§ 74. Die Philosophie des Sozialismus.

  • [451] Literatur: Zur Literatur. Die Literatur über den Sozialismus überhaupt ist heute fast unübersehbar geworden. Schon 1893-99 gab Stammhammer eine ›Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus‹ in zwei Bänden heraus, dem 1909 ein dritter gefolgt ist. Für die Jahre 1901-1905 findet sich die Literatur sehr reichhaltig verzeichnet und größtenteils besprochen in den von Eduard Bernstein herausgegebenen ›Dokumenten des Sozialismus‹, die seitdem leider eingegangen sind. Seit 1908 gab die ›Neue Zeit‹ eine Zeitlang ausführliche Übersichten über den Inhalt der sozialistischen Zeitschriften verschiedener Nationen, daneben von Zeit zu Zeit auch eine Bibliographie sozialistischer Schriften. Die meisten werden auch in dem von E. Jaffé geleiteten ›Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹ und anderen soziologischen Zeitschriften besprochen.
    Für die philosophische Seite kommen vor allem in Betracht: Fr. Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888, und: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 6. Aufl. 1918; Joh. Huber, Die Philosophie in der Sozialdemokratie, München 1885. L. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, 2. Aufl. 1903 (mehr literar-historisch); Th. G. Masaryk, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899; L. Woltmann, Der historische Materialismus, 1900. M. Tugan-Baranowsky, Theoretische Grundlagen, des Marxismus, Lpz. 1905; derselbe, Der moderne Sozialismus in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1908. E. Hammacher, Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus, Lpz. 1909. Zur Einführung zu empfehlen: F. Muckle, Die Geschichte der sozialistischen Ideen im 19. Jahrhundert, (Teubner) 1909. Die neueren philosophischen Bewegungen innerhalb des Sozialismus behandelt[451] ausführlich K. Vorländer in seinem Buche: ›Kant und Marx‹ (Tübingen 1911). Endlich enthalten die sozialistischen Zeitschriften des In- und Auslandes manche philosophische Artikel, besonders die seit 1883 erscheinende Wochenschrift ›Neue Zeit‹, sowie, wenn auch in geringerem Maße, die seit 1896 erscheinenden ›Sozialistischen Monatshefte‹. Vgl. auch die beiden Werke von R. Stammler (S. 436) und dessen Artikel ›Materialistische Geschichtsauffassung‹ im Handwörterbuch der Staatsw. V. Bd.

Auf die utopistischen Anfänge des Sozialismus in England und Frankreich haben wir an früherer Stelle (I, 236, II, 144, 153 f.) hingewiesen. Erst im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Dampfmaschine und des Industrialismus, beginnt eine, freilich auch heute noch keineswegs zu voller Ausbildung gekommene, Philosophie des Sozialismus. Auch sie entsteht in Westeuropa, auch sie trägt fast die ganze erste Hälfte des Jahrhunderts hindurch wesentlich utopistischen Charakter. Erst mit dem Auftreten von Karl Marx entwickelt sich aus dem utopistischen der moderne oder wissenschaftliche Sozialismus.


I. Die Utopisten.

  • Literatur: F. Muckle, Henri de Saint-Simon, die Persönlichkeit und ihr Werk. Jena 1908. – Über Fourier vgl. die gleichnamigen Schriften von A. Bebel (1888, 3. Aufl. 1907), H. Greulich (1881) und besonders Bourguin, Paris 1905. – Helene Simon, Robert Owen, sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart. Jena 1905. – W. E. Biermann, K. G. Winkelblech (Karl Marlo), sein Leben und sein Werk. 2 Bde. Lpz. 1909.

Die Utopisten machen, auf dem durch das 18. Jahrhundert entwickelten Gedanken der freien menschlichen Persönlichkeit fußend, von den moralischen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und des Mitleids aus ihre Vorschläge zur Umbildung der bestehenden Gesellschaft. So vor allem die Franzosen St. Simon und Fourier und der Engländer Owen.

