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[381] Jeder Philosoph von Beruf ist gezwungen, ohne ernstliche Nachprüfung an das Dasein eines Etwas zu glauben, das sich in seinem Sinne verstandesmäßig behandeln läßt, denn seine ganze geistige Existenz hängt von dieser Möglichkeit ab. Es gibt deshalb für jeden noch so skeptischen Logiker und Psychologen einen Punkt, an welchem die Kritik schweigt und der Glaube beginnt, wo selbst der strengste Analytiker aufhört, seine Methode – gegen sich selbst nämlich und auf die Frage der Lösbarkeit, selbst des Vorhandenseins seiner Aufgabe – anzuwenden. Den Satz: Es ist möglich, durch das Denken die Formen des Denkens festzustellen, hat Kant nicht bezweifelt, so zweifelhaft er dem Nichtphilosophen erscheinen mag. Den Satz: Es gibt eine Seele, deren Struktur wissenschaftlich zugänglich ist; was ich durch kritische Zerlegung bewußter Daseinsakte in Gestalt von psychischen »Elementen«, »Funktionen«, »Komplexen« feststelle, das ist meine Seele – hat noch kein Psychologe bezweifelt. Gleichwohl hätten die stärksten Zweifel sich hier einstellen sollen. Ist eine abstrakte Wissenschaft vom Seelischen überhaupt möglich? Ist, was man auf diesem Wege findet, identisch mit dem, was man sucht? Warum ist alle Psychologie, nicht als Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, sondern als Wissenschaft genommen, von jeher die flachste und wertloseste aller philosophischen Disziplinen geblieben, in ihrer völligen Leerheit ausschließlich der Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe und unfruchtbarer Systematiker? Der Grund ist leicht zu finden. Die »empirische« Psychologie hat[381] das Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend einer wissenschaftlichen Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von Problemen ist ein Kampf mit Schatten und Gespenstern. Was ist das – Seele? Könnte der bloße Verstand eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits überflüssig.

Keiner der tausend Psychologen unsrer Tage hat eine wirkliche Analyse oder Definition »des« Willens, der Reue, der Angst, der Eifersucht, der Laune, der künstlerischen Intuition geben können. Natürlich nicht, denn man zergliedert nur Systematisches und man definiert nur Begriffe durch Begriffe. Alle Feinheiten des geistigen Spiels mit begrifflichen Distinktionen, alle vermeintlichen Beobachtungen vom Zusammenhang sinnlich-körperlicher Befunde mit »inneren Vorgängen« berühren nichts von dem, was hier in Frage steht. Wille – das ist kein Begriff, sondern eine Name, ein Urwort wie Gott, ein Zeichen für etwas, dessen wir innerlich unmittelbar gewiß sind, ohne es jemals beschreiben zu können.

Dasjenige, was hier gemeint ist, bleibt der gelehrten Forschung für immer unzugänglich. Nicht umsonst warnt jede Sprache mit ihren tausendfach sich verwirrenden Bezeichnungen davor, Seelisches theoretisch aufteilen, es systematisch ordnen zu wollen. Hier ist nichts zu ordnen. Kritische – »scheidende« – Methoden beziehen sich allein auf die Welt als Natur. Eher ließe sich ein Thema von Beethoven mit Seziermesser oder Säure zerlegen, als die Seele durch Mittel des abstrakten Denkens. Naturerkenntnis und Menschenkenntnis haben in Ziel, Weg und Methode nichts gemein. Der Urmensch erlebt »die Seele« zuerst in andern Menschen und dann auch in sich als numen, wie er numina in der Außenwelt kennt, und er legt seine Eindrücke in mythischer Weise aus. Die Worte dafür sind Symbole, Klänge, die dem Verstehenden etwas Unbeschreibliches bedeuten. Sie rufen Bilder herauf, Gleichnisse, und in einer andern Sprache haben wir auch heute noch nicht gelernt, uns über Seelisches mitzuteilen. Rembrandt kann denen, die ihm innerlich verwandt sind, durch ein Selbstbildnis oder eine Landschaft etwas von seiner Seele verraten, und Goethe gab es ein Gott, zu sagen, wie er leide. Man kann von gewissen Seelenregungen, die in Worte nicht[382] zu fassen sind, andern ein Gefühl durch einen Blick, ein paar Takte einer Melodie, eine kaum merkliche Bewegung vermitteln. Das ist die wahre Sprache von Seelen, die Fernstehenden unverständlich bleibt. Das Wort als Laut, als poetisches Element, kann hier die Beziehung herstellen, das Wort als Begriff, als Element wissenschaftlicher Prosa nie.

