§ 35. Fortsetzung.

II. Die Lehre von den Grundsätzen.

[200] 1. Einleitung: Der Schematismus der Kategorien.


1. Übergang. Das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung steht unter der Einheit der Kategorien als seiner notwendigen Bedingung. Anderseits aber kommt den letzteren, ohne Anwendung auf die Anschauung, keine objektive Gültigkeit zu. Ohne das sind sie »bloße Gedankenformen«, leere Titel zu Begriffen ohne Inhalt, ohne Sinn und Bedeutung. Das Denken aber soll doch zum Erkennen werden. Sie bedürfen also zu ihrer Realisierung durchaus der Anwendung auf sinnliche Anschauung, auf Gegenstände der Sinne. Die Kategorien der Quantität z.B. haben den Raum, die der Ursache hat die Zeit zur unumgänglichen Voraussetzung. Um eine Linie zu erkennen, muß ich sie ziehen. Ihre endgültige Rechtfertigung und Bewährung erhalten die Kategorien oder Grundbegriffe daher erst durch die Grundsätze, d.h. »diejenigen synthetischen Urteile, welche aus reinen Verstandesbegriffen a priori herfließen und allen übrigen Erkenntnissen a priori zugrunde liegen«. Die Vermittlung zwischen beiden geschieht durch den

2. Schematismus der reinen Verstandesbegriffe. »Transzendentales Schema« nennt Kant die »formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit«, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann. Das Schema muß daher einerseits der Kategorie gleichartig, folglich »intellektuell«, anderseits aber auch der Erscheinung gleichartig, also sinnlich sein, weshalb es auch durch die Einbildungskraft hervorgebracht wird, wie z.B. der allgemeine Begriff einer mathematischen Figur, einer Zahl, eines Hundes. Es bedeutet im Grunde eigentlich nichts anderes als den einfachen Satz; das Erkennen muß anschaulich sein, wenn es über das bloße Denken hinauskommen will. Die Kategorien[200] waren nur »Begriffe von Gegenständen überhaupt«, während wir doch Gegenstände im besonderen, bestimmte Erfahrungs»dinge« erkennen wollen. Die beiden uns jetzt bekannten Arten von Formen – die der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) und die des Verstandes (die Kategorien) – sind miteinander zu verbinden, wenn Erkenntnis erzeugt werden soll. So bezeichnet das Schema, als echt »transzendentale« Bedingung, den Weg, auf dem die Form ihren Inhalt, die Erkenntnis Gestalt gewinnt.

3. Die einzelnen Schemata. Das allgemeine Schema, durch welches allgemeine Begriffe sich in unserem Bewußtsein mit dem reinen Gewebe unseres inneren Anschauens verbinden, das reine Schema aller Sinnesempfindungen ist die Zeit, die das »reine Bild aller Größen für den äußeren Sinn«, den Raum, einbegreift. Die einzelnen Schemata sind die folgenden: a) das der Quantität oder Größe (der Addition von Gleichartigem) ist die Zahl; b) das der qualitativen Kategorien (Realität im Verhältnis zu Limitation und Negation) ist die »kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung der Quantität von etwas in der Zeit« (die Empfindung mit ihren Graden); c) das der Substanz: die Beharrlichkeit des Realen; das der Kausalität: die Sukzession des Mannigfaltigen nach einer Regel; das der Gemeinschaft oder Wechselwirkung: das Zugleichsein der Bestimmungen der einen Substanz mit denen der anderen; d) das Schema der Möglichkeit: Bestimmung der Vorstellung zu irgendeiner Zeit; der Wirklichkeit: das Dasein in einer bestimmten Zeit; endlich die Notwendigkeit: das Dasein zu aller Zeit.

Im Grunde also sind die Schemata nichts als apriorische Zeitbestimmungen, die nacheinander auf die Reihen, den Inhalt, die Ordnung und den Inbegriff der Zeit gehen. Sie verwirklichen die Kategorien bezw. deren Form, den Verstand, indem sie sie zugleich auf die sinnlichen Bedingungen der Erfahrung einschränken (restringieren). Nur durch ihre Vermittlung können aus den Begriffen die Grundsätze des reinen Verstandes entstehen.


