor wenig Jahrhunderten war selbst in Frankreich nichts gewöhnlicher. Unter anderen bekannten Beispielen verdient der Vater des Montaigne, ein nicht weniger gewissenhafter und wahrheitsliebender als kräftiger und kerngesunder Mann, der Erwähnung, der sich nach seiner eigenen eidlichen Versicherung in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahre, nach längerer Dienstzeit in den italienischen Kriegen, als reiner Junggesell verheiratet hat, und man[240] kann aus den Schriften seines Sohnes ersehen, welche Lebenskraft und Heiterkeit sich sein Vater bis über sein sechzigstes Jahr hinaus bewahrt hat. Sicherlich stützt sich die entgegengesetzte Anschauung mehr auf unsere Sitten und Vorurteile, als auf die Kenntnis des Menschengeschlechts im allgemeinen.

Ich brauche deshalb nicht erst auf das Beispiel unserer Jugend einzugehen. Es liefert keinen Beweis gegen den, welcher nicht so erzogen ist wie sie. In Erwägung dessen, daß die Natur in dieser Beziehung keinen bestimmten Zeitpunkt hat, dessen Eintritt nicht beschleunigen oder verzögern ließe, glaube ich, ohne ihr Gesetz zu verletzen, annehmen zu können, daß sich Emil bis jetzt durch meine Sorgfalt seine ursprüngliche Unschuld bewahrt hat, sehe aber auch, daß sich dieser glückliche Lebensabschnitt seinem Ende nähert. Von beständig wachsenden Gefahren umringt, wird er mir, was ich auch immer tun möge, bei der ersten Gelegenheit entschlüpfen, und diese Gelegenheit wird nicht lange ausbleiben. Er wird dem blinden Triebe seiner Sinne folgen, und man kann tausend gegen eins wetten, daß er auf dem besten Wege ist, sich ins Verderben zu stürzen. Ich habe zu viele Betrachtungen über die Sitten der Menschen angestellt, um nicht den unüberwindlichen Einfluß dieses ersten Augenblicks auf die ganze übrige Lebenszeit zu erkennen. Verstelle ich mich und nehme ich den Anschein an, als ob ich nichts bemerkte, so macht er sich meine Schwäche zunutze. Während er mich hinter das Licht zu führen glaubt, verachtet er mich, und ich bin an seinem Verderben schuld. Mache ich dagegen den Versuch, ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, so ist es nicht mehr Zeit, und er hört nicht mehr auf mich. Ich werde ihm unbequem, verhaßt und unerträglich. Er wird nicht säumen, sich meiner zu entledigen. Unter diesen Umständen bleibt mir vernünftigerweise nur noch ein Mittel übrig, das nämlich, ihn selbst für seine Handlungen verantwortlich zu machen, ihn[241] wenigstens vor den Täuschungen des Irrtums zu bewahren und ihm offen die Gefahren darzulegen, von denen er umgeben ist. Hatte ich ihn bisher durch seine Unwissenheit zurückgehalten, so müssen mit jetzt seine Ansichten zu gleichem Zwecke dienen.

Diese neuen Belehrungen sind von Wichtigkeit, und es erscheint angemessen, die Dinge von einem höheren Punkt aus zu betrachten. Das ist der rechte Augenblick, ihm gleichsam Rechenschaft abzulegen; ihm den Nachweis über die Verwendung seiner und meiner Zeit zu führen; ihm zu erklären, was er ist, und was ich bin, was ich getan habe, und was er getan hat, was wir uns gegenseitig schuldig sind; ihm alle seine moralischen Verhältnisse, alle seine Verpflichtungen zu erklären, die er eingegangen ist und auf welche andere ihm gegenüber eingegangen sind; ihm darzulegen, welchen Höhepunkt er in der Entwicklung seiner Fähigkeiten erreicht, welchen Weg er noch zurückzulegen hat, welche Schwierigkeiten ihm noch auf demselben begegnen werden und durch welche Mittel sich dieselben überwinden lassen, worin ich ihm noch ferner Beistand leisten kann, worin er sich in Zukunft nur allein zu Helfen vermag, kurz, ihm den kritischen Punkt zu zeigen, auf welchem er sich befindet, ihm die neuen Gefahren, welche ihn umringen, und alle jene stichhaltigen Gründe vorzuführen, die ihn dazu bestimmen müssen, mit aller Aufmerksamkeit über sich zu wachen, bevor er den in ihm aufsteigenden Gelüsten nachgibt.

Laßt nicht außer acht, daß man bei der Leitung eines Erwachsenen gerade das Gegenteil von dem tun muß, was ihr bei der Leitung eines Kindes getan habt. Hegt kein Bedenken, ihm in jenen gefährlichen Geheimnissen zu unterrichten, welche ihr ihm so lange mit aller Sorgfalt verborgen habt. Da er sie am Ende doch einmal erfahren muß, so kommt viel darauf an, daß er sie weder von einem anderen noch von sich selbst, sondern nur von euch kennen lerne. Da[242] er von nun an gezwungen sein wird, gegen dieselben anzukämpfen, so muß er, um nicht der Gefahr der Ueberraschung ausgesetzt zu sein, seinen Feind doch kennen.

Nie sind junge Leute, die man in bezug auf diese Gegenstände aufgeklärt findet, ohne zu wissen, wie sie zu dieser Kenntnis gelangt sind, es ungestraft geworden. Da sich diese unbedachtsame Unterweisung um keinen ehrbaren Gegenstand drehen kann, so befleckt sie wenigstens die Einbildungskraft derer, die sie empfangen, und flößt ihnen Neigungen zu den Lastern derer ein, die sie erteilten. Dies ist jedoch nicht einmal alles. Das ist die Handhabe, deren sich die Dienstleute bedienen, um sich in den Geist des Kindes einzuschleichen. Dadurch gewinnen sie sein Vertrauen, malen ihn seinen Erzieher als eine mürrische und lästige Persönlichkeit aus, und einen Lieblingsgegenstand ihrer geheimen Unterredungen bilden die Klatschereien über ihn. Ist es mit dem Zögling erst so weit gekommen, dann kann der Erzieher sein Amt nur getrost aufgeben; Gutes vermag er nicht mehr zu wirken.

Weshalb wählt sich nun aber das Kind solche seltsame Vertraute? Regelmäßig wegen der Tyrannei derer, welche seine Erziehung leiten. Weshalb sollte es gegen dieselben Zurückhaltung beobachten, wenn es nicht dazu gezwungen würde? Weshalb sollte es sich über sie beklagen, wenn es keinen Grund zur Klage hätte? Sie sind naturgemäss seine ersten Vertrauten; an dem Eifer, mit dem es kommt, ihnen alle seine Gedanken mitzuteilen, kann man wahrnehmen, daß es sie nur zur Hälfte gedacht zu haben meint, solange es ihnen dieselben nicht bekannt hat. Ihr könnt mit Sicherheit darauf rechnen, daß das Kind, sobald es von euerer Seite weder Strafpredigt noch Rüge zu befürchten hat, euch stets alles sagen wird, und daß man sich nicht unterfangen wird, ihm etwas anzuvertrauen, was er euch verschweigen muß, wenn man sich überzeugt halten kann, daß es euch nie etwas verschweigt.[243]

Was mir die Richtigkeit meiner Methode am augenscheinlichsten macht, ist der Umstand, daß ich, wenn ich mir über ihre Erfolge so genau wie möglich Rechenschaft ablege, doch nie im Leben meines Zöglings auch nur eine einzige Lage finde, die mir irgendein freundliches Bild von ihm hinterließe. Selbst in dem Augenblick, wo ihn die Leidenschaftlichkeit sei nes Temperaments hinreißt, und in welchen er, voller Empörung gegen die Hand, die ihn zurückhält, sich sträubt und mir zu entschlüpfen beginnt, erkenne ich in der Unruhe seines Gemüts, in seinem Aufbrausen noch immer seine ursprüngliche Einfalt wieder. Sein Herz, das noch so rein wie sein Körper ist, kennt ebensowenig Verstellung wie Laster. Noch haben Vorwürfe und verächtliche Behandlung sein Ehrgefühl nicht abgestumpft; nie hat elende Furcht ihm den Gedanken, sich zu verstellen, eingeflößt. Noch besitzt er die ganze Unbedachtsamkeit der Unschuld, ohne Bedenken überläßt er sich seiner Naivität, er weiß noch nicht, welchen Nutzen eine Täuschung verschaffen könnte. Keine Bewegung geht in seinem Innern vor, die sein Mund oder seine Augen nicht erraten ließen, und oft sind mir die Gedanken, welche ihn erfüllen, früher bekannt als ihm selbst.

Solange er fortfährt, mir in solcher Offenherzigkeit seine Seele zu enthüllen und mit alles, was er fühlt, mit Freuden zu offenbaren, habe ich nichts zu befürchten; die Gefahr ist noch nicht nahe. Sobald er jedoch schüchterner und zurückhaltender wird, sobald mir in seinen Unterhaltungen die erste Verlegenheit der Scham auffällt, dann regt der Trieb sich in ihm schon, ja, dann beginnt sich bereits die Vorstellung des Bösen mit demselben zu verbinden. Jetzt gilt es, keinen Augenblick mehr zu verlieren, und wenn ich mich nicht beeile, ihn selbst zu unterrichten, so wird er bald auch wider meinen Willen unterrichtet sein.

Mehr als einer meiner Leser wird, selbst wenn er auf meine Ideen eingeht, die Ansicht hegen, daß es sich hierbei[244] nur um eine gelegentlich herbeigeführte Unterredung mit dem jungen Manne handle, und daß nun damit alles abgemacht sei. Ach, daß sich das menschliche Herz leider nicht auf diese Weise lenken läßt! Worte sind bedeutungslos, wenn man nicht den Augenblick der Unterredung vorbereitet hat. Bevor man den Samen ausstreut, muß man das Erdreich bestellen. Der Same der Tugend geht schwer auf. Es bedarf langwieriger Vorbereitungen, ehe er Wurzel zu schlagen vermag. Eine der Ursachen, infolge deren die Predigten so äußerst wenig Nutzen stiften, liegt darin, daß man sie ohne Unterschied und Wahl an alle Welt richtet. Wie kann man sich nur einbilden, daß ein und dieselbe Predigt sich für so viele Zuhörer eignen könnte, die sich in so verschiedener Stimmung befinden und an Geist, Temperament, Alter, Geschlecht, Lebensstellung und Ansichten einander so unähnlich sind? Es gibt vielleicht nicht zwei, auf welche das, was an alle gerichtet ist, vollkommen paßt, und alle unsere Seelenzustände haben so wenig Beständigkeit, daß es im Leben eines jeden Menschen vielleicht wieder nicht zwei Augenblicke gibt, in denen dieselbe Rede den gleichen Eindruck auf ihn hervorbringt. Beurteilt nun selbst, ob dann, wenn die entbrannte Sinnlichkeit den Verstand zum Schweigen bringt und den Willen beherrscht, wohl die rechte Zeit ist, auf die ernsten Lehren der Weisheit zu lauschen. Redet deshalb mit jungen Leuten nie von Vernunft, nicht einmal wenn sie das Alter der Vernunft erreicht haben, bevor ihr sie nicht in den Stand versetzt habt, euch zu verstehen. An der Wirkungslosigkeit der meisten Reden tragen weit mehr die Lehrer als die Schüler die Schuld. Der Pedant und der wahre Erzieher sagen ungefähr dasselbe, allein ersterer sagt es bei jeder Gelegenheit, während letzterer es nur dann in Worte kleidet, wenn er des Erfolges sicher ist.

Wie ein Nachtwandler, der im Schlaf umherirrt, mit geschlossenen Augen am Rande eines Abgrundes dahinschreitet,[245] in den er beim plötzlichen Erwachen hinabstürzen würde, so entgeht auch mein Emil im Schlafe der Unwissenheit Gefahren, die er bis jetzt noch gar nicht bemerkt; erwecke ich ihn plötzlich, so ist er verloren. Unser Bemühen muß deshalb zunächst darauf gerichtet sein, ihn vom Abgrunde zu entfernen; erst dann werden wir ihn wecken können, um ihn denselben aus der Ferne zu zeigen.

Lesen, Einsamkeit, Müßiggang, weichliche und sitzende Lebensweise, Umgang mit Frauen und jungen Leuten, das sind die gefährlichen Abwege, auf die er in seinem Alter gar leicht gerät und die ihn unaufhörlich dicht neben der Gefahr erhalten. Durch andere sinnliche Gegenstände suche ich seine Sinnlichkeit von ihnen abzulenken. Dadurch, daß ich seinen Lebensgeistern eine andere Richtung vorzeichne, leite ich sie von derjenigen ab, die sie schon einzuschlagen anfingen. Durch stete Uebung seines Körpers in allerlei anstrengenden Arbeiten hemme ich die Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft, die ihn fortzureißen droht. Wenn die Arme unablässig arbeiten, so ruht die Einbildungskraft; wenn der Körper völlig ermüdet ist, fängt das Herz nicht Feuer. Die kürzeste und leichteste Vorsichtsmaßregel besteht darin, ihn der örtlichen Gefahr zu entrücken. Zunächst darf er seinen Wohnsitz nicht länger in Städten haben, auch trenne ich ihn von den Gegenständen, die ihn möglicherweise zu versuchen vermöchten. Das ist indes noch nicht genügend; in welcher Wüste, in welcher Wildnis könnte er wohl den ihn verfolgenden Bildern seiner Einbildungskraft entrinnen? Ihn nur von den gefährlichen Gegenständen trennen, ist ganz erfolglos, wenn ich nicht gleichzeitig dafür sorge, daß auch die Erinnerung an dieselben in ihm erblaßt. Wenn ich nicht die Kunst entdecke, ihn von allem loszulösen, wenn ich nicht von sich selbst ablenke, dann hätte ich ihn ebensogut lassen können, wo er war.

Emil versteht ein Handwerk, aber hierbei nehmen wir nicht zu demselben unsere Zuflucht. Er liebt und versteht[246] die Landwirtschaft, indes die Landwirtschaft genügt uns jetzt nicht. Die ihm schon bekannten Beschäftigungen werden ihm zu einer äußerlichen Fertigkeit. Wenn er sich mit ihnen befaßt, so ist dies als täte er nichts. Er denkt dabei an etwas ganz anderes. Kopf und Arme sind auf ganz verschiedener Weise tätig. Für ihn ist jetzt eine ganz neue Beschäftigung nötig, die ihm durch ihre Neuheit Interesse einflößt, ihn in Atem erhält, ihm gefällt, die ihm Mühe macht und mit körperlicher Uebung verbunden ist, kurz eine Beschäftigung, die ihn leidenschaftlich erregt und in der er fortan lebt und webt. Die einzige, welche mir alle diese Bedingungen in sich zu vereinen scheint, ist die Jagd. Wenn die Jagd je ein unschuldiges Vergnügen ist, wenn sie je für den Menschen paßt, so muß man jetzt seine Zuflucht zu ihr nehmen. Emil besitzt alle Eigenschaften eines tüchtigen Jägers; er ist kräftig, gewandt, geduldig, unermüdlich. Unfehlbar wird er Gefallen an dieser Uebung finden. Er wird sie mit dem ganzen Feuer seines Alters betreiben und dabei, wenigstens auf eine Zeit, die gefährlichen Neigungen verlieren, welche die Verweichlichung zur Folge hat. Die Jagd härtet Leib und Seele gleichermaßen ab. Sie gewöhnt an Blut, an Grausamkeit. Diana gilt als Feindin der Liebe, und diese Allegorie ist durchaus richtig. Das Schmachten der Liebe keimt nur im Schoße süßer Ruhe; heftige körperliche Bewegung er stickt die zärtlichen Empfindungen. In den Wäldern und ländlichen Gegenden werden Liebende und Jäger von so verschiedenartigen Gefühlen beseelt, daß sie an die nämlichen Gegenstände ganz verschiedene Vorstellungen knüpfen. In dem kühlen Schatten, den Hainen, den süßen Plätzen verschwiegener Liebe, die die ersteren erblicken, sehen letztere nur Weideplätze des Wildes, Schonungen und Wildlager; wo jene nur Schalmeien, Nachtigallen und Vogelgesang vernehmen, hören diese nur den Klang der Jagdhörner und Rüdengebell heraus. Den einen spiegelt Phantasie[247] Dryaden und Nymphen vor, den anderen Jäger, Jagdhunde und Pferde. Macht mit diesen beiden Arten von Menschen einen Ausflug auf das Land hinaus, und ihr werdet an der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksweise bald erkennen, daß ihnen die Erde nicht in demselben Lichte erscheint, und daß der Ideengang ebenso verschieden ist wie die Wahl ihrer Vergnügungen.

Ich begreife, wie sich diese verschiedenen Geschmacksrichtungen vereinigen können und wie man schließlich Zeit für alles findet. Indes lassen sich die Leidenschaften der Jugend noch nicht auf solche Weise teilen. Gebt ihr eine einzige Beschäftigung, die ihr zusagt, und bald wird alles übrige vergessen sein. Die Mannigfaltigkeit der Wünsche hat die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse zur Quelle, und die Vergnügungen, die man zuerst kennen gelernt hat, sind lange Zeit die einzigen, die man sucht. Es ist durchaus nicht mein Wunsch, daß Emil seine ganze Jugend ausschließlich damit zubringen soll, Wild zu erlegen, und ich bin nicht einmal willens, diese wilde Leidenschaft in allen Stücken zu rechtfertigen. Für mich genügt schon, daß sie dazu dient, eine noch gefährlichere Leidenschaft zurückzuhalten, so daß er mich, wenn ich davon rede, kaltblütig anzuhören vermag, und mir Zeit zu lassen, sie ihm zu schildern, ohne daß sie in ihm wachgerufen wird.

Es gibt Epochen im Menschenleben, welche dazu bestimmt sind, nie wieder aus dem Gedächtnis zu entschwinden. Eine solche ist für Emil die Zeit der Unterweisung, von der ich eben rede. Sie soll einen bleibenden Einfluß auf sein ganzes übriges Leben ausüben. Verwenden wir deshalb allen Fleiß darauf, sie seinem Gedächtnis dergestalt einzugraben, daß sie unauslöschlich darin haftet. Es gehört zu den Irrtümern unserer Zeit, die Vernunft in allzu nackter Form in Anwendung zu bringen, als ob die Menschen nur geistige Wesen wären. Dadurch, daß man die Zeichensprache vernachlässigt, welche so beredt zur Einbildungskraft[248] spricht, entbehrt man die allerüberzeugendste Sprache. Der Eindruck des Wortes ist stets nur schwach, und man spricht zum Herzen ungleich besser durch die Augen als durch die Ohren. Weil wir uns in allem nur auf die logische Beweisführung verlassen wollen, haben wir uns bei unseren Vorschriften auf Worte beschränkt und sie nicht gleichzeitig in Handlungen verlegt. Die bloße Vernunft ist nicht wirksam, sie hält von zuweilen etwas zurück, aber selten gibt sie einen starken Anreiz, und noch nie hat sie etwas Großes hervorgerufen. Fortwährendes Klügeln ist die Sucht kleiner Geister. Starke Seelen reden eine ganz andere Sprache; durch diese Sprache überzeugt man und gibt den Impuls zu Taten.

Ich habe die Bemerkung gemacht, daß in neuerer Zeit die Menschen nur durch Ausübung von Gewalt oder durch Erregung des Interesses einander beeinflussen, während die Alten vielmehr durch Ueberredungen und Gemütsbewegungen eine Einwirkung aufeinander ausübten, weil sie die Zeichensprache nicht vernachlässigten. Um den Verträgen einen unverbrüchlichen Charakter zu verleihen, fand ihr Abschluß unter großer Feierlichkeit statt. Ehe die Gewalt zur Geltung kam, waren die Götter die Obrigkeit des menschlichen Geschlechts. Vor ihnen schlossen die einzelnen Persönlichkeiten ihre Verträge und Bündnisse und gaben ihre festen Zusagen. Die Oberfläche der Erde bildete das Buch, in welchem sie ihre Urkunden aufbewahrten. Felsen, Bäume, Steinhaufen, die durch solche Akte geheiligt und den rohen Menschen ehrwürdig gemacht waren, dienten als Blätter dieses vor aller Augen beständig offen daliegenden Buches. Der Brunnen des Eides, der Brunnen des Lebendigen und Sehenden, die alte Eiche zu Mamre, der Steinhaufe des Zeugnisses, das waren die zwar rohen, aber hehren Denkmale der Heiligkeit der Verträge. Niemand hätte gewagt, sich mit ruchloser Hand an diesen Denkmalen zu vergreifen, und die Treue der Menschen war durch die Bürgschaft dieser[249] stummen Zeugen gesicherter als heutzutage durch alle nichtige Strenge der Gesetze.

Hinsichtlich der Staatsregierung flößte der majestätische Prunk königlicher Macht den Völkern Achtung ein. Zeichen der Würde, ein Thron, ein Zepter, ein Purpurgewand, eine Krone, eine Stirnbinde galten ihnen als geheiligte Dinge. Diese in Ehren gehaltenen Zeichen machten ihnen auch den Mann ehrwürdig, den sie damit geschmückt sahen. Ohne Soldaten, ohne Drohungen wurde ihm auf das Wort gehorcht. Gegenwärtig gefällt man sich darin, diese Zeichen abzuschaffen;149 was ist aber die Folge dieser Mißachtung? Daß die königliche Majestät in aller Herzen mehr und mehr in Vergessenheit gerät, daß sich der den Königen schuldige Gehorsam nur noch durch Truppenmacht erzwingen läßt und daß die Ehrfurcht den Untertanen nur in der Furcht vor der Strafe besteht. Die Könige sind zwar der Mühe überhoben, ihr Diadem zu tragen, und die Großen brauchen die Abzeichen ihrer Würde nicht mehr stets mit sich zu führen, aber sie müssen dafür beständig hunderttausend Arme zur Verfügung haben, um über die Ausführung ihrer Befehle zu wachen. Obgleich ihnen dies vielleicht angenehmer erscheint, so läßt sich doch leicht einsehen, daß auf die Länge dieser Tausch nicht zu ihrem Vorteile ausfallen kann.[250]

Die Erfolge, welche die Alten durch die Beredsamkeit erzielt haben, sind geradezu wunderbar. Diese bestand indes nicht allein in schönen und wohlgesetzten Worten; vielmehr konnte sie nie auf eine größere Wirkung rechnen, als wenn der Redner am wenigsten sprach. Was den lehrhaftesten Eindruck hervorbrachte, drückte man nicht durch Worte, sondern durch Zeichen aus; man sagte es nicht, man zeigte es. Der Gegenstand, den man den Blicken darbietet, ergreift die Einbildungskraft, erregt die Neugier, versetzt den Geist in Spannung auf das, was man sagen will, und oft liegt in seinem Anblicke schon alles ausgedrückt. Lag in der Handlungsweise des Thrasybulus und Tarquinius, als sie Mohnköpfe abschlugen, des Alexander, als er seinem Liebling sein Siegel auf den Mund drückte, des Diogenes, als er vor dem Zeno herging, nicht mehr ausgesprochen, als wenn sie lange Reden gehalten hätten? Wie wäre man wohl bei aller Weitschweifigkeit imstande gewesen, dieselben Ideen mit Worten ebensogut auszudrücken? Als Darius mit seinem Heere in Szythien eingedrungen ist, empfängt er vom Könige des Landes einen Vogel, einen Frosch, eine Maus und fünf Pfeile. Der Gesandte übergibt sein Geschenk und kehrt, ohne ein einziges Wort zu sagen, zurück. Heutigestags würde dieser Mann freilich für einen Narren gegolten haben, allein damals wurde diese furchtbare Sprache verstanden, und Darius hatte nichts Eiligeres zu tun, als so schnell er nur konnte, wieder in sein Land zurückzukehren. Ersetzt diese Zeichen durch einen Brief; je drohender er wäre, desto weniger würde er Furcht einzujagen vermögen; er hätte wie Prahlerei geklungen, die Darius nur verlacht hätte.

