Allgemeines Kulturwerden

[82] 1


Das Entscheidende ist das Weltgefühl, wortlos, instinktiv, das Ausdruck findet in Sitte, Grab, Waffe, Staat, Religion, Weltbild. Das ›rassehafte‹ Weltgefühl trennt die Vorkulturen. Es ist das gefühlte Verhältnis der Einzelseele zu andren, zur Welt, zum Leben. Das spricht sich in [der] Sitte (Grab, Kampf, Verhältnis zu Tieren) und [im] Stil des Lebens aus. Nordischer Pantheismus: Individualnamen für Haustiere (das Pferd, der Hund), Geräte (Schwert). Stellung zu Tieren. Im Westen [ist] das Tier eine Sache, im Norden ein zugehöriges Wesen.

Die religiösen Uranschauungen (Weltanschauung) [sind] Ausdruck des Weltgefühls.


2


Es gibt zwei überlegene Arten der Menschen, die bloße Bindung an die Erde zu überwinden: sich von ihr befreien durch das Meer (heute den Flug) und sie beherrschen durch Beweglichkeit (Pferd, Auto). Eine neue geistige Luft weht über diesem Leben, nicht mehr die dumpfe der Sklaven der Notdurft, des Bodens.


3


Mutationen sind Katastrophen, die plötzlich und geheimnisvoll eintreten. Es sind Formen der Erscheinung, die man nicht begreift. In der Menschengeschichte folgen sie sich immer schneller vom Beginn[82] der Menschwerdung bis zu den Hochkulturen. Man darf aus dem Nacheinander der Erscheinungen keine ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ herauslesen.


4


Mit Beginn des ›geistigen‹ Wachseins tritt eine ›innere Ferne‹ zwischen den Menschen eines Wir ein, und die sympathetischen Gefühle, die einst mit dem Wirgefühl identisch waren, wahllos, allumfassend, werden nun zu Wahlverwandtschaften zwischen Liebenden: der Mann wünscht dieses Weib zu umarmen, und zwischen Kameraden: Beginn der Freundschaft.

Sprechen als Brücke zwischen Ichs.


5


Menschenerde‹: Von nun an ändert sich der Aspekt vor dem verstehenden Auge: Nicht mehr nur der Hintergrund einer Welt, von der sich wechselnd die Lagen und Eindrücke Aufmerksamkeit erweckend abheben, sondern zwei Welten: die ›Natur‹ als Erde mit dem Himmel darüber, Ebene, Wald, Fluß, Meer, Gebirge mit Pflanzen und den Tieren, die fliegen, schwimmen, wandern – und als zweites, im Vordergrund gleichsam, die ›Menschenwelt‹, das Gewimmel ›meinesgleichen‹, in einem Tun begriffen, wie ich es selbst tue, das die Erde füllt, hinter den Bergen sich fortsetzt ... Diese geschaute Welt: enger, täglicher, aber die Welt, welche den Menschen ›kennt‹, weil sie in natürlichen Grenzen in irgendeiner gefühlten Gemeinschaft lebt: die Bevölkerung einer Insel, eines Tals, einer Ebene. Noch heute: Bretagne, Bayerisches Oberland. Man sieht sich näher, man versteht sich besser, man spricht seine eigene Sprache mit Dialekt.


6


Incipit tragoedia: Theorie gegen Praxis: das Ahnen und Schauen wird zum Hang und greift in das Tun ein. Vom Vorstellen des Gewesenen[83] und Künftigen zur Idee ›Zukunft‹ und den Mitteln, sie zu kennen und zu ändern. Vom Vorstellen des (Jenseits des Gesichtskreises) zur Idee der menschenbewohnten Welt rings um das Hier. Hier entsteht das Wir: Ich in der unendlichen Welt.

Von der Theorie zum Kult: Tabu. Bedürfnis der Ausdruckssprache in Symbolen gleichzeitig mit dem Aufstieg begrifflichen Denkens (selten) [ist] Grammatik. Von der Grammatik zur Syntax: Gewöhnung an abstraktes Denken und Mitteilen: Bezogensein auf Gesehenes statt Bedeutung des Gesehenen. Eine abstrakte Begriffswelt statt der Schau: darauf bezieht sich syntaktisches Sprechen. Bestattungstypen (Riten).

