Einige Ausblicke

[478] 129


Mit der Kulturseele beginnt die Menge unlösbarer tragischer Konflikte, die von der Heldenkultur auch ausgefochten werden, tragisch, während der Süden ihnen ausweicht. Denn Heldentum besteht nicht nur vor leiblichen Feinden, sondern auch vor seelischen Lagen. Zum Heldentum gehört die Mannestreue überall, Lehnstreue, Eidestreue, in China, Indien, [der] Antike, [dem] Abendland. Treue bis in den Tod gegenüber der Pflicht gegen Vaterland, Herrscher, Sache, Partei, Religion, Familie, Idee, Unternehmen. Kameradschaft. Poesie der Vaganten, Landsknechte, Gilden, Adeligen, Studenten: germanisch oder überhaupt ›Heldentum‹. Dazu gehört, daß die ›Familie‹, das Weib,[478] hinter dem Stand, dem Mann, zurücksteht. Patriarchat heißt eigentlich ›männliche Kultur‹, nicht ›Männerrecht‹, sondern ›Männer unter sich‹. Der Rationalismus (code civil) zerstört bewußt alle diese Formen.


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Zu Beginn der Hochkulturen erwacht meistens das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, das sich in der Tendenz auf politische Einheit mehr oder weniger stark ausspricht. In Ägypten hat die Einheit eine [solche] Stärke erhalten, daß der Zerfall in die ursprünglichen Stammeseinheiten (Gaue) die Ausnahme bildet; in Babylon ist sie die Regel, in [der] Antike ein Wunsch, der in dem Namen Hellenen und in der Gestaltung der Trojasage als eines panhellenischen Unternehmens zum Ausdruck kommt. [In] China [steht] die Idee des Kaisertums am Anfang der Dschoudynastie. [Im] Abendland Karl der Große. Hätte er einen begabten, langlebenden Nachfolger gehabt (Augustus, Ludwig XIV.), so gäbe es kein Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, sondern eine westliche Einheit mit irgendeiner (lateinischrustikalen?) Einheitssprache und darunter Landschaften: Sachsen, Bayern, Lombardei, Burgund, Aquitanien, Franken usw.


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Rußland [steht] seit der Warägerzeit zwischen d-Kultur und c:Mittelasien. Geist Chinas, Indiens. [Die] Völkerwanderung [hat sich] nach Amerika fortgesetzt. Zum Teil atlantisch – Schiffahrt –, zum Teil turanisch – Landnahme. Ritterlich [und] händlerisch.


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Einleitung: c-Kultur (kurz): 3 c-Kulturen. Damit beginnt die ›Weltgeschichte‹. Warum? Schluß: Rasend kurzer Überblick über die Geschichte der Hochkulturen von 3000 bis heute. Genial, kurz, tief, glänzend. Dazu ganz kurz Sprachen-, Völker-, Rassengeschichte.[479] Kriegs- und Staatengeschichte. Tragödie des menschlichen Willens, der Imperativ seines Gesamtlebens bis zum Ende. Wie d-Kulturen.


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Der westeuropäische Sozialismus ist entweder Wille der Masse, die andern zu unterdrücken – Weltstadt, physiognomielos, Zwang –, oder edler: Ordensgeist – freiwillig sich entäußernd, eines Zieles wegen, Gefolgschaft für Lohn. Treue, Verrat.


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Götterloses Schicksal: Ein Gott hat eine feste Gestalt, die man abbilden kann, einen Charakter, eine Denkweise; Leib und Seele also. Gottvater hat einen Vollbart, Maria Brüste, ein Antlitz. Die ganze Künstlichkeit und Leerheit modernen Denkens bei der Frage, ›ob Gott existiert‹. Als was? Dem westlichen Katholiken [ist das] ganz klar: als Person. Theismus: dem ist Gott ein leerer Schall: Welt, Weltseele, Natur, All. Der Glaube an einen persönlichen Gott ist immer der an mehrere solche Wesen. ›Gott‹ ist heute ein leeres Wort, hinter dem sich die Unaufrichtigkeit moderner Seelen vor sich selbst versteckt. Ein Gott ist kein Gott.


