5

[406] Dieser Gegensatz hat zu zwei in jedem Betracht grundverschiedenen Formen der Tragödie geführt. Die faustische, das Charakterdrama, und die apollinische, das Drama der erhabenen Geste, haben in der Tat nicht mehr als den Namen gemeinsam.21

Die Barockzeit machte, bezeichnenderweise ausschließlich von Seneca und nicht von Aischylos und Sophokles ausgehend22 – das entspricht genau der architektonischen Anknüpfung an die Kaiserbauten statt den Tempel von Pästum –, mit steigender Entschiedenheit an Stelle der Begebenheit den Charakter zum Schwerpunkt des[406] Ganzen, zur Mitte gewissermaßen eines seelischen Koordinatensystems, das allen szenischen Tatsachen in bezug auf sich Lage, Bedeutung und Wert zuweist; es entsteht eine Tragik des Wollens, der wirkenden Kräfte, der inneren, nicht notwendig in Sichtbares umgesetzten Bewegtheit, während Sophokles das unvermeidliche Minimum an Geschehen vor allem durch das Kunstmittel des Botenberichts hinter die Szene verlegt. Die antike Tragik bezieht sich auf allgemeine Lagen, nicht auf besondere Persönlichkeiten; Aristoteles bezeichnet sie ausdrücklich als μίμησις οὐκ ἀνϑρώπων ἀλλὰ πράξεως καὶ βίου. Was er in seiner Poetik, sicherlich dem für unsere Dichtung verhängnisvollsten Buche ἦϑος nennt, nämlich die ideale Haltung eines ideal hellenischen Menschen in einer schmerzlichen Lage, hat mit unserm Begriff Charakter als einer die Ereignisse bestimmenden Beschaffenheit des Ich so wenig zu tun wie eine Fläche in Euklids Geometrie mit dem gleichnamigen Gebilde etwa in Riemanns Theorie der algebraischen Gleichungen. Daß man ἦϑος mit Charakter übersetzte, statt das kaum exakt Wiederzugebende durch Rolle, Haltung, Geste zu umschreiben, daß man μῦϑος, die zeitlose Begebenheit, durch Handlung wiedergab, ist auf Jahrhunderte hin ebenso verderblich geworden wie die Ableitung des Wortes δρᾶμα von Tun. Othello, Don Quijote, der Misanthrop, Werther, Hedda Gabler sind Charaktere. Das Tragische liegt im bloßen Dasein so gearteter Menschen inmitten ihrer Welt. Ob gegen diese Welt, gegen sich, gegen andre: der Kampf wird durch den Charakter, nicht durch etwas von außen Kommendes aufgezwungen. Es ist Fügung, die Einfügung einer Seele in einen Zusammenhang widersprechender Beziehungen, der keine reine Auflösung gestattet. Antike Bühnengestalten aber sind Rollen, keine Charaktere. Auf der Szene erscheinen immer dieselben Figuren, der Greis, der Heros, der Mörder, der Liebende, stets dieselben schwer beweglichen, auf dem Kothurn schreitenden, maskierten Körper. Deshalb war die Maske im antiken Drama auch der Spätzeit eine tief symbolische innere Notwendigkeit, während unsere Stücke ohne das Mienenspiel der Darsteller eben nicht »dargestellt« wären. Man wende ja nicht die Größe der griechischen Theater ein; auch die Gelegenheitsmimen trugen Masken[407]auch die Bildnisstatuen23 –, und wäre das tiefere Bedürfnis nach intimen Räumen dagewesen, so hätte sich die architektonische Form von selbst gefunden.

Die in bezug auf einen Charakter tragischen Begebenheiten folgen aus einer langen inneren Entwicklung. In den tragischen Fällen des Aias, des Philoktet, der Antigone und Elektra aber ist eine innere Vorgeschichte – selbst wenn sie in einem antiken Menschen anzutreffen wäre – für die Folgen gleichgültig. Das entscheidende Ereignis überfällt sie, unvermittelt, ganz zufällig und äußerlich, und hätte an ihrer Stelle jeden andern und mit der gleichen Wirkung überfallen können. Es brauchte nicht einmal ein Mensch gleichen Geschlechts zu sein.

