§ 7. Die Anfänge naturwissenschaftlicher Methode. (Leonardo – Kopernikus – Kepler.)

  • [330] Literatur: Über Leonardo vgl. Grothe, Leonardo als Ingenieur und Philosoph, Berlin 1874; Prantl, Sitzungsberichte der Münch. Akad. 1885, 1 ff.; von neueren Darstellungen; H. St. Chamberlain, Immanuel Kant, II. Vortrag: Leonardo. (München 1905.) Eine umfangreiche Auswahl aus seinen Werken in deutscher Übertragung mit ausführlicher[330] Einleitung gibt Marie Herzfeld, Leonardo da Vinci, der Denker, Forscher und Poet. 3. Aufl. Jena 1911. Péladan, La philos. de L. d'après les manuscrits, Paris 1910. – Über Kepler und Galilei vgl. die das Philosophische leider nicht berührende Darstellung von S. Günther, Moderne Geisteshelden, Bd. 22, Berlin 1896; über Kepler besonders noch: Apelt, Johann Keplers astronomische Weltansicht, 1849, Eucken in Philosophische Monatshefte XIV, 30-45; Cassirer, a. a. O., S. 253-289. Keplers Werke sind in 8 Bänden herausgegeben worden von Frisch, Frankfurt 1857-1872. – Über Kopernikus vgl. L. Prowe, Bd. I: Leben. II: Urkunden, Berlin 1873. Über seine philos. Bedeutung vgl. Natorp im Preuß. Jahrb. Bd. 49.

Am entschiedensten und für immer vollzog sich der Bruch mit dem Mittelalter auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Der Naturphilosophie der Renaissancezeit hafteten immer noch metaphysische, wenn nicht gar theologische Vorurteile an. Erst das siebzehnte, das sogenannte naturwissenschaftliche Jahrhundert legt in der mathematischen Naturwissenschaft (Mechanik) den Grund zu einer rein kausalen Erkenntnis der Natur und befreit das wissenschaftliche Denken endgültig von dem kirchlichen Joche. Die moderne Philosophie ist nicht von den phantasiereichen Naturphilosophen, sondern von den Vertretern strenger naturwissenschaftlicher Methode begründet oder doch vorbereitet worden. Daher bedeutet denn auch im 17. Jahrhundert Philosophie in erster Linie Naturwissenschaft, erst in zweiter Logik und Metaphysik.


1. Leonardo da Vinci.

Die Anfänge der neuen Wissenschaft hängen mit der Renaissance zusammen, und auch ihre Wiege steht in Italien, dessen industrieller Norden ein Hebel der modernen Mechanik wurde. Der große Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) war eine jener viel-, ja allseitigen Naturen, wie sie in solchem Umfange selbst die Renaissancezeit nur in wenigen, vereinzelten Exemplaren hervorgebracht hat: zugleich Maler, Bildhauer, Architekt, Astronom, Violinist, Anatom, Ingenieur und Mechaniker; und zwar auf fast allen diesen Gebieten bahnbrechend und erfinderisch. Von den noch erhaltenen mehr als 5000 Manuskriptseiten seines Nachlasses liegen jetzt mehr als drei Viertel in musterhafter Faksimile-Wiedergabe in verschiedenen französischen, englischen und italienischen Ausgaben vor. Für uns das Wichtigste ist sein methodischer Grundgedanke. Die Mutter aller Gewißheit ist ihm die durch Versuche zu erzielende Erfahrung. Diese aber muß sich, weil[331] und insofern sie nach Notwendigkeit, dem »ewigen Bande und der Regel der Natur«, strebt, mit dem exakten Denken verbinden, das nur in der Mathematik und der Mechanik, diesem »Paradies der mathematischen Wissenschaften«, völlige Sicherheit gewährt. Nur dasjenige dürfen wir uns zu begreifen rühmen, das wir im eigenen Geiste entwerfen. Selbst das Geheimnis der Schönheit beruht im Notwendigen und Gesetzmäßigen, und das Gesetzmäßige jeder Erscheinung muß auf Maß und Zahl gebracht werden. Der Wert des Wissens hängt nicht von seinem Gegenstande, sondern von dem Grade seiner Gewißheit ab. Der Zeitbegriff wird in seiner Eigenart bestimmt, derjenige der Entwicklung in seiner Bedeutung erkannt.


