III

[9] Für jeden denkenden Menschen gibt es eine Form des Denkens, die aus denselben psychischen Ursachen wie die Weltanschauung und die Denkergebnisse entspringend mit ihnen eng verknüpft ist. Im weitesten Sinne, nicht nur als instinktive Art der logischen Gedankenführung, sondern auch als unbewußte Methode der Auswahl und Verwertung von Eindrücken jeder Art ist sie als Vermittler zwischen Persönlichkeit und System, unter Umständen sogar als selbständiger Anlaß zu Ideen von Wert. Der Stil des Denkens und die Lehre selbst sind verwandt. Für die heraklitische Philosophie ist dieser Umstand wichtig. Heraklit war – in einer Zeit des naiven, noch nicht zur Reflexion über sich selbst herangereiften Denkens – in der glücklichen Lage, aus dem Vollen schöpfen zu können, sich seinen Wünschen überlassen zu dürfen, ohne durch bedeutendere Vorarbeiten auf seinem Gebiet auf die Forschung in kleinerem Maßstabe innerhalb festgelegter Richtungen beschränkt zu sein, ein Glück, dessen Goethe sich bewußt war, als er einmal hervorhob: Als ich achtzehn Jahre war, war Deutschland auch erst achtzehn. (Eckermann, Gespr. mit Goethe I, 15. Febr. 1824.)[9]

War Heraklit seiner Weltanschauung nach Aristokrat, so kann man ihn hinsichtlich seines ganzen Denkverfahrens als Psychologen bezeichnen. Beides steht in einem häufiger zu beobachtenden Zusammenhang. Damit soll über den Gegenstand seiner Untersuchungen nichts ausgesagt, nur eine Methode der Behandlung angedeutet werden. Er betrachtet die Natur nicht an sich selbst als Objekt, nach Erscheinung, Ursprung und Zweck, sein Verfahren ist vielmehr eine Analyse der Naturvorgänge, soweit sie Vorgänge, Veränderungen sind, ihren gesetzlichen Verhältnissen nach; man kann sein System eine Psychologie des Weltgeschehens nennen. Aus dieser neuen philosophischen Fragestellung folgt die Auffindung neuer Probleme. Heraklit kann als der erste Sozialphilosoph, der erste Erkenntnistheoretiker, der erste Psycholog gelten. Seine Aphorismen über den Menschen sind nicht Sprüche mit ethischer Tendenz wie die Gnomen des Bias oder Solon, sondern zum erstenmal wirklich beobachtete, durchaus objektive, den didaktischen Ton ganz vermeidende Bemerkungen.

Vergessen wir endlich einen wesentlichen Unterschied nicht, der Heraklit und die ganze griechische Philosophie von der neuern trennt. Das Volk, dessen Erzieher Gymnastik, Musik und Homer waren, das für die Welt das Wort κόσμος erfand, weil es in ihr vor allem den Sinn der Ordnung und Schönheit sah, behandelte die Philosophie nicht eigentlich als Wissenschaft (abstrakt wissenschaftliche Untersuchungen sind immer dem metaphysischen Endzweck untergeordnet worden), sondern als den Weg, ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude am Formen zu betätigen. Es wäre falsch, das griechische Denken, das unter freiem Himmel, in einer südlichen, sonnigen Landschaft, aus einem heitern und leichtbeweglichen Leben heraus entstand, wegen dieser uns fremden Verwandtschaft zur Kunst tiefer als das unsere zu stellen. Dem Hellenen der klassischen Zeit ist die Philosophie bildende Kunst, Architektonik der Gedanken. Die plastische Kraft der Hellenen, ihre Fähigkeit, alles Erlernte und Selbstgeschaffene einem einheitlichen Stil zu unterwerfen, ist eine ungeheure, und diesem Gefühl für Form entspringt[10] die Neigung, philosophische Systeme als Kunstwerke zu konzipieren.