1. Graf Henri von Saint-Simon (1760-1825), Sprößling einer der ältesten Adelsfamilien Frankreichs, fordert in seinen Schriften: De l'industrie (1817), l'Organisateur (1819/20), Catéchisme des Industriels (1823/24) und Le nouveau Christianisme (1825) eine neue Gesellschaft, die allein auf die Organisation der Arbeit gegründet ist. Die politische Regierung über Menschen ist in eine Verwaltung von Dingen, eine Leitung von Produktionsprozessen zu verwandeln. An Stelle des kriegerischen soll der Industriestaat,[452] an Stelle des dogmatischen Buchstabenchristentums ein neues, soziales Christentum treten, mit dem einen Glaubenssatze: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Allen Menschen soll die freieste Entwicklung ihrer Anlagen gesichert werden. Jedem die Arbeit nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit der Lohn nach ihrer Arbeit!

Mehr unmittelbaren Erfolg als St. Simon selbst hatten bald nach seinem Tode seine Schüler Bazard und Enfantin, von denen jener die ökonomische Lehre des Meisters weiter auszubauen strebte, während des letzteren »soziale Religion« die Gedanken der »Heiligung« durch »Freude« und der Emanzipation des Fleisches schließlich in einer Weise betätigte, welche die polizeiliche Auflösung seiner Sekte zur Folge hatte.

2. Unabhängig von St. Simon baute Charles Fourier (1772-1837) seine harmonische Regelung der neuen Gesellschaft auf der vernünftigen Befriedigung aller menschlichen Neigungen und Triebe auf. Die Arbeit soll vermöge des Prinzips der »passionellen Attraktion« zum Genuß erhoben werden. Jeder hat das Recht und die Pflicht zu der seiner Eigenart entsprechenden Arbeit, wobei die Gleichgearteten sich schon von selbst assoziieren werden; der Ertrag wird nach dem jeweiligen Aufwande von Kapital, Arbeit und Talent verteilt. Von Fouriers geschichtsphilosophischen Gedanken ist der zu erwähnen, daß jede geschichtliche Phase und so auch die ganze Menschheitsentwicklung ihren aufsteigenden und absteigenden Ast habe. Er ist stärker in der Kritik der bestehenden als in dem positiven Aufbau seiner Zukunftsgesellschaft, der sehr viel Phantastisches enthält. Fourier, der sein Leben lang ein armer Kommis blieb, wartete umsonst auf den Millionär, der ihm die Mittel zur Errichtung seines ersten Phalanstère (Riesengebäude für 1800 Personen) bringen sollte. Sein treuester Anhänger, der erst 1893 gestorbene Victor Considérant (geb. 1808), hat die Lehre des Meisters in zahlreichen Schriften vertreten.

Mit Philosophie sehr wenig zu tun hat die Utopie Cabets Voyage en Icarie (1840), die ihr Verfasser vergebens in Nordamerika praktisch zu verwirklichen, suchte; desgleichen die staatliche »Organisation der Arbeit«, die Louis Blanc (1803-82) in seiner gleichnamigen Schrift (1840) verfocht und 1848 in den Pariser »Nationalwerkstätten« für kurze Zeit ins Leben rief.[453]

3. In England hatte schon vor Owen der menschenfreundliche Arzt Charles Hall (um 1745-1825) die aus dem Gegensatz von Arbeit und Kapital entsprungenen Schäden in seiner Schrift The effects of civilisation on the people in European states (1805, deutsch G. Adler 1905) rücksichtslos dargelegt, aber seine Besserungsvorschläge wollen das Rad der Entwicklung zurückdrehen (Landwirtschaft als Grundlage, Verbot der Luxusindustrie u. ä.).