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›Europa‹ ist überhaupt kein Erdteil wie Asien und Afrika, sondern eine Halbinsel des ersten, gegenüber dem anderen. Wenn die Kulturwelt des Abendlandes seit Karl dem Großen ihr Wohngebiet als die Mitte der Weltgeschichte auffaßte, so hatte sie in steigendem Maße recht: die Geschichte der Welt hat seit 1000 ihren Schwerpunkt mehr und mehr dort. Wenn ihre Gelehrten aber von diesem Horizont aus die gesamte Entwicklung der Menschengeschichte, Kunst, Sprache, Rasse, von dort aus konstruierten, so war das Unsinn und Hochmut, derselbe Hochmut, der die Denker aller Hochkulturen beherrschte, denn die Ägypter, Babylonier, Antike, Chinesen sahen genau[480] ebenso die Vergangenheit von ihrem geographischen Standort aus. Heute erst, wo der faustische Geist die Weltkugel umfaßt, ist das zu eng geworden. Wir müssen nicht nur begreifen, sondern auch die Folgerung daraus ziehen, daß Westeuropa kein natürlicher Mittelpunkt ist und in seiner Bedeutung vor der abendländischen Kultur für die Weltgeschichte sehr gering war.


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Es ist naiv anzunehmen, daß ›Europa‹, eine kleine Halbinsel von Asien, der Mittelpunkt der Weltgeschichte seit Urzeit gewesen sei, weil wir heute auf ihr sitzen. Freilich, da alle Arbeiten über Prähistorie europäische Karten Europas und [da] meist nur Westeuropa zeigen und das heutige geographische Denken der abendländischen Gebildeten von der Gewohnheit Landkarten zu sehen abhängig ist, so endet der Horizont des Denkens in den Gebieten Rußlands.


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Grandioses Bild: Der alte Westen und seine Seefahrt (c) langsam verfallend. Blütezeit der großen Bauten: Die ägyptische Kultur, also etwa 3. Jahrtausend. Seefahrerwelt im 2. Jahrtausend vom Mittelmeer und Bohuslän nach Osten dringend, hier eine späte Mondscheinblüte: Kafti. Nun die gewaltige Binnenlandexpansion: Asien mit der Halbinsel Westeuropa. Die Seegewalt zurückdrängend: Antike, Imperium Romanum, rein binnenländisch. Aber seit Christi Geburt seefahrende ›Germanen‹ von den alten Stätten des Westens her, Megalith. Im Osten Japaner, Stiller Ozean. Araber und Normannen beherrschen das Mittelmeer. Malaien. Es bildet sich ein Ring von Seevölkern um den Kontinentalblock. Während Dschingiskhan eine Zusammenfassung dieses Blocks versucht, entfalten die alten Megalithgebiete ihre Tendenz noch einmal: Wikinger, Portugal, Spanien, Holland, England – die Venezianer nur in ihrem Teich –, stoßen nach Indien, Ostasien, nach Amerika ([erstmals die] Wikinger) vor. Die Seemächte sind jetzt[481] größer als die Landmächte. Diese sind fest eingeschlossen. Alle Binnenkriege sind seit 1700 auch ein Seeproblem – Dreißigjähriger, Siebenjähriger Krieg, Napoleon, Weltkrieg. Amerika, Japan. Nun kommen die Entscheidungskämpfe der Zukunft: Flugzeuge! Rußland [ist jetzt] Asien.


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Rußland: Ohne Wille, ohne Helden, aber eine Masse, die glaubt und opfermütig ist, ein furchtbares Instrument in der Hand eines großen Führers, für dessen Scharen Europa und Asien heute schon als Beute bereit liegen.


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Nordische Religion: Die ›Göttlichkeit‹ der ganzen Welt, also [ist] auch der Mensch göttlich. Selbstgefühl. Keine andren Götter neben sich. Maschine – der Mensch als Gott, die Maschine als Welt. Um 1500 die Krisis: Abschaffung der katholischen Kirche – des Christentums – der Religion überhaupt.


