§ 2. Die Wiedererweckung des klassischen Altertums, insbesondere des Platonismus, in Italien. Nikolaus Cusanus.

  • [293] Literatur: Außer den soeben genannten Werken: G. Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums, 3. Aufl. 1893. Über Pico von Mirandola vgl. die Einleitung A. Lieberts in seiner Ausgabe von Picos ausgewählten Schriften. Jena (Diederichs) 1905. Über den Kusaner vgl. R. Falckenberg, Grundzüge der Philosophie des Nikolaus Cusanus, Breslau 1880, und verschiedene Arbeiten von J. Uebinger, (s. Überweg III, § 7), dazu neuerdings Cassirer, a. a. O., S. 52-77. Seine wichtigsten Schriften in deutscher Übersetzung herausgegeben von Scharpff, Freiburg 1862. De docta ignorantia, ed. P. Rotta. Bari 1912.

1. Die Renaissance.

Das spätere Mittelalter stand philosophisch, wie wir sahen, durchaus im Zeichen des Aristotelismus. Plato war nur in wenigen seiner Schriften bekannt und konnte auch in seiner ganzen Tiefe und Schönheit von den Männern der Scholastik nicht erfaßt werden. Dazu war eine neue Zeit notwendig, die mit der kirchlichen Autorität wie mit allen anderen Autoritäten kühn zu brechen und den Menschen, zum erstenmal seit dem Altertum, wieder auf sich selbst zu stellen wagte. Diese neue Zeit, die bisher nur in einzelnen Kreisen und Persönlichkeiten (Abälard, Hof des Staufers Friedrich II.) sich im voraus angekündigt hatte, brach jetzt, im 14. und namentlich im 15. Jahrhundert,[293] mit Macht herein. Wenn sie an die echte Antike anknüpfte, so konnte das nicht in dem verwüsteten, geistig erstarrten, unter der Osmanenherrschaft seufzenden Griechenland geschehen, sondern nur in dem jenigen Lande, in dem der Zusammenhang mit dem Altertum naturgemäß noch am stärksten vorhanden war: in Italien. Hier traf der wieder erwachende Geist der Antike auf mannigfache verwandte Elemente, nicht zum wenigsten eine noch halb antike Sitte und Sprache, sowie die alten Erinnerungen und Denkmäler. Hierhin flüchteten sich zahlreiche griechische Gelehrte aus Konstantinopel vor der drohenden Herrschaft der Türken. Hier war durch die Entwicklung des Handels und der politischen Verhältnisse, durch die Zerstückelung in zahlreiche, sich fortwährend befehdende Staaten die politisch-soziale Ordnung des Mittelalters am frühesten aufgelöst worden, hier ein freies Städteleben, daneben eine Reihe kleiner Fürstentümer entstanden, in denen kraftvolle Individuen sich zu Alleinherrschern emporschwangen. Der Italiener reift am frühesten von den Völkern Europas zur selbständigen Persönlichkeit heran und zwar auf allen Gebieten: dem des Staatsmannes, des Redners, des Dichters, des Künstlers. Dazu kam die gewaltige Erweiterung des Gesichtskreises und des Verkehrs durch die geographischen Entdeckungen, die Vervielfältigungsmöglichkeit des geschriebenen Wortes durch die Buchdruckerkunst.

Drei Dichter: Dante (1265-1321), der trotz seines mittelalterlichen Stoffes in Empfindung und Behandlung schon den modernen Menschen verrät, Petrarka (1304 bis 1374), der sein Herz entdeckt, Boccaccio (1313-1378), der wieder den Homer lesen kann und die Geschichte von den drei Ringen erzählt, beginnen den Reigen. Die Universitäten und Schulen mit ihren Rhetorikern, Philologen und Philosophen folgen nach. Allmählich ergreift die Bewegung alle gebildeten Stände; Kaufleute, Fürsten, Päpste, wie sie das glorreiche Haus der Medici in sich vereinigt, zählen zu ihren namhaftesten Förderern. Die positive Religion tritt in den Hintergrund, die sichtbare Umgebung, die als beseelt gedachte Natur, die menschlichen Leiden und Freuden treten in den Vordergrund der Betrachtung. Sie werden gleichsam neu entdeckt, vor allem der Mensch selbst wird Gegenstand der Biographie, der Geschichtsschreibung, der Poesie und der bildenden Kunst. Es ist das Zeitalter des Humanismus, der Weltlichkeit, der Lebensfreude. Scharf ausgeprägte Naturen treten in Fülle[294] hervor. Das persönliche Leben genialer Individualitäten erregt selbst in verworfenen Charakteren wie Cesare Borgia, Bewunderung; in einer Reihe von edlen Persönlichkeiten (Vittoria Colonna, Leonardo, Michel Angelo) schwingt es sich zu seltener Vollendung auf. Auch die Selbständigkeit der Frau wird zum ersten Male anerkannt. Daneben erhebt sich die schöne Form wieder auf allen Gebieten zum leitenden Werte. Statt des Gegensatzes von Ungläubigen und Gläubigen kommt der neue zwischen Ungebildeten und Gebildeten empor; innerhalb der letzteren erfolgt bis zu einem gewissen Grade eine Ausgleichung der Stände und Geschlechter.