Es kennzeichnet den Gegensatz antiker und abendländischer Tragik noch nicht scharf genug, wenn man nur von Handlung oder Ereignis redet. Die faustische Tragödie ist biographisch, die apollinische ist anekdotisch, das heißt, jene umfaßt das Gerichtetsein eines ganzen Lebens, diese den für sich stehenden Augenblick; denn welche Beziehung hat die gesamte innere Vergangenheit des Ödipus oder Orest zu dem vernichtenden Ereignis, das ihnen plötzlich in den Weg tritt?24 Der Anekdote antiken Stils gegenüber kennen wir den Typus der charakteristischen, persönlichen, antimythischen Anekdote – es ist die Novelle, deren Meister Cervantes, Kleist, Hoffmann, Storm sind –, die um so bedeutender ist, je mehr man fühlt, daß ihr Motiv nur einmal und nur zu dieser Zeit und unter diesen Menschen möglich war, während der Rang der mythischen Anekdote – der Fabel – durch die Reinheit der gegenteiligen Eigenschaften bestimmt wird. Wir haben da also ein Schicksal, das wie der Blitz trifft, gleichgültig wen, und ein andres, das sich wie ein unsichtbarer Faden durch ein Leben spinnt und dieses eine vor allen andern auszeichnet. Es gibt im vergangenen Dasein Othellos, diesem Meisterstück einer psychologischen Analyse, nicht den geringsten Zug, der ganz ohne Beziehung zur Katastrophe wäre. Der Rassenhaß, das Alleinstehen des Emporkömmlings unter den Patriziern, der Mohr als Soldat, als[408] Naturmensch, als der vereinsamte ältere Mann – nichts von diesen Momenten ist ohne Bedeutung. Man versuche doch, die Exposition des Hamlet oder Lear im Vergleich zu der sophokleischer Stücke zu entwickeln. Sie ist durchaus psychologisch, nicht eine Summe äußerer Daten. Von dem, was wir heute einen Psychologen nennen, nämlich einen gestaltenden Kenner innerer Epochen, was für uns beinahe mit dem Begriff eines Dichters identisch geworden ist, hatten die Griechen keine Ahnung. So wenig sie Analytiker in der Mathematik waren, so wenig waren sie es im Seelischen, und antiken Seelen gegenüber konnte es nicht wohl anders sein. »Psychologie« – das ist das eigentliche Wort für die abendländische Art von Menschengestaltung. Das paßt auf ein Porträt Rembrandts so gut wie auf die Musik des Tristan, auf Stendhals Julien Sorel wie auf Dantes Vita Nuova. Keine andre Kultur kennt Ähnliches. Gerade das ist es, was von der Gruppe antiker Künste mit Strenge ausgeschlossen blieb. »Psychologie« ist die Form, in welcher der Wille, der Mensch als verkörperter Wille, nicht der Mensch als σῶμα, kunstfähig wird. Wer hier Euripides nennt, der weiß gar nicht, was Psychologie ist. Welche Fülle des Charakteristischen liegt schon in der nordischen Mythologie mit ihren schlauen Zwergen, tölpischen Riesen, neckischen Elben, mit Loki, Baldr und den andern Gestalten, und wie typisch wirkt daneben der homerische Olymp! Zeus, Apollon, Poseidon, Ares sind einfach »Männer«, Hermes ist »der Jüngling«, Athene eine reifere Aphrodite, die kleineren Götter – wie auch die spätere Plastik beweist – nur dem Namen nach unterscheidbar. Das gilt im vollen Umfange auch von den Gestalten der attischen Szene. Bei Wolfram von Eschenbach, Cervantes, Shakespeare, Goethe entwickelt sich das Tragische des Einzellebens von innen heraus, dynamisch, funktional, und die Lebensläufe sind wieder nur aus dem geschichtlichen Hintergrund des Jahrhunderts ganz begreiflich; bei den drei großen Tragikern Athens kommt es von außen, statisch, euklidisch. Um eine früher auf die Weltgeschichte angewandte Bezeichnung zu wiederholen: das vernichtende Ereignis macht dort Epoche, hier bewirkt es eine Episode. Selbst der tödliche Ausgang ist nur die letzte Episode eines aus lauter Zufälligkeiten zusammengesetzten Daseins.[409]