2. Die Grundsätze als die Bedingungen der mathematischen Naturwissenschaft.

Denken oder Urteilen heißt: Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen. Die zufälligen, subjektiven Urteile gehen uns hier nichts an. Objektiv urteilen heißt:[201] Vorstellungen in einem Bewußtsein überhaupt notwendig vereinigen. Auch von ihnen scheiden die analytischen Urteile, deren oberster Grundsatz der Satz des Widerspruches ist (vgl. § 33), für unseren Zweck aus, denn wir wollen die Bedingungen der reinen Naturwissenschaft erforschen; diese aber besteht nicht aus analytischen, sondern aus synthetischen Urteilen. Deren oberste, nicht mehr weiter ableitbare Regeln (d.h. Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung im Bewußtsein) sind die Grundsätze. Machen die formalen Bedingungen aller Urteile überhaupt ein logisches, die der Grundbegriffe ein transzendentales, so machen die Grundsätze das System der Natur aus, »welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese zuerst möglich macht und daher die eigentliche allgemeine und reine Naturwissenschaft genannt werden kann« (Proleg. § 23, Schluß). Die Grundsätze möglicher Erfahrung sind zugleich die allgemeinen Gesetze der Natur und konstituieren die Einheit derselben.

Ob nicht Kant von ihnen überhaupt ausgegangen sei und erst nachher und ihnen zuliebe die Tafel der Grundbegriffe aufgestellt habe, wie Gehen und nach ihm Stadler nachzuweisen gesucht haben, muß hier unerörtert bleiben. Genug, sie werden in der Kritik der reinen Vernunft auf die Tafel der Kategorien bezw. der Urteile zurückgeleitet. Sie zerfallen nach der Art ihrer Anwendung in

A. Mathematische, die nur auf die Anschauung gehen und daher apodiktisch lauten, und

B. Dynamische, die auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt gehen und daher nur mittelbare Evidenz an sich tragen.


A. Die mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes.

Sie zerfallen ihrerseits wieder in: a) Axiome der Anschauung, b) Antizipationen der Wahrnehmung. Auch den mathematischen Grundsätzen liegen reine Verstandessätze zugrunde. Das Prinzip der Möglichkeit der »Axiome der Anschauung« (selbst kein Axiom) oder der

1. Grundsatz lautet (nach der 2. Auflage): »Alle Anschauungen sind extensive Größen.« Der erste Gesichtspunkt, unter dem wir die Erscheinungen als Gegenstände bestimmen, ist die Größe, und zwar die ausgedehnte oder mathematische Größe, die in der Synthesis des mannigfaltigen Gleichartigen besteht. Die Raumgröße[202] muß in sukzessiver Synthesis (Zusammensetzung) erzeugt werden, z.B. der Begriff der Linie durch die Zusammensetzung ihrer Teile; ebenso die Zeitgröße. Damit erst werden die allgemeinen Formen des Raumes und der Zeit zu »bestimmten« einzelnen Räumen und Zeiten: dadurch erst – nicht schon durch die transzendentale Ästhetik allein – wird die Mathematik der Ausdehnung oder die Geometrie, dadurch vor allem erst die Anwendung der reinen Mathematik auf die Gegenstände der naturwissenschaftlichen Erfahrung möglich. Alle Einwürfe dagegen, die auf der falschen Entgegensetzung von reiner und angewandter Mathematik beruhen, sind nur »Chikanen einer falsch belehrten Vernunft«.