Wieviel Aufmerksamkeit wandten die Römer dieser Zeichensprache zu! Die nach Alter und Lebensstellung verschiedenartige Kleidung, die Toga, das Sagum, die Prätexta, die Bulla, das Laticlarium, die Sella curulis, die Liktoren, die Faszes, die Beile, die Kränze von Gold,[251] Gräsern und Blättern, die Ovationen, die Triumphzüge: alles war bei ihnen ein Pomp, Repräsentation, Zeremonie, und alles machte auf die Herzen der Bürger Eindruck. Der Staat legte Gewicht darauf, ob sich das Volk lieber an diesem oder an jenem Orte versammelte, ob es seine Augen auf das Kapitol richtete oder nicht, ob es sich dem Senate zuwandte oder von ihm abwandte, ob es für seine Beratungen diesem oder jenem Tage den Vorzug gab. Die Angeklagten wechselten ihre Kleidung, und dieselbe Sitte beobachteten diejenigen, welche sich um ein Amt bewarben; die Krieger rühmten sich nicht ihrer Heldentaten, sondern zeigten ihre Wunden. Stelle ich mich vor, daß bei dem Tode Cäsars einer unserer Redner das Volk erregen wollte, wie verschwenderisch würde er mir allen Gemeinplätzen der Kunst um sich werfen, um eine recht rührende Schilderung von den Wunden, dem Blut und dem Leichnam desselben zu entwerfen. Antonius sagt, so beredt er auch ist, von alledem kein Wort; er läßt den Leichnam herbeibringen. Was für eine Rhetorik!

Diese Abschweifung führt mich indes unvermerkt von meinem Gegenstand ab. Wenn nun auch viele andere denselben Fehler begehen, so kehren doch meine Abschweifungen allzu häufig wieder, als das man sie bei ihrer Länge erträglich finden könnte. Ich komme also wieder zur Sache.

Laßt euch der Jugend gegenüber nie auf trockene Erörterungen ein. Wollt ihr die Vernunft derselben faßbar machen, so umkleidet sie auch mit einem faßbaren Körper. Laßt die Sprache des Geistes ihren Weg durch das Herz nehmen, damit sie verständlich werde. Noch einmal sei es gesagt: frostige Vernunftschlüsse sind wohl imstande, unsere Ansichten, nicht aber unsere Handlungen zu bestimmen; sie sind die Quelle des Glaubens, aber nicht des Handelns. Man beweist, was man denken, aber nicht, was man tun muß. Wenn diese Wahrheit schon in bezug auf alle Menschen gilt, mit wieviel mehr Grund gilt sie dann in bezug[252] auf junge Leute, die sich von den Banden der Sinnenwelt noch nicht freigemacht haben und nur das zu denken vermögen, was sie sich sinnlich vorstellen können.

Selbst nach den Vorbereitungen, von denen ich bereits gesprochen habe, werde ich mich deshalb wohl hüten, Emil plötzlich auf seinem Zimmer aufzusuchen und ihm über den Gegenstand, über welchen ich ihn belehren will, ungeschickterweise eine lange Rede zu halten. Ich werde zunächst seine Einbildungskraft anzuregen suchen und Ort, Zeit und Umstände so wählen, wie ich sie für den Eindruck, den ich hervorzurufen beabsichtige, am günstigsten halte. Ich werde gleichsam die ganze Natur zur Zeugin unserer Unterredung herbeirufen, werde das ewige Wesen, dessen Werk sie ist, zum Zeugen der Wahrheit meiner Rede anrufen und es als Richter zwischen Emil und mir aufstellen; werde auf den Platz, an dem wir weilen, auf die Felsen, Haine und Berge, die uns umgeben, als auf Denkmale seiner und meiner Versprechungen hinweisen; werde ich in meinem Blicke, in meinem Ton, in meine Gebärden die Begeisterung und das Feuer hineinlegen, mit welchen ich zu erfüllen wünsche. Dann erst werde ich zu ihm sprechen, und er wird auf mich hören; Rührung wird sich meiner bemächtigen, und auch er wird sich bewegt fühlen. Dadurch, daß ich selbst von der Heiligkeit meiner Pflichten durchdrungen bin, werde ich ihm die seinigen um so achtbarer erscheinen lassen. Die Stärke der Beweisgründe werde ich durch die Bilder und bildliche Ausdrücke beleben; ich werde mich nicht lang und weitschweifig in kalten Grundsätzen ergehen, sondern mein übervolles Herz wird von Gefühlen überströmen. Meine Vernunft wird mir ernste und sentenzreiche Worte in den Mund legen, aber mein Herz wird nie genug gesagt haben. Wenn ich vor seiner Seele dann alles vorüberziehen lasse, was ich für ihn getan habe, werde ich es ihm so schildern, als ob ich es um meinetwillen getan hätte. Er wird dann den Grund aller meiner Sorgfalt in meiner zärtlichen Zuneigung[253] erblicken. Wie überrascht, wie bewegt wird er sich fühlen, wenn ich in dieser Weise plötzlich die Sprache ändere! Anstatt ihm die Seele niederzudrücken, indem ich beständig nur von seinem Interesse rede, werde ich von nun an nur von meinem eigenen reden und seine Rührung dadurch nur noch erhöhen. In seinem jungen Herzen werde alle jene Gefühle der Freundschaft, des Edelmuts und der Dankbarkeit, die ich schon vorher wachgerufen habe, und deren Pflege so süß ist, mehr und mehr anfachen. Unter tränen der Rührung werde ich ihn in meine Arme schließen und zu ihm sagen: »Du bist mein Reichtum, mein Kind, bist mein Werk; von deinem Glück erwarte ich das meine; wenn du meine Hoffnungen täuschest, raubst du mir zwanzig Jahre meines Lebens und machst mich noch in meinen alten Tagen unglücklich.« So muß man es anfangen, um sich bei einem jungen Manne Gehör zu verschaffen und ihm die Erinnerung an das, was man ihm sagt, tief in das Herz zu graben.

Bisher habe ich mich bemüht, an Beispielen nachzuweisen, wie ein Erzieher bei der Unterweisung seines Zöglings in schwierigen Fällen verfahren muß. Auch in bezug auf den letztangeregten Fall habe ich versucht, ein solches Beispiel zu geben. Aber nach diesen vielfachen Versuchen stehe ich endlich davon ab, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung verschließen kann, daß die französische Sprache viel zu gekünstelt ist, um je in einem Buche die Naivität der ersten Unterweisungen hinsichtlich gewisser Punkte ertragen zu können.

Die französische Sprache soll, wie behauptet wird, die keuscheste aller Sprachen sein; ich für meinen Teil halte sie indes für die allerunzüchtigste, denn die Keuschheit einer Sprache besteht meinem Bedünken nach nicht sowohl in dem Vermögen, unanständige Wendungen vermeiden zu können, als vielmehr in den völligen Mangel an denselben. In der Tat muß man ja, um sie vermeiden zu können, an sie[254] denken, und es gibt keine Sprache, in welcher es schwieriger wäre, rein zu sprechen, welchen Sinn man auch mit diesem Worte auch verbinden möge, als die französische. Da der Leser stets eine größere Geschicklichkeit besitzt, einen unkeuschen Sinn herauszufinden, als die Schriftsteller, ihn von seinen Werken fernzuhalten, so nimmt derselbe an allen Anstoß und Aergernis. Wie sollte das, was durch unreine Ohren hindurchgeht, von ihrer Unreinheit nicht etwas annehmen? Ein Volk von guten Sitten hat dagegen für alle Dinge einen bezeichnenden Namen, und diese Bezeichnungen sind stets anständig, weil sie nie anders als in anständiger Weise angewendet werden. Es ist unmöglich, sich eine züchtigere Sprache als die der Bibel zu denken, ebendeswegen, weil in derselben alles mit völliger Unbefangenheit herausgesagt wird. Um die nämlichen Dinge unzüchtig erscheinen zu lassen, ist es ausreichend, sie in das Französische zu übersetzten. Was ich meinem Emil zu sagen habe, wird für sein Ohr nur keusch und ehrbar sein; damit es aber diesen Charakter beim Lesen nicht verliert, muß man ein ebenso reines Herz haben wie er.

Ich bin sogar der Ansicht, daß solchen Betrachtungen über die wahre Reinheit der Rede und über die falsche Zartheit des Lasters eine nützliche Stelle in den moralischen Unterhaltungen, auf welche dieses Thema uns führt, eingeräumt werden könnte; denn indem mein Zögling die Sprache der Ehrbarkeit lernt, muß er auch die des äußeren Anstands lernen, und er muß notwendigerweise erfahren, weshalb diese beiden Sprachen in so hohem Grade voneinander abweichen. Wie dem nun aber auch immer sein mag, so stelle ich doch die Behauptung auf: wenn man, anstatt der Jugend vor der Zeit immer und immer wieder leere Vorschriften zu predigen, über welche sich dieselbe in dem Alter, in welchem sie angebracht wären, doch nur lustig macht, den Augenblick, wo man sich verständlich machen kann, ruhig abwartet und vorbereitet; wenn man ihr alsdann[255] die Gesetze der Natur in ihrer ganzen Wahrheit darlegt; wenn man ihr dadurch, daß man sie auf die physischen und moralischen Uebel aufmerksam macht, welche die Uebertretung dieser Gesetze nach sich zieht, die Richtigkeit derselben nachweist; wenn man, sobald man mir ihr von dem unbegreiflichen Geheimnis der Zeugung spricht, mit der Idee des Reizes, den der Schöpfer der Natur an diesem Akt geknüpft hat, noch die Idee einer ausschließlichen Zuneigung, die ihn gerade erst so entzückend macht, sowie die von den Pflichten der Treue und Schamhaftigkeit verbindet, welche ihn umhüllen und seinen Zauber durch die Befriedigung seines Gegenstandes verdoppeln; wenn man ihr die Ehe nicht nur als die süßeste aller Vereinigungen, sondern als auch den unverletzlichsten und heiligsten aller Verträge darstellt, und ihr mit größtem Nachdruck alle Gründe auseinandersetzt, aus welchem ein so heiliges Band allen Menschen ehrwürdig ist, und weshalb derjenige, welcher die Reinheit desselben zu beflecken wagt, vor aller Welt mit Haß und Fluch bedeckt dasteht; wenn man vor ihr ein treffendes und treues Gemälde von den Greueln der Ausschweifung, von der Stumpfsinnigen Vertierung, von der unmerklichen Steigerung des Triebes entrollt, infolgedessen der erste Fehltritt zu immer neuen Ausschweifungen fortreißt und denjenigen, der sich ihnen hingibt, rettungslos ins Verderben stürzt; wenn man ihr, sage ich, den Nachweis liefert, daß sich nur mit keuschem Sinne Gesundheit, Kraft und Tugend paaren, ja daß sogar von ihm die Liebe und alle wahre Güter des Menschen abhängen: dann, behaupte ich, wird man ihr die Keuschheit wünschenswert und teuer erscheinen lassen und ihren Geist für die Mittel, die man ihr zur Bewahrung derselben empfiehlt, empfänglich finden. Denn solange man sie bewahrt, hält man sie auch in Ehren; man verachtet sie erst, nachdem man sie verloren hat.

Es ist durchaus nicht wahr, daß die Neigung zum Bösen unbezähmbar sei und daß man sie nicht zu überwinden vermöge,[256] bevor es zur Gewohnheit geworden sei, ihr zu unterliegen. Aurelius Victor berichtet, daß mehrere Männer, von glühender Liebe zur Kleopatra erfüllt, gern eine mit ihr zugebrachte Nacht mit ihrem Leben erkauft hätten,150 und im Rausche der Leidenschaft ist dies Opfer allerdings nicht unmöglich. Wir wollen aber einmal annehmen, ein Mann, der von leidenschaftlicher Liebe ergriffen wäre und seine Sinnlichkeit nicht mehr zu beherrschen vermöchte, sähe die Vorbereitungen zu seiner Hinrichtung und wäre sicher, eine Viertelstunde später sein Leben unter qualvollen Martern zu enden: so würde dieser Mensch nicht allein seine Versuchungen sofort besiegen, sondern es würde ihm sogar nur wenig Mühe kosten, ihnen zu widerstehen. Das entsetzliche Bild, das in ihrer Begleitung erschiene, würde ihn bald von denselben ablenken, und beständig zurückgewiesen, würden sie endlich gar nicht mehr in ihm auftauchen. Nur aus der Schlaffheit unseres Willens entsteht alle unsere Schwäche; um das zu tun, was man mit aller Kraft will, besitzt man stets die Kraft. Volenti nihil difficile! (Dem, der da will, ist nichts schwer.) Ach, wenn wir das Laster ebenso verabscheuten, wie wir das Leben lieben, so würden wir auch vor einem lockenden Verbrechen ebenso zurückschaudern wie vor einem tödlichen Gift in einem leckeren Gerichte!

Wie vermag man sich nur gegen die Einsicht zu verschließen, daß, wenn alle Belehrungen, die man einem Jüngling über diesen Punkt erteilt, dennoch erfolglos bleiben, die Ursache darin zu suchen ist, daß sie ihm auf seiner Altersstufe unverständlich sind, und das es für jedes Lebensalter von Wichtigkeit ist, auch das an sich Vernünftige stets in solche Formen einzukleiden, die imstande sind, für den Gegenstand Interesse zu erwecken? Redet mit ernst zu ihm, wenn es sich nötig macht; aber das, was ihr sagt, muß[257] jedesmal so fesselnd sein, daß er sich angetrieben fühlt, euch Gehör zu schenken. Bekämpfet seine Begierden nicht durch lieblose Schroffheit; erstickt seine Phantasie nicht, sondern leitet diese vielmehr, aus Besorgnis, daß sie durch ihre traurigen Ausgeburten seine Sinnlichkeit noch mehr erhitzen könnte. Redet mit ihm von Liebe, von Frauen und Lustbarkeiten; tragt Sorge, daß er in euren Unterhaltungen einen Reiz findet, der sein junges Herz angenehm berührt. Unterlaßt nichts, was euch zu seinem Vertrauten machen kann; nur in dieser Stellung werdet ihr in Wahrheit Gewalt über ihn besitzen. Dann braucht ihr keine Furcht mehr zu hegen, daß ihm euere Unterhaltungen Langeweile bereiten werden. Es wird euch mehr Veranlassung zum Sprechen geben, als euch vielleicht angenehm ist.

Ich zweifle keinen Augenblick, daß Emil, wenn ich es verstanden habe, unter Befolgung dieser Grundsätze alle nötigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen und ihm gegenüber eine Sprache zu führen, die die Umstände sowie sein Fortschreiten im Alter mit Recht erfordern, von selbst dahin gelangen wird, wohin ich ihn bringen möchte, daß er sich nämlich gern unter meine Obhut stellt, und, betroffen von den Gefahren, von welchen er sich umringt sieht, mit der ganzen Wärme seines Alters zu mir sagt: »O mein Freund, mein Beschützer, mein Lehrer, behalten Sie nach wie vor Autorität, auf welche Sie gerade in dem Zeitpunkte verzichten wollen, wo es mein eigener Vorteil am meisten erheischt, daß sie in Ihren Händen bleibe. Bisher befaßen Sie dieselbe nur infolge meiner Schwäche, von nun an solle Sie sie mit meinem eigenen Willen ausüben, und sie wird mir deshalb nur um so heiliger sein. Verteidigen Sie mich gegen alle Feinde, die mich umlagern, hauptsächlich aber gegen diejenigen, die ich in mir trage und die mich verraten. Wachen Sie über Ihr Werk, damit es Ihrer würdig bleibe. Ich will Ihren Gesetzen gehorchen, ich will es immer; es ist mein unerschütterlicher Wille. Sollte ich[258] Ihnen je ungehorsam sein, so würde es unabsichtlich geschehen. Machen Sie mich frei, indem Sie mich gegen meine Leidenschaften schützen, deren ich mich nicht selbst erwehren kann. Halten Sie mich davon zurück, ihr Sklave zu werden, zwingen Sie mich, meiner selbst insoweit Herr zu sein, daß ich nicht meinen Sinnen, sondern meiner Vernunft gehorche.«

Habt ihr nun aber eueren Zögling bis zu diesem Punkte gebracht (und die Schuld wird lediglich an euch liegen, wenn er nicht dahin gelangt), dann hütet euch ja, ihn allzuschnell beim Worte zu nehmen, denn ihr liefet sonst Gefahr, daß er sich, sobald ihm je eure Herrschaft doch gar zu streng erschiene, für berechtigt hielte, sich ihr zu entziehen, indem er euch beschuldigte, ihr hättet sein Versprechen erschlichen. In einem solchen Augenblick ist Zurückhaltung und Würde am Platze, und dieser Ton wird ihm um so mehr Ehrerbietung abnötigen, als es das erstemal sein wird, daß er ihn euch annehmen sieht.

Ihr müßt deshalb zu ihm sagen: »Junger Mann, du übernimmst mit großer Leichtfertigkeit schwere Verbindlichkeiten; ehe du das Recht hattest, sie freiwillig zu übernehmen, hättest du sie genau kennen lernen sollen. Du weißt nicht, mit welchem leidenschaftlichem Eifer die Sinne junge Leute deines Alters unter den Lockungen des Vergnügens in den Abgrund des Lasters reißen. Du haßt, wie ich wohl weiß, kein verworfenes Gemüt. Dein einmal gegebenes Wort wirst du nie brechen, aber wie oft wirst du vielleicht bedauern, es gegeben zu haben! Wie oft wirst du den verwünschen, der dich lieb hat, wenn er, um dich den Uebeln, die dich bedrohen, zu entreißen, sich gezwungen sehen wird, deinem Herzen wehe zu tun! Wie Ulysses, beim Gesang der Sirenen von glühender Leidenschaft ergriffen, seine Begleiter aufforderte, seine Fesseln zu lösen, so wirst auch du, durch den Reiz des Vergnügens verführt, die Bande zerreißen wollen, die dich beengen, wirst mich mit deinen[259] Klagen verfolgen, wirst mir gerade dann Tyrannei vorwerfen, wenn ich am zärtlichsten mit dir beschäftigt sein werde. Während ich nur darauf sinne, dich glücklich zu machen, werde ich mir deinen Haß zuziehen. O mein Emil, ich könnte den Schmerz, mich von dir gehaßt zu wissen, niemals ertragen; um diesen Preis ist mir selbst dein Glück zu teuer. Guter Jüngling, begreifst du nicht, daß du durch die übernommene Verpflichtung, mir Gehorsam zu leisten, auch mich gleichzeitig verpflichtest, dich zu führen, mich zu vergessen, um mich ganz dir widmen zu können, weder auf dein Klagen noch auf dein Murren zu hören und unaufhörlich gegen deine und meine Wünsche anzukämpfen? Du legst mir ein Joch auf, das härter als das deinige ist. Bevor wir uns beide diese Last aufbürden, laß uns erst unsere Kräfte prüfen. Nimm dir Bedenkzeit und laß sie auch mir und wisse, daß, wer sich am längsten besinnt, ein Versprechen abzulegen, es auch stets am treuesten halten wird.«

Laßt es euch aber auch selbst gesagt sein: je bedenklicher ihr bei der Uebernahme einer Verpflichtung zu Werke geht, desto mehr erleichtert ihr deren Ausführung. Es ist von großer Bedeutung, daß der junge Mensch es selbst fühlt, wieviel er verspricht, und daß ihr trotzdem noch mehr versprecht. Ist aber der Augenblick einmal gekommen und hat er den Kontrakt gleichsam unterzeichnet, dann führt eine andere Sprache und laßt durch euere Herrschaft so viel Milde hindurchleuchten, als ihr vorher Strenge angekündigt habt. Sagt zu ihm: »Mein junger Freund, es mangelt dir zwar an Erfahrung, indes habe ich dafür Sorge getragen, daß es dir nicht an Vernunft mangelt. Du bist imstande, überall klar einzusehen, welche Beweggründe mich bei meinem Verfahren geleitet haben. Hierzu ist nur nötig, daß du wartest, bis du bei kaltem Blute bist. Zuerst gehorche mir jederzeit, ehe du von mir Auskunft über meine Anordnungen verlangst. Ich werde immer bereit sein, dir jeden Aufschluß zu geben, sobald du imstande sein wirst, mich ruhig[260] anzuhören, und ich werde nie Bedenken tragen, dich zum Richter zwischen dir und mir zu machen. Du versprichst, mir gehorsam zu sein, und ich meinerseits verspreche dir, diesen Gehorsam nur dazu zu benutzen, daß ich dein wahres Glück begründe. Als Bürgschaft meines Versprechens kann dir das glückliche Los dienen, das dir bis jetzt zuteil geworden ist. Findest du einen Altersgenossen, dessen Leben ebenso glücklich verflossen ist wie das deinige, dann höre ich auf, dir etwas zu versprechen.«

Nachdem ich meine Autorität auf solche Weise selbst begründet habe, wird es meine Hauptsorge sein, der Notwendigkeit, sie in Anmerkung zu bringen, vorzubeugen. Ich werde nichts unversucht lassen, um mich mehr und mehr in seinem Vertrauen zu befestigen, mich zum Vertrauten seines Herzens und zum Herrn seiner Vergnügungen zu machen. Weit davon entfernt, die Neigungen seines Alters zu bekämpfen, werde ich mir vielmehr aus ihnen selber die Mittel zu verschaffen suchen, die sie meiner Herrschaft unterwerfen können. Ich werde auf seine Ansichten eingehen, damit ich sie zu lenken imstande bin, und werde für ihn keineswegs auf Kosten seines gegenwärtigen Glückes einem entfernten nachjagen. Es ist nicht meine Absicht, daß er dereinst, sondern daß er womöglich immer glücklich sei.