Eine Barocktragödie ist nichts als der führende Charakter noch einmal, nur in der Lichtwelt des Auges zur Entfaltung gebracht, als Kurve statt als Gleichung, kinetische statt potentieller Energie. Die sichtbare Person ist der mögliche, die Handlung der sich verwirklichende Charakter. Dies ist der ganze Sinn unsrer noch heute unter antiken Reminiszenzen und Mißverständnissen verschütteten Lehre vom Tragischen. Der tragische Mensch der Antike ist ein euklidischer Körper, der in seiner Lage, die er nicht gewählt hat und nicht ändern kann, von der Heimarmene getroffen wird, der sich in der Belichtung seiner Flächen durch die äußeren Vorfälle unveränderlich zeigt. In diesem Sinne ist in den »Choephoren« von Agamemnon als dem »flottenführenden königlichen Leibe« die Rede und sagt Ödipus in Kolonos, daß das Orakel »seinem Leibe« gelte.25 Man wird bei allen bedeutenden Menschen der griechischen Geschichte bis auf Alexander hinab eine merkwürdige Unbildsamkeit finden. Ich wüßte keinen, der in den Kämpfen des Lebens eine innere Wandlung vollzogen hätte, wie wir sie von Luther und Loyola kennen. Was man allzu flüchtig bei den Griechen Charakterzeichnung nennt, ist nichts als der Reflex von Ereignissen auf das ἦϑος des Helden, niemals der Reflex einer Persönlichkeit auf die Ereignisse.

Und so verstehen wir faustischen Menschen das Drama mit innerster Notwendigkeit als ein Maximum an Aktivität, die Griechen mit derselben Notwendigkeit als ein Maximum an Passivität.26 Die attische Tragödie enthält überhaupt keine »Handlung«. Die antiken Mysterien – und Aischylos, der aus Eleusis stammte, hat das höhere Drama durch Übertragung der Mysterienform mit ihrer Peripetie erst geschaffen – waren sämtlich δράματα oder δρώμενα, liturgische Begehungen. Aristoteles bezeichnet die Tragödie als Nachahmung[410] eines Geschehens. Das, die Nachahmung, ist identisch mit der vielberufenen Profanation der Mysterien, und man weiß, daß Aischylos, der auch die sakrale Tracht der Eleusispriester für immer als Kostüm der attischen Bühne eingeführt hat, deshalb angeklagt wurde.27 Denn das eigentliche δρᾶμα mit seiner Peripetie von der Klage zum Jubel lag gar nicht in der Fabel, die dort erzählt wurde, sondern in der dahinter stehenden, symbolischen, vom Zuschauer im tiefsten Sinne aufgefaßten und nachgefühlten Kulthandlung. Mit diesem Element der nichthomerischen antiken Frühreligion28 verband sich ein bäuerliches, die burlesken – phallischen, dithyrambischen – Szenen an den Frühlingsfesten für Demeter und Dionysos. Aus den Tiertänzen29 und dem begleitenden Gesang hat sich der tragische Chor entwickelt, welcher dem Darsteller, dem »Antworter« des Thespis (534) entgegentritt.

