Der Spuk

[52] Mit den Gespenstern gelangen wir ins Geisterreich, ins Reich der Wesen.

Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses, »unbegreifliches« Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle[52] Spuk, den wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirklichkeit zu entdecken (das »Dasein Gottes« zu beweisen), – diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Menschen; mit der gräßlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibhaftge Person zu verwandeln, – damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden Welt suchten sie das »Ding an sich«, das Wesen, sie suchten hinter dem Ding das Unding.

Wenn man einer Sache auf den Grund schaut, d.h. ihrem Wesen nachgeht, so entdeckt man oft etwas ganz anderes als das, was sie zu sein scheint: eine honigsüße Rede und ein lügnerisches Herz, pomphafte Worte und armselige Gedanken usw. Man setzt dadurch, daß man das Wesen hervorhebt, die bisher verkannte Erscheinung zu einem bloßen Scheine, zu einer Täuschung herab. Das Wesen der so anziehenden, herrlichen Welt ist für den, der ihr auf den Grund sieht, die – Eitelkeit: die Eitelkeit ist = Weltwesen (Welttreiben). Wer nun religiös ist, der befaßt sich nicht mit dem trügerischen Schein, nicht mit den eitlen Erscheinungen, sondern schaut das Wesen an, und hat in dem Wesen – die – Wahrheit.

Die Wesen, welche aus den einen Erscheinungen sich ergeben, sind die bösen Wesen, und umgekehrt aus andern die guten. Das Wesen des menschlichen Gemütes z.B. ist die Liebe, das Wesen des menschlichen Willens ist das Gute, das seines Denkens das Wahre usw.

Was zuerst für Existenz galt, wie Welt und dergl., das erscheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Existierende ist vielmehr das Wesen, dessen Reich sich füllt mit Göttern, Geistern, Dämonen, d.h. mit guten oder bösen Wesen. Nur diese verkehrte Welt, die Welt der Wesen, existiert jetzt wahrhaft. Das menschliche Herz kann lieblos sein, aber sein Wesen existiert, der Gott, »der die Liebe ist«; das menschliche Denken kann im Irrtum wandeln, aber sein Wesen, die Wahrheit, existiert: »Gott ist die Wahrheit« usw.

Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen und anzuerkennen, das ist Religion: ihr Reich ein Reich der Wesen, des Spukes und der Gespenster.

Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den nonsens zu realisieren, hat ein leibhaftiges Gespenst zuwege[53] gebracht, ein Gespenst oder einen Geist mit einem wirklichen Leibe, ein beleibtes Gespenst. Wie haben sich die kräftigsten genialsten Christenmenschen abgemartert, um diese gespenstische Erscheinung zu begreifen. Es blieb aber stets der Widerspruch zweier Naturen, der göttlichen und menschlichen, d.h. der gespenstischen und sinnlichen: es blieb der wundersamste Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Gespenst, und kein Schamane, der bis zu rasender Wut und nervenzerreißenden Krämpfen sich stachelt, um ein Gespenst zu bannen, kann solche Seelenqual erdulden, wie Christen sie von jenem unbegreiflichen Gespenst erlitten.

Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache zutage gekommen, daß der eigentliche Geist oder das eigentliche Gespenst – der Mensch sei. Der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor Gespenstern außer ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist der Sünde, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja selber ein Geist) kann ein Teufel sein usw. – Das Gespenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch geworden, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirklichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist – Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist gerettet wird: auf den Geist kommt alles an, und das Geistes- oder »Seelenheil« wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden, dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopfe usw.).

Du bist mir und ich bin dir kein höheres Wesen. Gleichwohl kann in jedem von uns ein höheres Wesen stecken und die gegenseitige Verehrung desselben hervorrufen. Um gleich das Allgemeinste zu nehmen, so lebt in dir und mir der Mensch. Sähe ich in dir nicht den Menschen, was hätte ich dich zu achten? Du bist freilich nicht der Mensch und seine wahre und adäquate Gestalt, sondern nur eine sterbliche Hülle desselben, aus welcher er ausscheiden kann, ohne selbst aufzuhören; aber für jetzt haust dieses allgemeine und höhere Wesen doch in dir, und du vergegenwärtigst mit, weil ein unvergänglicher Geist in dir einen vergänglichen Leib angenommen[54] hat, mithin deine Gestalt wirklich nur eine »angenommene« ist, einen Geist, der erscheint, in dir erscheint, ohne an deinen Lieb und diese bestimmte Erscheinungsweise gebunden zu sein, also einen Spuk. Darum betrachte ich nicht dich als ein höheres Wesen, sondern respektiere allein jenes höhere Wesen, das in dir »umgeht«: ich »respektiere in dir den Menschen«. So etwas beachteten die Alten nicht in ihren Sklaven, und das höhere Wesen: »der Mensch« fand noch wenig Anklang. Dagegen sahen sie ineinander Gespenster anderer Art. Das Volk ist ein höheres Wesen als ein einzelner, und gleich dem Menschen oder Menschengeiste ein in den einzelnen spukender Geist: der Volksgeist. Deshalb verehrten sie diesen Geist, und nur so weit er diesem oder auch einem ihm verwandten Geiste, z.B. dem Familiengeiste usw. diente, konnte der einzelne bedeutend erscheinen; nur um des höheren Wesens, des Volkes, willen, überließ man dem »Volksgliede« eine Geltung. Wie du uns durch »den Menschen«, der in dir spukt, geheiligt bist, so war man zu jeder Zeit durch irgendein höheres Wesen, wie Volk, Familie und dergl., geheiligt. Nur um eines höheren Wesens willen ist man von jeher geehrt, nur als ein Gespenst für eine geheiligte, d.h. geschützte und anerkannte Person betrachtet worden. Wenn ich dich hege und pflege, weil ich dich lieb habe, weil mein Herz an dir Nahrung, mein Bedürfnis Befriedigung findet, so geschieht es nicht um eines höheren Wesens willen, dessen geheiligter Leib du bist, nicht darum, weil ich ein Gespenst, d.h. einen erscheinenden Geist in dir erblicke, sondern aus egoistischer Lust: du selbst mit deinem Wesen bist mir wert, denn dein Wesen ist kein höheres, ist nicht höher und allgemeiner als du, ist einzig wie du selber, weil du es bist.

Aber nicht bloß der Mensch, sondern alles spukt. Das höhere Wesen, der Geist, der in allem umgeht, ist zugleich an nichts gebunden, und – »erscheint« nur darin. Gespenst in allen Winkeln!

Hier wäre der Ort, die spukenden Geister vorüberziehen zu lassen, wenn sie nicht weiter unten wieder vorkommen müßten, um vor dem Egoismus zu verfliegen. Daher mögen nur einige derselben beispielsweise namhaft gemacht werden, um sogleich auf unser Verhalten zu ihnen überzuleiten.

Heilig z.B. ist vor allem der »heilige Geist«, heilig die Wahrheit, heilig das Recht, das Gesetz, die gute Sache, die Majestät, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, das Vaterland usw. usw.[55]

Quelle:
Max Stirner (Joh. Kaspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigentum. Berlin 1924, S. 52-56.
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