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[83] Marx hat nun das ohnehin stark schematische und von einem sehr fragwürdigen Blickpunkt aus aufgenommene Bild des industriellen England durch einfache Verlängerung der Perspektive über die gesamte Geschichte ausgedehnt. Er behauptet die Gültigkeit seiner wirtschaftlichen Konstruktionen für die ganze »menschliche Gesellschaft«, und zwar mit dem Zusatz, daß sie das einzig Wesenhafte im Lauf der Geschichte seien. Er gleicht darin Darwin, der ebenfalls von Malthus ausging und sein System für »alle Organismen« als gültig behauptete, während es in der Tat nur auf die menschenähnlicheren höhern Tiere paßt und absurd wird, wenn man Einzelheiten wie Zuchtwahl, Mimikry und Vererbung auf Spaltpilze und Korallentiere ernstlich anwendet.

Die materialistische Geschichtsauffassung, welche die ökonomische Lage als Ursache (in der physikalischen Bedeutung des Wortes), und Religion, Recht, Sitte, Kunst, Wissenschaft als Wirkungen ansetzt, hat in diesem späten Stadium ohne Zweifel etwas Überzeugendes, weil sie sich an das Denken irreligiöser und traditionsloser Großstadtmenschen wendet:[83] Nicht etwa, daß die wirtschaftliche Situation wirklich »Ursache«, sondern daß Kunst und Religion kraftlos, leer, äußerlich geworden sind und nun in der Tat als Schatten der einzigen kräftig entwickelten Ausdrucksform der Zeit wirken. Gerade das aber ist vor allem englisch: die Religion als »cant«, die Kunst als »comfort« der Oberklasse und als Almosen der Unterklasse (»die Kunst dem Volke«) sind mit dem englischen Lebensstil in die andern Länder gedrungen.

Aber Hegel steht über, sein Schüler Marx unter der Ebene historischer Tatsächlichkeit. Wenn man Hegels Metaphysik beseitigt, so erscheint ein Staatsdenker von so starkem Wirklichkeitssinn, wie die neuere Philosophie keinen zweiten aufweist. Er stellt als »Preuße« aus geistiger Wahlverwandtschaft den Staat mit derselben Sicherheit in den Mittelpunkt seiner sehr tief, beinahe goethisch gefaßten Entwicklung, wie Marx als Wahlengländer die Wirtschaft in den Mittelpunkt seiner mechanisch-darwinistischen »Evolution« (zu deutsch »Fortschritt«). Der Staat ist bei Hegel der Geschichtsbildner; Politik ist Geschichte. »Menschliche Gesellschaft« ist nicht sein Wort. Die hohen Beamten der Generation Bismarcks waren zum großen Teil strenge Hegelianer. Marx aber denkt die Geschichte ohne Staat, Geschichte als Arena von Parteien, Geschichte als Widerstreit wirtschaftlicher Privatinteressen. Materialistische Geschichtsauffassung ist englische Geschichtsauffassung, der Aspekt eines ungebundenen Wikinger- und Händlervolkes.