Die eigentliche Tragödie wuchs aus der feierlichen Totenklage, dem Threnos (naenia) hervor. Irgendwann wurde aus dem heitren Spiel am Dionysosfeste – das auch ein Fest der Seelen war – ein Klagechor von Menschen, und das Satyrspiel an den Schluß verdrängt. 494 führte Phrynichos den »Fall von Milet« auf, kein historisches Schauspiel, sondern die Klage der Milesierinnen, wofür er streng bestraft wurde, weil er an das Leid der Stadt erinnert habe. Erst die Einführung des zweiten Darstellers durch Aischylos hat das Wesen der antiken Tragödie vollendet: der Klage als dem gegebenen Thema wird die sichtbare Gestaltung eines großen menschlichen Leidens als gegenwärtiges Motiv unterlegt. Die Vordergrundfabel (μῦϑος) ist nicht »Handlung«, sondern der Anlaß für die Gesänge des Chors, welche nach wie vor die eigentliche tragoidia bilden. Ob die Begebenheit erzählt oder vorgeführt wird, ist ganz unwesentlich.[411] Der Zuschauer, der den Sinn des Tages kannte, fühlte in den pathetischen Worten sich und sein Schicksal gemeint. In ihm vollzieht sich die Peripetie, die der eigentliche Zweck der heiligen Szenen ist. Die liturgische Klage über den Jammer des Menschengeschlechts ist immer, von Berichten und Erzählungen umgeben, der Schwerpunkt des Ganzen geblieben. Man sieht es am deutlichsten im Prometheus, Agamemnon und König Ödipus. Aber hoch über die Klage hinaus erhebt sich nun30 die Größe des Dulders, seine erhabene Attitüde, sein ἦϑος, das in mächtigen Szenen zwischen den Chorpartien vorgeführt wird. Nicht der heroische Täter, dessen Wille am Widerstand fremder Mächte oder an den Dämonen in der eignen Brust wächst und bricht, sondern der willenlos Leidende, dessen somatisches Dasein – ohne tiefern Grund, wie man hinzufügen muß – vernichtet wird, ist das Thema. Die Prometheustrilogie des Aischylos beginnt gerade dort, wo Goethe sie vermutlich hätte enden lassen. König Lears Wahnsinn ist das Ergebnis der tragischen Handlung. Der Aias des Sophokles dagegen wird von Athene wahnsinnig gemacht, bevor das Drama beginnt. Das ist der Unterschied zwischen einem Charakter und einer bewegten Gestalt. In der Tat, Furcht und Mitleid sind, wie es Aristoteles beschreibt, die notwendige Wirkung antiker Tragödien auf antike, und nur auf antike Zuschauer. Das wird sofort klar, wenn man sieht, welche Szenen von ihm als die wirksamsten bezeichnet werden, nämlich jähe Glückswechsel und Erkennungsszenen. Zu den ersten gehört vor allem der Eindruck des φόβος (Grauen), zu den zweiten der des ἐλεός, (Rührung). Die erstrebte Katharsis ist nur aus dem Seinsideal der Ataraxia nachzuerleben. Die antike »Seele« ist reine Gegenwart, reines σῶμα, unbewegtes punktförmiges Sein. Dies in Frage gestellt zu sehen durch den Neid der Götter, das blinde Ungefähr, das wahllos blitzartig über jeden hereinbrechen kann, ist das Furchtbarste. Es greift an die Wurzeln der antiken Existenz, während es den faustischen, alles wagenden Menschen erst lebendig werden läßt. Und nun – das sich lösen zu sehen, wie wenn Gewitterwolken sich in[412] dunklen Bänken am Horizont lagern und die Sonne wieder durchbricht, das tiefe Gefühl der Freude an der geliebten großen Geste, das Aufatmen der gequälten mythischen Seele, die Lust am wiedergewonnenen Gleichgewicht – das ist Katharsis. Das setzt aber auch ein Lebensgefühl voraus, das uns vollkommen fremd ist. Das Wort ist in unsre Sprachen und Empfindungen kaum zu übersetzen. Die ganze ästhetische Mühe und Willkür des Barock und des Klassizismus, mit der rückhaltlosen Ehrfurcht vor antiken Büchern im Hintergrunde, war notwendig, um uns dies seelische Fundament auch für unsre Tragödie aufzureden – angesichts der Tatsache, daß ihre Wirkung gerade die entgegengesetzte ist, daß sie nicht von passiven statischen Erlebnissen erlöst, sondern aktive, dynamische hervorruft, reizt und auf die Spitze treibt, daß sie die Urgefühle eines energischen Menschseins, die Grausamkeit, die Freude an Spannung, Gefahr, Gewalttat, Sieg, Verbrechen, das Glücksgefühl des Überwinders und Vernichters weckt, Gefühle, die seit der Wikingerzeit, den Hohenstaufentaten und Kreuzzügen in der Tiefe jeder nordischen Seele schlafen. Das ist die Wirkung Shakespeares. Ein Grieche hätte den Macbeth gar nicht ausgehalten; er hätte vor allem den Sinn dieser mächtigen biographischen Kunst mit ihrer Richtungstendenz nicht begriffen. Daß Gestalten wie Richard III., Don Juan, Faust, Michael Kohlhaas, Golo, unantik vom Scheitel bis zur Sohle, nicht Mitleid, sondern einen tiefen seltsamen Neid, nicht Furcht, sondern eine rätselhafte Lust an Qualen, einen verzehrenden Wunsch nach einem ganz andern Mit-Leiden wecken, verraten uns heute, wo die faustische Tragödie auch in ihrer spätesten, der deutschen Form endgültig abgestorben ist, die ständigen Motive der weltstädtischen Literatur Westeuropas, die man mit den entsprechenden alexandrinischen vergleiche; in den »nervenspannenden« Abenteuer- und Detektivgeschichten und ganz zuletzt im Kinodrama, das durchaus den spätantiken Mimus vertritt, ist ein Rest der unbändigen faustischen Überwinder- und Entdeckersehnsucht fühlbar.

