15

[282] Die Seegewalt der Achäerstämme hat sich lange gehalten. Seit 1350 etwa taucht ihr Name in den hethitischen Urkunden auf. Immer wieder versucht hier und dort ein Häuptling mit seinem Gefolge Boden zu gewinnen.1 Auch am Libyerzug gegen Ägypten um 1240 ist ein Achäerschwarm beteiligt gewesen. Ihr Ende als politische Größe fanden sie wie so vieles andere im Völkersturm um 1200, in dem auch das Hethiterreich, das Königreich Alaschia, das längst verfallene ägyptische Kolonialreich in Syrien[282] und Palästina und – nebenbei – die Seeräuberburg Ilios zugrunde gingen. Damals sind alle ihre Herrschersitze und Kuppelgräber zerstört worden.

Diese allgemeine Verwüstung hat sich auch auf die regelrechte Seefahrt erstreckt. Die Meere verödeten. Überall machten kleine Piratenstämme die nähere Umgebung ihrer Sitze unsicher und es gab keine Seemacht mehr, die sie mit ihrem Aufgebot in Schranken hielt. Die alten großen Handelswege gerieten schnell in Vergessenheit, sobald die Enkel keine Großväter mehr hatten, die davon berichten konnten, weil sie selbst noch auf ihnen gerudert waren. Auch im fernen Westen, in Spanien, Sardinien, Malta ist etwa seit der Mitte des Jahrtausends ein langsamer, aber starker Verfall zu beobachten. Die Reste der »El-Argar-Kultur« in Süd- und Ostspanien werden immer seltener und dürftiger. Hatte sich die frühgeschichtliche Westkultur, deren große Baugesinnung jetzt weit zurückliegt, innerlich überlebt? Waren die tüchtigsten Stämme allmählich nach Osten gefahren? Oder sind barbarische Schwärme über die Pyrenäen gekommen, welche mit der vorgefundenen Kultur nichts anzufangen wußten?2

Damit sinkt auch die Kenntnis fremder Länder. Sie beruhte ausschließlich auf den Erzählungen der Seeleute,3 die selbst dagewesen waren oder von den Tauschplätzen Erzählungen von noch ferneren Ländern mitbrachten. Das alles war natürlich ein Gemisch von Tatsachen, Fantasie, Prahlerei und zweckbewußter Lüge, wie es das zu allen Zeiten gewesen ist,4 und es wurde nicht richtiger dadurch, daß man die Geschichten der alten Leute immer wieder erzählte, weil niemand mehr von den Jungen selbst[283] hinausfuhr. In einer literaturlosen Zeit verändert sich das Bild der räumlichen und zeitlichen Ferne in zwei bis drei Generationen bis zur Unkenntlichkeit. Aus wahren werden »schöne« Geschichten. Namen geraten an Orte und Menschen, die mit ihnen nie etwas zu tun hatten. Wirkliche Ereignisse verlieren ihren ursprünglichen Tatsachengehalt und verschwimmen zu Sagen, und aus Märchen wird geglaubte Geschichte. Von den atlantischen Küsten hat man damals sicher schon in Sardinien und Sizilien nichts Zuverlässiges mehr gehört und für die Küstenbevölkerung des östlichen Mittelmeeres war alles jenseits der Durchfahrten von Tunis und Messina eine unbekannte, unheimliche Weite, die mit seligen oder schauerlichen Fabelländern, Naturwundern, Gefahren, Riesen, Feen, seltsamen Tieren, Menschen und Göttern ausgestattet wurde. Dazu boten sich alte heimatlos gewordene Namen von fremdartigem Klang und längst verschollenem Sinn von selbst an: Ogygia, Kirke, Laistrygonen, Kyklopen, Phaiaken, Skylla und Charybdis. Dazu gehörte auch das alte Kaftiwort Elysion, an dem die religiöse Bedeutung eines Reiches seliger Toten haften geblieben war und das nun als Insel der Seligen in der Fabelgeographie des unbekannten Westens einen Platz fand. Des Westens, denn den Osten kannte man. Nur im Ostwinkel des Schwarzen Meeres hatte die Fantasie noch freien Raum. Dorthin versetzte man Medea und Prometheus. Man glaubte an alles das mit der Inbrunst märchensüchtiger Kinder und moderner Gelehrten, die noch »Atlantis« beigesteuert haben und bei Homer Beschreibungen von Madeira und Teneriffa entdecken, obwohl die Gebildeten und Seekundigen in Milet und Athen schon früh über solche Einfalt gelächelt haben.

