§ 30. Logische Wahrheit.

[122] Ein Unheil kann ein anderes Unheil zum Grunde haben. Dann ist seine Wahrheit eine logische, oder formale. Ob es auch materiale Wahrheit habe, bleibt unentschieden und hängt davon ab, ob das Unheil, darauf es sich stützt, materiale Wahrheit habe, oder auch die Reihe von Urtheilen, darauf dieses sich gründet, auf ein Urtheil von materialer Wahrheit zurückführe. – Eine solche Begründung eines Urtheils durch ein anderes entsteht immer durch eine Vergleichung mit ihm: diese geschieht nun entweder unmittelbar, in der bloßen Konversion, oder Kontraposition desselben; oder aber durch Hinzuziehung eines dritten Unheils, wo denn aus dem Verhältnisse der beiden letzteren zu einander die Wahrheit des zu begründenden Unheils erhellt. Diese Operation ist der vollständige Schluß. Er kommt sowohl durch Opposition als Subsumtion der Begriffe zu Stande. Da der Schluß, als Begründung eines Unheils durch ein anderes, mittelst eines dritten, es immer nur mit Urtheilen zu thun hat und diese nur Verknüpfungen der Begriffe sind, welche letztere eben der ausschließliche Gegenstand der Vernunft sind; so ist das Schließen mit Recht für das eigenthümliche Geschäft der Vernunft erklärt worden. Die ganze Syllogistik ist nichts weiter, als der Inbegriff der Regeln zur Anwendung des Satzes vom Grunde auf Urtheile unter einander; also der Kanon der logischen Wahrheit.

Als durch ein anderes Unheil begründet sind auch diejenigen anzusehn, deren Wahrheit aus den vier bekannten Denkgesetzen erhellt: denn eben diese sind Urtheile, aus denen die Wahrheit jener folgt. Z.B. das Urtheil: »Ein Triangel ist ein von drei Linien eingeschlossener Raum«, hat zum letzten Grunde den Satz der Identität, d.h. den durch diesen ausgedrückten Gedanken.[122] Dieses: »Kein Körper ist ohne Ausdehnung«, hat zum letzten Grunde den Satz vom Widerspruch. Dieses: »Jedes Urtheil ist entweder wahr, oder nicht wahr«, hat zum letzten Grunde den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Endlich dieses: »Keiner kann etwas als wahr annehmen, ohne zu wissen warum«, hat zum letzten Grunde den Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens. Daß man, im gewöhnlichen Gebrauch der Vernunft, die aus den vier Gesetzen des Denkens folgenden Urtheile als wahr annimmt, ohne sie erst auf jene, als ihre Prämissen, zurückzuführen, da sogar der größte Theil der Menschen jene abstrakten Gesetze nie gehört hat, macht jene Urtheile so wenig von diesen als ihren Prämissen unabhängig, als, wenn Jemand sagt: »Nimmt man jenem Körper da seine Stütze, so wird er fallen«, dieses Urtheil, weil es möglich ist ohne daß der Satz »Alle Körper streben zum Mittelpunkt der Erde« jemals seinem Bewußtsein gegenwärtig gewesen sei, dadurch von diesem als seiner Prämisse unabhängig wird. Daß man bisher in der Logik allen auf nichts außer den Denkgesetzen gegründeten Urtheilen eine innere Wahrheit beilegte, d.h. sie für unmittelbar wahr erklärte, und diese innere logische Wahrheit unterschied von der äußern logischen Wahrheit, welche das Beruhen auf einem andern Urtheil als Grund wäre, kann ich daher nicht billigen. Jede Wahrheit ist die Beziehung eines Urtheils auf etwas außer ihm, und innere Wahrheit ein Widerspruch.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 122-123.
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