Dem entspricht genau das apollinische und das faustische Bühnenbild, das zur Vollständigkeit des Kunstwerkes gehört, wie es vom Dichter gedacht worden war. Das antike Drama ist ein Stück Plastik,[413] eine Gruppe pathetischer Szenen von reliefmäßigem Charakter, eine Schau riesenhafter Marionetten vor der flach abschließenden Rückwand des Theaters.31 Es ist ausschließlich groß empfundene Geste, während die spärlichen Begebenheiten der Fabel eher feierlich vorgetragen als vorgeführt werden. Das Gegenteil will die Technik des abendländischen Dramas: ununterbrochene Bewegtheit und strenge Ausschaltung handlungsarmer, statischer Momente. Die berühmten drei Einheiten des Ortes, der Zeit und des Vorgangs, so wie sie in Athen nicht formuliert, aber unbewußt herausgebildet worden sind, umschreiben den Typus der antiken Marmorstatue. Und unvermerkt bezeichnen sie damit auch das Lebensideal des antiken, an die Polis, die reine Gegenwart, die Geste gebundenen Menschen. Die Einheiten haben sämtlich den Sinn von Negationen: man verleugnet den Raum, man verneint Gegenwart und Zukunft, man lehnt alle seelischen Beziehungen in die Ferne ab. Ataraxia – in dem Wort könnte man sie zusammenfassen. Man verwechsle diese Forderungen ja nicht mit oberflächlich ähnlichen im Drama der romanischen Völker. Das spanische Theater des 16. Jahrhunderts hat sich dem Zwang »antiker« Regeln unterworfen, aber man begreift, daß die kastilianische Würde der Zeit Philipps II. sich davon angesprochen fühlte, ohne den ursprünglichen Geist dieser Regeln zu kennen oder auch nur kennen zu wollen. Die großen Spanier, vor allem Tirso da Molina, schufen die »drei Einheiten« des Barock, aber nicht als metaphysische Verneinungen, sondern lediglich als Ausdruck einer vornehmen höfischen Sitte, und Corneille, der gelehrige Zögling spanischer Grandezza, hat sie in dieser Bedeutung dorther entlehnt. Damit begann das Verhängnis. Die florentinische Nachahmung der maßlos bewunderten antiken Plastik, die niemand in ihren letzten Bedingungen begriff, konnte nichts verderben, denn es gab damals keine nordische Plastik mehr, die hätte verdorben werden können. Aber es gab die Möglichkeit einer mächtigen, rein faustischen Tragödie von ungeahnten Formen und Kühnheiten. Daß sie nicht erschien,[414] daß das germanische Drama, so groß Shakespeare ist, niemals den Bann einer mißverstandenen Konvention ganz überwunden hat, das hat der blinde Glaube an die Autorität des Aristoteles verschuldet. Was hätte aus dem Drama des Barock unter den Eindrücken der ritterlichen Epik, der Osterspiele und Mysterien der Gotik, und in Nachbarschaft zu den Oratorien und Passionen der Kirche werden können, wenn man niemals etwas vom griechischen Theater gehört hätte! Eine Tragödie aus dem Geiste der kontrapunktischen Musik, ohne die Fesseln einer für sie sinnlosen plastischen Gebundenheit, eine Bühnendichtung, die sich von Orlando di Lasso und Palestrina an und neben Heinrich Schütz, Bach, Händel, Gluck, Beethoven vollkommen frei zu einer eignen und reinen Form entwickelt hätte – das wäre möglich gewesen und ist nun ausgeblieben. Nur dem glücklichen Umstände, daß die gesamte hellenische Freskomalerei verloren ging, verdanken wir die innere Freiheit unserer Ölmalerei.