Anders der menschenfreundliche Fabrikant Robert Owen (1771-1858), der aus der von ihm geleiteten Baumwollspinnerei zu New Lanark eine Musterkolonie machte. Er kam auf den Gedanken, daß alle Wohlfahrtseinrichtungen nicht ausreichten, um seine Arbeiter aus der Sklaverei zu allseitiger und vernunftgemäßer Entwicklung des Charakters und Verstandes, geschweige denn zu freier Lebenstätigkeit zu führen. Daraus entsprang sein späterer Kampf gegen Privateigentum, Kirche und die kapitalistische Form der Ehe, für Hebung der Volksschule und Arbeiterschutz. Während er in der Hauptschrift der ersten Epoche A new view of society (1813) das Hauptheilmittel in einer veränderten Erziehung der Jugend gesehen hatte, geht er in seinem Book of the New moral world (7 Teile, 1836-49), dem schon 1834 eine Zeitschrift gleichen Namens vorausging, zu entschiedenem Sozialismus über. Da der Charakter des Menschen ein Produkt seiner Anlagen und der ihn umgebenden Verhältnisse ist, müssen die letzteren so geordnet werden, daß gute Menschen daraus hervorgehen. Da nun aber der Mensch von Natur gut ist, wie Owen mit Rousseau und den meisten anderen Sozialphilosophen des 18. Jahrhunderts annimmt, so braucht man nur die »natürliche Ordnung« der Dinge herzustellen bezw. den Menschen zu predigen, die sie dann von selbst wollen werden. Diese Ordnung besteht in der genossenschaftlichen Produktion, die an Stelle der einander niederkonkurrierenden Einzelbetriebe tritt und die erzeugten Güter nicht nach der Leistung, sondern nach dem Bedürfnis verteilt. Auf dem Felde der Konsum-und Produktivgenossenschaften hat Owens Beispiel tatsächlich bahnbrechend gewirkt, während seine kommunistische Siedelung New Harmony in Nordamerika sich nicht halten, konnte und weitere Kolonisierungspläne in Mexiko ebenfalls scheiterten.

4. In Deutschland traten, wenn wir von dem vereinzelten eigenartigen Versuche Fichtes (S. 281 f.) absehen, die sozialistischen oder, wie man um 1850 in der Regel[454] noch sagte, »kommunistischen« Ideen weit später hervor als bei den beiden westeuropäischen Nationen. Mit dem Schneidergesellen Weitling, der die Lehren des französischen Utopismus in sich aufnahm und in seinen Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) – jetzt neu herausgegeben von F. Mehring (1908) – sowie in seinem vielgelesenen Evangelium des armen Sünders den Proletariern predigte, tritt der Sozialismus zum erstenmal in Verbindung mit der Arbeiterschaft, die durch raschen Umsturz des Bestehenden zu erreichen hoffte, was die Utopisten durch Erweckung humaner Gesinnung erstrebt hatten70. – In den 50er Jahren schrieb ein heute fast verschollener Marburger, dann Kasseler Professor Winkelblech (1810-65) unter dem Pseudonym Karl Marlo ein halbsozialistisches System der Weltökonomie (1850-69, trotz seiner 4 Bände unvollendet, 2. Aufl. 1884-86). Auch der Staatssozialismus des pommerschen Rittergutsbesitzers Karl Rodbertus (1805-75) kann hierher gezogen werden, der dem Staate die Aufgabe zuweist, das private Boden- und Kapitaleigentum allmählich – in einem Zeitraum von etwa fünfhundert Jahren! – in kommunistisches Arbeitseigentum überzuführen. Im übrigen gehört Rodbertus' sozialistische Lohn- und Werttheorie in das uns hier nicht interessierende volkswirtschaftliche Gebiet. Auf ihn berief sich vielfach die seit den 70er Jahren dem »Manchestertum« entgegentretende nationalökonomische Schule der sogenannten »Kathedersozialisten« (Held, Schmoller, Adolf Wagner, Joh. Huber, Schäffle, Rudolf Meyer u. a.).

Einen eigenartigen Staats-, man möchte fast sagen Juristischen Sozialismus vertrat neuerdings auch Anton Menger (Wien, 1843-1906) in seinen Schriften: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag (1886, 3. Aufl. 1904), Neue Staatslehre (2. Aufl. 1904), Neue Sittenlehre (1905).


II. P. J. Proudhon (1809-1865)

nimmt eine eigentümliche Mittelstellung zwischen Sozialismus und Individualismus ein, die er miteinander zu versöhnen strebt, sodaß wir ihn beinahe ebensogut, wie unter die Sozialisten, unter die »Individualisten« des folgenden Paragraphen einreihen könnten.[455] Die Werke Proudhons sind in 37 Bänden von Lacroix (Paris) herausgegeben worden. Über ihn vergleiche das dreibändige Buch des Nationalökonomen Diehl, Proudhon, sein Leben und seine Lehre (1888-96) und die zusammenfassende Monographie seines begeisterten deutschen Anhängers, des schwäbischen Arztes Arthur Mülberger († 1907), Proudhon (Stuttgart 1899).