Diejenigen, welche die Jugend durch verständige Leitung vor den Schlingen der Sinnlichkeit zu bewahren wünschen, pflegen sie mit Abscheu vor der Liebe zu erfüllen und möchten es ihr gern als ein Verbrechen anrechnen, in ihrem Alter auch nur einen Gedanken daran zu hegen, als ob die Liebe nur für Greise bestimmt wäre. Allen diesen auf Täuschung ausgehenden Lehren, deren Unwahrheit das Herz doch nachweist, wohnt keine überzeugende Kraft bei. Der junge Mann, welcher von einem sicheren Instinkt geleitet wird, lacht im geheimen über diese langweiligen Grundsätze, stellt sich auch, als ob er ihre Richtigkeit einsähe, wartet aber in der Tat nur auf den Augenblick, wo er den Beweis[261] ihrer Nutzlosigkeit liefern kann. Alles dies ist wider die Natur. Auf dem entgegengesetzten Wege werde ich dasselbe Ziel mit größerer Sicherheit erreichen. Ich werde kein Bedenken tragen, das süße Gefühl in ihm, auf das all sein Sehnen gerichtet ist, zu nähren; ich werde es ihm als das höchste Glück des Lebens ausmalen, weil es dies ja wirklich ist, und es ist mein Wunsch, daß er sich demselben bei meiner Schilderung hingebe. Indem ich ihn zum Bewußtsein bringe, mit welchem Reize die Vereinigung der Herzen den Sinnengenuß erhöht, flöße ich ihm Ekel vor der Ausschweifungen ein und mache ihn weise, während ich sein Herz mit Liebe erfülle.

Es gehört ein hoher Grad von Beschränktheit dazu, die erwachenden Begierden eines jungen Mannes lediglich als ein den Lehren der Vernunft sich entgegenstellendes Hindernis aufzufassen. Ich meinerseits erblicke in ihnen gerade das wahre Mittel, ihn für die Lehren derselben recht empfänglich zu machen. Nur durch Leidenschaften läßt sich auf Leidenschaften wirken; durch ihre eigene Macht muß man ihre Tyrannei bekämpfen, und stets muß man der Natur selbst die Mittel entlehnen, welche sich zu ihrer Regelung eignen.

Emil ist nicht bestimmt, beständig ein einsames Leben zu führen. Als Glied der Gesellschaft hat er Pflichten gegen dieselbe zu erfüllen. Bestimmt mit Menschen zu leben, muß er sie auch kennen. Den Menschen im allgemeinen kennt er zwar schon, nun bleibt ihm aber noch übrig, die Menschen im einzelnen kennen zu lernen. Er weiß, was man in der Welt tut; nun muß er auch noch sehen, wie man in ihr lebt. Es ist nun an der Zeit, ihm auch die Außenseite der großen Schaubühne zu zeigen, deren Spiel er schon kennt, wenngleich es ihm bisher verhüllt war. Er wird ihr nicht mehr das törichte Anstaunen eines jungen Laffen zuwenden, sondern mit der Urteilskraft eines gesunden und scharfen Verstandes vor sie treten. Seine Leidenschaften[262] werden ihn auf Abwege führen können, das ist ja keinem Zweifel unterworfen; wann täuschten sie diejenigen nicht, welche sich ihnen überlassen? Aber er wird sich wenigstens nicht durch die Leidenschaften anderer betrügen lassen. Wenn er sie bemerkt, wird er sie mit dem Auge eines Weisen betrachten, ohne durch ihr Beispiel hingerissen oder durch ihre Vorurteile verführt zu werden.

Wie es ein Alter gibt, welches sich besonders zum Studium der Wissenschaften eignet, so gibt es wiederum eins, welches am meisten zur Erwerbung der Weltkenntnis geeignet ist. Wer sich diese zu früh aneignet, läßt sich von ihr sein ganzes Leben hindurch leiten, ohne Wahl, ohne Ueberlegung und ohne bei all seinem Eigendünkel recht zu wissen, was er tut. Wer sie aber erwirbt, während er sich gleichzeitig über ihre Gründe Rechenschaft abzulegen vermag, folgt ihr mit mehr Einsicht und folglich auch mit mehr Sicherheit und taktvollerem Auftreten. Gebt mir ein Kind von zwölf Jahren, welches noch völlig unwissend ist, und ich will es euch im fünfzehnten mit ebenso reichem Wissen ausgestattet zurückgeben, als dasjenige ist, welches ihr von seiner frühen Jugend an unterrichtet habt, und noch dazu mit dem Unterschiede, daß sich das meinige sein Wissen mit dem Verstand angeeignet hat, während es bei dem eurigen nichts als Gedächtniswerk ist. Ebenso wird es sich verhalten, wenn man einen jungen Mann in seinem zwanzigsten Jahr in die Welt einführt; unter richtiger Leitung wird er in einem Jahre liebenswürdiger sein und einen vernünftigeren Anstand besitzen als derjenige, den man von Kindheit an in der Welt erzogen hat; denn da der erstere fähig ist, die Gründe zu dem in Rücksicht auf Alter, Stand und Geschlecht abgemessen seinen Benehmen, das eben die Weltkenntnis ausmacht, einzusehen, so vermag er es auch auf feste Prinzipien zurückzuführen und auf nichtvorhergesehene Fälle anzuwenden, während der andere, der sich nur auf seine Routine verlassen kann, in[263] Verlegenheit gerät, sobald ihm etwas davon Abweichendes entgegentritt.

Die jungen Mädchen werden in Frankreich ausnahmslos bis zu ihrer Verheiratung in Klöstern erzogen. Nimmt man aber wohl wahr, daß es ihnen viele Mühe kostete, sich dann noch jenes seine gesellschaftliche Benehmen anzueignen, welches ihnen doch so neu ist? Kann man wohl den Pariser Frauen ein linkisches und unbeholfenes Betragen zum Vorwurf machen und sie beschuldigen, daß ihnen die Umgangssitten fremd wären, weil sie sich nicht von Kindheit an in der großen Welt bewegt haben? Dieses Vorurteil geht von den Weltmenschen selbst aus, welche, da sie nichts Wichtigeres als diese nichtige Wissenschaft kennen, sich fälschlich einbilden, man könnte nicht früh genug mit der Erwerbung derselben anfangen.

Wahr ist indes, daß man nicht allzulange damit warten darf. Wer seine ganze Jugend fern von der großen Welt verlebt hat, behält zeitlebens ein verlegenes und gezwungenes Wesen, ergreift stets zur Unzeit das Wort und gewöhnt sich schwerfällige und unbeholfene Manieren an, die er nie abzulegen vermag und welche gerade durch das Bestreben, sich von ihnen loszumachen, nur neue Veranlassung zum Lachen geben. Jede Art von Belehrung hat ihre besonders geeignete Zeit, die man kennen, und ihre Gefahren, die man vermeiden muß. Letztere zeigen sich nun am zahlreichsten gerade bei der Belehrung, die wir jetzt unserem Zögling erteilen müssen, doch setze ich ihnen den meinigen nicht aus, ohne zu seinem Schutze die nötigen Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen.

Wenn sich meine Methode auch nur an einem einzigen Gegenstand in jeder Beziehung bewährt, wenn sie einen Uebelstande vorbeugt, indem sie einen anderen abwendet, dann ist sie nach meinem Urteil gut, und ich habe das Richtige getroffen. Das scheint mir das Auskunftsmittel zu beweisen, welches sie mir in diesem Fall an die Hand[264] gibt. Wenn ich meinem Schüler gegenüber streng und kalt auftreten will, so werde ich sein Vertrauen verlieren, und bald wird er sich vor mir verbergen. Will ich dagegen gefällig und nachsichtig sein oder gar die Augen zudrücken, welchen Nutzen hat er dann davon, daß er sich unter meiner Obhut befindet? Alsdann billige ich förmlich seine Ausschweifung und erleichtere nur sein Gewissen auf Kosten des meinigen. Führe ich ihn in die Welt lediglich in der Absicht ein, ihn zu unterrichten, so wird er sich mehr unterrichten, als mir wünschenswert ist. Halte ich ihn aber von ihr bis zum letzten Augenblick fern, was wird er dann von mir gelernt haben? Alles vielleicht, nur nicht die Kunst, die der Mensch und Bürger am nötigsten gebraucht, die Kunst, mit seinen Nebenmenschen leben zu können. Verfolge ich einen zu fernen Nutzen, so wird er ihm nicht den geringsten Wert beimessen, nur das Gegenwärtige hat für ihn Wert. Fühle ich mich damit zufriedengestellt, daß ich ihm Zerstreuungen verschaffe, welchen Gewinn hat er dann davon? Statt sich zu unterrichten, verweichlicht er sich.

Nichts von alledem. Mein Auskunftsmittel beseitigt alle diese Uebelstände. »Dein Herz«, sage ich zu dem Jüngling, »bedarf einer Gefährtin; laß uns eine suchen, die für dich paßt. Vielleicht ist sie nicht so leicht aufzufinden, denn das wahre Verdienst ist stets selten. Indes wollen wir uns weder übereilen noch uns abschrecken lassen. Unzweifelhaft gibt es eine, und wir werden sie, oder wenigstens doch eine andere, welche ihr so weit als möglich nahekommt, schließlich schon noch finden.« Mit dieser für ihn so schmeichelhaften Absicht führe ich ihn in die Welt ein. Was brauche ich wohl noch weiter darüber zu sagen? Seht ihr nicht ein, daß ich damit alles getan habe?

Ihr könnt euch selbst vorstellen, ob es mir gelingen wird, mir bei Schilderung seiner Geliebten Gehör zu verschaffen, ob ich ihm die Eigenschaften, die er lieben soll, werde lieb und angenehm machen können, und ob ich imstande sein[265] werde, alle seine Gefühle dem zuzuwenden, was er suchen oder fliehen soll. Ich müßte der Ungeschickteste der Menschen sein, wenn ich ihm nicht schon im voraus eine Neigung einzuflößen verstände, ohne daß er es wüßte, zu wem. Es verschlägt nichts, daß der Gegenstand, den ich ihm schildere, nur in meiner Phantasie existiert; es genügt, daß er ihn mit Widerwillen gegen die erfüllt, welche ihm sonst verführerisch erscheinen könnten, und daß sich ihm überall Vergleichungspunkte darbieten, die seinem Ideal vor den wirklichen Gegenständen, die auf ihn Eindruck machen, den Vorzug sichern. Und was ist die wahre Liebe den überhaupt anders als Trugbild, Lüge und Täuschung? Man liebt ungleich mehr das Bild, das man sich selbst ausmalt, als den Gegenstand, auf welchem man es überträgt. Sähe man den geliebten Gegenstand genau so, wie er wirklich ist, so würde es keine Liebe mehr auf Erden geben. Wenn man zu lieben aufhört, so bleibt die Person, welche man liebte, dieselbe die sie zuvor war, aber man blickt sie nicht mehr mit denselben Augen an. Der blendende Schleier fällt und die Liebe schwindet. Dadurch aber, daß ich ein Bild meiner eigenen Phantasie entwerfe, bin ich der Vergleichungspunkte Herr und verhindere leicht die Illusion, mit der uns wirkliche Gegenstände oft erfüllen.

Gleichwohl wünsche ich nicht, daß man einen jungen Mann täusche und ihm ein Muster von Vollkommenheit entwerfe, das gar nicht existieren kann; indes werde ich die Mängel seiner Geliebten so auswählen, daß sie ihm gefallen, nicht unangenehm sind und dazu dienen, die seinigen zu verbessern. Ebensowenig wünsche ich, daß man ihn durch die fälschliche Versicherung belüge, der geschilderte Gegenstand sei in Wirklichkeit vorhanden. Findet er an dem Bilde jedoch gefallen, so wird er sich bald nach einem ihm gleichenden Original sehnen. Vom Wunsche zur Voraussetzung findet ein leichter Uebergang statt; es sind dazu nur einige geschickte Beschreibungen nötig, welche durch etliche[266] mehr in die Augen fallende Züge diesem Wesen der Phantasie den Charakter größerer Wahrheit verleihen. Ich würde selbst so weit gehen, ihm einen Namen beizulegen. Lächelnd würde ich zu ihm sagen: »Wir wollen deine künftige Sophie nennen. Sophie ist ein Name von guter Vorbedeutung. Sollte diejenige, auf welche einst deine Wahl fallen wird, ihn auch nicht führen, so wird sie seiner doch wenigstens würdig sein; wir können ihr diese Ehre deshalb schon im voraus erweisen.« Nach all diesen Einzelheiten werden sich seine Vermutungen, wenn man sich anders seinem Forschen, ohne ja oder nein zu sagen, geschickt zu entziehen weiß, in Gewißheit verwandeln; er wird wähnen, man mache ihm aus der Gattin, die man für ihn bestimmt hat, nur ein Geheimnis, und er werde sie schon sehen, sobald es an der Zeit sein werde. Ist es mit ihm erst so weit gekommen, und hat man die Züge, die man ihm vor Augen führen muß, gut gewählt, so ist alles übrige leicht; man kann ihn faßt ohne Gefahr in die Welt einführen; ihr braucht ihn nur vor seiner Sinnlichkeit zu schützen, sein Herz ist in Sicherheit.

Möge er sich das Musterbild, das ich ihm liebenswürdig zu machen verstanden habe, unter dem Bild einer bestimmten Person vorstellen oder nicht, so wird es ihn doch, ist es nur gut gezeichnet, nicht weniger zu allen hinziehen, was ihm ähnlich ist, und ihn nicht weniger mit Widerwillen gegen alles das erfüllen, was ihm unähnlich ist, als wenn es das Bild einer geliebten Person darstellte. In welche vorteilhafte Lage bin ich dadurch versetzt, sein Herz vor den Gefahren zu schützen, denen seine Person notwendig ausgesetzt ist, seine Sinnlichkeit durch seine Phantasie im Zaume zu halten, und vor allen Dingen ihn den Händen jener Frauen zu entreißen, die es sich angelegen sein lassen, junge Männer zu erziehen, sich ihre Mühe aber gar teuer bezahlen lassen und die Ausbildung ihres Zöglings im äußern Anstande nur dadurch zuwege bringen, daß sie ihm gleichzeitig[267] alle Ehrbarkeit rauben! Sophie ist so sittsam! Mit welchen Blicken wird er deshalb das herausfordernde Wesen jener betrachten? Sophie zeichnet sich durch so große Einfachheit aus! Wie könnte ihm das Betragen jener gefallen? Zwischen seinem Ideal und seinen Beobachtungen zeigt sich ein zu großer Abstand, als daß ihm jene Frauen je gefährlich werden könnten.

Alle diejenigen, welche über Kindererziehung sprechen, lassen sich von den nämlichen Vorurteilen und den nämlichen Grundsätzen leiten, weil sie eine schlechte Beobachtungsgabe und ein noch schlechteres Reflexionsvermögen besitzen. Die Verirrungen der Jugend haben weder in dem Temperamente noch in der Sinnlichkeit, sondern in den vorgefaßten Meinungen ihre Wurzel. Handelte es sich hier um Knaben, welche in Instituten, und um Mädchen, die in Klöstern ihre Erziehung erhalten, so würde ich den Nachweis führen, daß dies selbst im Hinblick auf diese vollkommen wahr ist; denn die ersten Unterweisungen, welche sie bereits erhalten, und die einzigen, welche auf fruchtbaren Boden fallen, sind die Unterweisungen im Laster; nicht die Natur, sondern das Beispiel verdirbt sie. Ueberlassen wir jedoch die Kostschüler der Institute und Klöster ihren schlechten Sitten. Für sie werden sich nie Heilmittel auffinden lassen. Ich rede hier nur von der häuslichen Erziehung. Nehmt einen im väterlichen Hause verständig erzogenen jungen Mann aus der Provinz und unterwerft ihn in dem Augenblicke, wo er in Paris ankommt oder in die Welt tritt, einer Prüfung. Ihr werdet euch davon überzeugen, daß er über alles Ehrbare richtige Gedanken hat, und daß sein Wille ebenso gesund ist als seine Vernunft. Ihr werdet finden, daß er von Verachtung des Lasters und von Abscheu vor Ausschweifungen erfüllt ist. Schon bei dem bloßem Namen einer Prostituierten werdet ihr in seinen Augen das Aergernis aufleuchten sehen, welches die Unschuld nimmt. Ich behaupte, daß es auch nicht einen gibt, der sich entschließen[268] könnte, allein die traurigen Wohnungen dieser Unglücklichen zu betreten, selbst wenn er ihren Zweck kennen und das Bedürfnis danach fühlen sollte.

Sechs Monate später betrachtet nun aber denselben jungen Mann wieder; ihr werdet ihn nicht wiedererkennen. Nach seinen freien Worten, seinen Grundsätzen des weltmännischen Tons, seinem lockeren Wandel würdet ihr ihn für einen ganz anderen Menschen halten, wenn nicht seine Witzeleien über seine frühere Einfalt und seine Scham, wenn man ihn an dieselbe erinnert, bewiesen, daß er derselbe ist, und daß er über sie errötet. O, wie hat er sich in so kurzer Zeit entwickelt! Woher kommt ein so großer und plötzlicher Umschlag? Etwa von der naturgemäßen Entwicklung seines Temperaments? Würde sich sein Temperament im väterlichen Hause nicht ebenfalls entwickelt haben? Und gleichwohl hätte er in demselben diesen Ton und diese Grundsätze sicherlich nicht angenommen. Oder von den ersten sinnlichen Genüssen? Im Gegenteil. Wenn man sich denselben zu überlassen beginnt, ist man furchtsam, unruhig, flieht das helle Tageslicht, scheut jedes Geräusch. Die ersten Sinnengenüsse hüllen sich immer in Geheimnis; die Scham würzt und verbirgt sie. Die erste Geliebte macht uns nicht frech, sondern schüchtern. In einem ihm so neuen Zustand ganz versunken, geht der junge Mann völlig in dem Bestreben auf, ihn zu genießen, und lebt in beständiger Angst, ihn zu verlieren. Wenn er es an die große Glocke hängt, ist er weder wollüstig noch zärtlich; solange er damit prahlt, hat er noch nicht genossen.

Eine andere Denkungsart hat diesen Umschlag allein hervorgerufen. Sein Herz ist noch dasselbe, aber in seinen Ansichten hat sich eine Wandlung vollzogen. Seine Gefühle, bei denen ein Wechsel langsamer eintritt, werden sich infolgedessen endlich auch ändern, und erst dann wird er wirklich verdorben sein. Kaum ist er in die Welt eingetreten, so erhält er eine zweite, der ersten ganz entgegengesetzte[269] Erziehung, die ihm gegen das, was er sonst hochschätzte, Verachtung, und Achtung vor dem, was er sonst verachtete, einflößt. Man ruht nicht eher, bis er die Lehren seiner Eltern und Lehrer als pedantisches Geschwätz und die Pflichten, welche sie ihm eingeprägt haben, als eine kindische Moral betrachtet, denen man als Erwachsener seine Verachtung zollen müsse. Er wähnt, die Ehre gebiete ihm, daß er seinen Wandel ändere; wer wird, ohne daß ihn die Begierden dazu treiben, den Frauen gegenüber unternehmend und geckenhaft aus falscher Scham. Ehe er noch an den schlechten Sitten Geschmack gefunden hat, treibt er mit den guten Sitten seinen Spott, und sucht etwas darin, einen ausschweifenden Lebenswandel zu führen, ohne daß er ausschweifend zu sein versteht. Nie werde ich das Geständnis eines jungen Offiziers der Schweizergarde vergessen, der zwar die lärmenden Vergnügungen seiner Kameraden höchst langweilig fand, aber trotzdem nicht wagte, sich von denselben fernzuhalten, aus Furcht, deshalb von ihnen verspottet zu werden. »Trotz meiner Abneigung«, sagte er, »übe ich mich darin, wie im Schnupfen. Mit der Gewohnheit wird auch der Geschmack schon kommen; man kann doch nicht immer ein Kind bleiben.«

Ein junger Mann muß folglich bei seinem Eintritt in die Welt weniger vor der Sinnlichkeit, als vielmehr vor der Eitelkeit bewahrt werden. Er gibt mehr den Neigungen anderer als seinen eigenen nach, und die Eigenliebe macht mehr Wüstlinge als die Liebe.