Wertung des Lebens. Vom Tun zur Einzeltat. Später zur kultischen Einzelhandlung. Tabumoral: ›gut und böse‹ auf das Verhalten angewandt.

Von der Furcht vor möglichem Unglück zum Einblick in den Jammer des Lebens überhaupt: Leben als Schicksal. Seele, Schau, Ahnung im Chor. Empfindendes Verstehen jeder für sich. [Von der] Seele [auf die] Welt [gerichtet]: zentrifugal. [Von der] Welt [auf die] Seele [gerichtet]: zentripetal.

Mythische Gesamtdeutung der Welt (Zeitalter der Götterangst, Tagdeutung, Sonne).


7


Ethik, Literaturgeschichte: Die nordische Seele [ist] vornehm, grüblerisch. Nur die männliche. Weibliche Seelen (und Geist) sind anders. Deshalb versteht nur der Mann den Mann. Freundschaft. Deshalb ›patriarchalische‹ Ordnung, Männerstaat, Männerkunst. Was ist Weiberkunst? Handarbeit. Die nordische Seele ist extrem männlich. In Tat und Grübelei. Diese Seelenkämpfe kennt das Weib nicht. Nur das dekadente, nicht gebärtüchtige Weib, die Nicht-Mutter, strengt ihr kleines Hirn an zur Beschäftigung mit Männerfragen.[84]


8


Die nordische Seele [ist] von Natur einsam, deshalb grüblerisch. In Kasch und Atlantis grübelt man nicht. Man deutet sinnlich Faßbares, von außen her, im Räume. Nur der Norden – Indien, China, Antike, Abendland – zerfasert gedanklich von innen heraus.

Das Seelenleid kennen Ägypter und Babylonier nicht, nur das äußere Leid, Krankheit, Tod, Armut. Diese Seelen leben in Sonne. Die einsame Seele des Nordens grübelt in der Nacht. Seelenqual. Welchen Sinn hat das Dasein, das Leiden für mich im Gegensatz zum All? Jesus hatte von solchen Fragen keine Ahnung. Gewissen, Reue, Buße haben im Norden einen Sinn, dessen Tiefe dem Süden unzugänglich bleibt. ›Seele‹ hat einen andren Klang. Seelenkämpfe – wo gibt es die in Ägypten und Babylon, im Alten Testament, in den Evangelien?

Es ist Unsinn, à la Ibsen und Nietzsche da den Gegensatz Christentum und Heidentum hineinzutragen. Es handelt sich um den Gegensatz Adel und Priester. Beide sind Priesternaturen, die den Adligen beneiden, weil er tut und nicht grübelt.


9


Mit dem Sprechen und der Gewohnheit des sprachgebundenen Denkens beginnt die Strafe der Neugierde, die Jagd nach Neuem, Enthüllen, Alles wissen wollen. Die Neuigkeit, der Klatsch. Die Händler [sind] willkommen als die Bringer des Neuen – Lügen. Seefahrer, Jäger. Klatsch von Nachbarstämmen. Alles, was heute der Telegraph, [die] Zeitung, [der] Rundfunk bringt, [gab es] schon damals, nur das Tempo ist anders.

Ebenso Neugier – was hinter den Bergen, jenseits des Meeres ist. Das Unsichtbare kennen wollen. Was hinter dem Mond und den Sternen steckt. Was hinter dem Tod und vor der Geburt liegt. Was ›einst‹ war oder sein wird. Es war einmal. Großvater hat erzählt – –

Endlich, was hinter den Dingen steckt. Wissenschaftliche Neugier.[85]


10


Causa ist ›Macht‹. Aber in der Art, eine causa zu denken, scheiden sich die Kulturen als innere Formen des gesamten menschlichen ›Lebens‹. Ist der Pfeil die Macht oder sitzt sie in ihm oder in der Tatsache des Spannens des Bogens oder im Arm oder im Willen des Schießenden oder außerhalb?

Die menschliche Seele [ist] von Fall zu Fall anders, verändert. Philosophie sucht einheitlich zu formen, vergebens. Es gibt herrschende typische Unterschiede im kausalen Denken.