Proudhon, ein armer Schriftsetzer, später Schriftsteller, als solcher etwas konfus, aber geistreich und ehrlich, faßte in seiner aufsehenerregenden ersten Schrift: Qu'est-ce que la proprieté? (1840) seine scharfe Kritik des Eigentumsrechts in die berühmt gewordene, übrigens schon 60 Jahre vor ihm von Brissot de Varville gebrauchte, Formel zusammen: La proprieté c'est le vol, die jedoch nur besagen will, daß das auf Ausbeutung fremder Arbeit beruhende Eigentum »Diebstahl« sei. Denn auf der anderen Seite bekämpft er auch den Kommunismus: das System des Privateigentums beutet die Schwachen zugunsten der Starken, das der Gütergemeinschaft die Starken zugunsten der Schwachen aus; beides aber widerspricht dem Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit. Das von Hegelschen Ideen ausgehende Système des contradictions économiques oder Philosophie de la misère (1846), das die logische Abfolge der ökonomischen Ideen in der Vernunft entdeckt haben will, richtet sich sogar ziemlich scharf gegen den damaligen kommunistischen Sozialismus, sodaß dessen Hauptvertreter, Karl Marx, mit einer noch schärferen Gegenschrift Misère de la philosophie (1847, deutsch von E. Bernstein und E. Kautsky, 1884) antwortete.

Proudhons Mittelstellung zwischen Sozialismus und Individualismus entsprechen auch seine praktischen Vorschläge. Er will nicht die privatwirtschaftliche Produktionsweise überhaupt, sondern nur ihre beiden Hauptübel, Geld und Zins, abschaffen, an deren Stelle sein auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhendes »mutualistisches« Kreditsystem des freien Tauschverkehrs treten soll. Die Staatsgewalt ist hierbei überflüssig: »Freiheit ist die Mutter der Ordnung.« Alle Regierung ist tyrannisch, sie wird durch freies Zusammenwirken ersetzt. So ist Proudhon einer der Väter des modernen »Anarchismus« (der »Herrschaftslosigkeit«) geworden.

Indem die Utopisten, als echte Kinder des Zeitalters der Aufklärung, das neue Gesellschaftsideal aus ihrem Kopfe herausspannen, verkannten sie die realen Machtfaktoren des sozialen Lebens. Ganz anders


III. Der moderne oder marxistische Sozialismus.

[456] Er entwirft nicht mehr ein fernliegendes Ideal, von dessen Vortrefflichkeit und Zweckmäßigkeit es die Menschen zu überzeugen gilt, sondern studiert die Gesetze der Gesellschaft, um auf dem Grunde einer bestimmt abgegrenzten wissenschaftlichen Geschichtsauffassung seine Lehre von der sozialen Entwicklung aufzubauen. Begründet wurde dieser moderne, sich als wissenschaftlich bezeichnende Sozialismus von dem Freundespaar Karl Marx und Friedrich Engels; so jedoch, daß nach Engels' eigenem Bekenntnis »der größte Teil der leitenden Grundgedanken, besonders auf ökonomischem und geschichtlichem Gebiet, und speziell ihre schließliche scharfe Fassung Marx gehört«.