Fast alle neueren Betrachtungen gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß erst die Phöniker und Griechen das westliche Mittelmeer »entdeckt« hätten. Das kommt von der Überschätzung der antiken Literatur und der Angaben des Alten Testaments. In Wirklichkeit ist die antike Seefahrt, was ihren geographischen Horizont betrifft, ein Rückschritt gewesen, der letzte in einer längeren Reihe. Die Kenntnis des alten Westens ist seit dem Anfang des 2. Jahrtausends beständig gesunken. Und vor allem: Der antike Mensch kannte kein Fernweh, wie es der ständige Blick[284] auf das unendliche Meer und über weite Ebenen hin erzeugt. Seine Seefahrt war, an der großen Vergangenheit gemessen, eng und provinzial wie das Ägäische Meer. Das klingt ungeheuerlich angesichts der Tatsache der tyrischen und jonischen Kolonisation seit dem 8. Jahrhundert, aber was war sie gegenüber den Fahrten der Kafti und Sardinier, die längst das Gleiche unter weit ungünstigeren Bedingungen erreicht hatten? Griechen und Phöniker suchten die Wege wieder auf, die andere in ferner Vorzeit schon entdeckt und befahren hatten. Und auch die Kafti standen weit hinter den Schiffern des 3. Jahrtausends an den atlantischen Küsten zurück, von deren Kühnheit nur noch die Verteilung der Funde erzählt. Was Herodot und seiner Zeit als frevelhafte Vermessenheit, als Hybris erscheint, das war den Seeleuten Jahrtausende zuvor etwas Alltägliches und mußte es sein. Bei der Fahrt ihrer kleinen primitiven Schiffe von der Bretagne nach Irland und von der westafrikanischen Küste nach den Kanarischen Inseln war der Tod das Wahrscheinliche. Den Griechen war er nur noch eine entfernte Möglichkeit. Die Karthager haben, obwohl sie gelegentlich an der Westküste Marokkos Expeditionen unternahmen, von der Existenz der Kanarischen Inseln nur noch gehört. Es ist ausgeschlossen, daß sie dort regelmäßig gelandet wären, sonst hätten die spätantiken Geographen viel bestimmter darüber berichtet. Die Wiederausdehnung des Wissens von der atlantischen Küste bis zur Nordsee hinauf erfolgte bezeichnenderweise vom Binnenlande her, durch die Heere des römischen Imperialismus, und niemand dachte daran, von dort aus Irland und Skandinavien mit einem Schiff aufzusuchen.

Bestimmtere geographische Nachrichten über Tarschisch-Tartessos erhalten wir erst seit dem 7. Jahrhundert durch gelegentliche Angaben griechischer »Jonier«, und zwar der Dichter späthomerischer Zeit, und etwas früher aus den Resten der israelitischen Literatur der mittleren Königszeit, die nur das wiederholte, oft verständnislos genug, was man in Tyrus von den Seeleuten erfuhr. Der Westen heißt immer noch Tart-. Das uralte Kaftiwort, dessen ursprüngliche Endung wir nicht kennen, ist ein allgemein bekanntes Fremdwort geworden, bei welchem man die Bedeutung »West« noch herausfühlte, wie heute die[285] meisten Leute »Orient« sagen und richtig anwenden, ohne eine Ahnung vom Lateinischen zu haben. In Tyrus und Sidon sprach man von Tarschisch, in Milet aber von Tart-essos, und in dieser Endung liegt ein wichtiges Problem, das hier in aller Kürze angedeutet werden soll.5

