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[31] Die organisierte Besiedlung der slawischen Ostmark erfolgte durch Deutsche aller Stämme. Beherrscht aber wurde sie durch Niedersachsen, und so ist der Kern des preußischen[31] Volkes am nächsten dem englischen verwandt. Es sind dieselben Sachsen, Friesen, Angeln, die in freien Wikingerscharen, oft unter normannischem und dänischem Namen, die keltischen Briten unterwarfen. Was längs der Themse und in jener Sandwüste um Havel und Spree, die an Öde, Großheit und Schwere des Schicksals nur in Latium, der römischen Campagna, ihresgleichen findet, in jener frühen Zeit aufwuchs, läßt die Urahnen seines Wollens heute noch in den starren Gestalten Widukinds, des Markgrafen Gero und Heinrichs des Löwen erkennen.

Aber es waren zwei sittliche Imperative gegensätzlichster Art, die sich aus dem Wikingergeist und dem Ordensgeist der Deutschritter langsam entwickelten. Die einen trugen die germanische Idee in sich, die andern fühlten sie über sich: persönliche Unabhängigkeit und überpersönliche Gemeinschaft. Heute nennt man sie Individualismus und Sozialismus. Es sind Tugenden ersten Ranges, die hinter diesen Worten stehen: Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, Entschlossenheit, Initiative dort, Treue, Disziplin, selbstlose Entsagung, Selbstzucht hier. Frei sein – und dienen: es gibt nichts Schwereres als dieses beide, und Völker, deren Geist, deren Sein auf solche Fähigkeiten gestellt ist, die wirklich frei sein oder dienen können, dürfen sich wohl an ein großes Schicksal wagen. Dienen – das ist altpreußischer Stil, dem altspanischen verwandt, der auch ein Volk im ritterlichen Kampfe gegen die Heiden geschmiedet hatte. Kein »Ich«, sondern ein »Wir«, ein Gemeingefühl, in dem jeder mit seinem gesamten Dasein aufgeht. Auf den einzelnen kommt es nicht an, er hat sich dem Ganzen zu opfern. Hier steht nicht jeder für sich, sondern alle für alle mit jener inneren Freiheit in einem großen Sinne, der libertas oboedientiae, der Freiheit im Gehorsam, welche die besten Exemplare preußischer Zucht immer ausgezeichnet hat. Die preußische Armee, das preußische Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels – das sind Produkte jenes züchtenden Gedankens. Der andre aber hat noch spät einmal alles, was Wikingerblut im Leibe hatte, in die amerikanischen Prärien hinausgetrieben, Engländer, Deutsche,[32] Skandinavier, eine späte Fortsetzung jener Grönlandfahrten zur Eddazeit, welche um 900 schon die kanadische Küste berührt hatten, eine ungeheure Wanderung von Germanen mit der vollen Sehnsucht nach Ferne und grenzenloser Weite, abenteuernde Scharen, aus denen noch ein Volk sächsischen Schlages entstand, aber getrennt vom Mutterboden der faustischen Kultur und deshalb ohne die »innern Basalte« nach dem Ausdruck Goethes, mit Zügen der alten Tüchtigkeit und des alten edlen Blutes, aber ohne Wurzeln und deshalb ohne Zukunft.

So entstehen der englische und der preußische Typus. Es ist der Unterschied zwischen einem Volk, dessen Seele sich aus dem Bewußtsein eines Inseldaseins herausgebildet hat, und einem andern, das eine Mark hütete, die ohne natürliche Grenzen auf allen Seiten dem Feinde preisgegeben war. In England ersetzte die Insel den organisierten Staat. Ein Land ohne Staat war nur unter dieser Bedingung möglich; sie ist die Voraussetzung der modernen englischen Seele, die im 17. Jahrhundert zum Selbstbewußtsein erwachte, als der Engländer auf der britischen Insel unbestritten Herr wurde. In diesem Sinne ist die Landschaft schöpferisch: das englische Volk bildete sich selbst, das preußische wurde im 18. Jahrhundert durch die Hohenzollern herangebildet, die, aus dem Süden stammend, selbst den Geist der märkischen Landschaft empfangen hatten, selbst Diener der Ordensidee des Staates geworden waren.