11


Grausamkeit: Wenn es ›etwas zu sehen gibt‹, Brand, Blut, Jammer, Zerstörung, würden selbst Petrus und Paulus die Menge nicht mehr fesseln, und wenn sie mit Engelszungen redeten. Das ist ein Urinstinkt der Menschen, aber ein rein menschlicher. Sensation, Neugier, Gruseln – was ist das? Eine geistige Verderbnis ursprünglicher Gefühle? Darauf beruht die Dichtung, das ›Bild‹, die öffentliche Schaulust, gesellschaftliche Sitten, Zerstreuungen, Ereignisse, welche die Seele mitreißen, Film, Gladiatoren. Wir haben das Amüsement für die Freude eingesetzt. So unterscheidet sich der Tanz ursprünglicher Rassen von dem der großen Städte.


12


Durchgeistigung der Triebe‹: Die Triebe werden speziell – mit dem Ansteigen von Sprache – Technik – Geist – Organisation. So z.B. der Lebenswille zur Macht im Pflichtgefühl, Erwerbssinn, Befehlen, Grausamkeit, Belehrungseifer, Missionswut, Bekehrung, Ehrgeiz, Herrschsucht, Unabhängigkeitsdrang, Gerechtigkeitssinn, Wahrheitsliebe, Forschungsdrang, Erkenntniswille, Überzeugungseifer. Und alle diese können in Gegensatz zueinander treten: Großmut gegen Gerechtigkeitswille, ›Haben wollen‹ gegen Mitleid (innere Überlegenheit über die Getrösteten), Kampf zwischen Pflicht und[86] Neigung, Liebe und Haß, Tragödienstoffe! Alles das ist durchgeistigt. Die ungeistigen Formen z.B. sind Sättigungs-, Vernichtungs-, Geschlechtstrieb, Machttrieb, Zerstörungstrieb. Durchgeistigte Triebe gehören zum durchgeistigten Willen, elementare Triebe zum Elementarwillen. Das ist der Unterschied zwischen durchgeistigtem Innenleben (Kulturmensch) und elementarem: Wissende Wünsche und blindes Begehren. Der Held ist der nordisch-durchgeistigte Typus, während Ägypter und Babylonier erst die Vorstufe sind. Diese haben das Weltbewußtsein, jener [hat] das Selbstbewußtsein: er durchschaut seine Stellung in der Welt. Im Bauerntum (c) bleibt es unentwickelt. Die Hochkultur entwickelt es in großer Form. Antike: Wille zum Sein. Indien, China, Faust: Wille zur Ferne. Geschichte: da toben die durchgeistigten Triebe.


13


Seele: Es wird nicht mehr möglich sein zu fragen: Entsprach diese Tat der menschlichen Seele?, sondern: Entsprach sie der damaligen Seele? Es stellt sich heraus, daß die menschliche Seele eine Geschichte hat und daß diese mit der Weltgeschichte eins ist: der Form nach. Ich werde eine historische statt der systematischen Psychologie beginnen. Ich frage nicht nur: Was ist Ehrgeize, sondern: Wann ist er aufgekommen? Die Götterangst im 5., der Ehrgeiz im 2. Jahrtausend. Seelengröße, die von einem Punkt aus von Seele zu Seele aufflammend unterging. Und wenn Ruhmsucht, Tapferkeit, Ehrgefühl in einem bestimmten Zeitpunkt aufkamen und von da aus die Geschichte bilden halfen, deshalb ist diese Geschichte das Abbild der Seelengeschichte. Nicht aus heutigen Menschen schöpft man das Werden der Seele, sondern aus historischen Menschen.


14


Seele: Zu den durchgeistigten Gefühlen gehören Stolz, Treue, Hochmut, Verachtung. Es tauchen zuletzt die auf, welche mehr Geist als Seele enthalten und in denen das Heldentum von innen heraus zernagt wird: Zweifel, Spott, Verachtung der Welt des Menschen,[87] Zweifel am Ich, an Gott, an allem. Hoffnungslose Schwermut, Grinsen, Sinn für Komik. Es gibt eine Skepsis, die tötet. Aus ihr sind Don Quixote, Mephisto entstanden, so daß die höchstmögliche Lösung noch der Humor ist. Skepsis, Ekel, Zweifel, Spott, Langeweile: die Hyänen, welche das menschliche Herz zernagen. Die Tiefe der Fähigkeit zu leiden nimmt ab. Die Seele verdorrt. Es gibt nur noch Gram um verlorenes Geld, Freude am Grammophon, Wut über schlechte Kurse, Liebe zum Bubikopf.