Eine zweite Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft stellt der

2. Grundsatz dar: »In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad

Tiefer als die Zahleinheit, die der extensiven Größe zugrunde liegt, geht die Einheit der Realität, die Kant im letzten Grunde auf die »bloß subjektive« Empfindung zurückführt. Diese kann nicht unter den Begriff der Ausdehnungsgröße fallen, weil sie keine Anschauung ist, die Raum oder Zeit »enthielte«. Aber es gibt doch anderseits zwischen der realen Empfindungsvorstellung und der Null, »d. i. dem gänzlich Leeren der Anschauung in der Zeit«, einen Unterschied, der eine Größe hat; zwischen jedem gegebenen Grade von Licht, Wärme, Schwere, Raumerfüllung und der gänzlichen Finsternis, Kälte, Leichtigkeit und Raumleere z.B. können immer noch kleinere Grade gedacht werden, wie auch zwischen irgendeinem Bewußtsein und dem völlig Unbewußten. In der apriorischen Erfassung dieses Empfindungsunterschiedes oder Grades liegen die »Antizipationen der Wahrnehmung«, die der zweite Grundsatz ausdrückt. Die »Realität« entsteht demnach durch Begrenzung der »Negation« und wird durch die »kontinuierliche und gleichförmige« Quantitätserzeugung, die wir in ihrem Schema (vgl. oben I. 3, b) kennen gelernt haben, zur intensiven Größe. Kontinuität (Stetigkeit) heißt »die Eigenschaft der Größen, wonach kein Teil von ihnen der kleinstmögliche (einfach) ist«. Der Raum besteht nur aus Räumen, die Zeit nur aus Zeiten; Punkte und Augenblicke sind bloße Raum- bezw. Zeiteinschränkungen (-stellen); ein leerer Raum oder eine leere Zeit kann niemals empirisch bewiesen werden.
[203]


B. Die dynamischen Grundsätze.

a) Die Analogien der Erfahrung.


1. Das Prinzip der Analogien der Erfahrung. Jeder Gegenstand muß als extensive oder intensive Größe konstruiert werden können. Aber damit ist bloß der mathematische Begriff desselben erschöpft. Die Gegenstände der Physik setzen nicht nur Größen, sondern auch Kräfte und Gesetze (z.B. der Bewegung), mithin Verhältnisbestimmungen voraus: nicht mathematische Proportionen, die sich auf quantitative, sondern philosophische »Analogien«, die sich auf qualitative Verhältnisse beziehen. Als solche können sie nicht, wie die mathematischen Gebilde, einfach konstruiert, sondern nur durch ihre Verknüpfung in der Zeit bestimmt werden; sie beanspruchen deshalb auch nicht, wie jene, konstitutive, sondern nur regulative Geltung. Analogien der Erfahrung aber heißen sie, weil sie nur in Beziehung auf die Erfahrung Gültigkeit und Bedeutung besitzen, nichts anderes als Einheit der Erfahrung zum Ziele haben. Ihr »Prinzip« lautet daher: Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich. Also Verknüpfung, nicht Erzeugung (wie bei den mathematischen Grundsätzen), und zwar der Wahrnehmungen, nicht der »Dinge«, und dies »nicht in Ansehung ihres Inhalts, sondern der Zeitbestimmung und des Verhältnisses des Daseins in ihr nach allgemeinen Gesetzen« (Proleg. § 26). Entsprechend den drei Modis alles Daseins in der Zeit: Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein, gibt es drei Analogien oder »Regeln aller Zeitverhältnisse«.

2. Die erste Analogie (der dritte Grundsatz) lautet: »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.« Der in der Geschichte der Philosophie so viel erörterte Begriff der Substanz wird hier zum erstenmal in seiner vollen wissenschaftlichen Bedeutung erfaßt. Die Substanz oder das bei allem Wechsel Beharrende ist kein Ding, sondern ein Grundsatz, ein Hilfsmittel der Wissenschaft. Nur unter der Voraussetzung eines Beharrenden können der Wechsel des Seienden und seine Bestimmungen, die »Akzidenzen« nach dem alten Sprachgebrauch oder die »Inhärenzen« des »Subsistierenden«, z.B. die Bewegung der Materie, begriffen, kann der Begriff der Veränderung[204] erklärt werden. Nun erst darf auch die Verbindung mit dem durch die mathematischen Grundsätze festgestellten Begriffe der gleichartigen Größe erfolgen, aus welcher wir die weiteren Begriffe der Zeitdauer und des unveränderlichen Quantums erhalten. Die Naturgesetze sind Quantitätsbestimmungen; der Satz von der Substanz gehört an die »Spitze der reinen und völlig a priori bestehenden Gesetze der Natur«. Ja, die Substanz wird schließlich aus dem bloßen »Substrat aller Zeitbestimmung« zum beharrlichen »Quantum der Natur«. Sie bereitet so den Begriff der »Materie« vor.