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Sprache: Daß der Geist, die ›Intellektualität‹, ein Ende ist, die Form, in welcher erlöschende Rassen vergehen, zeigt die Geschichte überall. Erlöschender Adel äußert sich darin, daß die letzten Söhne zum Variété gehen, Monographien schreiben, geistreiche Novellen. Der französische Adel im 18./19. Jahrhundert: nicht die Guillotine hat ihn vernichtet, er starb von innen heraus. Der Esprit war das äußere Zeichen davon. Und der extremste Pöbel der großen Städte, etwas Letztes, Absterbendes, ist das Literatentum, diese Romanschreiber, Zeitungsschreiber, Redner in Volksversammlungen: 1789 haben sie die Revolution gemacht und die Masse der Bauern aufgehetzt, um selbst Herren zu werden. Der Petersburger Unrat hat den Bolschewismus seit den Dekabristen gemacht, der deutsche Literatenpöbel hat 1918 gemacht, um daran Geld zu verdienen.[482]


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Seele oder besser Zivilisation: Eine furchtbare Psychologie der Zivilisation. Die tragische Seele ist gegeben. Ihre Verneinung nimmt dem Menschendasein den Sinn, den Inhalt. Aus dem Erfülltsein der Zeit (durch große Geschichte, Heldentum, Leid) wird ein intelligentes Totschlagen der Zeit. Und da bricht das Ende herein, nicht von außen, sondern von dem entseelten Leben, von der Tiefe her. Und riesengroß erhebt sich über den Steinmassen der Weltstädte das Gespenst der Langeweile, des leergewordenen Lebens ohne Gefahr, ohne Blut, das nun ausgefüllt werden soll durch Geschäft und Unterhaltung, ein intelligentes Vegetieren in Technik für Bequemlichkeit. Erotik ohne Kinder, Zirkus, Rausch, Reisen, müßiggängerische Literatur, Ersatz von Kunst, Ausstellungen, Dichtung, Feuilleton, Radio, Kino, Rekorde. Bis die Natur sich rächt durch Sterilität von innen und Barbaren von außen.


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Auch den Untergang der Religion nicht vergessen: Unten Bauernglaube, der Gott Sixtus, oben das Sumpfsurrogat des Literatenbuddhismus. Mit maßloser Verachtung das Literatentum zeichnen, das die Dichtung erledigt hat. Ebenso die Tiergesichter und schmutzigen Hände, platten Füße, triefenden Mäuler der stehlenden Gassenpolitiker von heute. Ein Schwert des Caligula, ein Mussolini, der sie mit Rizinus und Dolch in den Schlupfwinkel jagt!


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H. Trimborn, Der Kollektivismus der Inkas in Peru. Anthropos 18/19, 978 ff: Der ›Kommunismus‹ ist Unsinn. Es ist zwischen dem Wirtschaftsrat der Unterworfenen und dem Ausbeutungssystem der siegenden Inkas zu unterscheiden. Das Kechua-Wort ayllu [entspricht dem] germanischen ›Sippe‹. Diese Stämme haben vielleicht in Nordeuropa geschlechterweise gesiedelt, also ist ayllu auch lokaler Begriff.[483] Einteilung der Stämme in Hundertschaften (alles wie in Germanien und Rom. Gens, Centurie, wo auch die Sippe politisch, militärisch, wirtschaftlich, kultisch die Zelle des Volkskörpers ist). Die Sippen hatten ihren Ahnengott (huaca) und -mythus. Hundertschaft ist nie wörtlich gemeint, auch in Rom nicht, sondern ungefähr das Maximum. Die Sippe [besteht] aus Gemeinbesitzern von Boden und Vieh.

Die soziale Gliederung im Inkareich [ist] sehr natürlich: 1. regierende Familie, 2. Männer des Inkastammes, 3. Unterworfene Sippenvorstände, 4. ›Gemeinfreie‹ tributarios, Rest der Sippenglieder. Vgl. Normannen. Den Sippengliedern wurde von der Sippe Land periodisch zuerteilt, frei Holz, Jagd und Fischrecht; Haus und Hof war Sondereigen, wie bei den Germanen im ›Bittwerk‹ von den Sippengenossen erbaut. Daraus folgte dort eine relative Unmöglichkeit, reich oder arm zu sein – in der Sippe. Anders die Inkas.