15


Das Leid ist der große Erzieher, der Wohltäter der Menschheit. An ihm ist sie gereift. An ihm lernte sie Stolz, Ruhm, Tapferkeit, Ehrfurcht. Das Unglück überwinden oder ihm entfliehen – damit scheiden sich edle und gemeine Naturen. Denn was dem Leiden auf dem Fuße folgt, dem umgangenen Leid, ist die Leere.


16


Das große Kapitel über die tragische menschliche Seele der c-Kultur: die durchgeistigten Züge. Grausamkeit, Mitleid, Liebe (Romeo), Haß, Stolz. Noch später, mit dem ›Dennoch‹ des Heldentums, die Züge der Ehre, Rache, Tapferkeit. Schwermut: ein gefangenes Tier geht ein, ein Held leidet.

Grausamkeit und Mitleid: Mitleid, Entsagen, Askese als feiner Selbstmord, das Tragische als Selbstquälerei. Die ganze Dichtung des ›Volks‹ (Volkslied, Tanz) mit seiner Schwermut ist süße Qual. Denn niemand wütet gegen andre, der nicht auch sich selbst quält. Hier entsteht die Melancholie als c-Temperament. Hier auch die Idee des Verbrechens – des bewußten Brechens der geheiligten Form.


17


Epoche‹: Das ist der große Begriff, ohne den das Werden des wissenden Menschen nicht faßbar ist. Im seelischen Sein hegt um 5000[88] eine große Epoche: das Heraustreten aus der mystischen Allverbundenheit (die im Dunkeln Wesensbilder des Mammuths zauberte) in das Licht kausalen Wissenwollens – eine Verarmung der unnatürlich gewordenen Menschen, eine Verstoßung. ›Epoche‹ [steht] am Anfang jeder Kultur. Epochen sind immer seelische Mutationen; geschichtliche Epochen sind nur deren geistig faßbarer Niederschlag: ein Anderserscheinen.


18


Ich zeichne also das Bild der Seele nicht physikalisch, sondern historisch: Da sie keine Sache, sondern ein Vorgang ist und da alle menschlichen Seelen aller Zeiten einen einzigen Vorgang höherer Ordnung darstellen, in dem durch lange Folgen von Generationen hindurch Züge auftreten, sich verbreiten, verändern und schwinden, so hat sie nicht Teile, sondern Epochen. Sie hat allgemein animalische, urzeitliche, dann menschlich vorhistorische, endlich historische Züge im Wesen und Wirken.

Es gibt animalische, historische Arten der elementaren Angst und Sehnsucht. Stolz, Gefühl der Nichtigkeit, Grausamkeit und Mitleid sind historische Züge. Es gibt einen animalisch-elementaren Willen, eine Lebenstendenz, und historische Artungen des Willens: faustisch, apollinisch, magisch: denn historische Züge sind nicht nur durch die Stufe der Kulturart bedingt, sondern auch durch den Stil der einzelnen Kultur.


19


Seele: Welches sind eigentlich die schöpferischen Züge der historischen Seele? Neugier, Schadenfreude, Grausamkeit, Verleumdung, Lüge: darauf beruhen Theater, Sport, Zeitung, Parteiwesen, Konversation und soziale Fragen. Das Gegenteil davon ist so selten, daß Ausnahmen sprichwörtlich werden.[89]


20


Seele: Das furchtbarste Gefühl überlegener Naturen ist die Verachtung, denn sie weist dem Gegner seinen Rang an. Die Verachtung macht den andren nicht lächerlich, sie beschimpft, quält, unterdrückt ihn nicht, sondern sie übersieht ihn. Er ist nicht mehr da. Es scheint, daß erst das Heldentum, nicht die ägyptischen, babylonischen Könige zu verachten verstanden haben: vielleicht die Hethiter. Verhöhnen ist nicht verachten.