Dies angenommen, so frage ich, ob es wohl auf der ganzen Erde jemand gibt, der besser als mein Zögling gegen alles gewaffnet ist, was seine Sitten, seine Gefühle, seine Grundsätze gefährden könnte, und ob wohl jemand mehr imstande ist, der Strömung zu widerstehen. Denn gegen welche Versuchung besitzt er nicht Verteidigungswaffen? Wenn ihn seine Begierden zum anderen Geschlechte hinziehen, so findet er bei demselben nicht, was er sucht, und[270] sein vorher eingenommenes Herz hält ihn zurück. Wenn ihn seine Sinnlichkeit in Wallung bringt und anstachelt, wo wird er Befriedigung derselben finden können? Der Abscheu vor Ehebruch und Ausschweifung hält ihn sowohl vor Freudenmädchen wie von verheirateten Frauen fern, und von einer dieser beiden Klassen gehen die Ausschweifungen der Jugend stets aus. Ein Mädchen, daß sich zu verehelichen gedenkt, kann gefallsüchtig, nie aber frech sein; es wird sich einem jungen Manne, der es vielleicht heiraten könnte, wenn er es für sittsam hält, nie an den Hals werfen. Uebrigens wird stets irgend jemand mit seiner Ueberwachung betraut sein. Emil wird sich seinerseits ebenfalls nicht völlig selbst überlassen bleiben; wenigstens werden beiden Schüchternheit und Schamgefühl, welche von den ersten Begierden unzertrennlich sind, schützend zur Seite stehen. Sie werden nicht sofort zu der äußersten Stufe der Vertraulichkeit übergehen und keine Zeit haben, ohne Hindernisse nach und nach zu ihr zu gelangen. Sollte er dabei ein anderes Benehmen zeigen, so müßten ihm seine Kameraden schon Anleitung gegeben, so müßte er von ihnen gelernt haben, über seine Zurückhaltung zu spotten, und nach ihrem Beispiel mit frecher Stirn einherzugehen. Welcher Mensch auf Erden hat aber weniger Nachahmungstrieb als Emil? Welcher Mensch läßt sich weniger durch einen alles in das Scherzhafte hinabziehenden Ton leiten, als derjenige, der von allen eigenen Vorurteilen frei ist, und nichts auf diejenigen gibt, welche andere hegen? Zwanzig Jahre habe ich daran gearbeitet, ihn gegen die Spötter zu waffnen; sie wer den sich länger als vierundzwanzig Stunden abmühen müssen, ehe es ihnen gelingt, ihn hinter das Licht zu führen, denn das Lächerliche gilt in seinen Augen nur für die Toren als Beweisgrund, und nichts macht gegen die Spöttereien unempfindlicher, als über die allgemeine Meinung erhaben zu sein. Anstatt der Spöttereien bedarf es ihm der Gründe, und hat er[271] sich erst einmal bis zu dieser Höhe emporgeschwungen, dann hege ich keine Furcht, daß ihn mir junge Toren entführen werden; ich habe das Gewissen und die Wahrheit für mich. Sollte sich aber das Vorurteil gleichwohl einmischen, so muß eine zwanzigjährige Zuneigung doch auch in Anschlag gebracht werden; man wird ihm niemals die Ueberzeugung aufdrängen können, daß ich ihn mit nichtigen Lehren gelangweilt habe, und in einem redlichen und fühlenden Herzen wird die Stimme eines treuen und wahren Freundes das Geschrei von zwanzig Verführern leicht verstummen lassen. Da es sich alsdann nur darum handelt, ihm den Nachweis zu führen, daß sie ihn betrügen, und daß sie ihn, während sie sich den Anschein geben, als behandelten sie ihn als Mann, in Wahrheit doch nur als Kind behandeln, so werde ich mich bestreben, bei der Darlegung meiner Gründe stets einfach, aber ernst und klar zu sein, damit er herausfühlt, daß umgekehrt ich es gerade bin, der ihn als Mann behandelt. Ich werde zu ihm sagen: »Du begreifst, daß dein Interesse allein, welches mit dem meinigen zusammenfällt, mich antreibt, mit dir zu reden; ich kann mich dabei von keinem anderen Interesse leiten lassen. Weshalb gehen aber jene jungen Leute darauf aus, dich zu überreden? Deshalb, weil sie dich verführen wollen. Sie lieben dich weder, noch nehmen sie Anteil an dir. Sie lassen sich von keinem anderen Beweggrunde bestimmen, als von einem geheimen Aerger darüber, daß du, wie ihnen nicht entgeht, besser bist als sie. Sie wollen dich erniedrigen, bis du mit ihnen auf gleicher Stufe stehst, und machen dir nur deshalb den Vorwurf, du lassest dich leiten, damit sie dich selbst beherrschen möchten. Kannst du dich wohl dem Wahn hingeben, daß du bei dem Tausch gewinnen wirst? Zeichnen sie sich denn durch eine so hervorragende Weisheit aus, und ist ihre nur nach Stunden zählende Zuneigung denn stärker als die meinige? Um ihren Gespött irgendein Gewicht beizumessen, müßte man[272] doch auf ihre Autorität etwas geben können. Auf welche Erfahrung können sie sich aber wohl stützen, um ihren Grundsätzen den Vorrang vor den unsrigen anzuweisen? Wie sie immer nur andere Leichtsinnige nachgeahmt haben, so verlangen sie jetzt ihrerseits nachgeahmt zu werden. Um sich über die angeblichen Vorurteile ihrer Väter zu erheben, unterwerfen sie sich denen ihrer Kameraden. Was sie dabei gewinnen, vermag ich nicht einzusehen. Sicherlich aber verlieren sie, so viel ist mir klar, zwei große Vorteile: die väterliche Liebe, deren Ratschläge so wohlmeinend und aufrichtig sind, und die Erfahrung, welche den Menschen in den Stand setzt, über das zu urteilen, was er kennt, denn sie Väter sind Kinder gewesen, nicht aber die Kinder Väter.

Hältst du sie bei ihren törichten Grundsätzen aber wenigstens für aufrichtig? Auch das nicht einmal, mein lieber Emil. Sie täuschen sich selbst, um dich zu täuschen; es fehlt ihnen an der inneren Uebereinstimmung. Ihr Herz straft sie unaufhörlich Lügen, und häufig widerspricht ihnen ihr eigener Mund. Hier macht einer von ihnen alles, was ehrbar ist, zum Gespött, und würde doch in Verzweiflung geraten, wenn seine Gattin seine Gesinnung teilte. Dort dehnt ein anderer die Gleichgültigkeit gegen die guten Sitten bis auf die Sittlichkeit der Frau aus, die er noch gar nicht hat, oder, um der Schamlosigkeit die Krone aufzusetzen, auf die Sittsamkeit der Frau, die er wirklich besitzt. Gehe aber noch einen Schritt weiter. Rede mit ihm von seiner Mutter und sieh, ob es ihm angenehm ist, für ein in Ehebruch erzeugtes Kind, für den Sohn eines anrüchigen Weibes, für einen Menschen zu gelten, der sich den Namen einer Familie widerrechtlich anmaßt, der den rechtmäßigen Erben um sein Erbteil bringt, kurz, ob er sich geduldig als Bastard behandeln lassen wird. Wer unter ihnen wird wünschen, daß man seiner Tochter die Ehre raube, wie er sie den Töchtern anderer geraubt hat? Nicht einen einzigen gibt es unter ihnen, der nicht dein Leben bedrohen würde,[273] wenn du dich im Verkehr mit ihm nach all den Grundsätzen, die er sich dir einzuimpfen bemüht, richten wolltest. So verraten sie schließlich ihre Inkonsequenz, und man überzeugt sich, daß keiner von ihnen glaubt, was er sagt. Damit habe ich dir meine Gründe erklärt, lieber Emil; erwäge nun auch die ihrigen, wenn sie solche für sich anführen können, und vergleiche. Wollte ich mich wie sie der Verachtung und des Spottes als Waffen bedienen, so würdest du sehen, daß sie der Spottsucht eine ebenso große, ja vielleicht noch größere Zielscheibe darbieten würden als ich. Allein ich scheue eine ernstliche Prüfung nicht. Der Triumph der Spötter ist von kurzer Dauer. Die Wahrheit hat Bestand, aber jener unverständiges Gelächter verstummt.«

Es ist euch unerklärlich, wie folgsam Emil noch in seinem zwanzigsten Jahre sein kann. Wie verschiedene Gedanken wir doch in Bezug darauf haben! Ich meinerseits kann nicht begreifen, wie er es in seinem zehnten Jahre hat sein können, den was für eine Handhabe bot er mir wohl in diesem Alter dar? Fünfzehn Jahre lang habe ich die größte Sorgfalt aufwenden müssen, um es dahin zu bringen. Damals erzog ich ihn noch nicht, sondern bereitete ihn erst vor, daß er erzogen werden konnte. Jetzt ist es hinreichend, um lenksam zu sein; er erkennt die Stimme der Freundschaft und weiß der Vernunft zu gehorchen. Ich lasse ihm allerdings den Schein der Freiheit, allein nie war er mir in Wahrheit mehr unterworfen, denn er ist es, weil er es sein will. Solange ich mich nicht habe zum Herrn seines Willens machen können, bin ich Herr seiner Person geblieben; ich verließ ihn keinen Schritt. Jetzt überlasse ich ihn mitunter sich selbst, weil ich beständig die Herrschaft über ihn ausübe. Beim Abschied umarme ich ihn und sage mit zuversichtlichem Tone zu ihm: »Emil, ich vertraue dich meinem Freunde an; ich übergebe dich seinem ehrlichen Herzen; er wird mir gegenüber die Verantwortlichkeit für dich tragen.«[274]

Es ist nicht das Werk eines Augenblicks, feste Gewohnheiten, die noch keine vorausgehende Trübung erlitten haben, zu verderben und Grundsätze, welche unmittelbar aus den ursprünglichen Einsichten der Vernunft abgeleitet sind, in Vergessenheit zu bringen. Wenn während meiner Abwesenheit irgendeine Wandlung vor sich gehen sollte, so würde sie doch nie von so langer Dauer sein, und er vermöchte nie sie so vollkommen vor mir zu verbergen, daß ich die Gefahr nicht noch vor Eintritt des Uebels bemerken und nicht Zeit haben sollte, Heilmittel anzuwenden. Wie man nicht mit einem Male schlecht wird, so lernt man sich auch nicht plötzlich verstellen, und wenn sich je ein Mensch in dieser Kunst ungeschickt benimmt, so ist es Emil, der in seinem ganzen Leben nicht eine einzige Gelegenheit gehabt hat, sie anzuwenden.

Durch diese sowie ähnliche Beweise meiner Sorgfalt halte ich ihn vor fremden Zwecken und gemeinen Grundsätzen so gut bewahrt, daß ich ihn lieber inmitten der schlechtesten Gesellschaft von Paris sehen möchte, als allein in seinem Zimmer oder in einem Parke, der ganzen Unruhe seines Alters überlassen. Was man auch immer tun möge, so wird doch von allen Feinden, welche einen jungen Mann bedrohen können, der gefährlichste und der einzige, den man nicht fernhalten kann, stets er selbst sein. Dieser Feind ist indes nur durch unsere eigene Schuld gefährlich; denn wie ich schon tausendmal gesagt habe, wird die Sinnlichkeit lediglich durch die Einbildungskraft wachgerufen. Ihr Bedürfnis ist im eigentlichen Sinne gar kein physisches Bedürfnis; es beruht durchaus nicht auf Wahrheit, daß es ein wirkliches Bedürfnis ist. Hätte sich nie ein unzüchtiger Gegenstand unseren Blicken dargeboten, nie ein unreiner Gedanke in unseren Geist Eingang gefunden: so hätte sich uns dies angebliche Bedürfnis vielleicht nie fühlbar gemacht, und wir wären dann ohne Versuchungen, ohne Anstrengungen und ohne Verdienst keusch geblieben. Man macht[275] sich keine Vorstellung davon, welche geheime Gärung gewisse Situationen und gewisse Bilder im Blute der Jugend erregen, ohne daß sie sich selbst über sie Ursache dieser ersten Unruhe, die sich nicht leicht stillen läßt und nicht wiederzukehren säumt, Rechenschaft abzulegen vermag. Je mehr ich nun aber über diese wichtige Krisis sowie über ihre näheren oder ihre entfernteren Ursachen nachdenke, desto mehr bildet sich in mir die Ueberzeugung aus, daß ein Mensch, der einsam in einer Wüste, ohne Bücher, ohne Unterricht, und ohne Weiber erzogen wäre, daselbst in jungfräulicher Reinheit sterben würde, ein wie hohes Alter er auch erreichen möge.

Allein hier handelt es sich nicht um einen Wilden dieser Art. Wenn man einen Menschen im Kreise seiner Mitmenschen und für die Gesellschaft erzieht, so ist es unmöglich, ja nicht einmal empfehlenswert, ihn beständig in dieser heilsamen Unwissenheit zu erhalten. Nichts ist für die Bewahrung der Keuschheit schlimmer als ein halbes Wissen. Die Erinnerung an die Gegenstände, die unsere Blicke auf sich gezogen, die Ideen, welche wir erworben haben, begleiten uns in die Einsamkeit, bevölkern sie wider unseren Willen mit Bildern, die weit verführerischer sind als die Gegenstände selbst, und machen die Einsamkeit für denjenigen, welcher jene mit dahin nimmt, ebenso unheilvoll, wie sie demjenigen, welcher sich stets allein in ihr aufhält, Nutzen bringt.

Wachet deshalb mit aller Sorgfalt über den jungen Mann; vor allem übrigen wird er sich schon zu schützen wissen, euch aber liegt es ob, ihn vor sich selbst zu schützen. Laßt ihn weder bei Tage noch bei Nacht allein; schlafet wenigstens in einem Zimmer mit ihm; nur vom Schlafe übermannt, lege er sich zu Bett, und verlasse es unmittelbar nach dem Erwachen. Mißtrauet dem Instinkte, sobald ihr euch nicht mehr auf ihn beschränkt. Obwohl er gut ist, solange er allein wirkt, so wird er doch verdächtig, sobald[276] er sich mit menschlichen Einrichtungen verbindet. Man darf ihn nicht vernichten, sondern muß ihn regeln, und letzteres macht vielleicht größere Schwierigkeiten als seine völlige Vernichtung. Es wäre sehr gefährlich, wenn er euerem Zögling Anleitung gäbe, seine Sinnlichkeit zu täuschen und für die Gelegenheit zu ihrer Befriedigung Ersatz zu gewähren. Kennt er erst einmal diesen gefährlichen Ersatz, so ist er verloren. Von da ab wird sein Körper und Geist für immer entnervt sein; bis zum Grabe wird er mit den traurigen Folgen dieser Gewohnheit, der unheilvollsten, welcher ein junger Mann unterworfen sein kann, behaftet bleiben. Ohne Zweifel würde es noch besser sein... Wenn die Glut eines feurigen Temperaments unbezähmbar wird, dann, mein lieber Emil, beklage ich dich; aber nicht einen Augenblick werde ich schwanken, unter keinen Umständen werde ich dulden, daß der Zweck der Natur umgangen werde. Wenn du dich einmal der Herrschaft eines Tyrannen fügen mußt, so will ich dich doch lieber dem überliefern, von welchem ich dich wieder zu befreien imstande bin. Was sich auch immer ereignen möge, so werde ich dich doch leichter den Frauen als dir selbst entreißen können.

Bis zum zwanzigsten Jahre wächst der Körper und hat dazu alle ihm zugeführten Nahrungsstoffe nötig. Bis dahin wird die Enthaltsamkeit von der Ordnung der Natur verlangt, und nur auf Kosten seiner Konstitution versündigt man sich gegen dieselbe. Vom zwanzigsten Jahr an ist die Enthaltsamkeit dagegen eine sittliche Pflicht. Sie hat darum eine so hohe Bedeutung, weil sie uns lehrt, uns selbst zu beherrschen und unsere Begierden zu zügeln. Indes haben die sittlichen Pflichten ihre Modifikationen, ihre Ausnahmen und Regeln. Sobald die menschliche Schwachheit eine Alternative unvermeidlich macht, verdient das kleinste von zwei Uebeln den Vorzug. In jedem Fall ist es besser, einen Fehler zu begehen, als sich an ein Laster zu gewöhnen.[277]

Seid eingedenk, daß ich hier nicht mehr von meinem Zögling rede, sondern von dem eurigen. Seine Leidenschaften, die durch eure Zulassung in Gärung geraten sind, unterjochen euch. Fügt euch also offen in sie, und zwar ohne ihm seinen Sieg zu verhehlen. Wenn ihr es versteht, ihm denselben in seinem wahren Lichte zu zeigen, so wird er sich darüber weniger stolz als vielmehr beschämt fühlen, und ihr werdet euer Recht aufrechterhalten, ihn auch während seine Verirrung zu leiten, um ihn wenigstens nicht in den Abgrund versinken zu lassen. Es ist von Wichtigkeit, daß der Schüler ohne Wissen und Willen des Lehrers nichts, nicht einmal wenn es böse ist, tue, und es ist hundertmal besser, daß der Lehrer einen Fehler billigt, wenn er sich dabei auch einer Täuschung hingibt, als daß er von seinem Zögling getäuscht und der Fehltritt ohne sein Wissen begangen würde. Wer sich einredet, die Augen bei irgend etwas zudrücken zu müssen, wird sich bald genötigt sehen, sie bei allem zuzudrücken. Der erste geduldete Mißbrauch führt in seinem Gefolge einen anderen mit sich, und diese Kette endet erst mit dem Umsturz jeglicher Ordnung und mit der Verachtung jeder gesetzlichen Vorschrift.

Ein anderer Fehler, gegen den ich schon angekämpft habe und der Leuten von geringen Gaben stets eigen sein wird, besteht darin, daß man sich beständig mit einer gewissen schulmeisterlichen Würde umhüllt und darauf ausgeht, in den Augen seines Schülers für einen vollkommenen Mann zu gelten. Diese Methode ist widersinnig. Vermögen Erzieher dieser Art denn nicht einzusehen, daß sie ihr Ansehen gerade durch das vernichten, wodurch sie es befestigen wollen? daß man sich, um seinen Worten Gehör zu verschaffen, an deren Stelle versetzen muß, an welcher sie gerichtet sind, und daß man Mensch sein muß, um zum menschlichen Herzen reden zu können? Alle diese vollkommenen Leute sind außerstande, zu rühren oder gar zu überzeugen; man sagt sich beständig, es sei für sie sehr leicht, Leidenschaften, die sie[278] nicht fühlen, zu bekämpfen. Zeigt euerem Zögling eure Schwächen, wenn ihr anders darauf Anspruch macht, ihn von den seinigen zu heilen. Möge er bei euch dieselben Kämpfe wahrnehmen, die er zu bestehen hat; möge er an eurem Beispiel sich besiegen lernen und nicht wie die anderen sagen: »Diese Greise sind voller Verdruß darüber, daß sie nicht mehr jung sind, und wollen deshalb die Jünglinge wie Greise behandeln, und weil ihre eigenen Begierden sämtlich erloschen sind, rechnen sie uns die unsrigen zum Verbrechen an.«

Montaigne berichtet, er habe den Herrn von Langey eines Tages gefragt, wie oft er sich als Gesandter in Deutschland im Dienste des Königs habe betrinken müssen. Ich möchte wohl den Hofmeister eines gewissen jungen Herrn fragen, wie oft er zum Heil seines Zöglings ein verrufenes Haus betreten habe. Wie oft? Ich irre mich. Wenn nicht schon das erstemal dem jungen Wüstling die Lust austreibt, je wieder seinen Fuß über jene Schwelle zu setzen, wenn nicht Scham und Reue seine Begleiterinnen auf dem Rückwege sind, wenn er nicht die Ströme von Tränen an eurer Brust vergießt, dann gebt ihn sofort auf, dann ist er nur ein Unmensch oder ihr seid nur Schwachköpfe. Ihr werdet nicht mehr zu seinem Nutzen wirken können. Doch lassen wir diese alleräußersten Auswege beiseite, die ebenso traurig als gefährlich sind und mit unserer Erziehungsweise nichts zu schaffen haben.

Wie viele Vorsichtsmaßregeln müssen getroffen werden, bevor man einen jungen Mann von guter Herkunft den anstoßerregenden Sitten der heutigen Zeit aussetzen darf! Diese Vorsichtsmaßregeln sind zwar lästig, aber sie sind unerläßlich. Gerade die Nachlässigkeit in diesem Punkt ist es, welche die ganze Jugend dem Verderben entgegenführt. Infolge der Ausschweifungen in frühen Jahren entarten die Menschen und sinken zu der Stufe hinab, auf der wir sie heutzutage erblicken. Selbst in ihren Lastern verächtlich[279] und feig, haben sie nur gemeine Seelen, weil ihre abgelebten Körper schon frühzeitig zugrunde gerichtet sind. Kaum ist ihnen noch so viel Lebenskraft übriggeblieben, daß sie sich rühren können. Ihre umherirrenden, haltlosen Gedanken verraten Geister ohne Stoff; für etwas Großes und Edles fehlt ihnen das Gefühl. Sie besitzen weder Natürlichkeit noch Kraft. In jeder Beziehung verworfen und boshaft bis zur Niederträchtigkeit, zeichnen sie sich nur durch Eitelkeit, betrügerischen Sinn und Falschheit aus. Sie haben nicht einmal Mut genug, hervorragende Bösewichte zu werden. So sind die verächtlichen Menschen beschaffen, welche das in Völlerei und Ausschweifung zugebrachte Leben der Jugend erzeugt. Fände sich unter derselben ein einziger, der ein mäßiges und nüchternes Leben zu führen verstände, der in ihrer Mitte sein Herz, sein Blut, seine Sitten vor der Ansteckung ihres Beispiels zu bewahren wüßte, so würde er in seinem dreißigsten Jahre imstande sein, dieses ganze Geschmeiß zu zertreten, und würde sich zum Herrn über dasselbe mit weniger Mühe emporschwingen können, als er anwenden mußte, seiner selbst Herr zu bleiben.

Hätten Geburt und Glück meinem Emil nur einigermaßen helfend zur Seite gestanden, so würde er, falls er wollte, dieser Mann sein; aber er würde sie in zu hohem Grade verachten, als daß er sich herabließe, sich zu ihrem Herrn aufzuwerfen. Beobachten wir jetzt, wie er in die von ihnen eingefüllte Welt eintritt, nicht um darin eine dominierende Stellung einzunehmen, sondern um sie kennen zu lernen und in ihr eine Gefährtin zu finden, die seiner würdig ist.

Welcher Rang ihm auch durch seine Geburt beschieden sein und in welchem Gesellschaftskreis er sich auch zuerst einführen möge, sein erstes Auftreten wird einfach und anspruchslos sein, Gott wolle ihn davor bewahren, daß er so unglücklich sei, darin zu glänzen! Mit jenen Eigenschaften, welche gleich auf den ersten Blick bestechen, ist er[280] nicht ausgestattet; er besitzt sie gar nicht und will sie gar nicht besitzen. Er legt zu wenig Wert auf die Urteile der Menschen, als daß er ihren Vorurteilen einen solchen zugestehen sollte, und hat gar kein Verlangen danach, daß man ihn achte, bevor man ihn kennt. Die Art und Weise seines Auftretens ist ebenso frei von übertriebener Zurückhaltung wie von einem eitlen Hervordrängen; sie ist natürlich und wahr. Er kennt weder Zwang noch Verstellung, und ist inmitten einer Gesellschaft der nämliche, der er allein und ohne Zeugen ist. Wird er nun deshalb etwa gegen irgend jemand grob, zurückstoßend oder unaufmerksam sein? Ganz im Gegenteil. Hegt er, schon wenn er allein ist, keine nichtachtenden Gedanken gegen seine Mitmenschen, weshalb sollte er sie dann wohl, wenn er unter ihnen lebt, mit Nichtachtung behandeln? Aeußerlich räumt er ihnen allerdings keinen Vorzug vor sich ein, weil er sie in seinem Herzen in sich nicht vorzieht, aber er trägt auch ebensowenig Gleichgültigkeit zur Schau, die seinem Wesen völlig fremd ist. Ist er auch nicht mit den Höflichkeitsphrasen vertraut, so erzeigt er doch die Aufmerksamkeiten, welche in der allgemeinen Menschenliebe ihre Wurzel haben. Er sieht nicht gern jemanden leiden; aus Ziererei wird er zwar einem anderen seinen Platz nicht anbieten, aus Gutmütigkeit wird er ihm dagegen denselben gern abtreten, sobald er wahrnimmt, daß derselbe zurückgesetzt wird, und glaubt, daß ihn diese Vernachlässigung kränke; denn es wird meinem jungen Manne weniger sauer werden, freiwillig stehenzubleiben, als mit anzusehen, daß ein anderer gezwungenerweise stehenbleibe.