21

Vgl. Bd. I, S. 170.

22

Greizenach, Gesch. d. neueren Dramas II (1918), S. 346 f.

23

Vgl. Bd. I, S. 338 f., 344 f.

24

Vgl. Bd. I, S. 187.

25

Vgl. Bd. I, S. 169.

26

Das entspricht dem Bedeutungswandel der antiken Worte pathos und passio. Das letztere wurde erst in der Kaiserzeit dem ersten nachgebildet und hat sich im ursprünglichen Sinne in der Passion Christi erhalten. In frühgotischer Zeit erfolgt der Umschlag des Bedeutungsgefühls, und zwar im Sprachgebrauch der Spiritualen des Franziskanerordens und der Schüler des Joachim von Floris. Als Ausdruck tiefen Erregtseins, das nach Entladung strebt, wurde passio endlich zur Bezeichnung der seelischen Dynamik überhaupt, und in dieser Bedeutung von Willensstärke und Richtungsenergie 1647 von Zesen durch »Leidenschaft« verdeutscht.

27

Die eleusinischen Mysterien enthielten durchaus keine Geheimnisse. Jeder wußte, was dort vorging. Aber sie wirkten mit einer geheimnisvollen Erschütterung auf die Gläubigen und man »verriet«, das heißt man entweihte sie, wenn man ihre heiligen Formen außerhalb der Tempelstätte nachahmte. Zum folg. A. Dieterich, Kl. Sehr. (1911), S. 414 ff.

28

Vgl. Bd. II, S. 902 f.

29

Die Satyrn waren Böcke; Silen als Vortänzer trug einen Pferdeschwanz; aber die Vögel, Frösche und Wespen des Aristophanes deuten vielleicht auf noch andere Verkleidungen hin.

30

Das geschah in derselben Zeit, als mit Polyklet die Plastik über die Freskomalerei siegte, vgl. Bd. I, S. 363 f.

31

Das innerlich geschaute Bühnenbild der drei großen Tragiker ist vielleicht mit der stilgeschichtlichen Folge der Ägina-, Olympia- und Parthenongiebel vergleichbar.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 406-415.
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