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Imperium: Die Welt wird alt. Die Luxusstraßen zerfallen, in alten Tempelhöfen wächst Gras. Auf dem verlassenen Palatin brechen die Dächer der Paläste zusammen. Freigewordene Sklaven des Orients werden Bauern Italiens.


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Sprache: Die wachsende Durchgeistigung der Generationsfolge, die in Hochkulturen [und] Weltstädten rapid verschwindet, bedeutet die Abkapselung bis zum Ersticken des Lebens, in der Form der Unfruchtbarkeit. Intelligenz ist ein Ende. ›Fortschritt‹ im Sinn des 19. Jahrhunderts ist ein Ende: reich an Worten und Einfällen, arm an Kindern, zuletzt gewaltiger Geist, aber kinderlos. So erlischt die Kultur.


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Der große Gang der Politik in der d-Kultur ist immer der, daß am Anfang eine heilige oder erhabene Form regiert, in der alle relativ frei[484] sind, daß mit der ›Freiheit‹ aber die allgemeine Sklaverei mit der Horde stehlender Berufspolitiker beginnt, von der dann nur der Cäsarismus erlöst.


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Hochkulturen: Was jede spätere und frühere unterscheidet, ist der Grad geistiger Spannung, der zur Katastrophe führt. Die Entzweiung im Leben zwischen dem Element und dem Geist wächst. Die Geburt der Kultur schon vollzieht sich unter inneren furchtbaren Zuckungen. Und alles, was an Formen auftaucht, politisch, religiös, wirtschaftlich, ist geladen mit immer mehr Verhängnis. Es treibt etwas, das um 5000 begann, einem Ende zu, lawinengleich. Die Gewitterschläge [werden] immer lauter, jäher. Die Städte immer krasser. Die Gesichter immer schärfer, zerklüfteter, gesteigert zu Persönlichstem. Die Leidenschaften furchtbarer, noch mehr Grausamkeit und Mitleid: Was ahnten die Ägypter von der inneren Qual eines Heraklit und Buddha? Was ahnte Buddha von der Folter und Zerknirschung des 13. Jahrhunderts? Wie gutmütig waren die Kriege der Römer, ihre Revolutionen, gegen unsre! Und wenn die russische Kultur überhaupt zur Geburt gelangt und nicht im Mutterschoß stirbt, was hat sie heute schon an Blut und Leid zu täglichem Bedürfnis!

Hohe Kultur ist die große Gestaltung des Leidens. Was man selbst an sich und von andren leidet, sich selbst und andren zufügt oder abnimmt, erschöpft schon den Sinn der hohen Kultur.


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Vom Heldentum zur Zersetzung! Hier die Erscheinung des Welthumors seit der Völkerwanderung. Don Juan mit dem großartigen Spott über das Weltgesetz: Was ich genossen habe, nimmt mir auch Gott nicht fort. Don Quixote. Das ist anders als der Witz, Esprit, Scherz, der nur das Unlogische des Logischen festnagelt.[485]


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Damit wächst die Gemeinheit zur Riesengröße. Tiere und Urmenschen sind nicht gemein. Es gibt keinen Pöbel. Jetzt aber, auf diesen Höhen, zerfällt die Menschheit in Helden und Pack. Die seelischen Möglichkeiten weiten sich nach oben und unten. Damit wachsen Verehrung und Verachtung, Ekel.


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Wenn schon in jeder edlen Tierrasse – nicht bei Läusen und Flöhen, aber bei Pferden, Hunden und Adlern – gut und schlecht geratene Exemplare sehr verschieden sind, so wächst das in der großen Geschichte ins Ungeheure. Große Geschichte ist die Erhebung einer immer kleineren Zahl von Menschen über einen hohen Durchschnitt, unter den die große Mehrzahl immer [mehr] herabsinkt. Es gibt auch da Läuse und Adler; tragische Kultur ist die Tatsache, daß nur die Adler sie haben und sind und daß die Läuse sie fressen.