2. Kopernikus.

Unterdessen schuf zu Frauenburg in Preußen der Domherr Nikolaus Kopernikus aus Thorn (1473 bis 1543) sein weltumwälzendes Werk De revolutionibus orbium caelestium l. VI. Kopernikus hat nicht, wie man oft annimmt, sein ganzes Leben in stiller Mönchsklause zugebracht – er war nicht einmal Theologe – –, sondern hat erst in Krakau und Wien (wo bereits der Mathematiker und Astronom Joh. Müller aus Königsberg in Franken, genannt Regiomontanus, aufklärend gewirkt hatte), darauf zehn Jahre lang in Bologna, Rom und Padua astronomischen, medizinischen und humanistischen Studien obgelegen, die er dann nach seiner Rückkehr in die Heimat fortsetzte. Zum Protestantismus ist er nicht übergetreten, scheint aber der freieren Richtung des Erasmus angehört zu haben. Schon 1506 begann er mit der Aufzeichnung seiner Lehre, hielt sie jedoch aus begreiflichen Gründen von der Veröffentlichung zurück. Erst in seinem Todesjahre ließ er sie auf Drängen eines begeisterten Schülers drucken; der Nürnberger Prediger Osiander gab sie dann mit einer sehr zaghaften Vorrede heraus. Zu seiner berühmten Entdeckung von der Umdrehung der Erde um die Sonne trieb Kopernikus in erster Linie die Überzeugung von der »Klugheit« (sagacitas) der Natur, die stets den einfachsten Weg wähle. Dazu kam dann das Prinzip der Relativität: die scheinbare Bewegung der Dinge beruht in tausend Fällen auf unserer eigenen. Fortbewegung. Methodisch aber ist sein Weg derjenige der platonischen Hypothesis (I, § 22): er weist nach, daß unter seiner Voraussetzung die Bewegungen[332] der Gestirne sich genau so vollziehen müssen, wie sie uns erscheinen. Dem Plato hatte er auch das Motto für sein Werk entlehnt: Oudeis ageômetrêtos eisitô! Die neue Lehre wurde von den Zeitgenossen teils nicht beachtet, teils, so auch von Luther, als Narrheit behandelt, dann aber, als man sie begriff, aufs heftigste bekämpft. Von bedeutenderen Gelehrten erklärten sich nur Kepler und später Galilei für sie; auf dem päpstlichen Index librorum prohibitorum hat sie bis 1757 gestanden. Sie war in der Tat auch »revolutionär« genug, wohl geeignet, alle bisherigen Vorstellungen über das Verhältnis des »Himmels« zu der Erde von Grund aus umzustürzen. »Unter allen Entdeckungen möchte nichts eine größere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus... Denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, daß man dies alles nicht wollte fahren lassen, daß man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte.« (Goethe, Gesch. d. Farbenlehre, 3. Teil.)

Das neue, sonnenzentrische Weltbild wies von selbst auf ein dem Sinnenschein entgegengesetztes Denken hin. Telesio (§ 3) hatte zwar an die Stelle der aristotelischen »Form« bereits den Begriff der »Kraft« gesetzt, aber ihn noch zu unbestimmt gelassen. Eben auf die Analyse und den Zusammenhang der einzelnen Kräfte, auf die Feststellung eines methodischen Prinzips kam es an. Dies geleistet zu haben, ist das Verdienst von Johann Kepler und Galileo Galilei.


