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[640] Das antike Recht wird von Bürgern auf Grund praktischer Erfahrungen geschaffen; das arabische stammt von Gott, der es durch den Geist der Berufenen und Erleuchteten verkündet. Der römische Unterschied von jus und fas – deren Inhalt noch dazu stets aus menschlicher Überlegung hervorgeht – wird damit sinnlos. Jedes Recht ist, ob weltlich oder geistlich, deo auctore entstanden, wie die ersten Worte der Digesten Justinians lauten. Das Ansehen antiker Rechte beruht auf dem Erfolg, dasjenige arabischer auf der Autorität des Namens, den sie tragen.50 Es ist aber ein gewaltiger Unterschied im Gefühl des Menschen, ob er ein Gesetz als Willensausdruck eines Mitmenschen oder als Bestandteil der göttlichen Ordnung hinnimmt. Im einen Falle sieht er das Richtige ein oder weicht der Gewalt, im andern beweist er seine Ergebung (»islam«). Der Orientale verlangt weder den praktischen Zweck des Gesetzes, das auf ihn angewendet wird, noch die logischen Gründe des Urteils einzusehen. Das Verhältnis des Kadi zum Volk läßt sich deshalb mit dem des Prätors überhaupt nicht vergleichen. Dieser stützt seine Entscheidungen auf eine in hohen Stellungen erprobte Einsicht, jener auf einen Geist, der irgendwie in ihm wirksam wird und aus ihm spricht. Daraus folgt aber ein vollkommen verschiedenes Verhältnis des Richters zum geschriebenen Rechte – des Prätors zu seinem Edikt, des Kadi zu den Juristentexten. Jenes ist die Quintessenz von Erfahrungen, die er sich zu eigen gemacht hat, diese sind eine Art Orakel, das man in geheimnisvoller Weise befragt. Denn die praktische Absicht, der ursprüngliche Anlaß der Textstelle kommt für den Kadi gar nicht in Betracht. Er befragt die Worte und sogar die Buchstaben, und zwar nicht nach ihrer Bedeutung im alltäglichen Leben, sondern nach der magischen Beziehung, in der sie zu dem vorliegenden Fall stehen müssen. Wir kennen dies Verhältnis des Geistes zum Buch aus der Gnosis, der frühchristlichen, jüdischen,[641] persischen Apokalyptik und Mystik, der neupythagoräischen Philosophie, der Kabbala, und es besteht gar kein Zweifel, daß die lateinischen Codices in der niederen aramäischen Rechtspraxis ganz ebenso gebraucht worden sind. Die Überzeugung, daß der Geist Gottes in den Geheimsinn der Buchstaben eingegangen ist, findet einen sinnbildlichen Ausdruck in der schon erwähnten Tatsache, daß alle Religionen der arabischen Welt eigene Schriftarten ausbilden, mit denen die heiligen Bücher geschrieben sein müssen und die sich mit erstaunlicher Zähigkeit als Kennzeichen der »Nationen« behaupten, auch wenn sie die Sprache wechseln.

Die Wahrheit ergibt sich aber bei einer Mehrzahl von Texten auch im Recht aus dem consensus der geistig Berufenen, dem idjma.51 Diese Theorie hat die islamische Wissenschaft konsequent herausgearbeitet. Wir suchen jeder für sich die Wahrheit durch eigne Überlegung zu finden. Der arabische Gelehrte aber prüft und ermittelt jedesmal die allgemeine Überzeugung der Zugehörigen, die deshalb nicht irren kann, weil der Geist Gottes und der Geist der Gemeinde dasselbe sind. Ist ein consensus erzielt, so steht die Wahrheit fest. »Idjma« ist der Sinn aller frühchristlichen, jüdischen und persischen Konzile. Es ist aber auch der Sinn des berühmten Zitiergesetzes Valentinians III. von 426, das unter völliger Verkennung seiner geistigen Grundlagen die allgemeine Verachtung der Rechtsforscher gefunden hat. Das Gesetz schränkt die Zahl der großen Juristen, deren Text zitiert werden darf, auf fünf ein. Damit ist ein Kanon im Sinne des Neuen und Alten Testaments geschaffen, die beide ebenfalls die Summe der Texte enthalten, die als kanonisch zitiert werden dürfen. Bei Meinungsverschiedenheit entscheidet die Stimmenmehrheit, bei Stimmengleichheit Papinian.52 Aus derselben Anschauung ist auch die Methode der Interpolationen hervorgegangen, die Tribonian in großem Stil beim Digestenwerk Justinians angewendet hat. Ein kanonischer Text ist der Idee nach zeitlos wahr und also nicht verbesserungsfähig. Die tatsächlichen Bedürfnisse des Geistes aber ändern[642] sich. Es entsteht daher eine Technik der geheimen Abänderungen, welche die Fiktion der Unveränderlichkeit nach außen wahrt und die an allen religiösen Schriften der arabischen Welt, auch denen der Bibel, reichlich geübt worden ist.