1. Karl Marx (1818-83)

ging ursprünglich vom Junghegelianismus, insbesondere Feuerbachs, aus, aber bald über ihn hinaus. Die Kritik des Himmels, der Religion, der Theologie muß nach ihm zu einer Kritik der Erde, des Rechtes und der Politik werden. Es gilt, die Hegelsche Philosophie, welche die Welt »auf den Kopf gestellt«, nämlich allein aus dem Kopfe (den Ideen) des Philosophen abgeleitet hat, »umzustülpen«, die dialektische Methode auf die geschichtliche Wirklichkeit anzuwenden, um die eigentlich treibenden Mächte zu entdecken, die hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehen. Diese Mächte aber sind im letzten Grunde ökonomische, nicht ideelle. So verkündet die neue, »materialistische« Geschichtsauffassung, die schon in dem Elend der Philosophie gegenüber Proudhon hervortritt, bestimmter in dem in Gemeinschaft mit Engels verfaßten Kommunistischen Manifest (1848, 7. deutsche Auflage mit Vorwort von Kautsky 1906) zum Ausdruck kommt und schließlich in der Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie (1859, 2. vermehrte Auflage 1907) ihre klassische Formulierung erhält. Die ökonomische Struktur der Gesellschaft, in welche die Menschen ohne ihren Willen hineingeboren werden, bildet hiernach die reale Basis, auf der sich der gesamte Überbau der politischen und juristischen, ja auch der religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz »ideologischen« Formen erhebt. »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches[457] Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« Dies gesellschaftliche Sein aber ist kein starres, sondern, wie schon Hegel gezeigt, in beständigem Flusse begriffen. Seine Entwicklungsgesetze gilt es in naturwissenschaftlicher Methode zu erforschen und so die Geschichte der Menschheit wissenschaftlich zu begreifen. Auf einer gewissen Stufe der sozialen Entwicklung nun gerät jener ökonomische Untergrund, da er inzwischen seine Eigenart wesentlich verändert hat, notwendig in Widerspruch mit dem überlebten juristisch-ideologischen Überbau. Dann tritt eine Epoche sozialer Umwälzungen ein, die je nachdem kürzer oder länger dauert und eine Änderung der bisherigen veralteten Produktionsweise bewirkt. So folgten einander im Laufe der Geschichte die asiatische (Barbarei), antike (Sklaventum), feudale (Leibeigenschaft) und modernbürgerliche (Lohndienst) Produktionsweise: wobei jede frühere Gesellschaftsordnung die Keime der folgenden so lange in ihrem Schoße trug, bis diese zur Sprengung der vorhergehenden fähig war.

Auf diese seine Theorie der sozialen Entwicklung gründet Marx den Sozialismus der Gegenwart. Auch unsere Zeit nämlich befindet sich in einem solchen Konflikt: zwischen der veränderten, sozialisierten Produktionsweise (in Fabriken, Großhandel, Großgrundbesitz usw.), die sich naturgemäß immer weiter ausdehnt, und der veralteten Rechtsordnung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Dieser Konflikt, der namentlich in regelmäßig wiederkehrenden Industrie- und Handelskrisen von Zeit zu Zeit zum Ausbruch kommt, läßt sich nur dadurch endgültig lösen, daß das Überlebte dem Lebendigen, die veraltete Form dem neuen Inhalt weicht. »Das Kapitalmonopol wird«, wie Marx in Band I, S. 793 seines großen nationalökonomischen Werkes Das Kapital (1. Band 1867, 4. Aufl. 1892; der 2. Band ist 1885, der 3. 1894 von Engels herausgegeben worden) sagt, »zur Fessel der Produktionsweise, die mit ihm und unter ihm aufgeblüht ist... Die kapistalistische Hülle wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropriiert.« Die heutige, planlose Produktionsanarchie muß umschlagen in ein planmäßig organisiertes, zentral geleitetes. Zusammenwirken, dessen erste Voraussetzung die »Vergesellschaftung« der Produktionsmittel (Grund und Boden, Rohstoffe, Maschinen, Verkehrsmittel u. a.) ist. Das individuelle Privateigentum wird durch diese »Negation der[458] Negation« wiederhergestellt, aber jetzt auf Grund der Kooperation freier Arbeiter und ihres Gemeineigentums an den Produktionsmitteln. Aufgabe des modernen Sozialisten ist es nicht, den Organisationsplan eines zu schaffenden »Zukunftsstaates« auszuarbeiten, sondern sich und seine Mitarbeiter auf die von selbst kommende Umwälzung vorzubereiten, ihr »Geburtshelfer« zu werden.

Die nationalökonomischen Einzeltheorien des Mehrwerts, der Krisen, des Zusammenbruchs, der Verelendung u. a., die bei Marx mit dieser geschichtsphilosophischen Lehre in Verbindung gesetzt werden, müssen wir übergehen.