3. Kepler.

Johann Kepler (auch Keppler), am 27. Dezember 1571 in einem schwäbischen Dorfe bei Leonberg geboren, 1630 zu Regensburg gestorben, ist, weil er, anders als der Frauenburger Domherr, seine Überzeugung offen aussprach, vielfach umhergetrieben worden, von der Orthodoxie beider Konfessionen angefeindet, mit Not und Verfolgung kämpfend, wenn auch nicht Hungers gestorben (wie Günther im Gegensatz zu früheren Annahmen nachgewiesen hat). Sein Jugendwerk, das Mysterium cosmographicum[333] de admirabili proportione coelestium orbium (1596), bewegt sich, wie schon der Titel zeigt, noch stark in neuplatonisch-pythagoreischen Gedankengängen, aus denen aber schon die Idee hervortritt, daß der göttliche Geist sich in den harmonisch geordneten geometrischen Größenverhältnissen des Weltalls offenbare. In der Weiterverfolgung dieses Weges gelangt er immer mehr von seiner anfänglichen animistischen zur modernen, mathematisch-mechanischen Weltauffassung. Auch Kepler ging von der Überzeugung aus, die schon den Kopernikus beseelt hatte, daß »Einfachheit und geordnete Regelmäßigkeit« die ewigen Prinzipien der Natur sind, die quantitativen Verhältnisse aber diejenigen seien, welche der Menschengeist am sichersten durchschaue. »Nichts als Größen oder durch Größen vermag der Mensch vollkommen zu erkennen.« So fand er nach vierzehnjähriger, unverdrossener Arbeit seine berühmten drei Bewegungsgesetze, durch die Kopernikus' Entdeckung erst mathematisch bewiesen ward und an die Stelle des als »vollkommenste« Figur vom Altertum und Mittelalter vergötterten Kreises die Ellipse trat, welche allein die tatsächliche Planetenbewegung mathematisch zu erklären vermochte. Auch das Ungleichförmige untersteht der Ordnung und den »Gesetzen der Natur« (legibus naturae), wie er seine drei Grundregeln zum ersten Male zu nennen sich erkühnt. So wurde aus dem »kosmographischen Mysterium« von 1596 eine »Physica coelestis«: die »Neue Astronomie« von 1609, dargelegt an »den Bewegungen des Planeten Mars«. Kepler will nicht mehr die Ursache dieser Bewegungen ergründen, sondern ihre Gesetze. An die Stelle der »bewegenden Seelen« seiner Jugendschrift sind jetzt, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt, »physische Kräfte« getreten, an Stelle der Metaphysik des Aristoteles eine Physik, die eine neue »Arithmetik der Kräfte« in sich schließt; denn der Kraftbegriff wird ihm zum Kraftgesetze. Das Weltgebäude gleicht nicht einem beseelten Geschöpf, sondern einem Uhrwerk. Die Physik aber ruht für ihn auf mathematischem Fundament; denn »wo Materie ist, da ist Geometrie«. Auch seine Optik, in der er zuerst das Sehen mechanisch zu erklären versuchte, und seine Akustik (»Harmonik«) behandeln den Lichtstrahl bezw. Ton nur, insofern er Linie bezw. Zahl ist. Ohne mathematische Beweise bin ich blind. Nur die Mathematik erleuchtet das Dunkel, in dem die »Chemiker, Hermetiker und Paracelsisten«[334] schweben. Die Physica coelestis erweitert sich endlich zur Harmonice mundi. Harmonie durchdringt das gesamte Weltall vom Planetenumlauf bis zu den kleinsten Kristallbildungen und bis ins Reich der Töne. Und diese Harmonie ist keine Eigenschaft der Dinge, sondern eine Schöpfung des selbsttätigen Menschengeistes, der dabei neben der intellektuellen Befriedigung auch eine Art ästhetischer Lust empfindet.

In einer Schrift Apologia Tychonis contra Ursum zugunsten des dänischen Astronomen Tycho de Brahe, dessen reiches Forschungsmaterial er erbte und zu seinen Entdeckungen benutzt hat, erörtert Kepler den Begriff der Hypothese genau im platonischen Sinne. Die Wissenschaft muß von Hypothesen ausgehen, d. i. Voraussetzungen, vermittelst deren sich der Zusammenhang der Dinge ohne Widerspruch mit der Erfahrung erklären läßt. Das astronomische System Tychos, das eine Zeitlang dem kopernikanischen bedenkliche Konkurrenz gemacht hatte, wurde übrigens durch Kepler vollständig gestürzt.

Im Laufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung hat sich Kepler immer mehr von der aristotelisch-neuplatonischen Denkweise seiner Vorgänger befreit. Wenn er bisweilen doch noch mit Analogien und Symbolen spielt, so erklärt er ausdrücklich, er »vergesse niemals dabei, daß es sich nur um ein Spiel handele«. Den entscheidenden Schritt zur Begründung der mathematischen Physik als selbständiger Wissenschaft tat freilich erst sein großer italienischer Gesinnungs und Zeitgenosse. Am Todestage Michel Angelos wird Galileo Galilei geboren: die Kunst der Renaissance tritt ihr Zepter ab an die mathematische Naturwissenschaft.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 330-335.
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