Maximum und Minimum des überpersönlichen sozialistischen Staatsgedankens, Staat und Nichtstaat, das sind England und Preußen als politische Wirklichkeiten. Denn der englische »Staat« liberalen Stils ist der, welcher gar nicht bemerkt wird, der das Einzeldasein überhaupt nicht in Anspruch nimmt, ihm keinen Gehalt verleiht, ihm nur als Mittel dient. Keine Schulpflicht, keine Wehrpflicht, keine Versicherungspflicht, so ging England durch das Jahrhundert zwischen Waterloo und dem Weltkrieg, um jedes dieser negativen Rechte zu verlieren. Diese Staatsfeindschaft fand ihren Ausdruck in dem Worte society, das state im idealen Sinne verdrängt. Als [33] société geht es in die französische Aufklärung ein; Montesquieu fand: Des sociétés de vingt à trente millions d'hommes – ce sont des monstres dans la nature. Das war ein französisch-anarchischer Gedanke in englischer Fassung. Es ist bekannt, wie Rousseau seinen Haß gegen befehlende Ordnungen hinter dies Wort versteckte, und Marx mit seiner ebenso englisch orientierten Begriffswelt tat es ihm nach. Die deutsche Aufklärung sagte »Gesellschaft« im Sinne von human society, was vor Goethe, Schiller, Herder nicht geschah. Lessing sprach noch vom Menschengeschlecht. Es wurde dann ein Lieblingswort des deutschen Liberalismus, mit dem man den Großes fordernden »Staat« aus seinem Denken streichen konnte.

Aber England setzte an Stelle des Staates den Begriff des freien Privatmannes, der, staatsfremd und ordnungsfeindlich, den rücksichtslosen Kampf ums Dasein verlangt, weil er nur in ihm seine besten, seine alten Wikingerinstinkte zur Geltung bringen kann. Wenn Buckle, Malthus, Darwin später im Kampf ums Dasein die Grundform der society sahen, so hatten sie für ihr Land und Volk vollkommen recht. Aber England hatte diese Form in ihrer hohen Vollendung, deren Keime man in den isländischen Sagas findet, nicht vorgefunden, sondern geschaffen. Schon die Schar Wilhelms des Eroberers, der 1066 England nahm, war eine society von ritterlichen Abenteurern; die englischen Handelskompanien waren es, die ganze Länder eroberten und ausbeuteten, zuletzt noch seit 1890 das innere Südafrika; endlich wurde es die ganze Nation, die allen Wirklichkeiten, dem Eigentum, der Arbeit, den fremden Völkern, den schwächeren Exemplaren und Klassen des eignen Volkes gegenüber den altnordischen Räuber- oder Händlerinstinkt entfaltete, der zuletzt auch die englische Politik zu einer meisterhaften, äußerst wirksamen Waffe im Kampf um den Planeten gestaltete. Der Privatmann ist der ergänzende Begriff zu society; er bezeichnet eine Summe von ethischen, sehr positiven Eigenschaften, die man, wie alles ethisch Wertvollste, nicht lernt, sondern im Blute trägt und in Ketten von Geschlechtern langsam zur Vollkommenheit ausbildet.[34] Schließlich ist die englische Politik eine Politik von Privatleuten und Gruppen von solchen. Das und nichts andres bedeutet parlamentarische Regierung. Cecil Rhodes war ein Privatmann, der Länder eroberte; die amerikanischen Milliardäre sind Privatleute, die Länder durch eine untergeordnete Klasse von Berufspolitikern beherrschen. Der deutsche Liberalismus in seiner sittlichen Wertlosigkeit aber sagt lediglich zum Staate Nein, ohne die Fähigkeit, das durch ein ebenso großgedachtes und energisches Ja zu rechtfertigen.