2. Friedrich Engels.

Während Marx mit der Fertigstellung seines ökonomischen Systems (im Kapital) beschäftigt war, überließ er den philosophischen und naturwissenschaftlichen Ausbau sowie die Popularisierung des »historischen Materialismus« seinem vertrauten Freunde Friedrich Engels (aus Barmen, 1820-96), der vorher bereits Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1843) geschildert und mit Marx zusammen die Streitschrift »gegen Bruno Bauer und Konsorten«: Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845)71, sowie das Kommunistische Manifest (s. oben) abgefaßt hatte. Engels' Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884, jetzt in 13. Auflage) gibt im Anschluß an die prähistorischen Forschungen des Amerikaners L. H. Morgan eine Ergänzung der sozialen Entwicklungsgeschichte des Kapital durch die hinzugefügte Darstellung der vor- oder urgeschichtlichen Periode. Philosophisch wichtiger ist die Streitschrift gegen Dühring (s. § 77): Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878, jetzt in 7. Auflage), heute gewöhnlich kurz als Antidühring bezeichnet, die, obschon zunächst scharfe Polemik, doch eine »mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretenen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung,[459] und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten gibt« (Vorwort S. XI f.). Als philosophisch interessant heben wir aus dem – in der 2. Auflage neubearbeiteten – Abschnitt Theoretisches folgende, die Selbständigkeit des Menschen gegenüber der Natur besonders deutlich hervorhebende Stelle hervor: »Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten..., die nun zum erstenmal bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden... Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen... Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« (3. Aufl. S. 305 f.).

Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, daß die »historischen« Materialisten, obwohl von dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts beeinflußt, sich doch von dem vulgären naturphilosophischen Materialismus der Büchner, Vogt usw. stets sorgfältig geschieden, vielmehr als »Erben« der »klassischen« Philosophie von Kant, Fichte, Hegel betrachtet haben. Ferner, daß die »materialistische« Geschichtsauffassung nicht als Dogma, sondern als Methode gemeint ist und von Marx ausdrücklich nur als »Leitfaden« für seine Studien bezeichnet wird. Endlich hat Engels im letzten Jahrzehnt seines Lebens – und zwar ausdrücklich auch als die Ansicht seines verstorbenen Freundes Marx von jeher – erklärt, daß das ökonomische Moment nicht das »einzige«, sondern nur das »in letzter Instanz« bestimmende Moment der sozial-geschichtlichen Entwicklung sei; je mehr politisch-juristisch-philosophisch-religiöser »Überbau« sich entwickle, desto mehr trete eine Wechselwirkung zwischen allen diesen Momenten ein. Den »ideologischen« Faktoren wird eine relative Selbständigkeit, ein rückwirkender Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwicklung, selbst auf die ökonomische, zugesprochen.


