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[22] Er ist kein Simpel, »von Natur gut« und dumm, kein Halbaffe mit technischen Tendenzen, wie ihn Haeckel beschrieben und Gabriel Max gemalt hat.4 Auf diese Karikatur fällt noch der plebejische[22] Schatten Rousseaus. Im Gegenteil, die Taktik seines Lebens ist die eines prachtvollen, tapfern, listigen, grausamen Raubtieres. Er lebt angreifend, tötend und vernichtend. Er will Herr sein, seitdem es ihn gibt.

Also ist die »Technik« wirklich älter als der Mensch? Nein, doch nicht. Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem Menschen und allen andern Tieren. Die Technik dieser Tiere ist Gattungstechnik. Sie ist weder erfinderisch noch lernbar noch entwicklungsfähig. Der Typus Biene hat, seit er da ist, seine Waben immer genau so gebaut wie heute, und wird sie so bauen, bis er ausstirbt. Sie gehören zu ihm wie die Form der Flügel und die Färbung des Leibes. Nur der anatomische Standpunkt der Zoologen läßt Körperbau und Lebensart auseinanderfallen. Geht man von der inneren Form des Lebens aus, statt von der des Leibes, so ist diese Taktik des Lebens und die Gliederung des Leibes ein und dasselbe, beides Ausdruck einer organischen Wirklichkeit. Die »Gattung« ist eine Form nicht des sichtbar Ruhenden,[23] sondern der Beweglichkeit, nicht des So-seins, sondern des So-tuns. Körperform ist die Form des tätigen Körpers.

Bienen, Termiten, Biber fuhren erstaunliche Bauten auf. Ameisen kennen Pflanzenbau, Straßenbau, Sklaverei und Kriegführung. Brutpflege, Festungsanlagen und planmäßige Wanderzüge sind weit verbreitet. Alles was der Mensch kann, haben einzelne Tierformen auch erreicht. Es sind Tendenzen, die im freibeweglichen Leben überhaupt als Möglichkeiten schlafen. Der Mensch leistet nichts, was nicht dem Leben im Ganzen erreichbar ist.

Und trotzdem – alles das hat mit menschlicher Technik im Grunde gar nichts zu tun. Die Gattungstechnik ist unveränderlich. Das bedeutet das Wort »Instinkt«. Weil das tierische »Denken« am unmittelbaren Jetzt und Hier haftet und weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, so kennt es auch weder Erfahrung noch Sorge. Es ist nicht wahr, daß Tierweibchen für ihre Jungen »sorgen«. Die Sorge ist ein Gefühl, das ein Wissen in die Ferne hinaus voraussetzt, um das, was kommen wird, wie die Reue ein Wissen um das, was war. Ein Tier kann weder hassen noch verzweifeln. Die Brutpflege ist wie alles andere ein dunkles, wissenloses[24] Getriebensein in vielen Typen von Leben. Sie gehört zur Art und nicht zum Einzelwesen. Die Gattungstechnik ist nicht nur unveränderlich, sondern auch unpersönlich.

Die Menschentechnik und sie allein aber ist unabhängig vom Leben der Menschengattung. Es ist der einzige Fall in der gesamten Geschichte des Lebens, daß das Einzelwesen aus dem Zwang der Gattung heraustritt. Man muß lange nachdenken, um das Ungeheure dieser Tatsache zu begreifen. Die Technik im Leben des Menschen ist bewußt, willkürlich, veränderlich, persönlich, erfinderisch. Sie wird erlernt und verbessert. Der Mensch ist der Schöpfer seiner Lebenstaktik geworden. Sie ist seine Größe und sein Verhängnis. Und die innere Form dieses schöpferischen Lebens nennen wir Kultur, Kultur besitzen, Kultur schaffen, an der Kultur leiden. Die Schöpfungen des Menschen sind Ausdruck dieses Daseins in persönlicher Form.

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Nur die systematische, klassifizierende Wut bloßer Anatomen hat ihn in die Nähe der Affen gebracht, und auch das stellt sich heute als voreilig und oberflächlich heraus. Man sehe Klaatsch, der selbst Darwinianer war: »Der Werdegang der Menschheit« (1920), S. 29 ff. Gerade im »System« steht der Mensch abseits und außer aller Ordnung, in vielen Zügen seines Körperbaus sehr primitiv, in andern wieder eine Ausnahmeerscheinung. Aber das geht uns, die wir sein Leben betrachten, nichts an. In seinem Schicksal, seelisch, ist er ein Raubtier.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 22-25.
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