21


Seele: Zum Distanzgefühl gehören die Thersitesgefühle: Ohrfeigen lächelnd einstecken und sich hinterher mit dem Maul rächen, Lakaien-, Pöbel-, Proleten-, demokratische Gefühle (selbst vor dem Geld, der Menge, der Mehrheit auf dem Bauche liegen).

Das hat Homer, als Literat, glänzend zu schildern gewußt, aber er wußte die Verachtung der Überlegenen nicht zu zeichnen: denn der Skalde ist selbst eine Thersitesnatur. Man ruft ihn, wenn man sich langweilt, man schickt ihn fort, wenn er lästig wird. Darauf beruht alles literarische Geldverdienen.


22


Seele: Es gibt zwei Arten von Egoismus. ›Ich bin wertvoll für die Kultur‹. ›Ich bin mir selbst wertvoll‹. Das ist vornehm und gemein. In den Weltstädten herrscht das zweite: panem et circenses, Ibsen, Stirner, Demokratie, Sophisten. In altem Geschlecht das erste (Rom, England, Preußen, Adel).

Die aristokratische Gesinnung schätzt die Persönlichkeit nach ihrem Wert für die Sache (Stand, Herr, ›Ich dien‹), die demokratische will jedem den Genuß seiner Person sichern. Pflicht (Verbundenheit) – Freiheit. Der Aristokrat fühlt sich verpflichtet durch Haltung, Tun, Form, der Sache zu dienen, der er gehört. Seinen Rang und Reichtum ist er deshalb verpflichtet zu wahren und zu mehren; in ihm wird die Sache gehoben: Repräsentation. Der Parvenü, Geistesadel dagegen[90] lebt sich selbst zum Vergnügen, äfft nach. Stolze Einsamkeit – eine verlorene Sache repräsentieren.

Das alles ist Polarität der nordischen Seele allein (China, Indien, Antike). Der Aristokrat fordert mit gutem Gewissen selbstverständliche Unterwerfung, Gehorsam, weil in ihm die Sache lebt. Das extreme Gegenteil ist die Weltanschauung des Großstadtpöbels vom reichen Parvenü bis zum Arbeitslosen: Genießen auf andrer Kosten.


23


Lachen: Das bloße freudige Lachen des Kindes, der Gegensatz von Weinen, ist urmenschlich. Im Zeitalter des Sprechens hat sich das Lachen mehr als das Weinen differenziert, durchgeistigt. Das gefällige, höhnische, schadenfrohe, ärgerliche Lachen: eine ganze Sprache voller Seelenoffenbarung, die man nicht gern wahrhaben will. Verzweifeltes Gelächter und Freudentränen.


24


Zeitalter der großen Fragen: Hierhin gehören die Rätsel und Scherzfragen, eine Hauptsache uralter Poesie, Reiz des Spielens um die Geheimnisse: Man empfindet die Antwort als Genuß, ein Dunkles erhellt zu haben, seelische Entlastung; Fragen ängstigt. Vor allem Zahlenrätsel: Wieviel, wie oft, wann: Das Geheimnis der Zahl ist drückend, rätselhaft.

Die Tierfabel malt zum ersten Mal Seelenzüge: bewußt erwachende Physiognomie. Das Rätsel ordnet. Zeitalter der symbolischen Antworten. Theorie: Schauen und Ahnen, sinnlich exakte Fantasie. Die Ahnung des Zahlenmäßigen ist anschaulich. Ebenso ist die Fabel eine Symbolik seelischer Vorgänge in Gestalt und Tun. Tiersymbolik. Ebenso sind die Rätsel Ergebnis drängender Einbildungskraft.


25


Auch im Mythus sind Schichten zu unterscheiden: Rätselartige Mythen, in denen Dinge, Vorgänge, Daten als Wesen (Tier, dann[91] Menschen) erscheinen, ohne anorganische Logik, ganz zuletzt erst eine geordnete Mythenwelt, in welcher die Erzählungen einigermaßen in ein festes Gesamtbild passen. Wie das primitive Weltbild aussah, kann man aus den Märchen und Fabeln altertümlichster Gestalt schließen: selbst rätselhaft, widerspruchsvoll, ein Alp, voll unlogischer Schrecknisse, ein Fiebertraum, nicht viel anders als die Träume heutiger geistiger Menschen. Wie aber hat man damals geträumt? Offenbar hat man die wache Welt nicht sehr viel anders gefunden und Erfahrungen von hier nach dort übertragen.

