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[110] Kehren wir zur Mathematik zurück. Der Ausgangspunkt aller antiken Formgebung war, wie wir sahen, die Ordnung des Gewordnen, insofern es gegenwärtig, übersehbar, meßbar, zählbar ist. Das abendländische, gotische Formgefühl, das einer maßlosen, willensstarken, in alle Fernen schweifenden Seele, hat das Zeichen des reinen, unanschaulichen, grenzenlosen Raumes gewählt. Man täusche sich ja nicht über die enge Bedingtheit solcher Symbole, die uns leicht als wesensgleich, als allgemeingültig erscheinen. Unser unendlicher Weltraum, über dessen Vorhandensein, wie es scheint, kein Wort zu verlieren ist, ist für den antiken Menschen nicht vorhanden. Er ist ihm nicht einmal vorstellbar. Der hellenische Kosmos andrerseits, dessen tiefe Fremdheit für unsre Auffassungsweise nicht so lange hätte unbemerkt bleiben sollen, ist dem Hellenen das Selbstverständliche. In der Tat ist der absolute Raum unserer Physik eine Form mit sehr vielen, äußerst verwickelten stillschweigenden Voraussetzungen, die allein aus unserem Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden und allein für unsere Art des wachen Daseins wirklich, notwendig und natürlich ist. Die einfachen Begriffe sind immer die schwierigsten. Ihre Einfachheit besteht darin, daß unendlich vieles, was sich nicht aussprechen ließe, auch gar nicht gesagt zu werden braucht, weil es für Menschen dieses Kreises gefühlsmäßig gesichert, für fremde allerdings eben deshalb auch vollkommen unzugänglich ist. Das gilt von dem spezifisch abendländischen Inhalt des Wortes Raum. Die gesamte Mathematik von Descartes an dient der theoretischen[110] Interpretation dieses großen, ganz von religiösem Gehalt erfüllten Symbols. Die Physik will seit Galilei nichts anderes. Die antike Mathematik und Physik kennen den Gehalt dieses Wortes überhaupt nicht.

Auch hier haben antike Namen, die wir aus der literarischen Erbschaft der Griechen beibehalten haben, den Tatbestand verschleiert. Geometrie heißt die Kunst des Messens, Arithmetik die des Zählens. Die Mathematik des Abendlandes hat mit diesen beiden Arten des Begrenzens nichts mehr zu tun, aber sie hat keinen neuen Namen für sie gefunden. Das Wort Analysis sagt bei weitem nicht alles.

Der antike Mensch beginnt und schließt seine Erwägungen mit dem einzelnen Körper und seinen Grenzflächen, zu denen indirekt die Kegelschnitte und höheren Kurven gehören. Wir kennen im Grunde nur das abstrakte Raumelement des Punktes, das ohne Anschaulichkeit, ohne die Möglichkeit einer Messung und Benennung, lediglich ein Beziehungszentrum darstellt. Die Gerade ist für den Griechen eine meßbare Kante, für uns ein unbegrenztes Punktkontinuum. Leibniz führt als Beispiel für sein Infinitesimalprinzip die Gerade an, die den Grenzfall eines Kreises mit unendlich großem Radius darstellt, während der Punkt den andern Grenzfall bildet. Für den Griechen ist der Kreis aber eine Fläche, und das Problem besteht darin, sie in eine kommensurable Gestalt zu bringen. So wurde die Quadratur des Kreises das klassische Grenzproblem für den Geist antiker Menschen. Das schien ihnen das tiefste aller Probleme der Weltform: krummlinig begrenzte Flächen bei unveränderter Größe in Rechtecke zu verwandeln und dadurch meßbar zu machen. Für uns ist daraus das wenig bedeutende Verfahren geworden, die Zahl Π durch algebraische Mittel darzustellen, ohne daß dabei von geometrischen Gebilden überhaupt noch die Rede wäre.

