Vorrede zur ersten Auflage
Von der Weltseele

[443] Welches die Absicht dieser Abhandlung sei, und warum sie diese Aufschrift an der Stirne trage, wird der Leser erfahren, wenn er das Ganze zu lesen Lust oder Neugierde genug hat.

Nur über zwei Punkte findet der Verfasser nötig, zum voraus sich zu erklären, damit dieser Versuch nicht etwa mit Vorurteil aufgenommen werde.

Der erste ist, daß keine erkünstelte Einheit der Prinzipien in dieser Schrift gesucht oder beabsichtigt wird. Die Betrachtung der allgemeinen Naturveränderungen sowohl als des Fortgangs und Bestands der organischen Welt führt zwar den Naturforscher auf ein gemeinschaftliches Prinzip, das zwischen anorganischer und organischer Natur fluktuierend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letzten Grund aller Tätigkeit in dieser enthält, das, weil es überall gegenwärtig ist, nirgends ist, und weil es Alles ist, nichts Bestimmtes oder Besonderes sein kann, für welches die Sprache eben deswegen keine eigentliche Bezeichnung hat, und dessen Idee die älteste Philosophie (zu welcher, nachdem sie ihren Kreislauf vollendet hat, die unsrige allmählich zurück kehrt), nur in dichterischen Vorstellungen uns überliefert hat.

Aber die Einheit der Prinzipien befriedigt nicht, woferne sie nicht durch eine unendliche Mannigfaltigkeit einzelner Wirkungen in sich selbst zurückkehrt. – Ich hasse nichts mehr als jenes[443] geistlose Bestreben, die Mannigfaltigkeit der Naturursachen durch erdichtete Identitäten zu vertilgen. Ich sehe, daß die Natur nur in dem größten Reichtum der Formen sich gefällt, und daß (nach dem Ausspruch eines großen Dichters) selbst in den toten Räumen der Verwesung die Willkür sich ergötzt. – Das Eine Gesetz der Schwere, auf welches auch die rätselhaftesten Erscheinungen des Himmels endlich zurückgeführt werden, verstattet nicht nur, sondern bewirkt sogar, daß die Weltkörper in ihrem Lauf sich stören, und daß so in der vollkommensten Ordnung des Himmels die scheinbargrößte Unordnung herrsche. – So hat die Natur den weiten Raum, den sie mit ewigen und unveränderlichen Gesetzen einschloß, weit genug beschrieben, um innerhalb desselben mit einem Schein von Gesetzlosigkeit den menschlichen Geist zu entzücken.

Sobald nur unsere Betrachtung zur Idee der Natur als eines Ganzen sich emporhebt, verschwindet der Gegensatz zwischen Mechanismus und Organismus, der die Fortschritte der Naturwissenschaft lange genug aufgehalten hat, und der auch unserm Unternehmen bei manchen zuwider sein könnte.

Es ist ein alter Wahn, daß Organisation und Leben aus Naturprinzipien unerklärbar seien. – Soll damit so viel gesagt werden: der erste Ursprung der organischen Natur sei physikalisch unerforschlich, so dient diese unerwiesene Behauptung zu nichts, als den Mut des Untersuchers niederzuschlagen. Es ist wenigstens verstattet, einer dreisten Behauptung eine andere ebenso dreiste entgegenzusetzen, und so kommt die Wissenschaft nicht von der Stelle. Es wäre wenigstens Ein Schritt zu jener Erklärung getan, wenn man zeigen könnte, daß die Stufenfolge aller organischen Wesen durch allmähliche Entwicklung einer und derselben Organisation sich gebildet habe. – Daß unsere Erfahrung keine Umgestaltung der Natur, keinen Obergang einer Form oder Art in die andere, gelehrt hat – (obgleich die Metamorphosen mancher Insekten, und, wenn jede Knospe ein neues Individuum ist, auch die Metamorphosen der Pflanzen als analogische Erscheinungen wenigstens angeführt werden können) – ist gegen jene Möglichkeit kein Beweis; denn, könnte ein Verteidiger derselben antworten, die Veränderungen, denen die organische[444] Natur, so gut als die organische, unterworfen ist, können (bis ein allgemeiner Stillstand der organischen Welt zustande kommt), in immer langem Perioden geschehen, für welche unsere kleinen Perioden (die durch den Umlauf der Erde um die Sonne bestimmt sind) kein Maß abgeben, und die so groß sind, daß bis jetzt noch keine Erfahrung den Ablauf einer derselben erlebt hat. Doch, verlassen wir diese Möglichkeiten und sehen, was denn überhaupt an jenem Gegensatz zwischen Mechanismus und Organismus Wahres oder Falsches ist, um so am sichersten die Grenze zu bestimmen, innerhalb welcher unsere Naturerklärung sich halten muß.

Was ist denn jener Mechanismus, mit welchem, als mit einem Gespenst, ihr euch selbst schreckt? – Ist der Mechanismus etwas für sich Bestehendes, und ist er nicht vielmehr selbst nur das Negative des Organismus? – Mußte der Organismus nicht früher sein als der Mechanismus, das Positive früher als das Negative? Wenn nun überhaupt das Negative das Positive, nicht umgekehrt dieses jenes voraussetzt: so kann unsere Philosophie nicht vom Mechanismus (als dem Negativen), sondern sie muß vom Organismus (als dem Positiven) ausgehen, und so ist freilich dieser so wenig aus jenem zu erklären, daß dieser vielmehr aus jenem erst erklärbar wird. – Nicht, wo kein Mechanismus ist, ist Organismus, sondern umgekehrt, wo kein Organismus ist, ist Mechanismus.