3. Dem hypothetischen Urteil, der Kategorie der Kausalität, entspricht die zweite Analogie (der vierte Grundsatz) oder der »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität«: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.« – Aller Wechsel der Erscheinungen ist Veränderung. Nun nimmt aber die Einbildungskraft solchen Wechsel nur als Zeitfolge oder subjektive Folge zweier Zustände wahr, ohne ihr objektives Verhältnis bestimmen zu können. Dies leistet erst der von uns selbst »in die Erfahrung gelegte« Begriff der Ursache, worauf die Wirkung »nach einer Regel« folgt. Das Gesetz der Kausalität ist die Bedingung der objektiven Gültigkeit der Erfahrung, der Grund ihrer Möglichkeit. Erst durch sie gelangen wir zu einer »notwendigen Ordnung« in dem Zeitverhältnis unserer Vorstellungen, nun erst kann ein »Objekt« entstehen. Die Kausalität führt uns auf den Begriff der Handlung, dieser auf den der Kraft, und dieser wieder zurück auf den der Substanz, deren Akzidenzen kausal zu bestimmen sind. Sie führt uns ferner auch zu dem Begriff der Kontinuität, somit zu dem zweiten Grundsatze (der intensiven Größe) zurück; denn alle Veränderung ist nur durch das Gesetz der Kontinuität möglich, welches besagt, daß kein Unterschied des Realen in der Zeit der kleinste sei. Und wie die Zeit die sinnliche Bedingung a priori der Möglichkeit eines kontinuierlichen Fortgangs des Gegenwärtigen zum Folgenden enthält, so ist der Verstand vermittelst der Einheit der Apperzeption die apriorische Bedingung der Möglichkeit einer kontinuierlichen Bestimmung aller Zeitstellen.

4. Auf die Analogien der Substanz und der Kausalität folgt als dritte die aus dem disjunktiven Urteil abgeleitete der Gemeinschaft oder der (fünfte) Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung[205] der Gemeinschaft. Er lautet: »Alle Substanzen, sofern sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung.«

Wenn die Kräfte als Naturgesetze eine einheitliche Natur ausmachen sollen, müssen sie als eine Gesamtheit (ein System) von Wechselwirkungen gedacht werden können. Ohne eine solche Gemeinschaft stände jede einzelne Wahrnehmung für sich isoliert, und die »Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung«, müßte bei jedem neuen Objekte ganz von vorn anfangen. Unter Natur aber verstehen wir »den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach«, der eben von dieser dritten und letzten Analogie als Bedingung möglicher Erfahrung gefordert wird.


b) Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt


wollen zu dem Begriffe des schon durch die vorigen (Größen- und Verhältnis-) Grundsätze genügend bestimmten Gegenstandes nichts hinzufügen, sondern nur Wertbestimmungen treffen, nämlich die Begriffe Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit »in ihrem empirischen Gebrauche« erklären. Sie sind eine Art »physiologischer Methodenlehre« (Proleg. 88).

1. Das Postulat der Möglichkeit: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.« Zur empirischen Möglichkeit oder »objektiven Realität« eines Begriffs genügt nicht bloß seine Übereinstimmung mit dem logischen Gesetze der Identität, sondern es muß seine Übereinstimmung mit den beiden formalen Bedingungen der Erfahrung (Anschauen und Denken) hinzukommen; der Triangel z.B. muß aus einer bloßen geometrischen Figur zu einem Formgebilde der mathematischen Naturwissenschaft werden. Durch diesen Charakter der Möglichkeit wird auch (was der letzte Teil der Er. d. r. V., die Methodenlehre, später näher ausführt) der Begriff der wissenschaftlichen Hypothese bestimmt. Aber die Hypothese will Tatsachen erklären, das Mögliche soll das Wirkliche finden helfen. So gelangen wir zu

2. Dem Postulat der Wirklichkeit: »Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.« Bestimmung des Daseins ist Bestimmung der Empfindung. Die »materiale« Bedingung der Empfindung ist eine vollwertige Seite des[206] Bewußtseins, die durch den Grundsatz der intensiven Größe, der nur das mathematisch Reale betraf, noch nicht realisiert war. Auch die Wahrnehmung ist ein »komparatives« a priori. Wo sie und ihr »Anhang« – wozu auch die Wahrnehmung des nicht mehr Sichtbaren, z.B. der »magnetischen Materie«, gehört – »nach empirischen Gesetzen hinreichen, dahin reicht auch unsere Erkenntnis vom Dasein der Dinge«.