2. Platoniker und Aristoteliker.

a) In der Philosophie sammeln sich die neuen Tendenzen unter dem Namen Platos als Feldzeichen gegenüber dem nüchternen Geiste der aristotelischen Scholastik. An den Hof des Cosmo von Medici kam 1438 aus Konstantinopel der enthusiastisch für Plato begeisterte Georgios Gemistos Plethon (um 1355-1450, vgl. über ihn die Monographie von Fritz Schultze, Jena 1874) und gewann ihn für die Stiftung einer platonischen Akademie, d.h. einer freien Vereinigung begeisterter Plato-Verehrer zu Florenz, die ihre Blüte unter Cosmos Nachfolgern Lorenzo und Juliano erreichte und das Studium Platos nicht bloß über ganz Italien, sondern über das gesamte gebildete Europa verbreitete. Zu Plethons einflußreichsten Schülern gehörten der gemäßigtere Kardinal Bessarion (1403-72) und Marsilius Ficinus (1433-99), der erste Leiter jener »Akademie« und geschmackvolle Übersetzer der platonischen und plotinischen Schriften ins Lateinische. Freilich haftet, wie schon nach der letzterwähnten Tatsache sich vermuten läßt, diesen Platonikern ein starker Zug zum Neuplatonismus an, der noch schärfer bei dem Grafen Pico von Mirandola (1463-1494), dem deutschen Humanisten Reuchlin (1455-1522) und dem abenteuerlichen Agrippa von Nettesheim (1486-1535) hervortritt, ja sich bei ihnen zum Teil sogar mit kabbalistischen Elementen verschmilzt.

b) Selbst die Aristoteliker, deren Hauptsitz in Italien die Universität Padua blieb, konnten sich, wenn sie auch mit den Platonikern in scharfer Fehde lagen, dennoch der neuen Strömung nicht entziehen. Auch sie sehen jetzt auf die scholastischen Kommentierer ihres Meisters verächtlich als auf Barbaren herab und stützen[295] sich auf seine griechischen Ausleger. Statt der von den Scholastikern fast ausschließlich gepflegten Metaphysik und Physik des Stagiriten, werfen sie sich auf seine Erkenntnislehre und namentlich seine Psychologie. Sie spalten sich in zwei einander scharf bekämpfende Richtungen: Averroisten und Alexandristen. Während die ersteren sich der pantheistischen Auslegung des Aristoteles durch Averroes geneigt zeigten, gingen die letzteren auf die mehr naturalistische Auslegung des Alexander von Aphrodisias (§ 34) zurück. Umstritten war namentlich die Unsterblichkeitsfrage. Beide Richtungen leugneten die persönliche Unsterblichkeit, doch nahmen die Averroisten an, daß der vernünftige Teil der Seele nach dem Tode zur allgemeinen Weltseele zurückkehre und mit dieser unsterblich sei.

