Zusatz. Die Konstruktion der Materie

Die Konstruktion der Materie.
(Zusatz zum vierten Kapitel.)

[319] Keine Untersuchung war für die Philosophen jeder Zeit von so vielem Dunkel umgeben, als die über das Wesen der Materie. Und dennoch ist die Einsicht in dasselbe notwendig zur wahren Philosophie, sowie alle falschen Systeme gleich anfangs an dieser Klippe scheitern. Die Materie ist das allgemeine Samenkorn des Universums, worin alles verhüllt ist, was in den spätern Entwicklungen sich entfaltet. »Gebt mir einen Atom der Materie, könnte[319] der Philosoph und Physiker sagen, und ich lehre euch, das Universum daraus zu begreifen.« Die große Schwierigkeit dieser Untersuchung könnte man auch schon daraus schließen, daß von dem Anbeginn der Philosophie an bis auf die heutige Zeit, zwar in sehr verschiedenen Formen, aber doch immer erkennbar genug, in bei weitem den meisten sogenannten Systemen die Materie als ein bloß Gegebenes angenommen, oder als eine Mannigfaltigkeit postuliert wurde, die man der obersten Einheit als vorhandenen Stoff unterlegen müßte, um aus ihrer Wirkung auf denselben das geformte Universum zu begreifen. So gewiß es ist, daß alle diese Systeme, die den Gegensatz, um welchen sich die ganze Philosophie bewegt, gerade in seinen äußersten Grenzen unaufgehoben und absolut bestellend, zurücklassen, auch nicht einmal die Idee oder Aufgabe der Philosophie erreicht haben, so offenbar ist von der andern Seite, daß das in allen bisherigen Systemen der Philosophie, auch denjenigen, welche das Urbild des Wahren mehr oder weniger ausdrücken, noch unentwickelte und nur unvollkommen begriffene Verhältnis der absoluten Welt zur Erscheinungswelt, der Ideen zu den Dingen, auch die Keime der wahren Einsicht in das Wesen der Materie, die in ihnen enthalten sind, unerkennbar gemacht hat.

Auch die Materie, wie alles was ist, strömt von dem ewigen Wesen aus, und ist eine, in der Erscheinung zwar nur indirekte und mittelbare, Wirkung der ewigen Subjekt-Objektivierung und der Einbildung seiner unendlichen Einheit in die Endlichkeit und die Vielheit. Aber jene Einbildung in der Ewigkeit enthält nichts von der Leiblichkeit oder der Materialität der erscheinenden Materie, sondern diese ist das An-sich jener ewigen Einheit, aber erscheinend durch sich selbst als bloß relative Einheit, in welcher sie die leibliche Form annimmt. Das An-sich erscheint uns durch einzelne wirkliche Dinge, insofern wir selbst nur in diesem Akt der Einbildung als Einzelheiten oder Durchgangspunkte liegen, an welchen der ewige Strom von dem, was in ihm absolute Identität ist, so viel absetzt, als mit ihrer Besonderheit verknüpft ist; denn insofern erkennen wir auch das An-sich nur in der Einen Richtung, das heißt, wir erkennen es überhaupt[320] nicht, da es nur der ewige Erkenntnisakt nach seinen zwei ungeteilten Seiten und als absolute Identität ist.

Die Materie, absolut betrachtet, ist also nichts anders als die reale Seite des absoluten Erkennens, und als solche eins mit der ewigen Natur selbst, in welcher der Geist Gottes auf ewige Art die Unendlichkeit in der Endlichkeit wirkt; insofern verschließt sie in sich, als die ganze Eingebärung der Einheit in die Differenz, wieder alle Formen, ohne selbst irgend einer gleich oder ungleich zu sein, und ist, als das Substrat aller Potenzen, selbst keine Potenz. Das Absolute würde sich wahrhaft teilen, wenn es nicht auch in der realen Einheit mit dieser zugleich die ideale und die, worin beide eins sind, abbildete, denn nur diese ist das wahre Gegenbild von ihm selbst. So wenig als das Absolute in der Materie (der realen Seite des ewigen Produzierens) sich teilt, so wenig kann sich auch die Materie teilen, indem eben, sowie das Absolute in ihr, so sie sich nun wieder, als das An-sich, durch die einzelnen Potenzen in ihr symbolisiert, daher, in welcher Potenz sie auch erscheine, sie doch immer und notwendig wieder als das Ganze (der drei Potenzen) erscheint.