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Norden: Das neue Gefühl, das hier aufleuchtet, aus einer neuen Seele, ein neues Antlitz, ist Todesverachtung. Mehr noch: Verachtung überhaupt, Verachtung der übrigen, die am Leben hängen, für die das Leben etwas Höchstes ist, nicht das Leben als Held, als Starker, sondern das Leben überhaupt als Dauer. Wie es Achill empfindet: kurz, aber groß. In Ägypten, wo etwas von nordischem Blut noch aufleuchtet, trifft man gelegentlich eine Geringschätzung des Lebens durch einen Weisen, der es gekostet hat und es schal findet; aber diese salomonische Verachtung in den Mundwinkeln – alles ist eitel – bei einem Wen-Amon ist spät, greisenhaft. Hier aber ist es die Jugend, die verachtet, und nicht das Leben, sondern das Leben ohne heldische Größe, und nicht den Tod, sondern den Tod im Bette. Hier ist das Höchste des Menschentums erreicht, seine prachtvolle Blüte, um die es[486] wohl wert war, Jahrtausende den Boden mit Blut zu tränken, aufzubauen, was wieder zerfiel.

Male des Heldentums waren diese Epen und Dome, Male des Heldentums sind von nun an die Bücher der Geschichte mit ihren zahllosen Schlachten und großen Namen. Und kein Zweifel sollte heute daran verstattet sein, daß mit der Heldenseele auch das Menschentum seinen Rang verliert und wieder eingereiht wird in die Geschichte einer Tiergattung, die lebt, frißt und stirbt, in überlegten Formen, die man den Fortschritt der Menschheit nennt.


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Schöpferisch, das heißt die innere Form alles Geschehens – Geschehen ist Ausdruck von Seelischem – bestimmend und damit das Ergebnis der Geschichte selbst, ist nur die Idee, nicht das Programm. Ich möchte diesen Unterschied, der für die Geschichte entscheidend ist, ganz klarstellen. Wir leben gerade in einer Zeit, wo man ideenschwach und programmreich ist und beides verwechselt.

Idee ist die Uranschauung des Ganzen, die allem Ausdruck zugrunde liegt, ohne daß sie in das begriffliche Denken tritt. Man kann, wenn man im Denken geübt ist, darüber nach-denken, also den Versuch machen, die Idee in Worte zu fassen und damit andren begreiflich zu machen, was kaum gelingt. Aber das Tun wird von der Idee aus instinktiv, dafür um so vollständiger beherrscht: definieren läßt sie sich nie. Ich rede also von einer ›atlantischen Weltidee‹, die nicht definiert, sondern nur an ihrem praktischen Ausdruck: Staat, Religion, Grammatik, fühlbar gemacht werden kann. Ein Programm ist nur eine begriffliche Festsetzung auf Grund kausaler Überlegung, z.B. der Marxismus. Praktisch ist [das Programm] wertlos, weil nach wie vor der Instinkt entscheidet: Der Instinkt von ganzen Kulturmassen, der Wille einzelner (Trieb) macht alles; er bedient sich der Programme, an die sein Denken ›glaubt‹. Aber das Schöpferische ist doch der Instinkt, das Programm ist nur das Kostüm.[487]


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Kultur und Zivilisation verhalten sich wie der junge und [der] alte Goethe: jener sich wandelnd, immer neue Formen innerlich entwickelnd – Werther, Faust, Tasso –, dieser in einer festen abgeklärten Form alles aufnehmend, was von außen kommt. Diwan, Faust II. So das zivilisierte China, Ägypten, Indien.


154


Historie – Privatschicksal: Der bedeutende Mensch (›bedeuten‹ wörtlich nehmen, seine Privaterlebnisse bedeuten Zeitschicksale) [ist der], dessen Privatdasein das Gesamtdasein in sich aufnimmt. Der Fall Napoleon ist der stärkste, weit schwächer Cäsar.