Obgleich Emil im allgemeinen keine hohe Achtung vor den Menschen hat, so wird er ihnen doch auch keineswegs Verachtung bezeigen, weil er sie beklagt und von Mitleid mit ihnen erfüllt ist. Da er ihnen keinen Geschmack an den wirklichen Gütern einzuflößen vermag, so läßt er ihnen die eingebildeten Güter, an denen sie ihr Genüge finden,[281] weil er sich der Besorgnis nicht entschlagen kann, daß er sie nur noch unglücklicher machen würde, als sie schon sind, wenn er sie ihnen raubte, ohne ihnen einen Ersatz für dieselben bieten zu können. Er leidet daher weder an Streitsucht noch an Rechthaberei, und spricht den Leuten ebensowenig nach dem Munde wie er ihnen schmeichelt. Er spricht seine Ansicht aus, ohne die eines anderen zu bekämpfen, weil er die Freiheit über alles liebt und ihm Freimütigkeit als eines der beneidenswertesten Rechte erscheint.

Er spricht wenig, weil er nichts danach fragt, ob man sich mit ihm beschäftige. Aus demselben Grunde redet er nur von nützlichen Dingen. Was sollte ihn auch wohl sonst zum Sprechen bewegen? Emil ist zu unterrichtet, um sich je zum Schwätzer herabzuwürdigen. Die Schwatzhaftigkeit kann nur eine doppelte Quelle haben; entweder entspringt sie der krankhaften Einbildung, man besitze Geist, wovon weiter unten die Rede sein soll, oder dem hohen Werte, welchen man auf Kleinigkeiten legt, und dem damit verbundenen Wahne, daß andere sie mit denselben Augen betrachten wie wir. Wer genug Einsicht besitzt, um jedem Ding seinen wahren Wert beizulegen, spricht niemals zu viel; denn er vermag ja auch schon vorauszusehen, welche Aufmerksamkeit man ihm schenken kann und welches Interesse sein Gespräch zu erwecken imstande ist. Im allgemeinen sprechen die Leute, welche wenig wissen, viel, während die Leute, welche viel wissen, wenig reden. Es hängt sehr einfach zusammen, daß ein unwissender Mensch alles, was er weiß, für höchst wichtig hält und es vor aller Welt ausposaunt. Allein ein unterrichteter Mann öffnet nicht leicht die Fundgrube seines Wissens; er hätte zu viel zu sagen und weiß nur zu wohl, daß auch nach ihm noch weit mehr zu sagen wäre. So schweigt er denn.

Weit davon entfernt, an den Sitten anderer Anstoß zu nehmen, findet er sich vielmehr in dieselben und richtet sich willig nach ihnen, nicht etwa um den Anschein zu[282] gewinnen, als ob er mit den Gebräuchen vertraut sei, noch um sich den Anstrich eines Weltmannes zu geben, sondern im Gegenteil aus Besorgnis, er könnte sich sonst von den anderen unterscheiden und Aufsehen erregen; und nie fühlt er sich wohler, als wenn er gar keine Beachtung findet.

Obgleich ihm bei seinem Eintritt in die Welt die Gebräuche derselben völlig fremd sind, ist er doch deswegen weder schüchtern noch furchtsam. Wenn er sich trotzdem im Hintergrunde hält, so geschieht es durchaus nicht aus Verlegenheit, sondern weil der, welcher gut beobachten will, nicht gesehen werden darf; was man von ihm denkt, beunruhigt ihn wenig, und der Gedanke, sich vielleicht dem Gelächter auszusetzen, flößt ihm nicht die geringste Furcht ein. Das ist die Ursache, daß er stets Ruhe und kaltes Blut bewahrt und sich durch falsche Scham nicht beirren läßt. Mag man ihn bemerken oder nicht, so tut er doch alles, was er vornimmt, stets so gut er kann, und da seine Gedanken beständig gesammelt sind, um andere richtig beobachten zu können, so eignet er sich ihre Sitten mit einer Leichtigkeit an, welche die Sklaven der Vorurteile nicht haben können. Man kann behaupten, daß er den seinen Ton gerade deshalb um so leichter annehme, weil er so wenig Wert auf ihn legt.

Täuscht euch gleichwohl nicht über seine Haltung und vergleicht sie nicht mit der euerer junger Herren, die so vortrefflich den Angenehmen zu spielen wissen. Er ist fest, aber nicht voller Selbstgefälligkeit; sein Benehmen ist frei, aber nicht wegwerfend. Ein unverschämtes Wesen ist nur ein Kennzeichen der Sklaverei; mit der Unabhängigkeit paart sich nichts Affektiertes. Noch nie habe ich gesehen, daß ein Mann, in dessen Herz ein edler Stolz wohnte, denselben auch in seiner Haltung verraten hätte. Diese Sucht ist vielmehr niedrigen und eitlen Seelen eigen, die sich nur dadurch Geltung verschaffen können. Ich habe in einem[283] Buche151 gelesen, daß der Berühmte Marcell, als sich ihm eines Tages ein Fremder in seinem Salon vorstellte, denselben gefragt habe, aus welchem Lande er sei. »Ich bin ein Engländer,« erwiderte der Fremde. »Sie, ein Engländer?« versetzte der Tanzlehrer, »Sie sollten aus dieser Insel stammen, wo die Bürger Anteil an der Staatsverwaltung haben und einen Teil der höchsten Gewalt ausmachen?152 Nein, mein Herr, diese gesenkte Stirn, dieser furchtsame Blick, dieses unsichere Auftreten lassen mich in Ihnen nur den betitelten Sklaven eines Kurfürsten erkennen.«

Ich weiß nicht, ob dieses Urteil eine große Kenntnis des wahren Verhältnisses, welches zwischen dem Charakter eines Menschen und seinem Aeußeren stattfindet, bekundet. Ich meinerseits, der ich nicht auf die Ehre Anspruch machen kann, Tanzmeister zu sein, würde das gerade Gegenteil gedacht haben. Ich hätte gesagt: »Dieser Engländer ist kein Hofmann. Nie habe ich vernommen, daß Hofschranzen eine gesenkte Stirn und ein unsicheres Auftreten hätten; ein Mann, der sich einem Tanzmeister gegenüber schüchtern benimmt, braucht deshalb noch nicht im Hause der Gemeinen verlegen aufzutreten.« Sicherlich muß dieser Herr Marcell seine Landsleute für lauter alte Römer halten.

Wenn man liebt, will man geliebt werden. Emil liebt die Menschen; er will ihnen deshalb gefallen. Um so mehr[284] will er den Frauen gefallen; sein Alter, seine Sitten, sein Plan, alles trägt dazu bei, diesen Wunsch in ihn zu nähren. Ich sage seine Sitten, denn diese haben hierbei einen großen Einfluß. Die Männer, welche sich durch Sittlichkeit auszeichnen, sind die wahren Verehrer der Frauen. Es ist ihnen zwar jene eigentümliche artige Sprache der Galanterie fremd, aber sie treten den Frauen mit einer weit wahreren, zärtlicheren und von Herzen kommenden Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegen. Unter hunderttausend Wüstlingen, die eine junge Frau umflattern, würde ich einen gesitteten und seine Natur beherrschenden Mann auf der Stelle herauserkennen. Urteilt nun selbst, wie Emil bei seiner eben erst erwachten Sinnlichkeit und bei so vielen Gründen, derselben nicht nachzugehen, sich benehmen wird. Ich glaube wohl, daß er im Verkehr mir Frauen bisweilen schüchtern und verlegen sein wird, aber sicherlich wird ihnen diese Verlegenheit nicht mißfallen, und selbst diejenigen, welche am wenigsten zur Schelmerei geneigt sind, werden nur zu oft alle Kunst aufbieten, um sich an ihr zu weiden und sie zu erhöhen. Uebrigens wird sich seine zuvorkommende Aufmerksamkeit nach den Umständen merklich ändern. Gegen verheiratete Frauen wird er bescheidener und ehrfurchtsvoller, gegen Jungfrauen lebhafter und zärtlicher sein. Er verliert den Gegenstand seines Suchens nie aus den Augen, und stets beweist er der Jungfrau, welche ihn an sein Ideal erinnert, die größte Aufmerksamkeit.

Niemand wird pünktlicher in der Beobachtung alles dessen sein, was sich auf die Ordnung der Natur und selbst auf die gute gesellschaftliche Ordnung gründet; indes wird er die erstere beständig der letzteren vorziehen, und wird deshalb einem Privatmann, der älter ist als er, mir größerer Ehrerbietung nahen, als einer obrigkeitlichen Person, die mit ihm in gleichen Alter steht. Da er nun für gewöhnlich einer der jüngsten Herren in jeder Gesellschaft sein wird, so wird er auch stets zu den Bescheidensten gehören,[285] nicht etwa aus Eitelkeit, um demütig zu erscheinen, sondern aus einem natürlichen und auf die Vernunft gegründeten Gefühl. Er wird nicht das ungezogene Benehmen eines jungen Gecken nachahmen, der, um die Gesellschaft zu erheitern, lauter spricht als die Weisen und den Aelteren das Wort abschneidet. Er wird für seine Person nicht zu der Antwort berechtigen, die ein alter Edelmann Ludwig XV. auf die Frage gab, ob er dem gegenwärtigen oder dem verflossenen Jahrhundert den Vorzug gäbe: »Sire, in meiner Jugend habe ich dem Alter Ehrfurcht erwiesen, und jetzt, in meinem Alter, muß ich der Jugend mit Ehrfurcht entgegenkommen.«

Da Emil ein weiches und gefühlvolles Herz hat, sich aber dabei von der hergebrachten Meinung nicht beeinflussen läßt, so wird er, obgleich es ihm Freude macht, anderen zu gefallen, doch wenig danach fragen, ob er bei ihnen in hoher Achtung steht. Daraus folgt, daß er mehr herzlich als höflich, weder hochmütig noch prunkvoll sein wird, und daß ihn eine Liebkosung mehr zu rühren vermag als tausend Lobsprüche. Aus denselben Gründen wird er weder seine Manieren noch seine Haltung vernachlässigen, er wird sogar auf seine Kleidung alle Sorgfalt verwenden können, nicht um als ein Mann von Geschmack zu erscheinen, sondern um ein gefälligeres Aeußere zu gewinnen. Aber nie wird er zum »vergoldeten Rahmen« zu greifen nötig haben, nie wird ein Zeichen des Reichtums seine Kleidung verunzieren.

Man begreift, daß dies alles von meiner Seite keine jahrelange Einprägung von Vorschriften erfordert, sondern daß es nur die Wirkung von Emils erster Erziehung ist. Die Erlangung der Weltkenntnis wird uns gewöhnlich als ein schwer zu enthüllendes Geheimnis dargestellt, als ob ihre Erwerbung in dem Alter, in welchem man sich dieselbe aneignet, nicht etwas ganz Natürliches wäre, und als ob ihre Hauptgesetze nicht in einem ehrbaren Herzen zu finden wären! Die wahre Höflichkeit besteht darin, daß man einander[286] mit Wohlwollen entgegenkommt. Sobald es uns an diesem nicht gebricht, tritt sie ohne Mühe hervor. Nur für diejenigen, welchen es eine unbekannte Tugend ist, hat man die Kunst erfinden müssen, sich wohlwollend zu stellen.

»Die unheilvollste Wirkung der gewohnheitsmäßigen Höflichkeit zeigt sich darin, daß sie die Kunst lehrt, sich von den Tugenden freizuhalten, die sie nachahmt. Flöße man uns durch die Erziehung nur Menschenliebe und Wohltätigkeitssinn ein, so wird es uns auch an Höflichkeit nicht fehlen, oder wir werden derselben vielmehr gar nicht erst bedürfen.

Besitzen wir auch nicht die Höflichkeit, die ihren Ausdruck in einem artigen Benehmen findet, so werden wir uns doch derjenigen zu erfreuen haben, welche den Ehrenmann und den Bürger erkennen läßt; wir werden unsere Zuflucht nicht zur Falschheit zu nehmen brauchen.

Statt durch Verstellung zu gefallen, wird es genügen, gut zu sein; statt falsch zu sein, um den Schwächen anderer zu schmeicheln, wird es ausreichen, Nachsicht zu üben.

Leute, denen gegenüber man ein so freundliches Benehmen beobachtet, werden dadurch weder stolz gemacht noch verderbt werden; sie werden es nur dankbar annehmen und dadurch gebessert werden.«153

Es scheint mir, daß, wenn irgendeine Erziehung die Art von Höflichkeit hervorrufen muß, welche der Herr Duclos hier verlangt, es diejenige ist, welche ich bisher in ihren Grundzügen entworfen habe.

Ich räume indes ein, daß Emil bei so abweichenden Grundsätzen nicht aller Welt gleichen wird, und Gott behüte ihn davor, daß er ihr je ähnlich werde! Gleichwohl wird in dem, worin er sich von allen übrigen unterscheidet, nichts Anstößiges oder Lächerliches liegen. Die Verschiedenheit wird sich bemerkbar machen, ohne Mißfallen zu erregen.[287] Emil wird, wenn man will, wie ein liebenswürdiger Fremdling erscheinen. Zuerst wird man ihm seine Sonderbarkeiten verzeihen und sagen: »Er wird sich schon noch bilden.« In der Folge wird man sich an seine Manieren gewöhnen, und wenn man sich überzeugt, daß er sie dich nicht ändert, wird man ihm schließlich auch vergeben und sagen: »Er ist nun einmal so.«

Er wird nicht als ein liebenswürdiger Mensch gefeiert werden, aber gleichwohl wird man ihn lieben, ohne eigentlich zu wissen, weshalb. Niemand wird seinen Geist rühmen, aber man wird ihn mit Vorliebe zum Schiedsrichter unter Männern von Geist wählen. Sein Geist wird klar sein und sich in festen Grenzen halten; er wird einen geraden Sinn und ein gesundes Urteil haben. Da er nie nach neuen Ideen hascht, so wird er auch nie darauf ausgehen, mit seinem Witze zu glänzen. Ich habe ihm den Nachweis geführt, daß alle heilsamen und den Menschen wahrhaft nützlichen Ideen am frühesten bekannt gewesen sind, daß sie zu jeder Zeit einzig und allein die wahren Bande der Gesellschaft ausmachen, und daß Männer von hoher Begabung, die sich auszuzeichnen wünschen, nichts übrigbleibt, als durch verderbliche und dem Menschengeschlecht unheilvolle Ideen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diese Art, Bewunderung zu erregen, hat für ihn nichts Verlockendes. Er weiß, wo sein Lebensglück zu finden ist, und wodurch er zum Glück anderer beizutragen vermag. Das Bereich seiner Kenntnisse dehnt sich nicht weiter als auf das aus, was nützlich ist. Sein Weg ist schmal und genau abgesteckt. Nie in der Versuchung, von ihm abzuweichen, verliert er sich unter denen, die mit ihm die nämlich Straße ziehen; er will sich weder verirren noch hervorragen. Emil ist ein Mensch von gesundem Verstand und will nichts anderes sein. Vergeblich wird man ihn mit diesem Titel zu beleidigen suchen, da er sich durch denselben stets geehrt fühlen wird.[288]

Obgleich ihn der Wunsch, zu gefallen, nicht mehr völlig gleichgültig gegen fremdes Urteil sein läßt, so wird er von diesem Urteile doch nur das annehmen, was sich unmittelbar auf seine Person bezieht, ohne sich um die willkürlichen Wertbestimmungen zu kümmern, bei deren Festsetzung nur die Mode oder die Vorurteile als Gesetz gelten. Er wird seinen Stolz darein setzen, alles, was er tut, gut, ja sogar noch besser machen zu wollen als ein anderer. Beim Laufen wird er sich durch Schnelligkeit, im Ringkampf durch Stärke, bei der Arbeit durch Geschicklichkeit, beim Spiel durch Gewandtheit auszeichnen; dagegen wird er sich wenig angelegen sein lassen, sich eine Ueberlegenheit in solchen Dingen zu erwerben, bei denen sich nicht ein klar erkennbarer Vorteil erzielen läßt, sonder wo derselbe von fremden Urteil abhängt, zum Beispiel einen schärferen Witz, eine größere Rednergabe, eine umfassendere Gelehrsamkeit als ein anderer zu haben usw. Noch weniger Wert wird er auf solche Vorteile legen, die in keiner Weise etwas mit der Person zu schaffen haben, wie zum Beispiel aus einer vornehmeren Familie abzustammen, für reicher gehalten zu werden, angesehener zu sein, durch größeren Aufwand zu blenden.

Obgleich er die Menschen im allgemeinen liebt, weil sie seinesgleichen sind, so wird er dich vorzüglich denen seine Liebe schenken, die ihm an Herzensgüte am ähnlichsten sind; und da er diese Aehnlichkeit nach der Uebereinstimmung des Geschmacks in moralischen Dingen beurteilt, so wird es ihm Freude bereiten, wenn er bei allem, was in einem guten Charakter seine Quelle hat, Anerkennung findet. Er wird sich zwar nicht geradezu sagen: »Ich freue mich, daß mir die Welt ihre Anerkennung nicht versagt,« aber wohl: »Ich freue mich, daß man das, was ich Gutes getan habe, billigt; ich freue mich, weil die Leute, welche mir Ehre erweisen, sich damit nur selbst ehren. Solange sie ein so gesundes Urteil fällen, wird es schön sein, ihre Achtung zu besitzen.«[289]

Während er so die Menschen nach ihren Sitten im treiben der Welt studiert, wie er sie zuvor nach ihren Leidenschaften in der Geschichte studierte, wird sich ihm oft Gelegenheit darbieten, über das nachzudenken, was das menschliche Herz angenehm oder unangenehm berührt. So beginnt er denn nun über die Prinzipien des Geschmacks zu philosophieren und sich damit einem Studium hinzugeben, welches für ihn in diesem Lebensabschnitt am angemessensten ist.

Je weiter man die Begriffsbestimmungen des Geschmacks herholen will, desto mehr verirrt man sich; der Geschmack besteht in nichts anderem als der Fähigkeit, sich über das, was der großen Mehrzahl gefällt oder mißfällt, ein richtiges Urteil zu bilden. Sobald man weiterschweift, weiß man nicht mehr, was Geschmack ist. Daraus folgt noch nicht, daß die Zahl derer, welchen man Geschmack nachsagen kann, größer sei als die jener Leute, welchen er fehlt; denn obgleich die Mehrzahl über jeden Gegenstand richtig urteilt, so gibt es gleichwohl wenig Menschen, die über alles dasselbe Urteil fällen wie sie; und obgleich die Gesamtsumme des Gemeinsamen der verschiedenen Geschmacksrichtungen den guten Geschmack bildet, so gibt es doch nur wenige Leute von Geschmack, ebenso wie es nur wenig schöne Personen gibt, obgleich die Schönheit durch die Vereinigung der am häufigsten vorkommenden Gesichtszüge gebildet wird.

Man darf indes nicht außer acht lassen, daß es sich hierbei nicht um das handelt, was man liebt, weil es uns nützlich ist, noch um das, was man haßt, weil es uns Schaden bringt. Der Geschmack macht sich nur bei gleichgültigen Dingen geltend, oder höchstens bei solchen, die durch das von ihnen gehoffte Vergnügen unser Interesse in Anspruch nehmen, nie aber bei solchen, die zur Befriedigung unserer Bedürfnisse dienen. Zur Beurteilung solcher Gegenstände bedarf es nicht des Geschmacks, dazu genügt schon der bloße sinnliche Trieb. Das ist es, was die reinen Entscheidungen[290] des Geschmacks so schwierig und, dem Anscheine nach, so willkürlich macht. Denn außer dem Instinkte, der bestimmend auf den Geschmack einwirkt, läßt sich weiter kein Grund für seine Entscheidung auffinden. Ferner muß man unterscheiden, nach welchen Gesetzen er in moralischen und nach welchen er in physischen Dingen verfährt. In letzteren erscheinen die Grundsätze des Geschmacks völlig unerklärbar.154 Es ist eine Beobachtung von großer Bedeutung, daß bei allem, wobei es auf Nachahmung ankommt, die Moral mit beteiligt ist.155 Auf diese Weise erklärt man Schönheiten, welche in das Gebiet des Physischen zu gehören scheinen, während es in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Ich will noch hinzufügen, daß sich der Geschmack auch nach lokalen Gesetzen richtet, welche ihn in tausenderlei Dingen von dem Klima, den Sitten, der Regierungsform und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen abhängig machen. Dazu treten endlich noch andere Gesetze, die sich in Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Charakter gebildet haben, und in diesem Sinn ist es völlig wahr, daß über den Geschmack nicht zu streiten ist.

Alle Menschen haben Geschmack als eine Mitgabe der Natur erhalten; aber nicht alle besitzen ihn in gleichem Maße, er entwickelt sich nicht bei allen bis zu demselben Grade, und bei allen ist er aus verschiedenen Ursachen Wandlungen unterworfen. Das Maß des Geschmacks, das man besitzen kann, hängt von der Empfänglichkeit ab, mit der man ausgestattet ist. Die Ausbildung und Ausdrucksweise desselben hängen von den gesellschaftlichen Kreisen ab,[291] in denen man sich bewegt hat. Erstens muß man zahlreiche gesellschaftliche Kreise aufsuchen, um viele Vergleiche anstellen zu können; zweitens müssen es Gesellschaften des Vergnügens und der Muße sein, denn in Vereinen, die zu geschäftlichen Zwecken zusammentreten, will man nicht Vergnügen, sondern Vorteil finden. Drittens müssen es Gesellschaften sein, in denen die Ungleichheit nicht allzu groß ist, die Tyrannei der hergebrachten Meinung nicht allzu schroff hervortritt, und in denen man mehr dem Genuß als der Eitelkeit frönt, denn im entgegengesetzten Fall erstickt die Mode den Geschmack und man trachtet nicht mehr nach dem, was gefällt, sondern nach dem, was auszeichnet.