Die ältesten erhaltenen Stellen, an denen Tartessos erwähnt wird, stehen bei Anakreon und dem sizilischen Dichter Stesichoros, beide um 600. Es ist bezeichnend, daß es fast immer Dichter sind, welche den Namen gebrauchen, und fast immer in mythologischem Zusammenhang. Die vorgriechische Endung -essos wird seit Fick und Kretzschmer, die zuerst auf ihre Bedeutung aufmerksam gemacht haben, stets mit einer anderen, -nthos, zusammengeworfen und beide einer ägäischen, pelasgischen oder anders genannten »Ursprache« zugeschrieben, die damit eine ungeheure, schon sprachgeschichtlich ganz unmögliche Verbreitung erhält, zumal allerlei ähnlich klingende Endungen ohne weiteres hinzugenommen werden. In Wirklichkeit handelt es sich um zwei verschiedene Sprachen, was durch die ganz verschiedene Verbreitung und Verwendung dieser Endsilben bewiesen wird, -nthos ist im Peloponnes zu Hause und erscheint außer in Ortsnamen auch in Eigennamen (Υάκινθος) und solchen von Pflanzen (ἐρέβινθος) und Dingen des täglichen Gebrauchs (ἀσάμινθος). Labyrinthos ist die Bezeichnung der Ruine von Knossos in der Sprache, die seit der Zerstörung um 1400 dort herrschte, vermutlich also der – oder einer – achäischen. -essos ist jünger und kommt nur in Orts-, Berg- und Flußnamen vor. Von seiner genauen Bedeutung wissen wir nichts. Um so deutlicher ist der Sitz der Sprache, zu der es gehört. Es ist Südwestkleinasien, das bei den Griechen Karien hieß. Zur Hethiterzeit im 14. und 13. Jahrhundert hatte es andere Namen. Da in den Boghazköitexten Ortsnamen dieser Form nicht vorkommen,6 so darf man annehmen, daß diese Sprache erst um 1200, also durch die Ereignisse der Seevölkerzeit hierher gelangt ist.[286]

Mehr als die Hälfte der bis jetzt bekannten -essosnamen stammt aus dieser Gegend. Von hier aus haben sie sich also verbreitet. Eine große Zahl sitzt in Attika (Flüsse und Berge) und Böotien, was auf irgendwelche geschichtlichen Ereignisse etwa des 12. oder 11. Jahrhunderts hindeutet. Ein paar finden sich in der Troas südlich von Ilios oder richtiger der Ruine dieser um 1200 zerstörten Piratenburg (Marpessos, Lyrnessos). Auf die Möglichkeit »karischer« Eroberungen in dieser Gegend weist die Sympathie hin, mit welcher die Dichter der Ilias Sarpedon und seine Lykier behandeln. Es muß alte Heldenlieder von ihnen gegeben haben.