Die alexandristische Richtung vertrat am erfolgreichsten Pomponatius (Pietro Pomponazzi, 1462-1524), berühmt als Redner und Lehrer der Philosophie zu Padua und Bologna, in einer auf Betreiben der Inquisition verbrannten kleinen Schrift De immortalitate animi. Er behauptete, die Leugnung der individuellen Unsterblichkeit bringe keineswegs die Sittlichkeit in Gefahr, befördere im Gegenteil das Tun des Guten um des Guten willen, ohne Rücksicht auf zukünftigen Lohn oder Strafe. Von der wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklung ihrer Persönlichkeit seien viele, von der sittlichen niemand ausgeschlossen. Neben diesen Sätzen steht allerdings die bedenkliche Lehre von der zwiefachen Wahrheit: Was für den Theologen wahr sei, brauche es darum nicht für den Philosophen zu sein; die von Kirche und Staat gebotene Unsterblichkeitslehre sei für die Masse gut, die des Zaumes bedürfe. In zwei weiteren Schriften behandelte Pomponatius die Lehre vom Wunder und das Problem der Willensfreiheit. Neben kräftiger Betonung der natürlichen Ursachen – die Wirkung der Religion auf die Gläubigen z.B. würde in gleicher Weise erfolgen, auch wenn die heiligen Gebeine aus Hundeknochen beständen – steht auch hier die Schlußreverenz vor der Kirche: wie sie sich ähnlich bei Lorenzo Valla und Erasmus und später noch bei Baco, Gassendi, Descartes und Hobbes findet. Wie weit solche Zweideutigkeit bei allen diesen Philosophen bloße, durch die Zeitverhältnisse (drohende Verketzerung) bedingte Form war, wird sich heute schwerlich mehr entscheiden lassen. Übrigens konnte Pomponatius, als sein averroistischer Gegner Niphus im Auftrage Papst[296] Leos X. eine Widerlegungsschrift gegen ihn verfaßt hatte, in seinem Defensorium die Sterblichkeit der Seele – unter dem Schutze des Kardinals Bembo und des Papstes selbst verteidigen!

c) Auch gegen die scholastische Form und Ausdrucksweise machte sich eine starke, mit den Waffen des Ernstes wie des Spottes kämpfende, namentlich von Lorenzo Valla (1408-1457) geführte Bewegung geltend. Statt der künstlichen Wortbildungen und der spitzfindigen Abstraktionen verlangte man eine geschmackvolle, allen Gebildeten verständliche Sprache, statt der Begriffe »die Sachen«, statt des Klebens am Überlieferten dessen freie Kritik. Mitunter freilich wurde die schöne Form und die rhetorische Kunst übertrieben, wenn man Cicero und Quintilian über Aristoteles' Syllogistik setzte. Aber als Reaktion gegen den einseitigen Aristotelismus des Mittelalters bedeutete auch diese Richtung einen Fortschritt.

Noch andere Philosophen des Altertums wurden in dieser begeisterungs- und kampffrohen Zeit aus jahrhundertelanger Vergessenheit gezogen. So wagte Valla in seinem Dialog De voluptate zuerst der damals noch als sittenlos und gefährlich verschrieenen Ethik Epikurs sich anzunähern. Andere, wie die Deutschen Justus Lipsius und Kaspar Schoppe (Scioppius), suchten den ihnen durch Cicero und Seneca vermittelten Stoizismus zu erneuern.


Nicolaus von Kues.

Zeitlich und sachlich gehört in diesen Zusammenhang auch die merkwürdige Gestalt des Nicolaus Cusanus (1401-1464). Denn Nicolaus Chrypffs oder Krebs, der deutsche Winzerssohn aus dem Dorfe Kues an der Mosel, der 1448 zur römischen Kardinalswürde aufstieg, steht auf der Grenze zweier Zeitalter: des Mittelalters und der Neuzeit, und zweier Gebiete: der Theologie und der Philosophie; sodaß man ihn fast ebensogut dem einen wie dem anderen zuzählen kann. Er faßt mehrere Richtungen des ausgehenden Mittelalters, wie den Nominalismus und die Mystik, in seiner Person zusammen, aber er ist auch schon berührt von dem Humanismus der Renaissance. Er verkehrt mit dem Erbauer der Florentiner Domkuppel, Brunelleschi; sein Lehrer in der Mathematik ist auch der des Columbus. So wendet er sich, obwohl stofflich noch an den mittelalterlichen Problemen haftend, doch bereits neuen Fragestellungen zu. Er zeigt Interesse nicht nur für[297] die Alten, besonders für Plato, die Pythagoreer und Neuplatoniker, sondern auch für Mathematik und Naturwissenschaft, lehrt die Kugelgestalt und Achsendrehung der Erde schon vor Kopernikus, läßt die erste Karte von Deutschland in Kupfer stechen, macht Vorschläge für methodische Experimente und empfiehlt überhaupt das Lesen in dem großen Buche der Natur, das Gott vor uns aufgeschlagen habe.