In letzterem Falle kann man den guten Geschmack in Wahrheit nicht mehr den Geschmack der Mehrzahl nennen. Weshalb denn nicht? Weil sich das Objekt ändert. Alsdann hat die Menge kein eigenes Urteil mehr, sie läßt sich von dem Urteile derjenigen bestimmen, die sie für erleuchteter hält als sich selbst; sie zollt nicht dem Anerkennung, was gut ist, sondern dem, was andere als gut anerkannt haben. Traget deshalb allezeit dafür Sorge, daß sich ein jeder Mensch sein eigenes Urteil bildet, dann wird auch sicherlich das, was das Angenehmste an sich ist, stets die meisten Stimmen für sich haben.

Nur durch Nachahmung vermögen die Menschen in ihren Werken Schönes hervorzubringen. Alle wahren Vorbilder des Geschmacks werden der Natur entnommen. Je mehr uns wir von dieser Meisterin entfernen, desto entstellter werden unsere Nachbildungen. Dann müssen wir uns die Gegenstände, die wir liebhaben, als Muster dienen; aber das Schöne aus dem Reiche der Phantasie ist, weil es sich der Laune und der Autorität unterworfen sieht, nichts weiter als das, was denen gefällt, unter deren Leitung wir stehen.

Diejenigen nun, deren Leitung wir folgen, sind Künstler, Große und Reiche, welche sich wieder ihrerseits durch ihr Interesse oder ihre Eitelkeit leiten lassen. Eifrig sieht man[292] sie neue Mittel des Aufwands aufsuchen, die einen, um mit ihrem Reichtum zu prunken, die anderen, um daraus Vorteil zu ziehen. Dadurch legt der große Luxus den Grund zu seiner Herrschaft und flößt uns Liebe für das ein, was schwer zu erlangen und kostbar ist. Alsdann ist das, was für schön ausgegeben wird, weit von der Nachahmung der Natur entfernt, und wird deshalb nur so genannt, weil es mit der Natur nicht in Uebereinstimmung steht. Das ist die Ursache, weshalb Luxus und schlechter Geschmack Hand in Hand gehen. Ueberall, wo die Befriedigung des Geschmacks mit großen Kosten verbunden ist, ist er falsch.

Besonders im Umgang beider Geschlechter gewinnt der Geschmack, sei er gut oder schlecht, eine bestimmte Form; seine Ausbildung ist eine notwendige Folge dieses geselligen Verkehrs. Läßt jedoch die Leichtigkeit, mit welcher man sich den Genuß verschaffen kann, das Verlangen zu gefallen erkalten, so muß der Geschmack ausarten, und hierin liegt, wie mir scheint, einer der augenscheinlichsten Gründe, weshalb der gute Geschmack auf den guten Sitten beruht.

In physischen wie in solchen Angelegenheiten, die ein Urteil der Sinne zulassen, zieht den Geschmack der Frauen zu Rate, den der Männer jedoch in moralischen und allen übrigen Angelegenheiten, zu deren Beurteilung ein größerer Verstand nötig ist. Sind die Frauen, was sie sein sollen, so werden sie sich auf Dinge beschränken, für welche sie ein Verständnis haben, und werden stets richtig urteilen. Seitdem sie sich jedoch auch über die Literatur die Herrschaft angemaßt, seitdem sie sich unterfangen haben. Bücher zu kritisieren und sogar mit aller Gewalt selbst zu schreiben, seitdem verstehen sie sich auf nichts mehr. Schriftsteller, welche sich über ihre Werke bei gelehrten Frauen Rats erholen, können stets versichert sein, schlechte Ratschläge zu erhalten. Stutzer, welche ihren Anzug nach dem Rate der Frauen wählen, sind stets lächerlich gekleidet. Es wird[293] sich mir bald Gelegenheit darbieten, von den wirklichen Talenten dieses Geschlechts, von der Art und Weise ihrer Ausbildung, sowie von denjenigen Dingen zu sprechen, in welchen man auf die Entscheidung desselben hören muß.

Das sind die einfachen Betrachtungen, die ich als Grundsätze aufstellen werde, wenn ich mit meinem Emil einen Stoff bespreche, der ihm in der Lage, in welcher er sich befindet, und bei den Nachforschungen, mit welchen er beschäftigt ist, nichts weniger als gleichgültig sein kann. Und wem könnte er auch wohl gleichgültig sein? Die Kenntnis dessen, was den Menschen angenehm oder unangenehm sein kann, ist nicht allein für denjenigen notwendig, welcher ihrer bedarf, sondern auch für den, welcher ihnen nützen will. Selbst wenn man ihnen dienen will, kommt viel darauf an, daß man ihnen gefalle, und die Kunst zu schildern ist nichts weniger als ein müßiges Studium, wenn man sich ihrer dazu bedient, der Wahrheit Gehör zu verschaffen.

Wenn mir zur Ausbildung des Geschmacks meines Zöglings die Wahl zwischen solchen Ländern, in denen die Geschmacksbildung erst im Entstehen begriffen ist, und anderen, in welchen sich bereits eine Entartung derselben bemerkbar machte, freistünde, so würde ich die umgekehrte Reihenfolge innehalten; ich würde ihn zunächst die letzteren und zuletzt die ersteren besuchen lassen. Der Grund, der mich bei dieser Wahl leitet, besteht darin, daß der Geschmack bei einer zu übertriebenen Verfeinerung, die die Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, welche die meisten Men schen gar nicht gewahren, allmählich entartet. Diese Verfeinerung erfüllt uns mit Streitsucht. Denn je scharfsinniger man über die Gegenstände nachsinnt, desto mehr vervielfältigen sie sich; der dabei aufgebotene Scharfsinn macht das Gefühl zwar feiner, aber auch weniger übereinstimmend. Es bildet sich dann ein so vielfacher Geschmack, als es Köpfe gibt. In den Erörterungen darüber, wem der Vorzug eingeräumt werden muß, erweitern sich die Einsichten sowie die philosophischen[294] Anschauungen, und auf diese Weise lernt man denken. Feine Beobachtungen können kaum von anderen als solchen Leuten angestellt werden, denen eine reiche Weltkenntnis zur Seite steht, weil sie sich erst nach Vorangang vieler anderer dem Beobachter aufdrängen, und weil die Aufmerksamkeit solcher Leute, welche sich wenig in zahlreichen Gesellschaften bewegt haben, schon durch die gewöhnlichen und sofort in die Augen fallenden Vorkommnisse völlig in Anspruch genommen wird. Es gibt gegenwärtig auf Erden vielleicht keinen zivilisierten Ort, wo der Geschmack im allgemeinen schlechter wäre als in Paris. Trotzdem wird gerade in dieser Hauptstadt der gute Geschmack ausgebildet, und es erscheinen wenige Bücher von europäischem Rufe, deren Verfasser nicht in Paris ihre Bildung empfangen hätten. Wer jedoch wähnt, es genüge schon, die Bücher, welche dort geschrieben werden, zu lesen, der befindet sich im Irrtum; man lernt aus dem Umgang mit den Schriftstellern mehr als aus ihren Büchern. Und selbst die Schriftsteller sind es nicht einmal, von denen man am meisten lernt. Nein, der Geist der Gesellschaft ist es, der einen denkenden Kopf weiter fördert und seinen Gesichtskreis mehr und mehr erweitert. Besitzet ihr auch nur einen Funken von Genie, so bringet ein Jahr in Paris zu; bald werdet ihr dann alles sein, was ihr überhaupt zu sein vermögt, oder ihr werdet es nie zu etwas bringen.

Man ist imstande, auch an Orten, wo ein schlechter Geschmack herrscht, denken zu lernen; aber man darf freilich nicht wie diejenigen denken, welche diesen schlechten Geschmack teilen, und es ist in der Tat sehr schwierig, sich bei längerem Verkehr mit ihnen davor zu hüten. Durch ihre Beihilfe muß man gleichsam das Instrument, vermittels dessen wir unsere Urteil bilden, vervollkommnen, dabei aber vermeiden, es in gleicher Weise wie sie anzuwenden. Ich werde mich hüten, Emils Urteilsvermögen bis zu dem Grad auszubilden, daß es eine bleibende Schwächung davonträgt,[295] und wenn sein Gefühl fein genug sein wird, um die Verschiedenheiten im Geschmacke der Menschen zu erkennen und zu vergleichen, so werde ich ihn zur Befestigung seines eigenen Geschmacks auf einfachere Gegenstände zurückführen.

Ich werde mich sogar, um ihm einen reinen und gesunden Geschmack zu bewahren, noch nach entfernteren Mitteln umsehen. In dem Geräusche der Zerstreuungen werde ich es trotzdem nicht an Unterhaltungen über nützliche Gegenstände fehlen lassen, und indem ich sie stets auf solche lenken werde, die ihm zu gefallen geeignet sind, werde ich sie ihm ebenso angenehm als lehrreich zu machen suchen. Das ist nun die Zeit, in welcher ich ihm unterhaltende Bücher zur Lektüre vorlegen werde, die Zeit, ihn eine Rede analysieren zu lehren und für die Schönheiten der Beredsamkeit und des Ausdrucks empfänglich zu machen. Die Erlernung der Sprachen um ihrer selbst willen hat wenig Wert; ihr Nutzen ist nicht so bedeutend, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt; aber das Studium der Sprache leitet auf das Studium der allgemeinen Sprachgesetze. Man muß Lateinisch lernen, um gut Französisch zu verstehen; beide Sprachen muß man studieren und vergleichen, um die Regeln der Redekunst zu begreifen.

Es gibt überdies eine gewisse Einfachheit des Geschmacks, welche zu Herzen geht und sich nur in den Schriften der Alten vorfindet. In der Beredsamkeit, in der Poesie, in jedem Literaturzweige wird Emil die Alten so wiederfinden, wie sie ihm die Geschichte gezeichnet hat: reich an hervorragenden Erscheinungen und nüchtern im Urteil. Unsere Schriftsteller sagen dagegen wenig, so viel Worte sie auch machen. Uns unaufhörlich ihr eigenes Urteil als Gesetz vorschreiben, ist nicht das Mittel, das unsrige zu bilden. Die Verschiedenheit unseres Geschmacks vor dem der Alten kann man an allen Denkmälern, sogar an den Grabmälern erkennen. Die unsrigen sind mit Lobeserhebungen bedeckt; auf denen der Alten las man nur Taten.

[296] Sta viator; heroem calcas.156

Selbst wenn ich diese Grabschrift auf einem antiken Monumente gefunden hätte, würde ich doch sofort erraten haben, daß sie unserer Zeit angehört; denn nichts ist unter uns so gewöhnlich als Helden, während sie bei den Alten gar selten waren. Anstatt zu sagen, daß ein Mann ein Held gewesen sei, würden sie die Taten angegeben haben, die ihn dieses Namens würdig machten. Vergleicht nun mit der Grabschrift dieses Helden die des weibischen Sardanapal:

An einem Tage ließ ich Tarsus und Anchialus bauen und nun bin ich tot.

Welche sagt wohl eurem Bedünken nach mehr? Unser schwülstiger Lapidarstil ist nichts nütze, als Zwerge aufzublasen. Die Alten stellten uns die Menschen mit natürlichen Farben dar, und man sah, daß es Menschen waren. Um das Andenken einiger auf dem Rückzuge der zehntausend verräterischerweise erschlagener Krieger zu ehren, sagt Xenophon: »Sie starben, unsträflich als Krieger und als Freunde!« Das ist alles. Bedenkt indes, von welchen Gedanken das Herz dieses Mannes erfüllt sein mußte, als er dieses so kurze und so einfache Lob niederschrieb. Beklagenswert derjenige, der es nicht hinreißend findet!

Auf einem Marmorstein bei Thermopylä las man die Worte eingegraben:

Wanderer, verkündige es in Sparta, daß wir hier seinen heiligen Gesetzen getreu, gestorben sind.

Man fühlt es sofort heraus, daß die Akademie der Inschriften diese hier nicht verfaßt hat.157[297]

Ich würde mich in einer großen Täuschung befinden, wenn meinem Zögling, der so wenig Wert auf Worte legt, dieser Unterschied nicht sofort auffallen und einen Einfluß auf die Wahl seiner Lektüre ausüben sollte. Hingerissen von der männlichen Beredsamkeit des Demosthenes, wird er sagen: »Das ist ein Redner,« während er bei der Lektüre des Cicero sagen wird: »Das ist ein Advokat.«

Im allgemeinen werden die Schriften der Alten Emils Geschmacke mehr zusagen als die unsrigen, schon aus dem alleinigen Grunde, weil die Alten, als die der Zeit nach früheren, der Natur am nächsten kommen, und weil ihr Genie mehr ihnen selbst angehört. Was la Motte und der Abbé Terasson auch immer gesagt haben mögen, es gibt doch bei dem Menschengeschlechte keinen wahren Fortschritt der Vernunft, weil alles, was auf der einen Seite als Gewinn angesehen werden kann, durch Verluste auf der anderen Seite wieder aufgewogen wird. Alle Geister müssen stets von demselben Punkt ausgehen, und weil nun die Zeit, welche man zur Erlernung dessen, was andere gedacht haben, aufwendet, naturgemäß für die Ausbildung des Selbstdenkens verloren geht, so hat man zwar mehr Einsichten gewonnen, besitzt aber dafür weniger Geisteskraft. Wie unsere Arme darin geübt sind, alles nur mit Hilfe von Werkzeugen und nichts durch sich selbst zu verrichten, so verhält es sich auch mit dem Geiste. Fontenell äußerte, der ganze Streit über die Alten und Neueren lasse sich in die Frage zusammenfassen, ob die Bäume ehedem eine größere Höhe erreicht hätten als heutigestags. Wäre im[298] Landbau eine Umgestaltung eingetreten, so würde es gar nicht ungehörig sein, diese Frage aufzuwerfen.

Nachdem ich Emil nun bis zu den Quellen der reinen Literatur habe zurückgehen lassen, zeige ich ihm gleichfalls die Kanäle, durch welche sich dieselben in die Behälter der modernen Kompilatoren ergossen haben, mache ihn mit Journalen, Uebersetzungen und Wörterbüchern bekannt. Er wirft auf dies alles einen einzigen Blick, um dann nie wieder darauf zurückzukommen. Zu seiner Erheiterung lasse ich ihn auch das Geschwätz der Akademien anhören. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß jedes Mitglied derselben, so bald es für sich allein ist, stets höhere Geltung hat, als innerhalb der Körperschaft; daraus wird sich dann schon selbst ein Urteil über den Nutzen dieser prächtigen Anstalten bilden.

Auch ins Theater führe ich ihn, nicht etwa um die Sitten, wohl aber um den Geschmack zu studieren; denn denjenigen, welche an Nachdenken gewöhnt sind, zeigt er sich dort ganz besonders. »Laß die moralischen Vorschriften beiseite«, würde ich zu ihm sagen. »Hier ist nicht die Stätte, wo wir uns über sie belehren sollen. Das Theater hat nicht die Bestimmung, der Wahrheit zu dienen; seine Aufgabe ist, die Menschen angenehm zu unterhalten, ihnen Vergnügen zu bereiten; in keiner Schule läßt sich die Kunst, ihnen zu gefallen und das Menschenherz zu fesseln, so vollkommen wie dort erlernen.« Das Studium des Theaters führt zu dem der Poesie; beide verfolgen genau dasselbe Ziel. Mit welcher Freude wird er, wenn er auch nur einen Funken von Geschmack für letztere hat, dann die Sprachen der Dichter, Griechisch, Lateinisch, Italienisch, erlernen! Ein je zwangloseres Vergnügen ihm diese Studien bereiten werden, desto größeren Gewinn wird er von ihnen haben; mit köstlicher Freude werden sie sein Herz gerade in einem Alter und unter Umständen erfüllen, wo es einer jeden Art Schönheit, die dazu angetan ist, das Herz zu[299] rühren, mit solcher Wärme entgegenklopft. Man stelle sich vor, wie einerseits mein Emil, andererseits ein Schüler einer öffentlichen Anstalt das vierte Buch der Aeneide oder den Tibull oder das Symposion des Plato liest. Welch ein Unterschied! Wie tief fühlt sich das Herz des einen von dem bewegt, was den anderen ganz ungerührt läßt! O, lieber Jüngling, halte ein, unterbrich deine Lektüre, ich sehe dich in zu hohem Grade erschüttert. Es ist zwar mein Wunsch, daß du an der Sprache der Liebe Gefallen findest, aber nicht, daß sie dich irreleite! Sei ein für die Liebe empfänglicher Mensch, aber auch ein verständiger Mensch! Bist du nur eins von beiden, so bist du nichts. – Ob übrigens mein Zögling in den toten Sprachen, in den schönen Wissenschaften und in der Poesie große Fortschritte mache oder nicht, darauf kommt wenig an. Er wird mir darum nichts an Wert verlieren, wenn er auch von alledem nichts weiß; um alle diese nichtigen Tändeleien handelt es sich bei seiner Erziehung durchaus nicht.

Der Hauptzweck, den ich bei dem Bestreben, ihn das Schöne nach jeder Richtung hin empfinden und lieben zu lehren, verfolge, ist darauf gerichtet, seine Neigungen und seinen Geschmack für immer demselben zuzuwenden, die Entartung seiner natürlichen Triebe zu verhindern und vorzubeugen, daß er nicht eines Tages die Mittel, glücklich zu sein, die er weit näher finden soll, in seinem Reichtum suche. Ich habe mich bereits an einem anderen Ort158 darüber ausgesprochen, daß der Geschmack nur in der Kunst bestände, sich auf Kleinigkeiten zu verstehen, und dies ist vollkommen die Wahrheit. Da nun aber einmal die Annehmlichkeit des Lebens von einem Gewebe von Kleinigkeiten abhängig ist, so ist die Sorge für dieselben nichts weniger als gleichgültig. Durch ihre Beihilfe lernen wir das Leben mit Gütern erfüllen, welche in der ganzen Wirklichkeit,[300] die sie für uns zu haben imstande sind, völlig in unserem Bereiche liegen. Ich verstehe hierunter nicht etwa die moralischen Güter, die von der Seelenreinheit abhängen, sondern das allein, was, die Vorurteile und die allgemeine Meinung beiseite gesetzt, in das Gebiet der Sinnlichkeit, der wirklichen Sinnenlust gehört.

Man solle mir gestatten, daß ich zur besseren Klarlegung meiner Idee von meinem Emil, dessen reines und gesundes Herz niemanden als Regel zu dienen vermag, einen Augenblick absehe und mich selbst als ein deutlicheres und den Sitten des Lehrers näherliegendes Beispiel hinstelle.

Es gibt Stände, welche die Natur zu verändern und die Glieder derselben, sei es zum Bessern, sei es zum Schlechtern, umzuwandeln scheinen. Ein Feiger wird tapfer, sobald er in das Regiment Navarra eintritt. Indes nimmt man nicht allein im Soldatenstand einen gewissen Korpsgeist an, und nicht nur nach der guten Seite hin lassen sich seine Wirkungen wahrnehmen. Wohl hundertmal habe ich mit Schrecken daran gedacht, daß, wenn ich das Unglück hätte, heute in einem gewissen Lande ein Amt, wie ich es im Sinne habe, zu bekleiden, ich morgen fast unvermeidlich ein Tyrann, ein Leuteschinder, ein Mann, der die Volks-wie Fürstenrechte zu schädigen suchte, kurz, schon infolge meiner amtlichen Stellung ein Feind aller Menschlichkeit, aller Billigkeit und jeglicher Tugend sein würde.

Ebenso würde ich, besäße ich Reichtümer, alles getan haben, was man zur Erlangung derselben tun muß. Ich würde mich also übermütig und gemein benehmen, gegen mich allein rücksichtsvoll und zärtlich sein, gegen alle übrigen aber schonungslos und hart auftreten und auf das Elend des Lumpengesindels mit Verachtung herabblicken, denn den Dürftigen würde ich keinen anderen Namen geben, um dadurch in Vergessenheit zu bringen, daß ich einst selbst ihrer Klasse angehörte. Endlich würde ich mein Vermögen nur als Mittel benutzen, mir Vergnügen zu verschaffen, in[301] denen ich ausschließlich leben und weben würde; und damit wäre ich auf die Stufe aller anderen herabgesunken.

In einem Punkte würde ich mich jedoch, wie ich glaube, wesentlich von ihnen unterscheiden, darin nämlich, daß ich eher sinnlich und wollüftig als stolz und eitel sein, und daß ich mich in weit höherem Grade dem Luxus der Weichlichkeit als dem der Prunksucht überlassen würde. Es würde mich sogar ein gewisses Schamgefühl zurückhalten, meinen Reichtum allzusehr zur Schau zu stellen, und ich würde immer glauben, einen Neidischen mir vor Augen schweben zu sehen, der, da ich ihn durch meinen Prunk in Schatten stellen würde, seinem Nachbar ins Ohr raunte: »Sieh einmal diesen Schuft! Welche entsetzliche Angst quält ihn doch, als solcher erkannt zu werden.«

Aus der unermeßlichen Fülle von Gütern, welche die Erde bedecken, würde ich mir das aussuchen, was mir am angenehmsten wäre und was ich am besten in meinen Besitz zu bringen vermöchte. Aus dem Grunde würde die erste Anwendung meines Reichtums darin bestehen, daß ich mir Muße und Freiheit erkaufte. Diesen Gütern würde ich dann noch Gesundheit hinzufügen, wenn sich dieselbe erkaufen ließe. Da sie indes nur für Mäßigkeit käuflich ist und es außerdem ohne Gesundheit keine wahre Lebensfreude gibt, so würde ich aus Sinnlichkeit mäßig sein.

Stets würde ich der Natur so nahe als möglich bleiben, um den Sinnen, die ich aus ihrer Hand empfangen habe, zu schmeicheln, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung zu verschließen vermag, daß ich desto wahreren Genuß finden würde, je mehr ich ihn aus der Natur schöpfte. Bei der Wahl zur Nachbildung bestimmter Gegenstände würde ich sie beständig zum Muster nehmen; bei der Befriedigung meiner Begierden würde ich ihr stets den Vorzug einräumen; in Sachen des Geschmacks würde mir stets zu Rate ziehen; von den Speisen würden mir stets diejenigen am besten gefallen, zu deren Zubereitung sie selbst das meiste[302] beigetragen hat, und die durch die wenigsten Hände zu gehen brauchen, ehe sie auf unseren Tisch gelangen. Den Fälschungen, mit denen man uns zu täuschen sucht, würde ich vorbeugen; dem Vergnügen würde ich entgegenkommen. Meine törichte und rohe Eßlust würde keinen Haushofmeister bereichern. Er sollte mir nicht schweres Gold wie Gift wirkende Leckerbissen verkaufen.159 Meine Tafel sollte gewiß nicht mit dem Prunk kostbaren Schmutzes und aus weiter Ferne herbeigeschafften Aases besetzt werden. Ich würde mich zur Befriedigung meiner Sinnlichkeit keine Mühe verdrießen lassen, weil diese Mühe schon an und für sich ein Vergnügen ist und das erwartete dadurch erhöht. Gelüftete es mich nach einem Gericht vom äußersten Ende der Welt her, so würde ich lieber, wie Apicius, mich aufmachen, um es an Ort und Stelle zu genießen, als es mir kommen zu lassen; denn auch den ausgesuchtesten Speisen fehlt es stets an einer Würze, die man nicht gleichzeitig mit ihnen versenden kann und die kein Koch zu ersetzen vermag: die Luft des Klimas, welches sie hervorgebracht hat.