Organisation ist mir überhaupt nichts anderes als der aufgehaltene Strom von Ursachen und Wirkungen. Nur wo die Natur diesen Strom nicht gehemmt hat, fließt er vorwärts (in gerader Linie). Wo sie ihn hemmt, kehrt: er (in einer Kreislinie) in sich selbst zurück. Nicht also alle Sukzession von Ursachen und Wirkungen ist durch den Begriff des Organismus ausgeschlossen; dieser Begriff bezeichnet nur eine Sukzession, die innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt.

Daß nun die ursprüngliche Grenze des Mechanismus empirisch nicht weiter erklärbar, sondern nur zu postulieren ist, werde ich in der Folge selbst durch Induktion zeigen; es ist aber philosophisch zu erweisen: denn da die Welt nur in ihrer Endlichkeit[445] unendlich ist, und ein unbeschränkter Mechanismus sich selbst zerstören würde, so muß auch der allgemeine Mechanismus ins Unendliche fort gehemmt werden, und es wird so viele einzelne, besondere Welten geben, als es Sphären gibt, innerhalb welcher der allgemeine Mechanismus in sich selbst zurückkehrt, und so ist am Ende die Welt – eine Organisation, und ein allgemeiner Organismus selbst die Bedingung (und insofern das Positive) des Mechanismus.

Von dieser Höhe angesehen verschwinden die einzelnen Sukzessionen von Ursachen und Wirkungen (die mit dem Scheine des Mechanismus uns täuschen) als unendlich kleine gerade Linien in der allgemeinen Kreislinie des Organismus, in welcher die Welt selbst fortläuft.

Was nun diese Philosophie mich gelehrt hatte, daß die positiven Prinzipien des Organismus und Mechanismus dieselben sind, habe ich in der folgenden Schrift aus Erfahrung – dadurch zu beweisen gesucht, daß die allgemeinen Naturveränderungen (von welchen selbst der Bestand der organischen Welt abhängt) uns zuletzt auf dieselbe erste Hypothese treiben, von welcher schon längst die allgemeine Voraussetzung der Naturforscher die Erklärung der organischen Natur abhängig gemacht hat. Die folgende Abhandlung zerfällt daher in zwei Abschnitte, wovon der erste die Kraft der Natur, die in den allgemeinen Veränderungen sich offenbart, der andere das positive Prinzip der Organisation und des Lebens aufzusuchen unternimmt, und deren gemeinschaftliches Resultat dieses ist, daß ein und dasselbe Prinzip die anorganische und die organische Natur verbindet.

Die Unvollständigkeit unsrer Kenntnis der ersten Ursachen (wie der Elektrizität), die atomistischen Begriffe, welche mir hier und da im Wege waren (z.B. in der Lehre von der Wärme), endlich die Dürftigkeit herrschender Vorstellungsarten über manche Gegenstände der Physik (z.B. die meteorologischen Erscheinungen), hat mich im ersten Abschnitt zu manchen speziellen Erörterungen bald genötigt, bald verleitet – zu Erörterungen, die das Licht, welches ich über das Ganze zu verbreiten wünschte, zu sehr auf einzelne Gegenstände zerstreuten, so doch, daß es am[446] Ende in einem gemeinschaftlichen Fokus wieder sich sammeln konnte. –

Je weiter die Sphäre der Untersuchung beschrieben wird, desto genauer sieht man das Mangelhafte und Dürftige der Erfahrungen, die bis jetzt in ihren Umkreis fallen, und so werden wenige die Unvollkommenheit dieses Versuchs tiefer oder lebhafter als der Unternehmer selbst fühlen.


* * *


N. S. Diese Schrift ist nicht als Fortsetzung meiner Ideen zu einer Philosophie der Natur anzusehen. Ich werde sie nicht fortsetzen, ehe ich mich imstande sehe, das Ganze mit einer wissenschaftlichen Physiologie zu beschließen, die erst dem Ganzen Rundung geben kann. – Vorerst achtete ich es für Verdienst, in dieser Wissenschaft nur überhaupt etwas zu wagen, damit an der Aufdeckung und Widerlegung des Irrtums wenigstens der Scharfsinn anderer sich übe. – Ich muß jedoch wünschen, daß Leser und Beurteiler dieser Abhandlung mit den Ideen, welche in jener Schrift vorgetragen sind, bekannt seien. Das Befugnis, alle positiven Naturprinzipien als ursprünglich homogen anzunehmen, ist nur philosophisch abzuleiten. Ohne diese Annahme (ich setze voraus, daß man wisse, was eine Annahme zum Behuf einer möglichen Konstruktion sei) ist es unmöglich, die ersten Begriffe der Physik, z.B. der Wärmelehre, zu konstruieren. – Der Idealismus, den die Philosophie allmählich in alle Wissenschaften einführt (in der Mathematik ist er schon längst, vorzüglich seit Leibniz und Newton, herrschend geworden) scheint noch wenigen verständlich zu sein. Der Begriff einer Wirkung in die Ferne z.B., an welchen noch viele sich stoßen, beruht ganz auf der idealistischen Vorstellung des Raums; denn nach dieser können zwei Körper in der größten Entfernung voneinander als sich berührend, und umgekehrt, Körper, die sich (nach der gemeinen Vorstellung) wirklich berühren, als aus der Entfernung aufeinander wirkend vorgestellt werden. – Es ist sehr wahr, daß ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, daß er nur da ist, wo er wirkt, und mit diesem Satz ist die letzte Brustwehr der atomistischen Philosophie überstiegen. – Ich muß mich enthalten, hier noch mehrere Beispiele anzuführen.[447]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 443-448.
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