Zur Verdeutlichung dieser seiner Wertschätzung des »Wirklichen« hat Kant an dieser Stelle in der zweiten Auflage (S. 274 ff.) eine »Widerlegung des (Descartesschen) Idealismus« eingeschoben. Wir haben nicht bloß »Einbildung«, sondern auch »Erfahrung« von äußeren Dingen. Ja, die von Descartes einzig unbezweifelt gelassene »innere« Erfahrung meines eigenen Daseins »in der Zeit« ist nur durch die gleichzeitige Erfahrung äußerer Gegenstände möglich, wie umgekehrt das Bewußtsein meines eigenen Daseins zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir einschließt.

3. Das Postulat der Notwendigkeit: »Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig.« Auch die Notwendigkeit geht nicht bloß auf die formalen Bedingungen der Erfahrung, wie die Möglichkeit, sondern auch auf das Dasein, wie die Wirklichkeit; allein sie faßt nicht, wie die letztere, den einzelnen, sondern den allgemeinen Fall, das Gesetz, ins Auge. Ihr Maßstab sind »die empirischen Gesetze der Kausalität«; weiter als das Feld möglicher Erfahrung reicht auch die Notwendigkeit nicht; in dieser Hinsicht ist sie »hypothetische Notwendigkeit«. Sätze wie die bekannten: in mundo non datur casus, fatum, saltus, hiatus sind notwendige Sätze in diesem Sinne, d. i. Naturgesetze, welche das »Spiel der Veränderungen« in der Natur der Einheit des Verstandes und damit der Natur, als synthetischer Einheit der Erscheinungen (oder Erfahrung), unterwerfen.


*


Die Grundsätze möglicher Erfahrung sind zugleich die allgemeinen Gesetze der Natur. Damit ist die Frage: Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? aufgelöst, und zwar in der für eine Wissenschaft erforderlichen systematischen Form. Eine Anwendung dieser Grundsätze auf die mathematische Naturwissenschaft gibt Kants Schrift von 1786: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Jede[207] besondere Naturlehre enthält nur soviel »eigentliche«, d.h. apodiktisch geltende Wissenschaft, als Mathematik in ihr angewandt werden kann; weshalb Chemie, Psychologie, überhaupt Naturbeschreibung nicht zu dieser eigentlichen Wissenschaft gehört. Um eine solche mathematische Naturlehre zu ermöglichen, muß deren grundlegender Begriff, der Begriff der Materie, philosophisch zergliedert und systematisch dargestellt werden. Dies der Zweck der eben genannten Schrift. Sie zerfällt in vier, nach dem Schema der Kategorieneinteilung angeordnete, Abschnitte: 1. Die Phoronomie behandelt die Grundbestimmung der Materie, die Bewegung, als reines Quantum (ohne Rücksicht auf ihre Qualität), nach seiner Zusammensetzung; 2. die Dynamik (das wichtigste Kapitel) dieselbe nach ihrer Qualität, nämlich als Kraft (a. zurückstoßende oder ausdehnende, b. anziehende), 3. die Mechanik die Materie in Beziehung zu dieser bewegenden Kraft, 4. die Phänomenologie dieselbe im Verhältnis zu unserer Vorstellungsart, d.h. Bewegung und Ruhe als Erscheinung äußerer Sinne. Allerdings beschränkt sich Kants Schrift auf die mathematische Naturwissenschaft im Sinne Newtons, d.h. das Gebiet, das wir heute als Mechanik bezeichnen, während andere Ansätze seiner früheren Schriften, wie das Prinzip der Erhaltung der Energie und der neue Kraftbegriff, nicht weitergebildet werden.

Als beste Erläuterungsschrift der in der Philos. Bibl. 48 von O. Buek mit Einleitung und Sachregister herausgegebenen Metaphysischen Anfangsgrunde, die sowohl auf Schelling-Hegels wie Fries-Apelts Naturphilosophie bedeutend eingewirkt haben, empfiehlt sich Stadler, Kants Theorie der Materie, Berlin 1883.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 200-208.
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