Aus demselben Grunde würde ich mir auch nicht an denen ein Beispiel nehmen, welche sich immer nur da wohl zu befinden glauben, wo sie nicht sind, und deshalb die Jahreszeiten untereinander und die Klimate mit den Jahreszeiten in Widerspruch setzen; welche, da sie im Winter den Sommer und im Sommer den Winter suchen, der Kälte wegen Italien und der Wärme wegen den Norden besuchen, ohne zu bedenken, daß sie die Strenge der Jahreszeiten, welcher sie zu entrinnen wähnen, gerade in den Gegenden antreffen müssen, wo man noch nicht gelernt hat, sich vor ihr zu schützen. Ich für meinen Teil würde entweder ruhig an meinem Wohnort ausharren, oder gerade das umgekehrte Verfahren einschlagen; ich würde einer Jahreszeit alles, was sie an Annehmlichkeiten darbietet,[303] und einem Klima alles Besondere, was ihm eigentümlich ist, abzugewinnen suchen. Ich würde eine Mannigfaltigkeit von Vergnügungen und Gewohnheiten in mir vereinen, die sich zwar untereinander nicht ähneln würden, aber stets mit der Natur im Einklange ständen. Den Sommer würde ich in Neapel, den Winter in Petersburg zubringen, bald hingelagert in einer kühlen Grotte Tarents, den sanften Zephir atmend, bald im hellerleuchteten Eispalast, außer Atem und von den Vergnügungen des Balles ermattet.

Bei meinem Tafelgerät und der Ausschmückung meines Zimmers würde ich durch sehr einfache Verzierungen den Wechsel der Jahreszeiten bildlich darstellen, und mich an den Annehmlichkeiten einer jeden erfreuen, ohne mich um den Genuß der nachfolgenden zu bringen. Es verursacht Mühe, gewährt aber keinen Genuß, die Ordnung der Natur in dieser Weise zu stören, ihr unfreiwillige Gaben abzudringen, die sie nur ungern und unter Verwünschungen gegen den Empfänger gibt, und die, da es ihnen an Güte und Geschmack fehlt, weder den Magen ernähren noch den Gaumen kitzeln können. Nichts ist unschmackhafter als Treibhausfrüchte. Nur unter großen Kosten bringt es der Reiche in Paris mit Hilfe seiner Oefen und Glashäuser dahin, daß es ihm das ganze Jahr hindurch nicht an schlechten Gemüsen und schlechtem Obst auf seiner Tafel fehlt. Hätte ich auch Kirschen, wenn es friert, und duftende Melonen mitten im Winter, welchen Genuß könnte ich davon haben, da mein Gaumen keiner Erquickung oder Erfrischung bedarf? Würde mir wohl in der Hitze der Hundstage die fastlose Marone Labung gewähren? Würde ich sie wohl, wenn sie soeben aus der Pfanne kommt, der Johannisbeere, der Erdbeere und all den Durst löschenden Früchten vorziehen, die sich mir mühelos überall auf Erden darbieten? Mitten im Monat Januar seinen Kamin mit einer der Natur nur gewaltsam abgerungenen Vegetation, mit bleichen, geruchlosen Blumen bedecken, heißt weniger den Winter[304] schmücken, als den Frühling seines Schmuckes berauben, heißt sich selber um das Vergnügen bringen, im Walde das erste Veilchen zu suchen, die erste Knospe zu entdecken und voller Wonne auszurufen: »Sterbliche, ihr seid nicht verlassen, die Natur lebt noch!«

Um gut bedient zu werden, würde ich mich mit weniger Dienerschaft umgeben. Das ist zwar schon einmal gesagt worden, aber es schadet nicht, es zu wiederholen. Ein Bürger wird von seinem einzigen Diener in Wirklichkeit besser bedient, als ein Herzog von den zehn Herren, die ihn dienstfertig umringen. Ich habe schon hundertmal bei mir überlegt, daß ich bei Tische, mit meinem Glase neben mir, trinken kann, so oft es mir gefällt, während an einer großen Tafel erst zwanzig Stimmen meinen Befehl weiterbefördern müßten, bevor ich meinen Durst zu stillen vermöchte. Alles, was man durch andere ausrichten läßt, wird mangelhaft ausgeführt, möge man es anstellen wie man will. Ich würde nicht zu den Kaufleuten schicken, sondern selbst zu ihnen gehen. Ich würde diesen Schritt tun, damit meine Leute nicht vor mir mit ihnen ein Abkommen treffen könnten, damit mir möglich wäre, eine bessere Auswahl zu treffen und billiger einzukaufen. Ich würde selbst gehen, um mir eine angenehme Bewegung zu machen, um ein wenig Umschau zu halten und zu sehen, was außerhalb meiner vier Pfähle vorgeht. Dies dient zur Erholung und kann auch bisweilen belehrend sein. Endlich würde ich gehen, um zu gehen, und das ist doch auch immer etwas. Bei einem allzu eingezogenen Leben beginnt sich die Langeweile zu regen; macht man sich dagegen viel Bewegung, so empfindet man wenig Langeweile. Türsteher und Lakaien sind schlechte Dolmetscher. Ich wünschte wahrlich nicht, daß diese Leute die stete Vermittlung zwischen mir und der übrigen Welt bildeten. Ebensowenig möchte ich immer in rasselnder Kutsche einherfahren, als ob ich befürchtete, angeredet zu werden. Die Pferde eines Menschen, der sich[305] seiner eigenen Beine bedient, sind stets bereit. Sind sie ermüdet oder krank, so weiß er es eher als jeder andere, und braucht nicht zu besorgen, daß er unter diesem Vorwande das Haus hüten muß, wenn es seinem Kutscher einmal einfällt, sich einen guten Tag zu machen. Unterwegs stellen sich ihm nicht tausenderlei Hindernisse entgegen, daß er vor Ungeduld vergehen möchte, und nötigen ihn nicht, in dem Augenblick, wo er sich Flügel wünschte, stillzuhalten. Kurz, wenn uns niemand so gut bedient als wir selbst, so sollten wir uns auch, und wären wir mächtiger als Alexander und reicher als Krösus, von anderen nur solche Dienste erweisen lassen, die wir selbst nicht verrichten können.

Ich möchte als Wohnung keinen Palast haben, denn in diesem Palaste würde ich doch nur ein einziges Zimmer bewohnen. Jedes gemeinschaftliche Gemach gehört niemandem, und das Zimmer eines jeden meiner Leute würde mir gerade ebenso fremd sein wie das meines Nachbars. Trotz ihrer großen Ueppigkeit haben die Orientalen doch nur höchst einfache Wohnungen und Hausgeräte. Sie betrachten das Leben als eine Reise und ihr Haus als eine Herberge. Dieser Grund bei uns abendländischen Reichen, die wir uns einrichten, als sollten wir ewig leben, wenig Anklang. Für mich würde jedoch ein ganz anderer Grund den Ausschlag geben, um dieselbe Wirkung hervorzubringen. Ließe ich mich an einem Orte nieder und richtete mich daselbst mit so großem Aufwand ein, so würde es mir vorkommen, als verbannte ich mich dadurch von allen anderen und lebte in meinem Palaste gleichsam hinter verschlossenen Türen. Einen wie schönen Palast bildet doch die Welt! Gehört dem Reichen eigentlich nicht alles, wenn es nur genießen will? Ubi bene, ibi patria (wo es mir wohl geht, da ist mein Vaterland); das ist sein Wahlspruch. Dort schlägt er seinen Herd auf, wo sein Geld alles vermag; seine Heimat reicht so weit, wie seine Geldkiste gelangen kann, gleichwie Phillip Festung schon für erobert[306] hielt, in welche ein mit Geldsäcken beladenes Maultier eindringen konnte.160Weshalb sich also zwischen Mauern und Türen einschließen, als ob man sich in der Welt nie wieder blicken lassen wollte? Verjagt mich eine ansteckende Krankheit, ein Krieg oder ein Aufruhr von einem Orte, so begebe ich mich nach einem anderen und finde mein Haus schon vor mir daselbst angekommen. Weshalb soll ich mich erst der Mühe unterziehen, mir selbst eins zu bauen, da sich über den ganzen Erdboden hin die Bautätigkeit für mich regt? Weshalb sollte ich mir, da uns Eile not tut, zu leben, schon so lange im voraus Genüsse vorbereiten, die ich schon heute zu befriedigen vermag? Vergeblich ist jedes Bemühen, sich ein angenehmes Los zu bereiten, wenn man sich unaufhörlich in Widerspruch mit sich selbst setzt. Deshalb tadelte Empedokles die Argentiner, daß sie sich von einem Vergnügen in das andere stürzten, und bauten, als ob sie niemals sterben würden.161

Welchen Nutzen würde mir übrigens eine so weitläufige Wohnung gewähren, da ich mich mit so wenigen Leuten, mit denen ich sie beleben könnte, zu umgeben gedenke, und noch weniger Sachen zu ihrer Ausstattung anschaffen würde. Mein Hausgerät würde einfach sein, wie mein Geschmack; ich würde mir weder eine Gemäldesammlung noch eine Bibliothek anlegen, zumal wenn ich die Lektüre liebte und Verständnis für die Malerei besäße. Ich würde dann die Einsicht haben, daß dergleichen Sammlungen nie Anspruch auf Vollständigkeit machen können, und daß wir über den Mangel dessen, was und fehlt, mehr Verdruß empfinden als darüber, daß wir gar nichts besitzen. Auf diesem Gebiete ruft gerade der Ueberfluß Elend hervor. Es möchte sich schwerlich ein Sammler finden, der dies nicht[307] erfahren hätte. Wer ein wirklicher Kenner ist, darf sich keine Sammlung anlegen. Man wird nicht leicht eine Sammlung haben, um sie anderen zu zeigen, wenn man sie für sich selbst benutzen versteht.

Für einen reichen Mann ist das Spiel durchaus kein Zeitvertreib; nur ein Tagedieb greift nach diesem Unterhaltungsmittel. Meine Lustbarkeiten würden mir viel zu viel Beschäftigung geben, um mir viel Zeit zu lassen, für die es keine bessere Verwendung gäbe. In der Verlassenheit und Armut, in der ich lebe, spiele ich gar nicht außer hin und wieder eine Partie Schach, und das ist schon zuviel. Wäre ich indessen reich, so würde ich noch weniger spielen, und zwar zu einem ganz niedrigen Einsatz, damit ich weder anzusehen brauchte, daß irgend jemand mißmutig wäre, noch ich selbst es würde. Da die Gewinnsucht für einen Reichen unmöglich einen Antrieb zum Spiele bilden kann, so kann das Interesse am Spiel auch nur bei einer schon tief gesunkenen Seele bis zur Leidenschaft ausarten. Der Gewinn, welchen ein Reicher beim Spiele machen kann, übt stets weniger Eindruck auf ihn aus als der Verlust, und da bei der Art der mäßig hohen Spiele, bei welchen der etwaige Gewinn auf die Länge der Zeit doch wieder zugesetzt wird, der Verlust den Gewinn im allgemeinen übertrifft, so kann man sich bei richtiger Ueberlegung nicht allzusehr zu einem Zeitvertreibe hingezogen fühlen, bei dem das Risiko nicht unbedeutend ist. Wem es zur Befriedigung seiner Eitelkeit dient, daß ihm das Glück günstig ist, der kann eine gleiche Gunst des Glückes bei weit reizenderen Gegenständen suchen; auch tritt diese Gunst in dem niedrigsten Spiel ebenso wie im höchsten hervor. Geschmack am Spiele, der lediglich die Frucht des Geizes und der Langweile ist, kann nur in einem leeren Geiste und leeren Herzen Wurzel fassen, und ich denke doch Gefühl und Kenntnisse genug zu besitzen, um eine solche Beihilfe nicht nötig zu haben. Man wird selten bemerken, daß Denker.[308]

großes Gefallen am Spiele finden, da es die Eigenschaft hat, die Gewohnheit des Denkens zu unterbrechen, oder zu unfruchtbaren Berechnungen zu führen. Hierin zeigt sich auch eine der guten Folgen, die der Geschmack an den Wissenschaften hervorgebracht hat, und vielleicht die einzige, daß er nämlich diese schmutzige Leidenschaft einigermaßen dämpft; man wird sich lieber damit beschäftigen, den Beweis für den Nutzen des Spieles zu führen, als sich ihm selbst zu überlassen. Ich für meinen Teil würde mitten unter den Spielern wider das Spiel ankämpfen und mehr Vergnügen daran finden, sie auszulachen, wenn ich sie ihr Geld verlieren sähe, als es ihnen selbst abzugewinnen.

In meinem Privatleben wie im Umgang mit der Welt würde ich mir stets gleichbleiben. Nach meinem Wunsche müßte mein Vermögen überall Behaglichkeit verbreiten und nie ein Gefühl der Ungleichheit aufkommen lassen. In tausendfacher Hinsicht ist der Flitter des Putzes mit Unbequemlichkeit verbunden. Um mir unter den Menschen alle nur mögliche Freiheit zu bewahren, würde ich mich so kleiden, daß ich in jedem Stand an meinem Platz zu sein schiene, und man mich in keinem als nicht zu ihm gehörend betrachten könnte, daß ich ohne Ziererei und ohne eine Aenderung an meiner Kleidung vorzunehmen, in der Schenke für einen Mann aus dem Volke und im Palais-Royal als zur guten Gesellschaft gehörig gelten müßte. Da ich hierdurch mehr Herr über mein Benehmen wäre, würde ich mir die Vergnügungen aller Stände zugänglich machen.

Es soll Frauen geben, die vor gestickten Manschetten ihre Tür verschließen und nur Personen in Spitzenmanschetten empfangen: deshalb würde ich meine Zeit anderswo verbringen. Wären diese Frauen indes jung und hübsch, so könnte ich wohl auch hin und wieder Spitzen anlegen, um allenfalls eine Nacht mit ihnen zu verleben.

Das einzige Band, welches meine Gesellschaften zusammenhielte, würde gegenseitige Zuneigung, Uebereinstimmung[309] im Geschmack und Gleichheit der Charaktere sein. Ich würde als Mensch und nicht als Reicher in ihnen leben. Nie würde ich zugeben, daß ihr Reiz durch Eigennutz vergiftet würde. Wenn mein Reichtum noch einen Rest von Menschlichkeit in mir zurückgelassen hätte, so würde ich meinen Diensten und Wohltaten eine sehr weite Ausdehnung geben. Allein ich wünschte eben nur eine Gesellschaft und nicht einen Hof, wünschte Freunde und keine Schützlinge um mich zu sehen; deshalb würde ich nicht der Gönner, sondern nur der Wirt meiner Gäste sein. Die Unabhängigkeit und Gleichheit würde meinen freundschaftlichen Verhältnissen die ganze Reinheit des Wohlwollens lassen; und da, wo Verpflichtung und Eigennutz schweigen, gilt Vergnügen und Freundschaft als das einzige Gesetz.

Weder Freundschaft noch Liebe läßt sich erkaufen. Frauen kann man zwar leicht für Geld bekommen, aber auf diesem Wege wird man nie wahre Liebe finden. Liebe ist für Geld nicht käuflich, sondern wird von demselben vielmehr unfehlbar ertötet. Wer Liebe bezahlt, wird, und wäre er der allerliebenswürdigste Mensch, schon aus dem einzigen Grunde, weil er bezahlt, nicht lange geliebt werden. Bald wird er für einen anderen bezahlen, oder dieser andere wird vielmehr mit eigenen Gelde bezahlt werden, und bei dieser doppelten, aus Eigennutz, aus Wollust, ohne Liebe, ohne Ehre, ohne wahres Vergnügen angeknüpften Verbindung verscherzt das habgierige, untreue und elende Weib, das von dem Schändlichen, welcher von ihr Bezahlung annimmt, ebenso behandelt wird, wie es den Toren behandelt, welcher sie bezahlt, beider wahre Zuneigung. Es würde süß sein, gegen den Gegenstand seiner Liebe den Freigebigen zu spielen, wenn sich nur nicht eine Art Kaufverhältnis daraus entwickelte! Mir ist nur ein Mittel bekannt, dieser Neigung gegen seine Geliebte nachzukommen, ohne die Liebe gleichzeitig zu vergiften. Es bleibt kein anderer Rat übrig, als ihr alles zu geben und sich von nun an von[310] ihr ernähren zu lassen. Ich möchte aber wohl wissen, wo die Frau wäre, der gegenüber eine solche Handlungsweise nicht als ein sehr törichtes Wagnis erscheinen müßte?

Jener Mann, welcher sich rühmte: »Ich besitze die Lais, ohne daß sie mich besitzt,« sprach ein Wort ohne Sinn. Der Besitz welcher nicht auf Gegenseitigkeit beruht, ist so gut wie gar keiner; es ist höchstens der Besitz des Geschlechts, aber nicht der Person. Wo die Liebe nicht die Sittlichkeit zur Grundlage hat, ist an dem übrigen nicht viel gelegen. Nichts läßt sich so leicht finden als das. In diesem Punkte steht ein Maultiertreiber dem Glücke näher als ein Millionär.

O, wenn man imstande wäre, die Inkonsequenzen des Lasters genügend nachzuweisen, wie oft würde man sich da überzeugen können, daß sich der, welcher demselben frönte, trotz Erlangung des Begehrten, sehr verrechnet hat! Wo schreibt sich diese rohe Begierde her, die Unschuld zu verführen, eine junge Person, der man schützend hätte zur Seite stehen wollen, sich als Schlachtopfer auszusuchen, und sie mit diesem ersten Schritt unvermeidlich in einen Abgrund des Elends zu stürzen, aus der ihr nur der Tod Rettung bringen kann? Von viehischer Luft, Eitelkeit, Unverschämtheit, Verwirrung und von nichts weiter. Sogar dieses Vergnügen ist nichts Natürliches, es beruht auf einem Vorurteil und zwar auf einem der verächtlichsten Art, weil es von der Selbstverachtung unzertrennlich ist. Wem sein Gefühl sagt, daß er der erbärmlichste unter den Menschen ist, der fürchtet den Vergleich mit jedem anderen, obgleich er als der beste gelten möchte, um weniger Verachtung einzuflößen. Ueberzeugt euch doch selbst, ob diejenigen, welche nach diesem eingebildeten Genuß am lüsternsten sind, je zu den liebenswürdigen jungen Männern gehören, ob sie wohl wert sind, Gefallen zu erregen, und mehr Entschuldigung verdienen, wenn sie deshalb schwer zu befriedigen sind! Nein, bei einem gefälligen Aeußeren, bei wirklichem Wert und Gefühl[311] fürchtet man die Erfahrung seiner Geliebten nur wenig. Voll gerechter Zuversicht sagt man zu ihr: »Du bist mit den Freuden zwar schon bekannt, gleichviel, mein Herz verheißt dir Genüsse, die du noch nie kennen gelernt hast.«

Allein ein alter, infolge seiner Ausschweifungen abgelebter Satyr, ohne jegliche Anmut, ohne Zurückhaltung, ohne Rücksicht, ohne irgendeine Spur von Ehrbarkeit, unfähig und unwürdig, irgendeinem Weise, welches mit liebenswürdigen Leuten Umgang gehabt hat, Gefallen einzuflößen, glaubt bei einer jungen Unschuld dies alles dadurch ersetzen zu können, daß er sich ihre Unerfahrenheit zunutze macht und ihre noch schlummernde Sinnlichkeit wachruft. Ihm bleibt nur noch die eine Hoffnung übrig, durch die Neuheit zu gefallen. Unstreitig ist dies der geheime Beweggrund dieser seltsamen Neigung. Trotzdem täuscht er sich. Der Abscheu, den er erregt, ist nicht weniger natürlich als die Gelüste, die er erregen möchte. Auch in seiner törichten Erwartung sieht er sich getäuscht; dieselbe Natur trägt auch dafür Sorge, ihre Rechte wieder zurückzufordern. Jedes Mädchen, welches sich verkauft, hat sich schon zuvor hingegeben, und da es dabei seiner eigenen Wahl gefolgt ist, so ist es doch imstande, die Vergleichung, welche jener fürchtet, anzustellen. Er erkauft sich folglich nur ein eingebildetes Vergnügen und wird darum nicht weniger verabscheut.

Würden in mir, wenn ich zu Reichtum gelangte, auch noch so viele Veränderungen vorgehen, in einem Punkte würde ich mich sicherlich nie verändern. Vermöchte ich mir auch weder Sitte noch Tugend zu bewahren, so würde mir doch wenigstens einiger Geschmack, einige Vernunft, einiges Zartgefühl bleiben, und dies würde mich dagegen schützen, mein Vermögen wie ein Narr dazu anzuwenden, daß ich Hirngespinsten nachjagte und meine Börse und mein Leben erschöpfte, um mich dem Verrate und dem Gespötte von Kindern auszusetzen. Solange ich jung wäre, würde ich die Vergnügen der Jugend suchen, und da ich sie in[312] ihrer ganzen Wollust genießen möchte, würde ich sie nicht in der Rolle eines reichen Mannes. Bliebe ich wie ich bin, so würde es freilich etwas anderes sein. Ich würde mich klugerweise auf die Vergnügungen meines Alters beschränken, würde nur an dem Gefallen finden, wovon ich wirklichen Genuß haben könnte, und alle Neigungen ersticken, die mir nur zur Qual wären. Ich würde meinen grauen Bart nicht dem höhnischen Gespötte junger Mädchen aussetzen, würde es nicht ertragen, wahrzunehmen, daß meine widerwärtigen Liebkosungen sie mit Ekel erfüllten und ihnen auf meine Kosten den Stoff zu den lächerlichsten Erzählungen lieferten, würde die Vorstellung nicht ertragen können, wie sie die abscheuliche Wollust des alten Affen schilderten, um Rache dafür an ihm zu üben, daß sie dieselbe hatte ertragen müssen. Hätten schlecht unterdrückte Gewohnheiten meine alten Lüste in Bedürfnisse verwandelt, so würde ich sie vielleicht befriedigen, aber mit Scham, mit Erröten vor mir selbst. Ich würde mich dem Bedürfnis nicht mit Leidenschaft hingeben, zur Befriedigung desselben meine Wahl auf eine möglichst geeignete Persönlichkeit lenken, und dabei würde es sein Bewenden haben; indes würde ich aus meiner Schwäche keine Beschäftigung mehr machen, und vor allem würde ich wünschen, daß es nur einen Zeugen derselben gäbe. Das menschliche Leben bietet andere Freuden dar, wenn ihm jene fehlen. Dadurch, daß man vergeblich nach den fliehenden hascht, beraubt man sich auch noch derer, welche uns geblieben sind. Laßt uns unsere Neigungen mit den Jahren ändern und die Lebensalter ebensowenig wie die Jahreszeiten verrücken; jeder muß zu allen Zeiten er selbst sein und nicht wider die Natur ankämpfen. Die vergeblichen Anstrengungen sind für das Leben aufreibend und hindern uns, dasselbe recht anzuwenden.

