§ 78. Neuere philosophische Richtungen und systematische Versache in Deutschland mit idealistischer oder metaphysischer Grundrichtung.

1. Rückkehr zur spekulativen Metaphysik.

[476] Seit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts vollzog sich ohne Frage in der philosophischen Gesamtstimmung ein gewisser Rückschlag gegenüber den erkenntniskritischen und positivistischen Richtungen. Wie vor hundert Jahren machte sich eine romantische Richtung nicht bloß in der schönen Literatur, sondern auch in der Philosophie von neuem geltend. Ihren Vertretern mehr oder weniger gemeinsam ist ein Zug zum Pantheismus, der Glaube an eine Einheit von Geist und Materie, Einzel- und Weltseele, sowie verstärkte Betonung des religiösen Empfindens und des Gefühls überhaupt: alles Züge, die wir auch an der Romantik des beginnenden 19. Jahrhunderts wahrnehmen, deren dichterische und philosophische Vertreter, namentlich Schelling und Novalis, denn auch bis vor kurzem eifrig gepriesen und neu herausgegeben wurden. Daneben her gingen Neuausgaben älterer Mystiker und Naturphilosophen wie Plotins, der Gnostiker, Eckharts, Picos, Paracelsus'. Ja Dinge, die man für längst abgetan hielt, wie Spiritismus, Theosophie und Okkultismus, verbreiten sich wieder. Zur Kennzeichnung des Inhaltes genügt es, die Titel einer oder der anderen ihrer, freilich oft sehr kurzlebigen, Zeitschriften und Bücher anzuführen. So erschien seit 1895 in Zehlendorf eine Neue metaphysische Rundschau als Monatsschrift für philosophische, psychologische und okkultistische Forschungen mit den Unterabteilungen: Archiv für Biomagnetismus, Rundschau für Astrologie, theosophisches Forum, phrenologische Rundschau, metaphysische Bücherei. Eine andere nannte sich Zeitschrift für Xenologie zur exakten Erforschung der sogenannten okkulten Tatsachen und der zurzeit noch fremden Energieformen im Menschen und in der Natur (Hamburg 1900 f.). Eine dritte, neuere: Psyche. Zeitschrift für den gesamten Okkultismus und alle Geheimwissenschaften, für wissenschaftliche Erforschung der okkulten Phänomene des Seelenlebens, ferner für Indische Philosophie, Theosophie, Spiritualismus, wahre ethische Kultur-und Sozialreform. Unter Mitwirkung der hervorragendsten Fachgelehrten. 3. Jahrg. Pankow 1918.74[476]

Auch in den wissenschaftlichen Kreisen macht sich eine verstärkte Anlehnung an die älteren spekulativen. Systeme von Fichte, Hegel und Schelling, die darum wieder Neuausgaben erfuhren und noch erfahren, bemerkbar. Von den späteren Philosophen werden bezeichnenderweise (vgl. Kap. XXIII) Lotze und namentlich Fechner eifriger studiert als Schopenhauer oder Herbart. In der Naturphilosophie treten energetische und neuvitalistische Richtungen stärker hervor. Seltener tauchen dagegen, wie es scheint, selbständige systematische Versuche metaphysisch-spekulativer Richtung auf. Die meisten der ernst zu nehmenden idealistisch-metaphysisch gerichteten Denker der Gegenwart sind vielmehr entweder von dem Geist des modernen Kritizismus mehr oder weniger berührt worden, oder sie haben das Bedürfnis einer Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlichen Geiste unserer Zeit empfunden: sodaß man ihre Gesamtrichtung vielleicht am kürzesten als kritische Metaphysik bezeichnen könnte.


2. Kritische Metaphysik.

Mehrere dieser idealistischen Philosophen, die dem Kritizismus nahe stehen, haben wir bereits in § 73, andere unter den Lotze verwandten (§ 69) erwähnt. Hier seien noch hinzugefügt:

1. Johannes Volkelt (geb. 1848, in Leipzig), der zwar von Hegel aus- und durch Schopenhauer und Hartmann hindurchgegangen, aber auch von Hume und Kant beeinflußt worden ist, und jetzt ausdrücklich eine »kritische Metaphysik«, d.h. Vereinigung und Durchdringung des idealistisch-metaphysischen mit dem skeptisch-kritischen Geiste, als Aufgabe der Philosophie bezeichnet. Seine ästhetischen Arbeiten s. § 78. – Franz Erhardt (geboren 1864, in Rostock) führt in seiner Metaphysik (1. Band: Erkenntnistheorie, 1894) denselben Grundgedanken in anderer Weise aus.

2. Oswald Külpe (1862-1915 in Würzburg, Bonn und München), der mit einem auf experimenteller Grundlage ruhenden Grundriß der Psychologie begann, will den modernen Positivismus durch eine auf wissenschaftlichem Fundament ruhende »realistische« Metaphysik überwinden. Seine Einleitung in die Philosophie (7. Aufl. 1915), die in klarer und sachlicher Weise in die philosophischen Disziplinen und Richtungen einführt, gab allerdings nur Andeutungen davon, die auf einen dualistischen und zugleich[477] theistischen Standpunkt schließen lassen; Wesensverschiedenheit der körperlichen und geistigen Realität, Beweis Gottes als Weltgeistes durch die Weltzweckmäßigkeit. Von einem geplanten großen Werk: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften hat er nur den ersten Band (1912) vollenden können. Auch sein Schüler E. Dürr (1878-1913) hat Grundzüge einer realistischen Weltanschauung (Leipzig 1907) entworfen.