Vor allem aber die Fälle der großen Geistigen. Hier ist der moderne Standpunkt ganz richtig: ihre Philosophie, Kunst etc. ist Privatsache, aus Nerven, Anlagen, Rasse, Notwehr zu erklären. Wie z.B. kamen Kant und N[ietzsche] zu ihrer Philosophie? Ganz privatim. Man darf also auch ihre Resultate privatim ableiten (was die Psychoanalytiker tun). Aber die Größe beruht eben darin, daß das Denken der Zeit in diesen Privatereignissen aufgeht und in ihnen für die nächste Generation Form gewinnt.

Gerade N[ietzsche] hat durch seine bizarre Erscheinung das Denken von 1880 in bizarrer Form für uns, die nächste Generation, überliefert. Wäre an seiner Stelle ein ruhiger Systematiker vom Typus Kants (also à la Mommsen, Helmholtz) aufgetreten, so hätten wir die Substanz der Zeit in andrer Form und statt durch unsre Journalisten, Rezensenten, Literaten wäre der Stil unserer Gelehrten am Technischen gestaltet worden. Der Kern des Denkens von Nietzsche ließe sich auch, statt von Wagner und Dionysos aus, von der modernen Technik und Geldwirtschaft aus auffassen. Es wäre besser für uns gewesen, einen großen Nationalökonomen statt eines großen Schauspielers zu haben. Unser Schicksal war Nietzsche. Wie schade; wir hätten sonst um 1914 eine offizielle deutsche Philosophie gehabt, die[488] jeder unserer Industriellen, Politiker, Nationalökonomen gekannt hätte und die in unsre wissenschaftliche und praktische Arbeit normierend eingreifen würde. So ist Nietzsche leider eine Angelegenheit zunächst für Literaten und Journalisten geworden.


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Zur politischen Dynamik der faustischen Kultur: Von Kolumbus an ist ihr Schauplatz planetarisch. Das hat zu dem sehr begreiflichen Aspekt der ›Weltgeschichte‹ geführt. Ihre ›Neuzeit‹ ist lediglich die Spätzeit einer einzelnen Kultur, und deren Ausdehnung über die Oberfläche der Planeten ist ein Symptom faustischen Geistes und also an dessen Lebensdauer gebunden.


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Das Tragische großer Talente [liegt] ›zwischen den Zeiten‹. Da löst sich ein Rätsel der großen Unverstandenen. Ich denke an List, unsren größten Staatsdenker, der an G[enie] Bismarck überlegen war. Er hätte 1800 in der Vollkraft seines Schaffens stehen müssen, dann hätte er die Politik von 1815 beherrscht. Oder 1860 – dann wäre die Bismarck-Ära von seinen viel großzügigeren Ideen ausgefüllt gewesen. Aber er wurde 1789 geboren und erschoß sich 1846, nachdem all seine Intentionen in dieser ›Zwischenzeit‹ gescheitert waren.


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Die älteren Formen bestehen fort, scheinbar, bei antiquierten Völkern herrschend. Franzosen und Italiener werden nicht mehr über die politische Form eines von Jahr zu Jahr komischeren Nationalismus hinauskommen. Der Franzose und Italiener reist nicht – als Sadist – er weiß vom andren aus Mangel an Distanz und Proportionsgefühl: das ist Chauvinismus. Das 19. Jahrhundert ist das der Nationalform der Öffentlichkeit: Parlamente, Einverleibung fremder Völker. Aber die ältere Form des dynamistischen Prinzips (Untertan, Territorien, ›mein‹[489] Volk) ist für den Alltagsmenschen das einzige, was er sieht, worin er lebt und wonach er handelt. Heute fängt das Stadium der Wirtschaftskomplexe an, aber das Alltagsgefühl wird noch hundert Jahre und länger das Nationalstadium als bestehend vortäuschen, und Völkerfragmente wie Polen und Tschechen werden in [den Wirtschaftskomplexen] aufgehen, ohne zu bemerken, daß ihre Aktionen längst ganz unwesentlich geworden sind.[490]

Quelle:
Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. München 1966, S. 478-491.
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