Die erste Frage ist hier nicht: Was ist das Schauen, sondern wann gibt sich der frühe Mensch dem Schauen hin? Deshalb unterscheiden: Schauen des tätigen und untätigen Menschen. Was gibt den Anstoß zur ›Theorie‹? Stillung von Trieben: Kraftgefühl, Gefahr. Hunger, Zorn und Angst: vor Naturgewalten und feindlichen Wesen, erst nur [vor] Tieren.


26


Erst mit dem Verlust der Allverbundenheit entsteht der Drang nach ›Beziehungen‹. Die Horde ist mit dem All und damit auch mit andren Horden, Tieren, Bergen, Wasser verbunden. Nun, mit der Verstoßung aus diesem Einssein, tritt an die Stelle steter Verbundenheit die gesuchte und hergestellte, stets künstliche und lösbare ›Beziehung‹ in Gestalt von Sprechen, Verkehren, später in die systematischen Beziehungsformen Staat, Religion gefaßte Beziehungsbereiche. Auch die Religion ist die Beziehung zwischen Wesen in sich und Wesen da draußen (droben, drunten). ›Ich und Du‹, ›Wir und Ihr‹ sind Beziehungen. Beziehungen haben kausalbewußtes Gepräge. Die Urbeziehung ist noch symbolischer, nicht begrifflicher Natur, also erkannt, aber noch nicht ›erklärbar‹. So auch die Urkunst, deren Schöpfung man versteht, aber nicht als Kunstwerk fassen kann.


27


Das Verhängnis der Zahl: Solange es kein Ich gab, nur ›Rasse‹, gab es einen sehr edlen Durchschnitt bei kleiner Zahl. Das Mindere entwich.[92] Das Massenhafte ist aber die Vermehrung nach unten, nicht der Spitze, sondern der Basis. Daher der enorme Unterschied des inneren Ranges: Während das Edle, absolut gezählt, nicht häufig war, verliert es sich mehr und mehr in dem Schlamm der Gemeinen (der ›Gewöhnlichen‹ in dem sehr richtigen Doppelsinne von Durchschnitt und Gemeinheit). Massenvölker. Massenstädte.

Damit sinkt der Wert der Rasse homo. Vielheit ist Gemeinheit (da das ›Ich‹ an sich schon etwas Exklusives ist): flach, unedel, dumm, eng – gemessen am Idealtyp.


28


Ganz entscheidend ist die seelische Formung durch die beständigen Eindrücke der Dichte, der ›Menschenerde‹. Es gibt keinen Zug der Entwicklungsgeschichte der Seele so wenig wie der ›Weltgeschichte‹, der nicht mitbestimmt wäre durch die Tatsache der Menschenzahl.

Was ist Geschichte und was ist Weltgeschehen? Geschichte der ›Menschenerde‹ – – aber dazu muß das Bewußtsein der Menschenwelt nicht nur vorhanden, sondern in der Formensprache des Lebensausdrucks wirksam geworden sein: die Tatsache, daß überall Menschenmengen wohnen, sich berühren, so daß Verlorenheit einer Horde im Raum schon als Ausnahme, befreiend oder beängstigend, empfunden wird.


29


Das Wir ist das Erlebnis der Einheit des Fühlens und Wollens, das Ihr das Erlebnis der Gegnerschaft im Meinungsstreit. Ursprünglich ist der Stamm, dem man angehört, die Welt. Erst langsam [reift] die Erfahrung ›ein Stamm unter andern, etwas in der Welt‹.