3. Jüngere Marxisten.

Das wissenschaftliche Organ des Marxismus ist die seit 1883 erscheinende Wochenschrift Die neue Zeit, in der seitdem zahlreiche Schriftsteller der verschiedensten Nationen die marxistische Methode verteidigt und weiter auszubilden gesucht haben. Der Herausgeber, Karl Kautsky (geb.[460] 1854), hat seine Stärke auf dem Gebiete der ökonomischen Theorie. Von seinen Hauptschriften nennen wir: Karl Marx' ökonomische Lehren gemeinverständlich dargestellt und erläutert (1887, jetzt in 13. Aufl.), Das Erfurter Programm, in seinem grundsätzlichen Teile erläutert (1892, jetzt in 10. Aufl.), sowie seine gegen die Kritik Bernsteins (S. 463) gerichtete Antikritik: Bernstein und das sozialdemokratische Programm (1899). Eine gute Skizze der mittelalterlichen Geschichtsentwicklung bis in den Anfang der Neuzeit gibt die ausführliche Einleitung seiner Bd. I, S. 318 zitierten Schrift über Thomas Morus. Später hat er auch seine prinzipielle Stellung zur Ethik präzisiert in der Schrift Ethik und materialistische Geschichtsauffassung, Stuttg. 1906. – Einen bemerkenswerten Versuch der Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf das literarisch-historische Gebiet machte Franz Mehring (1846-1919). Die Lessing-Legende (1893, jetzt in 3. Aufl.), auf das religionsgeschichtliche K. Kautsky, Der Ursprung des Christentums, Stuttg. 1908. Das vielgelesene Buch von A. Bebel (1840-1913), Die Frau und der Sozialismus (1879, 50. Aufl. 1910) erhebt selbst keinen Anspruch auf philosophische Bedeutung. Von weiteren, philosophisch in Betracht kommenden Mitarbeitern der Neuen Zeit nennen wir: die Franzosen Bonnier und Lafargue (1842 bis 1911), den Russen Plechanow (1857-1918), den Polen Kasimir von Kelles-Krauz (†), die Deutschen E. Bernstein (s. S. 463), H. Cunow (Ursprung der Religion, 1913) und Konrad Schmidt, den Italiener Antonio Labriola (geb. 1843, † als Professor zu Rom 1904, vgl. dessen geistvolle Schriften: Socialisme et philosophie, Paris 1899; Essais sur la conception matérialiste de l'histoire, 2. Aufl. 1902) nebst seiner Tochter Teresa Labriola (Priv.-Doz. in Rom) und seinen Schüler P. Orano, den Holländer A. Pannekoek, die Österreicher Friedrich Adler, Max Adler und O. Bauer (S. 464). Eine geschlossene philosophische Richtung hat sich innerhalb des modernen Sozialismus noch nicht zu allgemeiner Anerkennung gebracht. Bisher wog der Materialismus vor, vgl. z.B. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus; andere zeigen sich von Kant mehr oder weniger beeinflußt.


IV. Kritische Nebenströmungen in und neben dem Marxismus.

Zwar hat, wenigstens in Deutschland, gegenwärtig die marxistische Lehre alle anderen sozialistischen Theorien[461] in den Hintergrund gedrängt. Dennoch waren neben dem Marxismus von jeher und sind neuerdings auch innerhalb desselben kritische Nebenströmungen vorhanden.

1. So schließt sich der bekannte Ferdinand Lassalle (1825-64) zwar in seinen ökonomischen Lehren im allgemeinen an Marx an (ohne ihn zu nennen), ist aber mehr Staatssozialist als dieser. Für die Philosophie kommt außer seinem hegelianisierenden Erstlingswerk über Heraklit (s. Bd. I, S. 33) vor allem sein Hauptwerk Das System der erworbenen Rechte (2 Bände 1861, 2. Aufl. herausg. von Lothar Bücher 1880) in Betracht. Es führt den Grundgedanken aus, daß alle juristischen Begriffe (wie Eigentum, Vertrag, Familie, Erbrecht usw.) nicht sowohl logische als historische Kategorien seien; zur wissenschaftlichen Begründung des Sozialismus trägt indes diese Rechtsphilosophie Lassalles wenig bei. In seinem stürmischen ethischen Idealismus Fichte verwandt, bleibt er theoretisch doch im wesentlichen Hegelianer. Von Lassalles Reden und Schriften (herausg. von E. Bernstein, 3 Bände, 1891-94) heben wir als mehr philosophisch besonders die Gedächtnisrede über Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes und die »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« (1863) hervor.

2. Interessant ist der außerhalb der sozialistischen Kreise wenig bekannte Versuch des philosophischen Gerbers Josef Dietzgen (1828-88): Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit (1869, mit Einleitung von A. Pannekoek 1903), weil er bereits – wenn auch zu weilen unter eigenartiger Terminologie – wesentliche erkenntniskritische Gesichtspunkte bringt. Er hat eingesehen, daß Lehren nur dadurch zu Wissenschaften werden, wenn sie »die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzuführen streben«, und rühmt Kant, weil er mit der Erkenntniskritik beginne; auch in der Ethik nähert er sich Kants kategorischem Imperativ, dem er freilich eine empiristische Färbung gibt. Erläuterungen der Hauptschrift gaben Dietzgens spätere Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie (1887); weniger methodisch gehalten sind Das Acquisit der Philosophie und die Briefe über Logik (1895). Neuerdings sucht sein Sohn Eugen Dietzgen, der auch eine Gesamtausgabe von seines Vaters Schriften (3 Bde., Wiesbaden 1911) herausgegeben hat, in Verbindung mit einigen amerikanischen Parteigenossen[462] den »erkenntnistheoretisch rückständigen« »Engmarxismus« von Kautsky, Plechanow, Mehring u. a. durch dessen Erweiterung in erkenntniskritischer, ethischer, naturwissenschaftlicher und »weltgeschichtlicher« Hinsicht zu korrigieren und ergänzen.