Aber die geistigen Voraussetzungen dieser Denkweise sind heute nicht mehr vorhanden. Das 19. Jahrhundert war das der Naturwissenschaft; das 20. gehört der Psychologie. Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht. Menschenkenntnis ist uns wichtiger als abstrakte und allgemeine Ideale; aus Optimisten sind wir Skeptiker geworden: nicht was kommen sollte, sondern was kommen wird, geht uns an; und Herr der Tatsachen bleiben ist uns wichtiger als Sklave von Idealen werden. Die Logik des Naturbildes, die Verkettung von Ursache und Wirkung scheint uns oberflächlich; nur die Logik[84] des Organischen, das Schicksal, der Instinkt, den man fühlt, dessen Allmacht man im Wechsel der Dinge schaut, zeugt von der Tiefe des Werdens. Der Marxismus ist eine Ideologie. Er trägt die Zeichen davon auch in seiner Geschichtseinteilung, die der Materialist vom Christentum übrig behielt, nachdem die Macht des Glaubens erloschen war. Vom Altertum über das Mittelalter zur Neuzeit führt der Weg der Evolution, an dessen Ende der verwirklichte Marxismus, das irdische Paradies steht. Es ist wertlos, dies Bild zu widerlegen. Dem modernen Menschen einen neuen Blick zu geben, aus dem von selbst, mit Notwendigkeit ein neues Bild folgt, darauf kommt es an. Das Leben hat kein »Ziel«. Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas viel zu Erhabenes, als daß Erbärmlichkeiten wie »das Glück der meisten« Ziel und Zweck sein könnten. In der Zwecklosigkeit liegt die Größe des Schauspiels. So empfand es Goethe. Aber dieses Leben, das uns geschenkt ist, diese Wirklichkeit um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmöglichen Gehalt erfüllen, so leben, daß wir vor uns selbst stolz sein dürfen, so handeln, daß von uns irgend etwas in dieser sich vollendenden Wirklichkeit fortlebt, das ist die Aufgabe. Wir sind nicht »Menschen an sich«. Das gehört zur vergangenen Ideologie. Weltbürgertum ist eine elende Phrase. Wir sind Menschen eines Jahrhunderts, einer Nation, eines Kreises, eines Typus. Das sind die notwendigen Bedingungen, unter denen wir dem Dasein Sinn und Tiefe verleihen können, Täter, auch durch das Wort Täter sein können. Je mehr wir diese gegebenen Grenzen füllen, desto weiter ist unsre Wirkung. Plato war Athener, Cäsar war Römer, Goethe war Deutscher: daß sie das ganz und zuerst waren, war die Voraussetzung ihrer welthistorischen Wirkung.

Von diesem Standpunkt aus stellen wir heute, mitten in der deutschen Revolution, Marxismus und Sozialismus gegenüber. Der Sozialismus, das noch immer unverstandene Preußentum ist ein Stück Wirklichkeit höchsten Ranges, Marx ist – Literatur. Eine Literatur veraltet, eine Wirklichkeit siegt oder[85] stirbt. Man vergleiche die sozialistische Kritik auf den internationalen Kongressen mit einer sozialistischen Tatsache, der Bebelpartei. Die Redensart, daß Ideen die Weltgeschichte machen, ist so, wie sie verstanden sein sollte, interessiertes Literatengeschwätz. Ideen spricht man nicht aus. Der Künstler schaut, der Denker fühlt, der Staatsmann und Soldat verwirklichen sie. Ideen werden nur durch das Blut, triebhaft, nicht durch abstraktes Nachdenken bewußt. Sie bezeugen ihr Dasein durch den Stil von Völkern, den Typus von Menschen, die Symbolik von Taten und Werken, und ob diese Menschen überhaupt von ihnen wissen, ob sie darüber sprechen und schreiben oder nicht, richtig oder falsch, das ist wenig wichtig. Das Leben ist das erste und letzte und das Leben hat kein System, kein Programm, keine Vernunft; es ist für sich selbst und durch sich selbst da, und die tiefe Ordnung, in der es sich verwirklicht, läßt sich nur schauen und fühlen – und dann vielleicht beschreiben, aber nicht nach gut und böse, richtig oder falsch, nützlich und wünschenswert zerlegen.

Deshalb ist der Marxismus keine Idee. In ihm sind sichtbare Zeichen und Formen zweier Ideen verstandesmäßig und also willkürlich zusammengestellt. Diese Denkweise ist vorübergehend. Sie war wirksam, weil jedes Volk diese Begriffe als Waffe benutzt hat. Wiederum ist es gleichgültig, ob man sie verstanden hat oder nicht. Sie wirkten, weil man bei dem Klang der Worte und der Wucht der Sätze an irgend etwas glaubte. An was – das war wiederum die unveränderliche Idee des eignen Lebens, das eigne Blut.

Der Marxismus bricht mit der schallenden Orgie seines Versuchs zur Wirklichkeit heute zusammen. Das kommunistische Manifest tritt mit dem Jahre 1918 genau so in das Dasein einer bloßen literarischen Merkwürdigkeit wie der Contrat social mit dem Jahre 1793. Der wirkliche, instinktive Sozialismus als Ausdruck altpreußischen Wesens, literarisch nach England verirrt und zu einer antienglischen Theorie ausgedörrt, kehrt heute zum Bewußtsein seines Ursprungs und seiner Bedeutung zurück.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 83-86.
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