»Die Seele« ist für den Menschen, sobald er nicht nur lebt und fühlt, sondern aufmerksam wird und beobachtet, ein Bild, das aus ganz ursprünglichen Erfahrungen von Tod und Leben stammt. Es ist so alt, wie das durch die Wortsprachen vom Sehen abgelöste und ihm folgende Nach-denken überhaupt. Die Umwelt sehen wir; da jedes freibewegliche Wesen sie auch verstehen muß, um nicht unterzugehen, so entwickelt sich aus der täglichen kleinen, technischen, tastenden Erfahrung ein Inbegriff bleibender Merkmale, der sich für den wortgewohnten Menschen zu einem Bilde des Verstandenen zusammenschließt, der Welt als Natur.1 Was nicht äußere Welt ist, sehen wir nicht; aber wir spüren seine Gegenwart, in andern und in uns selbst. »Es« weckt durch seine Art, sich physiognomisch bemerkbar zu machen, Angst und Wißbegier, und so entsteht das nachdenkliche Bild einer Gegenwelt, durch das wir uns vorstellen, sichtbar vor uns hinstellen, was dem Auge selbst ewig fremd bleibt. Das Bild der Seele ist mythisch und ein Gegenstand von Seelenkulten, solange das Bild der Natur religiös erschaut wird; es verwandelt sich in eine wissenschaftliche Vorstellung und wird der Gegenstand gelehrter Kritik, sobald man »die Natur« kritisch beobachtet. Wie »die Zeit« ein Gegenbegriff2 zum Raum, so ist »die Seele« eine Gegenwelt zur »Natur« und von deren Auffassung in jedem Augenblick mitbestimmt. Es war gezeigt worden, wie »die Zeit« aus dem Gefühl der Richtung des ewig bewegten Lebens, aus der inneren Gewißheit eines Schicksals heraus als gedankliches Negativ zu einer positiven Größe entstand, als Inkarnation dessen, was nicht Ausdehnung ist, und daß sämtliche »Eigenschaften« der Zeit, durch deren abstrakte Zerlegung die Philosophen das Zeitproblem lösen zu[383] können glauben, als Umkehrung der Eigenschaften des Raumes im Geiste allmählich gebildet und geordnet worden sind. Genau auf demselben Wege ist die Vorstellung vom Seelischen als Umkehrung und Negativ der Weltvorstellung unter Zuhilfenahme der räumlichen Polarität »außen – innen« und durch entsprechende Umdeutung der Merkmale entstanden. Jede Psychologie ist eine Gegenphysik.