Der antike Mathematiker kennt nur das, was er sieht und greift. Wo die begrenzte, begrenzende Sichtbarkeit, das Thema seiner Gedankengänge, aufhört, findet seine Wissenschaft ein Ende. Der abendländische Mathematiker begibt sich, sobald er von antiken Vorurteilen frei sich selbst gehört, in die gänzlich abstrakte Region einer unendlichen Zahlenmannigfaltigkeit von n – nicht mehr von[111] 3 – Dimensionen, innerhalb deren seine sogenannte Geometrie jeder anschaulichen Hilfe entbehren kann und meistern muß. Greift der antike Mensch zu künstlerischem Ausdruck seines Formgefühls, so sucht er dem menschlichen Körper in Tanz und Ringkampf, in Marmor und Bronze diejenige Haltung zu geben, in der Flächen und Konturen ein Maximum von Maß und Sinn haben. Der echte Künstler des Abendlandes aber schließt die Augen und verliert sich in den Bereich einer körperlosen Musik, in dem Harmonie und Polyphonie zu Bildungen von höchster »Jenseitigkeit« führen, die weitab von allen Möglichkeiten optischer Bestimmung liegen. Man denke daran, was ein athenischer Bildhauer und was ein nordischer Kontrapunktist unter einer Figur versteht, und man hat den Gegensatz beider Welten, beider Mathematiken unmittelbar vor sich. Die griechischen Mathematiker gebrauchen sogar das Wort σῶμα für ihre Körper. Andrerseits verwendet es die Rechtssprache für die Person im Gegensatz zur Sache (σώματα καὶ πράγματα: personae et res).

Deshalb sucht die antike, ganze, körperhafte Zahl unwillkürlich eine Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen, des σῶμα. Die Zahl 1 wird noch kaum als wirkliche Zahl empfunden. Sie ist die ἀρχή, der Urstoff der Zahlenreihe, der Ursprung aller eigentlichen Zahlen und damit aller Größe, allen Maßes, aller Dinglichkeit. Ihr Zahlzeichen war im Kreise der Pythagoräer, gleichviel zu welcher Zeit, zugleich das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprungs allen Lebens. Die 2, die erste eigentliche Zahl, welche die 1 verdoppelt, erhielt deshalb eine Beziehung zum männlichen Prinzip, und ihr Zeichen war eine Nachbildung des Phallus. Die heilige Drei der Pythagoräer endlich bezeichnete den Akt der Vereinigung von Mann und Weib, die Zeugung – die erotische Deutung der beiden einzigen der Antike wertvollen Prozesse der Größenvermehrung, der Größenzeugung, Addition und Multiplikation, ist leicht verständlich –, und ihr Zeichen war die Vereinigung der beiden ersten. Von hier aus fällt ein neues Licht auf den erwähnten Mythos vom Frevel der Aufdeckung des Irrationalen. Das Irrationale, in unsrer Ausdrucksweise die Verwendung unendlicher Dezimalbrüche, bedeutete eine Zerstörung der organisch-leiblichen, zeugenden Ordnung, welche[112] durch die Götter gesetzt war. Es ist kein Zweifel, daß die pythagoräische Reform der antiken Religion den uralten Demeterkult wieder zugrunde legte. Demeter ist der Gaia, der mütterlichen Erde verwandt. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihrer Verehrung und dieser erhabenen Auffassung der Zahlen.