Die erste Potenz nun innerhalb der Materie ist die Einbildung der Einheit in die Vielheit, als relative Einheit oder in der Unterscheidbarkeit, und als diese eben ist sie die Potenz der erscheinenden Materie rein als solcher. Das An-sich, das in diese Form der relativen Einheit sich einsenkt, ist wiederum die absolute Einheit selbst, nur daß sie in der Unterordnung unter die Potenz, deren Herrschendes Differenz, Nicht-Identität ist (denn in jeder Potenz herrscht das, was das andere aufnimmt), aus der absoluten Einheit in das Außer-einander als Tiefe sich bildet und als dritte Dimension erscheint. Von diesem Realen der Erscheinung sind nun wieder die beiden Einheiten, die erste der Einpflanzung der Einheit in die Differenz, welche die erste, die andere der Zurückbildung der Differenz in die Einheit, welche die zweite Dimension bestimmt, die idealen Formen, welche in der vollkommenen Produktion der dritten Dimension als indifferenziert erscheinen.

Dieselben Potenzen sind auch in der entsprechenden Potenz[321] der idealen Reihe, aber sie sind dort als Potenzen eines Erkenntnisaktes, anstatt daß sie hier in ein Anderes, nämlich in ein Sein verstellt erscheinen.

Die erste, welche Einbildung des Unendlichen ins Endliche ist, ist im Idealen Selbstbewußtsein, welches die lebendige Einheit in der Vielheit ist, die im Realen gleichsam getötet, ausgedrückt im Sein, als Linie, reine Länge erscheint.

Die zweite, welche die entgegengesetzte der ersten, erscheint im Idealen als Empfindung, im Realen ist sie die objektiv gewordene, gleichsam erstarrte Empfindung, das reine Empfindbare, Qualität.

Die beiden ersten Dimensionen an den körperlichen Dingen verhalten sich wie Quantität und Qualität, die erste ist ihre Bestimmung für die Reflexion oder den Begriff, die andere für das Urteil. Die dritte, welche im Idealen Anschauung ist, ist die Setzende der Relation, die Substanz ist die Einheit als Einheit selbst, das Akzidenz ist die Form der beiden Einheiten.

Die drei Potenzen in beiden Reihen sind eins: der ewige Erkenntnisakt läßt in der einen nur die rein-reale, in der andern die rein-ideale Seite, aber eben deswegen in beiden das Wesen nur in der Form der Erscheinung zurück. Daher ist die Natur nur die zu einem Sein erstarrte Intelligenz, ihre Qualitäten sind die zu einem Sein erloschenen Empfindungen, die Körper ihre gleichsam getöteten Anschauungen. Das höchste Leben verhüllt sich hier in den Tod und bricht nur erst durch viele Schranken wieder hindurch zu sich selbst. Die Natur ist die plastische Seite des Universums, auch die bildende Kunst tötet ihre Ideen und verwandelt sie in Leiber.

Es ist zu bemerken, daß die drei Potenzen nicht als nacheinander, sondern in ihrem Zugleichsein aufgefaßt werden müssen. Die dritte Dimension ist dritte und als solche reale, nur inwiefern sie selbst in der Unterordnung unter die erste (als relative Einpflanzung der Einheit in die Vielheit) gesetzt ist, und hinwiederum können die beiden ersten als Formbestimmungen nur an der dritten hervortreten, welche insofern wieder die erste ist.[322]

Hier ist noch vom Verhältnis der Materie und des Raums zu reden. Denn eben weil in jener zwar das Ganze, aber doch nur in die relative Einheit der Einheit und der Vielheit, sich einsenkt und nur das absolut-Reale auch das absolut-Ideale ist, erscheint dieses für die gegenwärtige Potenz als unterschieden vom Realen, als das, worin dieses ist, aber eben deswegen, weil dieses Ideale nur seinerseits ohne Realität ist, erscheint es auch als bloß-Ideales, als Raum.

Hieraus erhellt, daß die Materie wie der Raum, jedes bloße Abstraktionen sind, daß eines die Unwesenheit des andern beweiset und dagegen in der Identität oder gemeinschaftlichen Wurzel beider, eben weil sie nur als Gegensätze sind, was sie sind, das eine nicht Raum, das andere nicht Materie sei.

Wer nach den weiteren Ausführungen dieser Konstruktion verlangt, findet sie in den mehrmals angezeigten Schriften, vornehmlich aber in den Darstellungen aus dem System. der Philosophie im 2. Heft des l. Bands der Neuen Zeitschrift für spekulative Physik.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 319-323.
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