Vorrede zur ersten Auflage 1

[99] Was als reines Resultat der bisherigen philosophischen Untersuchungen unseres Zeitalters übrig bleibt, ist kürzlich folgendes: »Die bisherige theoretische Philosophie (unter dem Namen Metaphysik) war eine Vermischung ganz heterogener Prinzipien. Ein Teil derselben enthielt Gesetze, welche zur Möglichkeit der Erfahrung gehören (allgemeine Naturgesetze), ein anderer Grundsätze, die über alle Erfahrung hinausreichen (eigentlich metaphysische Prinzipien).«

»Nun ist aber ausgemacht, daß von den letzteren in der theoretischen Philosophie nur ein regulativer Gebrauch gemacht werden kann. Was uns allein über die Erscheinungswelt erhebt, ist unsere moralische Natur, und Gesetze, die im Reich der Ideen von konstitutivem Gebrauch sind, werden eben damit praktische Gesetze. Was also bisher in der theoretischen Philosophie Metaphysisches war, bleibt künftig einzig und allein der praktischen überlassen. Was für die theoretische Philosophie übrig bleibt, sind allein die allgemeinen Prinzipien einer möglichen Erfahrung, und anstatt eine Wissenschaft zu sein, die auf Physik folgt (Metaphysik), wird sie künftig eine Wissenschaft sein, die der Physik vorangeht

Nun zerfällt aber theoretische und praktische Philosophie (die man zum Behuf der Schule etwa trennen kann, die aber im menschlichen[99] Geiste ursprünglich und notwendig vereinigt sind) in die reine und angewandte.

Die reine theoretische Philosophie beschäftigt sich bloß mit der Untersuchung über die Realität unseres Wissens überhaupt; der angewandten aber, unter dem Namen einer Philosophie der Natur, kommt es zu, ein bestimmtes System unseres Wissens (d.h. das System der gesamten Erfahrung) aus Prinzipien abzuleiten.

Was für die theoretische Philosophie die Physik ist, ist für die praktische die Geschichte, und so entwickeln sich aus diesen beiden Hauptteilen der Philosophie die beiden Hauptzweige unseres empirischen Wissens.

Mit einer Bearbeitung der Philosophie der Natur, und der Philosophie des Menschen hoffe ich daher die gesamte angewandte Philosophie zu umfassen. Durch jene soll die Naturlehre, durch diese die Geschichte eine wissenschaftliche Grundlage erhalten.

Die vorliegende Schrift soll nur der Anfang einer Ausführung dieses Plans sein. Über die Idee einer Philosophie der Natur, die dieser Schrift zugrunde liegt, werde ich mich in der Einleitung erklären. Ich muß also erwarten, daß die Prüfung der philosophischen Prinzipien dieser Schrift von dieser Einleitung ausgehe.

Was aber die Ausführung betrifft, so sagt der Titel schon, daß diese Schrift kein wissenschaftliches System, sondern nur Ideen zu einer Philosophie der Natur enthält. Man kann sie als eine Reihe einzelner Abhandlungen über diesen Gegenstand betrachten.