Heraklit ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern. Davon zeugt nicht nur das satte und farbenreiche Pathos seines Stils, sondern vor allem die geniale Plastik seiner Darstellung. Er sieht seine Ideen, berechnet sie nicht. Ihren intuitiven Charakter, dem alle Dialektik, wie sie vor allem das gegnerische System des Parmenides stützt, fremd ist,12 unterstützen die immer glücklich gewählten Beispiele (wie die vom Bogen und der Leier, vom Mischtrank), in denen er ein ihm greifbar vor Augen stehendes Bild wiederzugeben versucht. Es blieb zuweilen kein andres Mittel der Verständigung übrig, weil ihm durch seine Problemstellung bezüglich der sprachlichen Darstellung Schwierigkeiten erwuchsen, die er nicht immer bewältigen konnte, trotz einer Energie des Denkens, die in der alten Philosophie selten ihresgleichen findet. Sein Hauptgedanke widerspricht dem Augenschein und dem gewohnten Denken vollkommen und beansprucht ein hohes Maß von Abstraktionskraft, um überhaupt gefunden zu werden. Einer unerbittlichen Konsequenz und einem sichern Blick über das Gebiet seiner Untersuchungen verdankt er eine innere Einheit des Systems, die wahrscheinlich nie wieder erreicht worden ist. Es ist mit großer Einfachheit auf einen Gedanken konzentriert und in Einzelheiten bei seiner immanenten Logik unangreifbar.

Heraklit darf als Realist bezeichnet werden, trotzdem er leicht für das Gegenteil zu nehmen ist. Jeder Begriff, der auf symbolistische Absichten zu deuten scheint, läßt sich bei näherem Eingehen auf einen realen Grund zurückführen. Er besitzt einen durchaus gesunden Blick für das greifbar Vorhandene13 und oft eine große Feinheit im Unterscheiden.14 Aber er verleugnet[11] den Aristokraten nirgends; sein Denken hat einen wahren Imperatorenstil, ein selbst für diese Zeit in Einzelheiten sehr summarisches Verfahren.15 Nur die großen, grundlegenden Ideen sind ihm des Nachdenkens wert, bei einer ausgesprochenen Abneigung gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung. Er hat eine bestimmte, streng begrenzte Ansicht, wie man denken müsse. Man soll nicht alles wissen wollen, nur das Wertvolle und Große, wenig auslesen, dies aber durchdringen. Er will Tiefe, Gehalt, Klarheit, nicht Umfang des Wissens. Daher seine Polemik: πολυμαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει. Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον (Fr. 40). Μαθίη ist die bloße Kenntnisnahme der Dinge. Das Sammeln von Tatsachen, ohne Überblick und Verständnis, ist ihm verhaßt. Nicht etwa wenig wissen: χρὴ γὰρ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλοσόφους ἄνδρας εἶναι καθ᾽ Ἡ. (Fr. 35.) Ἱστορίη ist die in die Tiefe dringende kritische Beobachtung (nicht Kenntnis aus Büchern: Gomperz a.a.O. 1002 f. Ἵστωρ Zeuge, Kritiker, bei Homer Schiedsrichter. Vgl. Porphyr, de abst. II, 49: Ἵστωρ γὰρ πολλῶν ὁ ὄντως φιλόσοφος.

Eine »wissenschaftliche Philosophie« wird auf solcher Grundlage nie entstehen. Aber man hat hier die außerhalb des Schwerpunkts liegenden Fragen und den Grundgedanken selbst zu unterscheiden; dieser ist wirklich erschöpfend ausgeführt. Man darf die Logik der Gedankenführung auch nicht an der unsystematischen Darstellung messen. Die Schrift ist eine Aphorismensammlung, wie eine Bemerkung Theophrasts und die Fragmente selbst lehren. Heraklit hat nicht im bescheidensten Sinne didaktisch, geschweige denn populär zu wirken versucht, das beweist sein durchaus nicht auf leichtes Verständnis Rücksicht nehmender Stil und entspricht seiner menschenverachtenden Weltanschauung vollkommen.

12

Vgl. Fr. 81, wo er die rhetorische Methode κοπίδων ἀρχηγός Führer zur Abschlachtung, nennt. (Angeblich gegen Pythagoras, vgl. Anm. zu Byw. Fr. 138.)

13

Fr. 55: Ὅσων ὄψις ἀκοὴ μάθησις, ταῦτα ἐγὼ προτιμέω.

14

Ein Beispiel: Οὐ γὰρ φρονέουσι (durch Nachdenken einsehen) τοιαῦτα οἱ πολλοί, ὁκοίοις ἐγκυρεῦσιν, οὐδὲ μαθόντες (sinnlich wahrnehmen), γινώσκουσιν (begreifen), ἑωυτοῖσι δὲ δοκέουσι (haben das Gefühl, es verstanden zu haben).

15

Der Eindruck dieser Methode auf spätere, etwas pedantische Philosophen Diog. Laert. IX, 8: Σαφῶς δὲ οὐδὲν ἐκτίθεται.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 9-12.
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