Das Volk langweilt sich nicht, es bringt sein Leben in Tätigkeit hin; sind seine Vergnügungen auch nicht sehr abwechselnd, so sind sie dafür selten. Nach vielen Tagen[313] mühevoller Arbeit bereiten ihm seine wenigen Feiertage desto größere Genüsse. Die Abwechslung langer Arbeit mit kurzer Muße verleiht den Vergnügungen dieses Standes eine eigene Würze. Für die Reichen bildet die Langweile eine furchtbare Plage; im Schoße so vieler mit großen Kosten erkaufter Vergnügungen, inmitten so vieler Leute, die nur darauf ausgehen, ihnen zu gefallen, verzehrt und tötet sie die Langweile. Ihr ganzes Leben hindurch fliehen sie vor ihr und fallen ihr wieder zur Beute. Sie vermögen ihre unerträgliche Last nicht abzuschütteln; namentlich werden die Frauen, die sich nicht mehr zu beschäftigen noch die Zeit zu vertreiben wissen, von ihr unter dem Namen »Vapeurs« aufgerieben. Sie nimmt ihren gegenüber die Gestalt eines entsetzlichen Uebels an, das ihnen bisweilen den Verstand und am Ende wohl gar das Leben raubt. Ich meinerseits kenne kein traurigeres Los als das einer hübschen Pariserin, ausgenommen das ihres Anbeters, der in ihren Fesseln schmachtet und sich, da er wie sie die Rolle eines müßigen Frauenzimmers spielen muß, auf diese Weise in doppelter Beziehung von seinem Stand entfernt, und dem nur die Eitelkeit, die Gunst seiner Dame erlangt zu haben, die Länge der trübseligsten Tage, die je eine menschliche Kreatur ausgestanden hat, erträglich macht.

Die Regeln der Schicklichkeit, die Moden, die Gebräuche, welche der Luxus und die vornehme Lebensweise herbeigeführt haben, zwängen das ganze Leben in die Schranken der widerwärtigen Einförmigkeit ein. Jede Freude, die man in den Augen anderer genießen will, ist für alle verloren: weder erkennen andere sie als solche an, noch empfindet man sie selbst.162 Die Lächerlichkeit, welche die allgemeine[314] Meinung mehr als alles fürchtet, geht ihr fortwährend zur Seite, um sie zu tyrannisieren und zu strafen. Man macht sich nie so lächerlich als gerade durch einmal feststehende Formen. Wer bei den Verhältnissen, in denen er sich bewegt, und bei seinen Vergnügen ein gewisse Abwechslung zu beobachten versteht, verwischt heute den Eindruck, den er gestern hervorgebracht hat. Er verliert in den Augen der Menschen alle Bedeutung, aber er hat einen wirklichen Genuß, denn er ist zu jeder Stunde und bei allen Dingen mit ganzer Seele. Meine einzige feste Form würde die sein, daß ich mich in jeder Situation nie mit einer anderen beschäftigen und jeden Tag für sich selbst genießen würde, unabhängig vom vorhergehenden und vom folgenden. Wie ich mich unter den niederen Ständen als ein Glied derselben betrachten würde, so würde ich mich auf dem Lande zu den Bauern zählen, und wenn ich vom Ackerbau spräche, sollte der Landmann keine Gelegenheit haben, sich über mich lustig zu machen. Auf dem Lande würde ich mir keine Stadt erbauen, noch mitten in der Provinz Tuilerien vor meinem Zimmer aufführen. Am Abhang eines freundlichen schattenreichen Hügels würde ich mir ein Häuschen nach ländlicher Weise einrichten; weithin müßte es durch seine weiße Farbe und seine grünen Fensterläden sichtbar sein: und obgleich ein Strohdach für jede Jahreszeit das beste ist, so würde ich gleichwohl, um meiner Wohnung ein freundlicheres Aeußere zu verleihen, zwar nicht dem düstern Schiefer, wohl aber einem Ziegeldache den Vorzug geben, weil dieses ein saubereres und gefälligeres Ansehen hat als Stroh. Da man sich nun auch in meiner Heimat keines anderen Deckungsmittels bedient, so würde es mich hin und wieder an die glückliche Zeit[315] meiner Jugend erinnern. Mein Hof würde sich in einen Hühnerhof, mein Pferdestall in einen Kuhstall verwandeln, damit es mir nicht an Milch fehlte, die ich sehr liebe. Mein einziger Garten würde ein Gemüsegarten sein, und als Park würde ich einen hübschen Obstgarten benutzen, dem ähnlich, von welchem sogleich die Rede sein wird. Das Obst, dessen Genuß den Spaziergängern unbenommen bliebe, ließe ich von meinem Gärtner weder zählen noch pflücken. Meine in mancher Beziehung doch nur karge Prachtliebe würde den Blicken nicht herrliche Spaliere, die man kaum zu berühren wagt, zur Schau stellen. Diese geringe Verschwendung würde gleichwohl nur mit geringen Kosten verbunden sein, da ich meinen Wohnsitz in irgendeiner entfernten Provinz aufschlagen würde, wo wenig Geld aber viele Lebensmittel zu finden sind, und wo Ueberfluß und Armut herrschen.

Dort würde ich eine mehr gewählte als zahlreiche Gesellschaft um mich versammeln, einen Kreis von Freunden, die das Vergnügen liebten und sich darauf verstünden, von Frauen, die fähig wären, sich von ihren Lehnstühlen zu erheben und in ländliche Spiele zu mischen, und die, statt immer zum Weberschiffchen und zu den Karten, ihre Zuflucht zu nehmen, mitunter auch nach der Angel, der Leimrute, dem Heurechen und dem Korbe der Winzerinnen griffen. Dort, wo aller Stadtton vergessen werden würde und wo wir uns auf dem Lande nur als Landleute fühlten, würden wir uns einer Menge verschiedenartiger Vergnügungen hingeben können, die uns jeden Abend nur in die Verlegenheit setzen würden, für den folgenden Tag eine Auswahl zu treffen. Die Bewegung und das tätige Leben würden unseren Magen verjüngen und uns einen neuen Geschmack geben. All unsere Mahlzeiten würden sich in Festessen verwandeln, bei denen uns mehr die Fülle als die Leckerhaftigkeit Behagen einflößen würde. Frohsinn, ländliche Arbeiten und muntere Spiele sind die besten Köche der Welt, und[316] seine Ragouts können Leuten, welche von Sonnenaufgang an in Atem sind, nur höchst lächerlich vorkommen. In der Zurüstung der Tafel dürfte sich ebensowenig künstliche Ordnung als Eleganz aus sprechen. Ueberall ließe sich der Speisesaal herstellen, im Garten, in einem Boote, unter einem Baum; hin und wieder in größerer Entfernung, in der Nähe einer rieselnden Quelle, auf grünem, frischem Rasenplatze, unter Erlen- und Haselgebüsch. Ein langer Zug fröhlicher Gäste müßte unter Gesang alles, was das Fest erforderte, herbeitragen. Der Rasen müßte die Stelle der Tafel und der Stühle vertreten, die Einfassung einer Quelle den Schenktisch ersetzen, und den Nachtisch müßten die Bäume darbieten. Obgleich die Speisen ohne bestimmte Ordnung würden aufgetragen werden, würde der Appetit alle Komplimente unnötig machen. Jeder würde zuerst ungeniert für sich selber sorgen und es ganz recht finden, wenn jeder andere ebenso handelte. Aus dieser herzlichen und nicht in Ueberschwenglichkeit ausartenden Vertraulichkeit, die sich von Grobheit, Falschheit und Zwang fernzuhalten wüßte, würde sich ein scherzhafter Wetteifer entwickeln, der hundertmal reizender wäre als die herkömmliche Höflichkeit, und sich auch weit mehr dazu eignen würde, die Herzen zu vereinigen. Kein lästiger Diener dürfte auf unsere Gespräche horchen, unser Benehmen in gemeiner Weise bekritteln, uns mit neidischen Auge die Bissen in den Mund zählen, sich damit belustigen, uns auf da Trinken warten zu lassen, oder darüber murren, daß sich die Mahlzeit zu lange hinzöge. Wir würden, um unsere eigenen Herren zu sein, selbst unsere Diener spielen; jeder würde auf die Dienste aller zählen können; die Zeit würde verrinnen, ohne daß jemand daran dächte, die Stunden zu zählen; die Mahlzeit würde uns als Ruhezeit dienen und so lange wie die Tageshitze währen. Ginge nicht weit von und uns ein Landmann vorüber, der sich, mit seinen Werkzeugen auf der Schulter, wieder an die Arbeit begäbe, so[317] würde ich durch einige freundliche Worte, durch ein paar Schluck guten Weines sein Herz erfreuen, so daß er freudiger sein Elend ertrüge. Auch für mich würde es eine Freude sein, zu fühlen, daß mein Inneres bewegt ist, und im stillen zu mir sagen: »Ich bin doch noch immer ein Mensch!«

Versammelte irgendein ländliches Fest die Bewohner des Ortes, so würde ich mit dem Kreise meiner Freude zu den ersten gehören, die dazu einträfen. Würden in meiner Nachbarschaft Hochzeiten, die hier vom Himmel gesegneter als in der Stadt find, gefeiert, so würde man wissen, daß ich die Freude liebe, und mich dazu einladen. Ich würde diesen guten Leuten einige Geschenke mitbringen, die mit ihrer eigenen Einfachheit in Einklang ständen und geeignet wären, zur Erhöhung der Festlichkeit beizutragen, und dafür würde mir ein Lohn von unschätzbarem Werte zuteil werden, Güter würden mein Lohn sein, welche meinen Standesgenossen so wenig bekannt sind, nämlich Offenherzigkeit und wirkliches Vergnügen. Heiter würde ich am Ende ihres langen Tisches mit ihnen essen, mit dem Chor in die Schlußverse eines alten Volksliedes einfallen, und auf ihrer Tenne mit größerem Frohsinn tanzen als auf einem Ball im Opernhaus.

Soweit ist ja alles ganz herrlich, wird man sagen; aber wie steht es denn mit der Jagd? Kann man auf dem Lande wohl weilen, ohne zu jagen? Ja, ja, ich begreife; ich wünschte mir nur eine Meierei, und darin hatte ich unrecht. Ich habe ja angenommen, daß ich reich bin, und da habe ich ganz besondere Vergnügungen nötig, Vergnügungen, bei denen alles auf das Vernichten ausgeht. Das ist natürlich etwas ganz anderes. Ich bedarf Ländereien, Waldungen, Waldhüter, Grundzinsen, herrschaftliche Ehren, vor allem aber Weihrauch und Weihwasser.

Sehr gut. Dieses Landgut wird indes Nachbarn haben, die nicht allein auf ihre Rechte eifersüchtig, sondern auch von dem Wunsche beseelt sind, die Rechte anderer an sich[318] zu reißen. Unsere Waldhüter werden in Streitigkeiten geraten, und vielleicht sogar die Herren. Daraus entwickeln sich denn Hader, Zwistigkeiten, Haß, und wenigstens Prozesse; das gehört schon nicht zu den Annehmlichkeiten. Meine Pächter werden es auch gerade nicht mit Vergnügen ansehen, wenn meine Hasen auf ihren Aeckern täglich junge Statt abfressen, oder meine Wildschweine ihre Bohnen verwüsten. Obgleich keiner wagen wird, den Feind, der seine Arbeit vergeblich macht, zu töten, so wird ihn doch jeder von seinem Feld verjagen wollen. Nachdem sie den Tag über ihre Aecker bestellt hätten, würden sie dieselben des Nachts beschützen müssen. Sie werden sich dazu ihrer großen Hunde bedienen, werden sich Trommeln, Hörner und Schellen anschaffen und mich durch all diesen Höllenlärm aus meinem Schlaf aufschrecken. Ich mag wollen oder nicht, so werde ich an das Elend dieser armen Leute denken müssen und nicht umhin können, mir darüber im stillen Vorwürfe zu machen. Hätte ich die Ehre, ein Fürst zu sein, so würde dies alles auf mich freilich keinen Eindruck machen; aber ich, ein junger Emporkömmling, der ich vor kurzem erst in den Besitz meines Reichtums gelangt bin, habe mein bürgerliches Herz noch nicht so schnell verwandeln können.

Das ist noch nicht einmal alles. Der Ueberfluß an Wild wird die Jagdliebhaber in Versuchung führen. Es wird nicht lange dauern, so werde ich Wilddiebe zu bestrafen haben; ich werde der Gefängnisse, der Kerkermeister, Häscher und Galeeren bedürfen. Dies alles kommt mir in hohem Grade grausam vor. Die Frauen dieser Unglücklichen werden meine Türe belagern und mir mit ihrem Geschrei beschwerlich fallen; man wird sie entweder forttreiben oder mißhandeln müssen. Die armen Leute, welche sich nicht soweit vergessen haben, zu wildern, deren Ernte aber mein Wild zerstört hat, werden erscheinen, um ihrerseits Klage zu führen. Die einen werden dafür gestraft[319] werden, daß sie das Wild getötet haben, die anderen werden zugrunde gehen, weil sie es geschont haben. Was für eine traurige Alternative! Auf allen Seiten werde ich nur Gegenstände des Elends wahrnehmen, nur Seufzer vernehmen. Das muß doch, wie mich bedünken will, das Vergnügen, ganze Ketten von Rebhühnern und Scharen von Hasen in aller Bequemlichkeit fast unmittelbar unter seinen Füßen erlegen zu können, gewaltig stören.

Wollt ihr eure Vergnügungen von den ihnen anhaftenden Unannehmlichkeiten freimachen, so nehmet ihnen den ausschließlichen Charakter. Je mehr ich darauf bedacht sein werdet, auch alle übrigen an denselben teilnehmen zu lassen, einen desto reineren Genuß werden sie euch gewähren. Deshalb werde ich von alledem, was ich eben aufgeführt habe, nichts tun; ohne meine Neigungen zu ändern, werde ich mich indes von derjenigen leiten lassen, deren Befriedigung, meiner Ansicht nach, den wenigsten Kostenaufwand verlangt. Ich werde meinen ländlichen Aufenthalt nach einem Landesteile verlegen, wo jedermann zur Ausübung der Jagd berechtigt ist, und wo ich mich diesem Vergnügen, ohne Verdrießlichkeiten befürchten zu müssen, hingeben kann. Das Wild wird allerdings seltener sein, dafür wird es aber auch eine desto größere Geschicklichkeit erfordern, es aufzusuchen, und mehr Vergnügen bereiten, es zu erlegen. Ich werde stets des Herzklopfens eingedenk bleiben, von welchem mein Vater beim ersten Auffliegen eines Rebhuhnes befallen wurde, und des Entzückens, das sich seiner bemächtigte, als er den Hasen fand, den er den ganzen Tag gesucht hatte. Ja, ich behaupte, daß er, allein mit seinem Hunde, die Flinte über der Schulter, Jagdtasche und Pulverhorn an der Seite, des Abends mit seiner geringen Beute, trotz aller Ermüdung und aller davongetragenen Dornenrisse, weit zufriedener mit seinem Tagewerke heimkam, als alle eure weibischen Jäger, welche, auf schnellem Rosse, zwanzig geladene Gewehre hinter sich, nichts zu tun haben, als stets[320] ein frisch geladenes zu nehmen, abzufeuern und alles um sich her ohne Kunst, ohne Ruhm und fast ohne Anstrengung zu töten. Das Vergnügen ist deshalb also nicht geringer, während die Uebelstände gleichzeitig ferngehalten werden, wenn man weder sein Jagdterrain zu bewachen noch Wilddiebe zu bestrafen noch Unglückliche zu quälen hat. Darin liegt doch wohl ein triftiger Grund, meiner Art, mir Vergnügungen zu verschaffen, den Vorzug zu geben. Wie dem nun auch immer sein mag, man quält die Menschen nicht unaufhörlich, ohne sich nicht selbst dadurch das Leben recht unbehaglich zu machen; die anhaltenden Verwünschungen des Volkes müssen den Genuß des Wildes doch früher oder später verbittern.

Noch einmal sei es gesagt: die Vergnügen, welche man für sich allein beansprucht, sind der Tod des Vergnügens. Zu den wahren Vergnügungen können nur die gerechnet werden, welche man mit dem Volke teilt; diejenigen, welchen man sich allein hingeben will, verlieren den Charakter des Vergnügens. Wenn die Mauern, welche ich um meinen Park aufführen lasse, demselben einen düstern, klösterlichen Anstrich geben, so habe ich mich mit großen Kosten nur um das Vergnügen gebracht, ihn als Spaziergang benutzen zu können, weshalb ich mich genötigt sehe, ihn in der Ferne zu suchen. Der Dämon des Besitzes verpestet alles, was er berührt. Ein Reicher will überall den Herrn spielen und befindet sich nirgends wohl, wo er es nicht ist. So ist er genötigt, stets vor sich selber auf der Flucht zu sein. Was mich jedoch anlangt, so werde ich in meinem Reichtume genau dasselbe Verfahren beobachten wie in meiner Armut. Schon jetzt durch fremdes Gut reicher, als ich es je mein eigenes Gut sein werde, bemächtige ich mich alles dessen, was mir in meiner Nachbarschaft zusagt. Kein Eroberer wird entschlossener auftreten als ich. Selbst fürstliches Gut eigne ich mir zu. Ohne Unterschied nehme ich jede offene Landschaft, die meinen Beifall findet,[321] in Besitz, lege ihr einen Namen bei, erkläre die eine zu meinem Park, die andere zu meiner Terrasse, und bin so der Herr derselben. Von nun an lustwandle ich darin ungescheut; oft kehre ich dahin zurück, um meinen Besitz zu behaupten; so oft es mir behagt, benutze ich den Grund und Boden, indem ich mich auf ihm ergehe, und man wird nie imstande sein, mich davon zu überzeugen, daß der Titularherr des Grundstücks, das ich mir aneigne, aus dem Gelde, welches er daraus erzielt, einen größeren Nutzen ziehe, als mir seine Ländereien gewähren. Sollte man mir durch Gräben und Hecken Hindernisse in den Weg legen, so macht mir das wenig Kummer. Ich nehme meinen Park auf meine Schultern und weise ihm einen anderen Platz an. An tauglichen Stellen fehlt es in der Umgegend nicht, und es wird mir lange Zeit möglich sein, meine Nachbarn zu plündern, ehe es mir an einem Zufluchtsorte fehlen wird.

Obiges kann als ein geringer Versuch über den wahren Geschmack in der Wahl der wirklich angenehmen Zeitvertreibe gelten; es erhellt daraus in welchem Geiste man genießen muß; alles übrige ist nur Illusion, Hirngespinst törichte Eitelkeit. Wer sich nicht an diese Regeln hält, wird sein Gold, er sei so reich als er wolle, für einen Kehrichthaufen wegwerfen und nie den Wert des Lebens kennen lernen.

Man wird mir ohne Zweifel den Einwurf machen, daß dergleichen Vergnügungen allen Menschen zugänglich sind, und daß man, um sich ihren Genuß zu verschaffen, nicht reich zu sein brauche. Das ist es gerade, worauf ich kommen wollte. Man hat Vergnügen, sobald man es haben will; lediglich die herkömmliche Meinung ist es, die uns alles so schwer macht und das Glück von uns scheucht. Es ist hundertmal leichter, glücklich zu sein, als es zu scheinen. Ein Mann, der Geschmack besitzt und der Sinnlichkeit in richtiger Weise ergeben ist, kann den Reichtum entbehren; für ihn genügt es, frei und sein eigener Herr zu sein. Wer[322] sich der Gesundheit zu erfreuen hat und keinen Mangel an den nötigen Lebensbedürfnissen leidet, ist reich genug, wenn er sich in seinem Herzen von den eingebildeten Gütern loszureißen vermag. Dies ist die Aurea mediocritas (die goldene Mittelstraße) des Horaz. Sucht deshalb, ihr Leute mit vollen Kisten und Kasten, eine andere Verwendung für euren Reichtum, denn euch Vergnügen zu verschaffen ist er unvermögend. Obwohl Emil das alles nicht besser wissen wird als ich, so hat er doch ein reineres und gesunderes Herz und wird es deshalb noch besser empfingen. Auch werden ihn alle Beobachtungen in der Welt hierin nur noch bestärken.

Während wir in der angegebenen Weise die Zeit verleben, suchen wir beständig Sophie, ohne sie jedoch zu finden. Es war von wesentlicher Wichtigkeit, daß sie sich zu schnell finden ließ, und wir haben sie deshalb auch da gesucht, wo ich mit Sicherheit annehmen konnte, daß sie nicht sein würde.163

Endlich aber ist der Augenblick erschienen, wo Eile nötig ist. Es ist jetzt an der Zeit, sie ernstlich zu suchen, weil sonst Besorgnis ist, er könnte sich selbst eine schaffen, welche er für die wahre hielte, und zu spät zur Erkenntnis seines Irrtums kommen. Lebe wohl denn, Paris, du berühmte Stadt, du geräuschvolle Stadt voller Rauch und Schmutz, in der die Frauen nicht mehr an Ehre, noch die Männer an Tugend glauben! Lebe wohl Paris, wir suchen die Liebe, das Glück, die Unschuld; nie werden wir uns weit genug vor dir flüchten können![323]

Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 2, Leipzig [o.J.], S. 126-324.
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