Der gegenwärtige erste Teil dieser Schrift zerfällt in zwei Teile, den empirischen und den philosophischen. Den ersten voranzuschicken hielt ich für notwendig, weil in der Folge der Schrift sehr oft auf die neueren Entdeckungen und Untersuchungen der Physik und Chemie Rücksicht genommen wird. Dadurch entstand aber die Unbequemlichkeit, daß manches zweifelhaft bleiben mußte, was ich erst späterhin aus philosophischen Prinzipien entscheiden zu können glaubte. Ich muß also wegen mancher Äußerungen des ersten Buchs auf das zweite (vorzüglich das achte Kapitel) verweisen. In Ansehung der jetzt zum Teil[100] noch streitigen Fragen über die Natur der Wärme und die Phänomene des Verbrennens, befolgte ich den Grundsatz, in den Körpern schlechterdings keine verborgene Grundstoffe zuzulassen, deren Realität durch Erfahrung gar nicht dargetan werden kann. In alle diese Untersuchungen über Wärme, Licht, Elektrizität usw. hat man neuerdings mehr oder weniger philosophische Prinzipien eingemengt, ohne sich übrigens von dem empirischen Boden zu entfernen, die der experimentierenden Naturlehre an und für sich schon fremd und gewöhnlich noch so unbestimmt sind, daß daraus unausbleibliche Verwirrung entsteht. So wird mit dem Begriff von Kraft jetzt häufiger als je in der Physik gespielt, besonders seitdem man an der Materialität des Lichts usw. zu zweifeln anfing; hat man doch schon einige Male gefragt, ob nicht die Elektrizität vielleicht Lebenskraft sein möchte. Alle diese vage, in die Physik widerrechtlich eingeführten Begriffe, mußte ich, da sie nur philosophisch zu berichtigen sind, im ersten Teil dieser Schrift in ihrer Unbestimmtheit lassen. Sonst habe ich mich in diesem Teil immer in den Grenzen der Physik und Chemie zu halten – also auch ihre Bildersprache zu sprechen gesucht. – Im Abschnitt vom Licht (S. 181 ff.) wollte ich vorzüglich zu Untersuchungen über den Einfluß des Lichts auf unsere Atmosphäre Veranlassung geben. Daß dieser Einfluß nicht bloß mechanischer Art sei, ließe sich schon aus der Verwandtschaft des Lichts mit der Lebensluft schließen. Weitere Untersuchungen über diesen Gegenstand könnten vielleicht selbst über die Natur des Lichts und seiner Fortpflanzung in unserer Atmosphäre nähere Aufschlüsse geben. Die Sache ist doppelt wichtig, da wir jetzt zwar die Mischung der atmosphärischen Luft kennen, aber nicht wissen, wie die Natur dieses Verhältnis heterogener Luftarten, der zahllosen Veränderungen in der Atmosphäre ungeachtet, beständig zu erhalten weiß. Was ich darüber im Abschnitt von den Luftarten gesagt habe, reicht bei weitem nicht hin, hierüber vollkommen Aufschluß zu geben. Die von mir vorgetragene und mit Beweisen unterstützte Hypothese über den Ursprung der elektrischen Erscheinungen wünschte ich um so mehr geprüft zu sehen, da sie, wenn sie wahr ist, ihren Einfluß noch weiter (z.B. auf Physiologie) erstrecken muß.[101]

Der philosophische Teil dieser Schrift betrifft die Dynamik als Grundwissenschaft der Naturlehre, und die Chemie als Folge derselben. Der nächstfolgende Teil wird die Prinzipien der organischen Naturlehre oder sogenannten Physiologie umfassen.2

Aus der Einleitung wird man sehen, daß mein Zweck nicht ist, Philosophie auf Naturlehre anzuwenden. Ich kann mir kein betrübteres Taglöhnergeschäft denken als eine solche Anwendung abstrakter Prinzipien auf eine bereits vorhandene empirische Wissenschaft. Mein Zweck ist vielmehr, die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anders als Naturwissenschaft. Es ist wahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik die Silben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.[102]

1

Der Titel der ersten Auflage lautete: »Ideen zu einer Philosophie der Natur.« Der Beisatz: »Als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft« ist in der zweiten Auflage hinzugekommen.

2

Dieser Satz lautete im ersten Abdruck dieser Vorrede: »Der nächstfolgende Teil wird die allgemeine Bewegungslehre, Statik und Mechanik, die Prinzipien der Naturlehre, der Theologie und Physiologie umfassen«. Man vergl. die Anmerkung S. 433.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 99-103.
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Ideen Zu Einer Philosophie Der Natur (1); ALS Einleitung in Das Studium Dieser Wissenschaft. Erster Theil
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