3. Erst gegen Ende des Jahrhunderts entstand innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus eine kritische Richtung, die von einer rein historisch-ökonomischen Begründung des Sozialismus abzulenken suchte. Ihr literarischer Hauptvertreter war Eduard Bernstein (geb. 1850), dessen Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie (1899, jetzt in 13. Aufl.) nebst seiner Broschüre: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich? (1901) lebhafte Diskussionen nicht nur innerhalb seiner Partei, sondern auch in anderen sozialphilosophisch interessierten Kreisen hervorrief. In der richtigen Empfindung, daß dem Marxismus bisher noch die bewußte und methodische Berücksichtigung des ethischen Moments sowie eine tiefere erkenntniskritische Begründung fehle, verlangte der frühere orthodoxe Marxist Bernstein eine stärkere Betonung der »ideologischen« Elemente und faßte seine Tendenz schließlich in dem Ruf: Zurück auf Kant! Zurück auf F. A. Lange! zusammen. Allein dieser »Kritizismus« wurde von ihm nicht, wie von Staudinger (S. Gunter), M. Adler, K. Vorländer und anderen, folgerichtig durchgeführt. Das Organ der »revisionistischen« Richtung in Deutschland sind die Sozialistischen Monatshefte; außerdem gab Bernstein mehrere Jahre hindurch eine historisch-bibliographische Monatsschrift Dokumente des Sozialismus heraus.

Philosophisch durchgebildeter als Bernstein, vertrat Ludwig Woltmann (1871-1907), den wir bereits (S. 398) als Darwinisten kennen gelernt haben, in seinem System des moralischen Bewußtseins 1898, wie in seinem zu Anfang dieses Paragraphen zitierten Buche Der historische Materialismus, Darstellung und Kritik der marxistischen Weltanschauung, eine eigenartige Synthese von Kant, Marx und Darwin. Kants Philosophie biete die »logischen Mittel«, um eine systematische Kritik des Marxismus herbeizuführen. Ihre kritische Methode ergänze die genetische von Darwin und Marx, in welchem letzteren Woltmann den Kritizismus schon im Keime enthalten sieht. Später wandte sich Woltmann, vom Sozialismus abweichend, mehr anthropologisch-sozialen Problemen, insbesondere der Rassenfrage, zu.[463]

Von ausländischen Sozialisten heben wir als Anhänger einer die ideologischen Momente stärker betonenden, zum Teil ebenfalls dem Kritizismus nahe stehenden Richtung hervor: die Franzosen Jean Jaurès (ermordet 1914) und Chr. Rappoport, die Russen Lawrow (1823 bis 1900) und P. v. Struve (der später zum Liberalismus überging), sowie aus neuerer Zeit besonders den Soziologen M. Tugan-Baranowsky, der auch eine russische Übersetzung meiner sozialphilosophischen Aufsätze (1909) herausgegeben hat (seine Werke s. S. 451). Später traten, namentlich in Österreich, mehrere jüngere Sozialisten energisch für eine philosophische Vertiefung des Marxismus durch Kants erkenntniskritische Methode ein, so Max Adler (geb. 1873, Wien, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft in Bd. I der Marx-Studien, Wien 1904, Marx als Denker, Berlin 1908, Marxistische Probleme, Stuttg. 1913) und Otto Bauer (in mehreren Aufsätzen in der Neuen Zeit); während andere (wie Friedrich Adler) in Machs Philosophie eine geeignetere erkenntnistheoretische Unterlage gefunden zu haben meinen.

Infolge des Weltkrieges und der seine Folgeerscheinung bildenden russischen, österreichischen und deutschen Revolution, an denen überall die genannten Denker mehr oder weniger beteiligt sind, sind jedoch alle diese theoretischen Erörterungen vorläufig in den Hintergrund getreten.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 451-464.
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