So ist die Antike mit innerer Notwendigkeit allmählich die Kultur des Kleinen geworden. Die apollinische Seele hatte den Sinn des Gewordnen durch das Prinzip der übersehbaren Grenze zu bannen gesucht; ihr »tabu« richtete sich auf die unmittelbare Gegenwart und Nähe des Fremden. Was weit fort, was nicht sichtbar war, war auch nicht da. Der Grieche wie der Römer opferte den Göttern der Gegend, in welcher er sich aufhielt; alle andern entschwanden seinem Gesichtskreis. Wie die griechische Sprache kein Wort für den Raum besaß – wir werden die gewaltige Symbolik solcher Sprachphänomene immer wieder verfolgen –, so fehlt dem Griechen auch unser Landschaftsgefühl, das Gefühl für Horizonte, Ausblicke, Fernen, Wolken, auch der Begriff des Vaterlandes, das sich weithin erstreckt und eine große Nation umfaßt. Heimat ist dem antiken Menschen, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann, nicht mehr. Was jenseits dieser optischen Grenze eines politischen Atoms lag, war fremd, war sogar feindlich. Hier schon beginnt die Angst des antiken Daseins, und dies erklärt die furchtbare Erbitterung, mit der diese winzigen Städte einander vernichteten. Die Polis ist die kleinste aller denkbaren Staatsformen und ihre Politik die ausgesprochene Politik der Nähe, sehr im Gegensatz zu unserer Kabinettsdiplomatie, der Politik des Grenzenlosen. Der antike Tempel, mit einem Blick zu umfassen, ist der kleinste aller klassischen Bautypen. Die Geometrie von Archytas bis auf Euklid beschäftigt sich – wie es die unter ihrem Eindruck stehende Schulgeometrie noch heute tut – mit kleinen, handlichen Figuren und Körpern, und so blieben ihr die Schwierigkeiten verborgen, welche bei der Zugrundelegung von Figuren mit astronomischen Dimensionen auftauchen und die Anwendung der euklidischen Geometrie nicht mehr überall gestatten.18[113] Andernfalls hätte der feine attische Geist vielleicht schon damals etwas von dem Problem der nichteuklidischen Geometrien geahnt, denn die Einwände gegen das bekannte Parallelenaxiom19, dessen zweifelhafte und doch nicht zu verbessernde Fassung schon früh Anstoß erregte, rührten nahe an die entscheidende Entdeckung. So selbstverständlich dem antiken Sinn die ausschließliche Betrachtung des Nahen und Kleinen, so selbstverständlich ist dem unsern die des Unendlichen, die Grenzen des Sehsinnes Überschreitenden. Alle mathematischen Ansichten, welche das Abendland entdeckte oder entlehnte, wurden mit Selbstverständlichkeit der Formensprache des Infinitesimalen unterworfen und das, lange bevor die eigentliche Differentialrechnung entdeckt worden war. Arabische Algebra, indische Trigonometrie, antike Mechanik werden ohne weiteres der Analysis einverleibt. Gerade die »evidentesten« Sätze des elementaren Rechnens – daß etwa 2 x 2 = 4 ist – werden, aus analytischen Gesichtspunkten betrachtet, zu Problemen, deren Lösung erst durch Ableitungen aus der Mengenlehre und in vielen Einzelheiten überhaupt noch nicht gelungen ist – was Plato und seiner Zeit sicherlich als Wahnsinn und Beweis eines völligen Mangels an mathematischer Begabung erschienen wäre.

Man kann gewissermaßen die Geometrie algebraisch oder die Algebra geometrisch behandeln, das heißt, das Auge ausschalten oder herrschen lassen. Das erste haben wir, das andere die Griechen getan. Archimedes, der in seiner schönen Berechnung der Spirale gewisse allgemeine Tatsachen berührt, die auch der Methode des bestimmten Integrals bei Leibniz zugrunde liegen, ordnet sein bei oberflächlicher Betrachtung höchst modern wirkendes Verfahren sofort stereometrischen Prinzipien unter; ein Inder hätte im gleichen Falle mit Selbstverständlichkeit etwa eine trigonometrische Formulierung gefunden.20

18

In der modernen Astronomie beginnt heute die Verwendung nichteuklidischer Geometrien. Die Annahme eines unbegrenzten, aber endlichen, gekrümmten Raumes, den das Fixsternsystem mit einem Durchmesser von etwa 470 Millionen Erdabständen füllt, würde zur Annahme eines Gegenbildes der Sonne führen, das uns als Stern mittlerer Helligkeit erscheint.

19

Daß durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele möglich sei, ein Satz, der sich nicht beweisen läßt.

20

Was von der uns bekannten indischen Mathematik altindisch, das heißt vor Buddha entstanden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 110-114.
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