Philosophisch bedeutsam ist vor allem seine Theorie des Erkennens. Er nimmt vier Stufen desselben an: 1. den nur verworrene Bilder liefernden Sinn, 2. den sondernden Verstand (ratio), 3. die spekulative Vernunft (intellectus) und zuhöchst 4. die mystische Anschauung, die in der Vereinigung der Seele mit Gott besteht. Jede Stufe ist in der nachfolgenden enthalten, aber alle vier sind nur Gestaltungen einer und derselben Grundkraft. Das Erkennen besteht in der Verähnlichung des erkennenden Subjekts und seines Gegenstandes, ist also ein geistiges Messen. Doch all unser Wissen ist nur ein Vermuten. Der Mensch muß sich bewußt werden, daß er Gott oder das Unendliche nie ganz erfassen kann, wenn er sich auch ihm beständig anzunähern vermag: das ist der Zustand des »bewußten Nichtwissens«, der Docta ignorantia, wie der Titel seiner Hauptschrift lautet. In Gott lösen sich alle Gegensätze in Einheit auf (coincidentia oppositorum), in ihm sind alle Möglichkeiten verwirklicht (er ist das poss-est d.h. das »kann-ist«). Aber er stellt nicht bloß das alles umfassende und überragende Maximum, sondern auch das in allem seiende Minimum, dabei zugleich das absolute Können, Wissen und Wollen, die absolute Sittlichkeit dar. Und wenn nun auch der Theologe in Nicolaus die Geheimnisse der kirchlichen Dreieinigkeitslehre u. a., zum Teil in phantastischen Zahlenspekulationen, auszulegen sich bemüht, so zieht ihn doch sein philosophischer Geist zum Pantheismus hin. In Gott hängt ihm alles Seiende zusammen. Gottes Entfaltung, gewissermaßen sein Körper ist die Welt; und jedes Ding spiegelt an seiner Stelle das Universum wider. So ist auch der Mensch ein Spiegel des Alls, eine »kleine Welt« (parvus mundus, Mikrokosmus). Seine Vervollkommnung ist nur eine Entfaltung seiner ursprünglichen Anlagen, seine Liebe zu Gott = Einswerden mit Gott. Aber auch des Menschen Geist entspricht der absoluten. Wirklichkeit, sein Sehen ist ein Nachbild des göttlichen, ohne seinen Intellekt gäbe es keine Werte auf der Welt. So[298] wird das Negative schließlich zum Positiven, das »bewußte Nichtwissen« zur »unendlichen Erkenntnis«.

Es sind Gedanken, die uns in der Geschichte der Philosophie noch öfters, bis zu Schelling und Hegel hin, begegnen werden. Neben seinen theologischen Spekulationen hegt zudem dieser merkwürdige Kopf einzelne ganz moderne Gedanken, wenn auch zum Teil erst keimhaft, wie den der Individualität, der Entwicklung, der Widerspiegelung der Gegenstände im Bewußtsein, der religiösen Toleranz. Bei aller Verschiedenheit der Riten »gibt es nur eine Religion«, der er auch durch Wiederherstellung der Einheit mit der griechischen Kirche zu dienen suchte (Dialog De pace seu concordantia fidei). Er schätzt »unsere« Mathematik als Musterbild der Gewißheit, erörtert das Unendliche, den Grenzübergang, das spezifische Gewicht und erinnert, wie K. Lasswitz nachgewiesen hat, zuerst wieder an die Grundgedanken der Atomistik. So hat er in mehrfacher Hinsicht der Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts, ja, wie Cassirer gezeigt hat, auch den Begründern der modernen Naturwissenschaft (Kepler und Galilei) und Mathematik (Descartes, Leibniz) vorgearbeitet.

Verwandt mit dem Kusaner ist der auch als Mathematiker bedeutende Franzose Charles Bouilié (Carolus Bovillus, um 1475-1553); vgl. über ihn Cassirer, S. 77 bis 85, 154 f.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 293-299.
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