Von innerm Range kann in Deutschland nur der Sozialismus in irgendeiner Fassung sein. Der Liberalismus ist eine Sache für Tröpfe. Er beschwatzt, was er nicht besitzt. Wir sind einmal so; wir können nicht Engländer, nur Karikaturen von Engländern sein – und das sind wir hinreichend oft gewesen. Jeder für sich: das ist englisch; alle für alle: das ist preußisch. Liberalismus aber heißt: Der Staat für sich, jeder für sich. Das ist eine Formel, nach der sich nicht leben läßt, sofern man nicht in liberaler Weise das eine sagt und das andre zwar nicht will und tut, aber schließlich geschehen läßt.

Es gibt in Deutschland verhaßte und verrufene Grundsätze, verächtlich aber ist auf deutschem Boden allein der Liberalismus, der stets die Unfruchtbarkeit repräsentierte, das Nichtverstehen dessen, was gerade notwendig war und was man nach zwanzig Jahren, wenn man es nicht hatte verderben können, in den Himmel hob, die Unfähigkeit, mitzuarbeiten oder zu entsagen, die gänzlich negative Kritik als Ausdruck nicht eines mächtigen Anderswollens – wie sie die Sozialisten der Bebelzeit übten –, sondern lediglich eines Nichtmögens. Nicht lebenstüchtig, sondern nur gesinnungstüchtig, ohne innere Zucht, ohne Tiefe des lebendigen Seins, ohne eine Ahnung von der straffen Aktivität und Zielsicherheit des englischen Liberalismus, war er immer nur der Stein auf unsrem Wege.

Seit Napoleon hat er sich die Köpfe der Gebildeten Deutschlands erobert; der gebildete Spießbürger, der Bildungsphilister, der unpraktische Gelehrte, dem abstraktes Wissen die Welt verbaut hat, waren immer seine dankbarsten Verteidiger.[35] Mommsen, der sein ungeheures Gebiet mit preußischer Energie beherrschte, der die preußischen Züge im Römertum verstand und bewunderte, hat es im Parlament Bismarck gegenüber doch nur zu verständnisloser Opposition gebracht. Mit ihm vergleiche man den englischen Bearbeiter der History of Greece, Grote, einen Bankier und Liberalen. Unsre Schriftsteller und Professoren haben mit der Fruchtbarkeit von Feldmäusen Deutschland mit Büchern und Systemen bevölkert, in denen die englischen Schlagworte des freien Staates, des freien Bürgers, der freien Persönlichkeit, des souveränen Volkes, der allgemeinen, freien und beständig fortschreitenden Humanität aus der Wirklichkeit englischer Kontore in die deutschen Wolken erhoben wurden. Man muß Bismarck, den Bruno Bauer schon 1880 als sozialistischen Imperialisten bezeichnet hatte, über diese Gebildeten hören, welche die Welt mit ihrer Lektüre verwechselten. Aber auch Bebel verriet seinen stets sicheren Instinkt, als er einmal gegen die Akademiker in seiner Partei lospolterte. Er fühlte den antipreußischen Instinkt des deutschen Gebildeten heraus, der in seinem Staate heimlich an der Disziplin fraß – und er hat recht behalten: nach seinem Tode hat der »gebildete« Sozialist die Kraft der Partei gebrochen, sich mit dem gebildeten liberalen Bürgertum verbündet und mit ihm im Hoftheater zu Weimar die ideologische Szene der Paulskirche noch einmal aufgeführt, wo man nach Professorenweise gelehrte Gespräche über das Problem der Verfassung führte, während Engländer mit oder ohne ein Stück beschriebenen Papiers zu handeln gewußt hätten.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 31-36.
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