Und das erinnert an eine dunkle unbestimmte Kunde, die gelegentlich bei griechischen Schriftstellern auftaucht und aus alter lydischer Quelle stammt (Xanthos). Es soll nach dem Fall von Troja eine »karisch-lydische Seeherrschaft« bestanden haben. Es ist für mich vollkommen sicher, daß das richtig ist. In den Stürmen der Seevölkerzeit muß sich hier ein Stamm festgesetzt haben, der den Namen Karer geführt haben wird und der mit Hilfe alter Traditionen und übriggebliebener Seefahrergeschlechter, die von der Kaftizeit her hier Wurzel geschlagen hatten, zu einer flüchtigen Blüte kam, die dann vorzeitig wohl von den Dorern geknickt wurde. Diese Karer, oder wie sie sonst hießen, haben noch einmal die Kühnheit der Sardinier und Kafti entwickelt, denn die -essosnamen sind Wegmarken ihrer großen Fahrten. Waren sie mit jenen irgendwie verwandt? Kamen sie auch aus dem Westen? Daß sie in Böotien und der Troas Eroberungen gemacht haben, beweisen dort die Ortsnamen. Aber sie sind, und das ist unendlich viel wichtiger, in zwei Richtungen weit darüber hinausgefahren, in Gegenden, wohin die Kafti nie gelangt sind. In Ostbulgarien, südlich der Donaumündung, finden sich die Hafenorte Odessos und Salmydessos, die später von den Milesiern wieder in Anspruch genommen wurden. Die Fahrt dorthin war nur möglich, nachdem Troja zerstört und die Meerenge frei geworden war. Schon in grauer Vorzeit, im 3. Jahrtausend, sind, wie die Funde lehren, kühne Abenteurer dorthin gefahren;7 jetzt aber werden Landeplätze gegründet, wie sie für[287] einen geregelten Handel nötig waren. Und an der Westspitze Siziliens, der strategisch wichtigen Stellung gegenüber von Karthago, wo später die Phöniker ihre Erben waren, sind die Namen Telmessos, Krimissos, Herbessos erhalten. Hier lag auf dem Eryx ein berühmtes Heiligtum der Muttergöttin des Westens, welche später von den Phönikern als Astarte, dann den Griechen als Aphrodite, den Römern als Venus und heute von den Katholiken als Madonna di San Giuliano verehrt wird. War hier etwa die Heimat der Karer, bevor sie mit andern Seestämmen nach dem Osten fuhren, um dort ihr Glück zu versuchen?

Daraus ergibt sich mit Sicherheit, daß Tartessos bei den Karern »Markt des Westens« oder etwas ähnliches bedeutet hat, daß es also eine Siedlung, etwa an einer Flußmündung oder auf einem Felsen, und jedenfalls kein fremdes Land oder gar ein mächtiges Reich bezeichnete. Aber damit ist nicht gesagt, daß ein bestimmter und immer derselbe Ort gemeint war. Das Wort wird ein volkstümlicher Ausdruck gewesen sein, mit dem die Seeleute den entferntesten westlichen Punkt der jeweiligen Fahrt meinten, also von fast derselben Unbestimmtheit, die das alte Wort bei den Kafti gehabt hatte, wo es den Westen überhaupt bezeichnete. Wenn das richtig ist, so ergibt sich daraus, daß kein Ort sich selbst so genannt hat, und mehr als einer gelegentlich so genannt wurde. Das aber kann nur in Westsizilien und allenfalls in Tunis der Fall gewesen sein. Daß die Karer nach Spanien gefahren sind, ist ausgeschlossen. Das schon erwähnte gänzliche Fehlen östlicher Funde über Sardinien hinaus bis ins 7. Jahrhundert ist allein ein sicherer Beweis, ganz abgesehen von den Schlüssen, die man aus der unsicheren Lage und dem Charakter der Schiffahrt nach 1200 ziehen muß. Und von der wunderbaren »tartessischen Kultur«, die nach griechischen Seefahrer- und Dichterfabeln – denn gesehen hat es niemand – ein mächtiges Reich im Baetistale erfüllt haben soll, hat sich nicht die geringste Spur gefunden. Im Gegenteil: die Kultur hat in Südspanien seit Jahrtausenden niemals tiefer gestanden als gerade jetzt. Aber hier gibt es Namen von Eingeborenenstämmen, Turditaner und Turduler, die es plötzlich erklären, weshalb die Jonier, als sie im 5. Jahrhundert von Massalia her[288] ein paar Stützpunkte an der spanischen Ostküste anlegten, den Namen Tartessos gerade an diesem Punkt verankerten. Es ist das Ergebnis einer naiven Volksetymologie, an welcher die Griechen immer eine herzliche Freude gehabt haben. Auf jeder Seite fast selbst ihrer ernsthaftesten Historiker und Geographen stehen solche Wortspielereien, durch die fremde Namen mit solchen aus der eigenen Mythologie verknüpft werden.8 Natürlich war und blieb das Literatur. Kein Mensch im Turditanergebiet wird je erfahren haben, welch berühmten Namen man seiner Heimat zuteil werden ließ. Da das Westmittelmeer jetzt kein Raum für Märchenländer mehr war, denn Karthager und Etrusker trieben hier große Politik, so wurden die alten Namen und Fantasiegebilde verpflanzt, über die Straße von Gibraltar hinaus, welche die Karthager für fremde Schiffe – und die kritische Nachprüfung solcher Geschichten! – gesperrt hatten. Aber Tartessos war nun einmal, nachdem die jonischen Seeleute den Namen von ihren karischen Nachbarn übernommen hatten, aus einer schnell vergangenen Wirklichkeit zum unerschöpflichen Thema von Schiffersagen geworden. Der westliche Horizont der Jonier endete noch im 9. Jahrhundert an den peloponnesischen Küsten, und irgendwo dahinter, in weiter Ferne, lag das ersehnte Dorado, das um so reicher mit märchenhaften Königen, Schätzen, Bauten, Luxus und uralter Weisheit ausgestattet wurde, je länger man davon erzählte. Es ist dieselbe hellenische Einbildungskraft, aus welcher auch das Bild von Troja in der Ilias, das der Phaiakenstadt in der Odyssee und noch das platonische von Atlantis stammt. Je weiter die Seefahrer wieder nach dem Westen gelangten, desto weiter wich Tartessos zurück, und als das Festland zu Ende war, verschwand es in der Vergangenheit.