Ein »exaktes Wissen« von der ewig geheimnisvollen Seele erhalten zu wollen, ist sinnlos. Aber der späte städtische Trieb, abstrakt zu denken, zwingt den »Physiker der inneren Welt« gleichwohl dazu, eine Scheinwelt von Vorstellungen durch immer neue Vorstellungen, Begriffe durch Begriffe zu erklären. Er denkt das Nichtausgedehnte in Ausgedehntes um, er erbaut als Ursache dessen, was nur physiognomisch in Erscheinung tritt, ein System, und in diesem glaubt er, die Struktur »der Seele« vor Augen zu haben. Aber schon die Worte, welche in allen Kulturen gewählt werden, um diese Ergebnisse gelehrter Arbeit mitzuteilen, verraten alles. Da ist von Funktionen, Gefühlskomplexen, Triebfedern, Bewußtseinsschwellen, von Verlauf, Breite, Intensität, Parallelismus der seelischen Prozesse die Rede. Aber alle diese Worte stammen aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft. »Der Wille bezieht sich auf Gegenstände« – das ist doch ein Raumbild. Bewußtes und Unbewußtes – da liegt allzu deutlich das Schema von überirdisch und unterirdisch zugrunde. In den modernen Theorien des Willens wird man die ganze Formensprache der Elektrodynamik finden. Wir reden von Willensfunktionen und Denkfunktionen in genau demselben Sinne wie von der Funktion eines Kräftesystems. Ein Gefühl analysieren, heißt ein raumartiges Schattenbild an seiner Stelle mathematisch behandeln, es abgrenzen, teilen und messen. Jede Seelenforschung dieses Stils, sie mag sich über Gehirnanatomie noch so erhaben dünken, ist voll von mechanischen Lokalisationen und bedient sich, ohne es zu bemerken, eines eingebildeten Koordinatensystems in einem eingebildeten Seelenraum. Der »reine« Psychologe merkt gar nicht, daß er den Physiker kopiert. Kein Wunder, daß sein Verfahren mit den albernsten Methoden der experimentellen Psychologie so verzweifelt gut übereinstimmt. Gehirnbahnen, und Assoziationsfasern[384] entsprechen der Vorstellungsweise nach durchaus dem optischen Schema: »Willens-« oder »Gefühlsverlauf«; sie behandeln beide verwandte, nämlich räumliche Phantome. Es ist kein großer Unterschied, ob ich ein psychisches Vermögen begrifflich oder eine entsprechende Region der Großhirnrinde graphisch abgrenze. Die wissenschaftliche Psychologie hat ein geschlossenes System von Bildern herausgearbeitet und bewegt sich mit vollkommener Selbstverständlichkeit in ihm. Man prüfe jede einzelne Aussage jedes einzelnen Psychologen und man wird nur Variationen dieses Systems im Stile der jeweiligen Außenwelt finden.

Das klare, vom Sehen abgezogene Denken setzt den Geist einer Kultursprache als Mittel voraus, das, vom Seelentum einer Kultur als Teil und Träger ihres Ausdrucks geschaffen,3 nun eine »Natur« der Wortbedeutungen, einen sprachlichen Kosmos bildet, innerhalb dessen die abstrakten Begriffe, Urteile, Schlüsse – Abbilder von Zahl, Kausalität, Bewegung – ihr mechanisch bestimmtes Dasein führen. Das jeweilige Bild der Seele ist also vom Wortgebrauch und dessen tiefer Symbolik abhängig. Die abendländischen – faustischen – Kultursprachen besitzen sämtlich den Begriff »Wille« – eine mythische Größe, die gleichzeitig durch die Umbildung des Verbums versinnlicht wird, die einen entscheidenden Gegensatz zum antiken Sprachgebrauch und also Seelenbilde schafft. Ego habeo factum statt feci4 da erscheint ein numen der inneren Welt. Mithin erscheint, von der Sprache bestimmt, im wissenschaftlichen Seelenbilde aller abendländischen Psychologien die Gestalt des Willens als ein wohlumgrenztes Vermögen, das man in den einzelnen Schulen wohl verschieden bestimmt, dessen Vorhandensein an sich aber keiner Kritik unterworfen ist.

1

Vgl. Bd. I, S. 136 f.

2

Vgl. Bd. I, S. 165.

3

Ursprachen bilden keine Unterlage für abstrakte Gedankengänge. Am Anfang jeder Kultur erfolgt aber eine innere Wandlung der vorhandenen Sprachkörper, die sie zu den höchsten symbolischen Aufgaben der Kulturentwicklung fähig macht. So entstehen zugleich mit dem romanischen Stil das Deutsche und Englische aus den germanischen Sprachen der Frankenzeit, und das Französische, Italienische, Spanische aus der lingua rustica der ehemaligen Römerprovinzen, trotz so verschiedener Herkunft Sprachen von identischem metaphysischem Gehalt.

4

Vgl. Bd. I, S. 335 f.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 381-385.
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