30


Erfahrung‹: Es fängt an mit der Erfahrung des Raubvogels, des brütenden Tiers, der weidenden Kuh, des Jägers, Kriegers, des schwangeren Weibes, des Händlers, Schmiedes und endet beim Medizinmann[93] und Philosophen. Denn was in den Büchern steht, ist die an Worten haftende Erfahrung des gewerbsmäßigen Grübelns, der Schalttafelerfahrung des Naturforschers. Beim Urteilen wie beim Schießen kommt es auf den Standpunkt an. Der ›Ort‹ entscheidet über das Ergebnis. Eine andre Art von Kritik gibt es nicht, und aller Weisheit Schluß und Abschluß ist, daß man das einsieht. Krieg und Disputation (mit ›geistigen‹ Waffen). Es kommt letzten Endes doch allein auf die Taktik an, nicht auf die Gründe, sondern darauf, was [man] wechselseitig als Gründe anerkennt, vorschiebt; ein Komment gehört dazu, ein Ehrenstandpunkt, kitzlige Regeln, Voraussetzungen, Standorte der Kämpfer; und über das alles entscheidet zuletzt doch wieder die Rasse, weil sie die Mittel wählt, die Listen, Fechterzüge. Überall tierische Züge (Brehm).


31


›Mongole‹ [ist] ein physiognomischer Typ, nicht Knochen-, sondern Muskelform, also seelisch entstanden. Die Muskelform zieht aber die Knochen mit sich. Also entsteht diese Art von Rassen in der Epoche der Weltanschauung, der Grammatik. Haar, Kiefer, Augenfarbe folgen der Mimik. Grandioses Bild, wie die Physiognomik die Rassen nicht nur verstehen lehrt, sondern erzeugt. So entsteht innerhalb der Rasse ›Mensch‹ der Typ ›Menschenrasse‹, der dann starr geworden ist. Die Syntax beeinflußt nur noch das Mienenspiel, nicht Gang und Muskeln.

Also liegen vor Mongolen, Kaukasiern die Urformen physiognomischer Rassen, noch früher physiognomieloser Massen. Einfluß der Landschaft auf diese Typen, Schädelform.


32


Wie am beweglichen Leibe schon in Urzeiten der Tiergeschichte das Gesicht über Witterung, Gehör etc. siegt! Das Auge ist der Ursprung des Kopfes, schon bei sehr niederen Arten. Der Typus der Glieder- und Wirbeltiere ist aber vollkommen davon beherrscht. Beim[94] Menschen folgt nun die Tyrannei des wissenden Auges – im Süden, im Zeitalter der großen Mythologie. Das Nach-denken hat optischen Charakter, innere Bilder.


33


Die archaischen ›Städte‹ [sind] Burgen oder Märkte. Dann Sondermärkte für bestimmte Artikel am Fundort: Salz, Fisch, Metall, Holz, Felle. Entwicklung von Marktordnung, -frieden, -recht. Fernmärkte: Rheintal I. Hälfte des 2. Jahrtausends, Donautal um 1000, mit Richtung dort nach Ost, hier nach Süd. Hausierer.

Unter Dagobert I. (628–38) war die Messe des hl. Dionys (St. Denis bei Paris) in Westeuropa weltberühmt. London [war] damals der Viehmarkt von Kent. Ebenso sind die urägyptischen und babylonischen ›Städte‹ z.T. große Märkte gewesen. Ebenso Karthago, Massilia, Smyrna.

Die ganze Siedlungsgeschichte des östlichen Mittelmeeres, die Assyrer (Kültepe), Hethiter, Karer, Jonier – alles ist Marktgeschichte.


34


Wanderursachen, c-Kultur: Sie sind letzten Endes stets tief seelischer Natur. Was man ›Überbevölke rung‹ nennt, führt das materielle Zweckdenken von heute auf wirtschaftliche Not zurück, aber ›Not‹ ist seelisch ein sehr schwankendes Gefühl. Die dürftigste Lebenshaltung vieler Alpendörfer wird nicht als Not empfunden – das denkt sich der Städter nur hinein. Der Pöbelbegriff ›Not‹ der großen Städte entsteht aus Seelenlosigkeit; das Entbehren bezieht sich also nur auf Essen, Wohnen und Amüsement. Aber ein sehr tiefes Moment ist der seelische Druck des Zudichtwohnens, der Menschen-Enge. Das wird im Norden mit seinem Weitengefühl als furchtbar empfunden. Man geht davon, um wieder allein zu sein mit seinem Stamm. Man fürchtet das Herdenmäßige. Das ist das echte Motiv nordischer Wandertendenzen, das immer heftiger von Jahrtausend zu Jahrtausend wirkt.

Quelle:
Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. München 1966, S. 82-95.
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