Eine wesentlich andere Bedeutung hatte das phönikische Wort Tarschisch, das nicht aus dem Sprachgebrauch karischer Seeleute, sondern aus dem viel älteren im Alaschia der Kaftizeit stammt. In Tyrus und Sidon kannte man noch den Gegensatz, der in den Kaftibegriffen Tarschisch und Elissa gelegen hatte. Es waren seemännischse Bezeichnungen für Fahrtrichtungen gewesen,[289] für West und Ost, und als solche blieben sie hier im Gebrauch. Mit Elissa meinte man jetzt die Nachbarschaft, eben den »Osten« der Kafti, also im wesentlichen die Insel, wenn man von ihr im allgemeinen sprach, als Ziel des nahen Seeverkehrs; die tyrische Seite von ihr im besonderen hieß nach der Stadt Kittim. Im Gegensatz dazu waren Tarschischfahrten alle Unternehmungen nach den ferneren Westländern, also nach Tunis und Sizilien und darüber hinaus, und Tarschischschiffe starke Fahrzeuge für diese weite Fahrt. Es gibt nicht das geringste Zeugnis dafür, daß die Phöniker mit Tarschisch ein bestimmtes Land oder gar eine einzelne Stadt bezeichnet hätten. Das beweist schon das Durcheinander in den israelitischen Nachrichten, wo die Schiffe für die Ophirfahrt, also im Roten Meer, als Tarschischschiffe bezeichnet werden, wo Karthago, von dessen Existenz man nur eine nebelhafte Vorstellung hatte und dessen eigenen Namen man gar nicht kannte, und vielleicht Sizilien bald unter Tarschisch, bald unter Elissa mitbegriffen werden,9 wo einmal ein Land mit tributpflichtigen Häuptlingen,10 dann sogar Tyrus selbst als Tarschisch erscheint.11 Offenbar wußten diese Binnenländer, deren geographische Begriffe sich am Beduinenleben der Wüste herausgebildet hatten, mit den Fahrtausdrücken einer Seemannssprache nichts anzufangen.