Nach Marc Antonius ist Justinian die verhängnisvollste Persönlichkeit der arabischen Geschichte. Wie sein »Zeitgenosse« Karl V. hat er alles verdorben, wozu er berufen war. Wie im Abendlande der faustische Traum, von einer Auferstehung des Heiligen Römischen Reiches durch alle politische Romantik zog und noch über Napoleon und die fürstlichen Narren von 1848 hinaus den Tatsachensinn verdunkelte, so war Justinian von der Donquijoterie der Wiedereroberung des gesamten Imperiums besessen. Statt auf seine Welt, den Osten, hat er den Blick stets auf das ferne Rom gelenkt. Schon vor seiner Thronbesteigung hat er mit dem römischen Papst verhandelt, der damals unter den großen Patriarchen der Christenheit noch nicht einmal als primus inter pares allgemein anerkannt wurde. Das dyophysitische Symbol von Chalcedon wurde auf dessen Verlangen eingeführt – und damit gingen die monophysitischen Landschaften für immer verloren. Die Folge von Actium war, daß die Ausbildung des Christentums in den entscheidenden ersten zwei Jahrhunderten nach Westen, auf antikes Gebiet herüber gezogen wurde, wo die geistige Oberschicht sich von ihr ausschloß. Dann hatte der urchristliche Geist sich in Monophysiten und Nestorianern wieder aufgerichtet. Justinian stieß ihn zurück und beschwor dadurch den Islam als neue Religion und nicht als puritanische Strömung innerhalb des morgenländischen Christentums herauf. Und ebenso hat er in dem Augenblick, wo die östlichen Gewohnheitsrechte für eine Kodifikation reif geworden waren, einen lateinischen Kodex geschaffen, der im Osten aus sprachlichen und im Westen aus politischen Gründen dazu verurteilt war, Literatur zu bleiben.

Das Werk selbst ist wie die ihm entsprechenden des Drakon und Solon an der Grenze der Spätzeit und in politischer Absicht entstanden. Im Westen, wo die Fiktion der Fortdauer des Imperium Romanum die völlig sinnlosen Feldzüge des Belisar und Narses veranlaßt hatte, waren um 500 von den Westgoten, Burgundern und Ostgoten[643] lateinische Gesetzbücher für die unterworfenen »Römer« zusammengestellt worden. Dem mußte von Byzanz aus ein eigentlich römisches Gesetzbuch entgegengestellt werden. Im Osten hatte die jüdische Nation ihren Kodex, den Talmud, eben abgeschlossen; bei der ungeheuren Zahl derer, die im byzantinischen Reiche unter seinem Recht standen, wurde ein Gesetzbuch für die eigne Nation des Kaisers, die christliche, zur Notwendigkeit.

Denn das in seiner Abfassung überstürzte und technisch mangelhafte Corpus juris ist trotz allem eine arabische und also eine religiöse Schöpfung; das beweisen die christliche Tendenz vieler Interpolationen,53 die auf das Kirchenrecht bezüglichen Konstitutionen, die im Theodosianischen Kodex noch am Schluß, hier aber am Anfang stehen, und sehr nachdrücklich die Vorreden zu vielen seiner Novellen. Trotzdem ist das Buch kein Anfang, sondern ein Ende. Das längst wertlos gewordene Latein verschwindet jetzt völlig aus dem Rechtsleben – schon die Novellen sind meist griechisch geschrieben – und mit ihm das törichterweise darin abgefaßte Werk. Die Rechtsgeschichte aber setzt den Weg fort, den das syrisch-römische Rechtsbuch gewiesen hatte, und führt im 8. Jahrhundert zu Werken in der Art unsrer Landrechte des 18. Jahrhunderts, wie die Ekloga des Kaisers Leo54 und das Corpus des persischen Erzbischofs Jesubocht, eines großen Juristen.55 Damals lebte bereits der größte Jurist des Islam, Abu Hanifa.

50

Daher die fingierten Verfassernamen auf zahllosen Büchern aller arabischen Literaturen: Dionysius Areopagita, Pythagoras, Hermes, Hippokrates, Henoch, Baruch, Daniel, Salomo, die Apostelnamen der vielen Evangelien und Apokalypsen.

51

M. Horten, D. rel. Gedankenwelt d. Volkes im heut. Islam, S. XVI. Vgl. Bd. II, Kap. III, I.

52

R.v. Mayr IV, 45 f.

53

Wenger, S. 180.

54

Krumbacher, Byzantinische Literatur-Geschichte, S. 606.

55

Sachau, Syrische Rechtsbücher, Bd. III.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 640-644.
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