§ 29. Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens.

[121] Aber auch das Denken im engern Sinne besteht nicht in der bloßen Gegenwart abstrakter Begriffe im Bewußtseyn, sondern in einem Verbinden, oder Trennen zweier, oder mehrerer derselben, unter mancherlei Restriktionen und Modifikationen, welche die Logik, in der Lehre von den Urtheilen, angiebt. Ein solches deutlich gedachtes und ausgesprochenes Begriffsverhältniß heißt nämlich ein Urtheil. In Beziehung auf diese Urtheile nun macht sich hier der Satz vom Grunde abermals geltend, jedoch in einer von der im vorigen Kapitel dargelegten sehr verschiedenen Gestalt, nämlich als Satz vom Grunde des Erkennens, principium rationis sufficientis cognoscendi. Als solcher besagt er, daß wenn ein Urtheil eine Erkenntniß ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß: wegen dieser Eigenschaft erhält es sodann das Prädikat wahr. Die Wahrheit ist also die Beziehung eines Unheils auf etwas von ihm Verschiedenes, das sein Grund genannt wird und, wie wir sogleich sehn werden, selbst eine bedeutende Varietät der Arten zuläßt. Da es jedoch immer etwas ist, darauf das Urtheil sich stützt, oder beruht; so ist der deutsche Name Grund passend gewählt. Im Lateinischen und allen von ihm abzuleitenden Sprachen fällt der Name des Erkenntnißgrundes mit dem der Vernunft selbst zusammen: also heißen Beide ratio, la ragione, la razon, la raison, the reason. Dies zeugt davon, daß man im Erkennen der Gründe der Urtheile die vornehmste Funktion der Vernunft, ihr Geschäft kat' exochên, erkannte.[121] Diese Gründe nun, worauf ein Unheil beruhen kann, lassen sich in vier Arten abtheilen, nach jeder von welchen dann auch die Wahrheit, die es erhält, eine verschiedene ist. Diese sind in den nächsten vier Paragraphen aufgestellt.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 121-122.
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Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde /Über den Willen der Natur