Die letzten Erben der Kaftimacht sind also Phöniker und Jonier gewesen, und zwar hatten die Leute von Sidon und Tyrus einen bedeutenden Vorsprung. Vielleicht begann der Aufstieg von Sidon schon zu der Zeit, wo die Karer noch das Ägäische Meer beherrschten. Die großen phönikischen Unternehmungen im fernen Westen gehen aber von Tyrus aus, das erst um 1000 herum seine Schwesterstadt überflügelte.12 Es mag annähernd richtig sein, daß Utika und möglicherweise auch Gades – als bescheidenes Emporion – um 1000 entstanden. Das setzt aber frühere Gründungen in Westsizilien und Malta voraus, und damit noch[290] ältere Stationen auf Kreta, Kythera und den westgriechischen Inseln. Die Richtung dieser Handelspolitik bedeutet nichts anderes, als daß diese Seefahrer den Westweg der Karer und damit die südliche Durchfahrt nach dem Westen zwischen Tunis und Sizilien in ihre Hand bekamen, worauf die Jonier auf die nördliche Straße von Messina als den einzigen andern Weg Ansprüche erhoben. Daneben haben sie den Nordweg der Karer ins Schwarze Meer mit Beschlag belegt und weiter ausgebaut. In dieser frühen Eifersucht, die sich ganz deutlich in der kolonialen Ausbreitung beider Mächte nach Westen neben- und gegeneinander spiegelt, liegt schon der späte Kampf auf Sizilien zwischen Karthagern und Griechen und das endgültige Ringen um die Weltherrschaft zwischen Karthagern und Römern im Keime verborgen. Die verkehrspolitische Lage Westsiziliens, das die beiden Räume trennt, und wo die Phöniker als Erben der Karer auftraten, gab Karthago den Vorteil der strategischen Stellung, und es bedurfte der römischen Staatsorganisation, um das Gleichgewicht der Machtmittel wieder herzustellen.

1

Daß sie nicht griechisch sprachen, versteht sich eigentlich von selbst und wird durch ihre Eigennamen bewiesen. Aber seit Forrers Entdeckung des Achäernamens in den Texten von Boghazköi ist das Gerede von »Griechen im 14. Jahrhundert« unter Fantasten und Halbgelehrten Mode geworden, so daß mit Betonung gesagt werden muß, daß die homerischen Dichter im nordwestlichen Kleinasien die Achäer Agamemnons, welche ein halbes Jahrtausend zuvor gelebt hatten, mit Unrecht für ihre Ahnen hielten. Wie das kam, wird im nächsten Aufsatz dargestellt werden.

2

Jedenfalls taucht hier plötzlich die Sitte der Leichenverbrennung auf (Reall. d. Vorgesch. X S. 370 ff.).

3

Was auf dem Lande von Stamm zu Stamm weitererzählt wurde, kann man unmöglich noch als geographische Kenntnis bezeichnen.

4

Unter Seefahrern, Jägern, Kriegern, Abenteurern und Forschungsreisenden. Es ist der Anfang der erzählenden Poesie. Von ihm aus haben sich Epos und Roman entwickelt. Was der Kaufmann Pytheas aus Massalia um 300 von seiner Fahrt »nach der Nordsee« berichtete, wird nicht mehr Wirklichkeitsgehalt besessen haben als die alten Argonautengeschichten. Hieß nicht Herodot der Vater der Lüge, obwohl er sicher geglaubt hat, was er wiedererzählte?

5

Die genaue Begründung gehört in einen anderen Zusammenhang.

6

Vor einer Verwechslung von -essos mit ähnlich geschriebenen Endungen wie -ussas (Hattussas = Boghazköi) ist schon wiederholt gewarnt geworden.

7

S. 225 f.

8

Auch daß die Skylla in die Straße von Messina versetzt wurde, wird auf dem ähnlichen Klang des Namens der Sikuler beruhen.

9

Die Septuaginta übersetzt Tarschisch Jer. 23, 1; Ez. 27, 12; 38, 13 ausdrücklich mit Karthago.

10

Ps. 71, 10.

11

Jes. 23, 10; auch 66, 19?

12

Noch lange haben sich die Einwohner »Sidonier von Tyrus« genannt.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 282-291.
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