3. Friedrich Paulsen (1846-1908) bezeichnet in dem bei Teubner erschienenen Sammelwerk – Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. VI (1907) als den ihm am nächsten verwandten Standpunkt den eines objektiven Idealismus. In den Naturwissenschaften dürfe nur Erklärung physischer Vorgänge aus physischen Ursachen gelten. Dagegen weise das durch Raum, Zeit und Wechselwirkung einheitlich bestimmte System der Natur auf eine substanzhafte Einheit der Wirklichkeit (Gott-Natur oder All-Eines) hin. Und die Wissenschaft lasse Raum für den »Glauben« an das Gute und seinen notwendigen Sieg. In diesem Sinne sei aller praktische Idealismus auch religiös. Von Paulsens zahlreichen, ihres populären Charakters wegen vielgelesenen Schriften gehören hierher: System der Ethik (1889, 8. Aufl. 1906) und Einleitung in die Philosophie (1892, 30. Aufl. 1919). Nach seinem Tode sind seine Pädagogik (1. – 3. Aufl., 1911) von Kabitz, seine Gesammelten pädagogischen Abhandlungen von Ed. Spranger (1912) herausgegeben worden.

4. Wilhelm Dilthey (1833-1911) wendet sich in seiner geistreichen, aber ebenso wie seine Schleiermacher-Biographie Torso gebliebenen Einleitung in die Geisteswissenschaften (erster und einziger Band 1883) gegen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden auf die eines eigenen Fundaments bedürftigen Geisteswissenschaften, insbesondere der Geschichte. Dieses Fundament besteht vor allem in der »Selbstbesinnung«, die auf die »Totalität« und den »Strukturzusammenhang«, des Seelenlebens als Vorbedingung allgemeingültiger Wirklichkeitserkenntnis, Wertbestimmung und Zwecksetzung zurückgeht. Grundwissenschaft ist demgemäß die Psychologie. Vgl. auch Diltheys Einleitung in den Teubnerschen Sammelband Systematische Philosophie (1907) über Das Wesen der Philosophie, sowie seine ästhetische Schrift: Das Erlebnis und die Dichtung, 2. Aufl. 1907. Dilthey hat in Berlin eine große Schülerschar um sich gesammelt, aus der u.a.m. Frischeisen-Köhler (Halle, Wissen und Wirklichkeit,[478] 1912), Misch (Marburg), Nohl (Jena) und Spranger (Leipzig) hervorgegangen sind.

5. Dem Kritizismus steht weiter nahe Rudolf Eisler (Wien), der in seiner Kritischen Einführung in die Philosophie (1905) sowie in seinen Grundlagen der Philosophie des Geisteslebens (1908) einen voluntaristischen Idealismus sowie eine Verbindung von Kritizismus und »idealistisch-aktivem« Evolutionismus (Wundt) vertritt und sich in weiteren Kreisen durch sein großes Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (3. Aufl. 1910) und sein Philosophen-Lexikon (1912) bekannt gemacht hat. Ferner R. Reininger (Wien) mit seiner Philosophie des Erkennens (1911).

Einem an Kant, Fichte und Hegel gebildeten Idealismus huldigt ferner F. Jak. Schmidt (Berlin) in: Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie (1901), der in seinen Aufsätzen Zur Wiedergeburt des Idealismus (1908) gegen Psychologismus, Historismus und Positivismus zu Felde zieht.

6. Endlich seien von dem bereits S. 286 als Geistesverwandten Fichtes charakterisierten Rudolf Eucken noch folgende hierher gehörige systematische Schriften genannt: Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit (1888), Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896, 2. Aufl. 1907), Der Wahrheitsgehalt der Religion (1901, 3. Aufl. 1912), Grundlinien einer neuen Lebensanschauung (2. Aufl. 1913), Geistige Strömungen der Gegenwart (5. Aufl. 1915), Erkennen und Leben (1912). Euckens Erkenntnislehre sucht nach seinen eigenen Worten »gegenüber einer konstruierenden Spekulation einer-, gegenüber dem Voluntarismus und Pragmatismus anderseits«, eine selbständige Philosophie des Geistes zu begründen, tritt jedoch in Gegensatz zum Kantischen Kritizismus, in dessen »Dogmatisierung« er »eine Gefahr für den Fortschritt der geistigen Bewegung erblickt«.


3. Immanente Philosophie (Bewußtseinsmonismus).

Eine eigentümliche Stellung unter den idealistischen Richtungen der Gegenwart nimmt der Bewußtseinsmonismus Schuppes und verwandter Denker ein, insofern er, rein erkenntnistheoretisch interessiert, alle Metaphysik ablehnt. Diese »Immanente Philosophie«, eine Zeitlang (1895-98) auch durch eine eigene Zeitschrift für immanente Philosophie vertreten, geht von dem Grundsatze aus, daß die gesamte Erfahrung unserem Bewußtsein[479] immanent, mithin Erfahrung überhaupt = subjektive Erfahrung des eigenen Bewußtseinsinhalts ist. Es existiert kein Ding ohne unser Denken, keine Erfahrung ohne unser Bewußtsein, genauer ohne das Bewußtsein eines Erfahrenden überhaupt; wirklich sein ist = bewußt sein, Objekt = Vorstellung.

Der Hauptvertreter dieser Lehre war Wilhelm Schuppe (1836-1913, lange in Greifswald): Erkenntnistheoretische Logik (1878), Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie (1882), Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik (1894). Subjekt oder Ich ist ihm nichts anderes als die Einheit der Objekte oder Bewußtseinsinhalte, die in dem Ich- oder Subjektspunkte »koinzidieren«. Auch in der Ethik gilt ihm als höchster Wert die Klarheit des Bewußtseins, aus dem die sittlichen Werte und Maßstäbe abzuleiten sind.

Ähnlich wie Schuppe denkt A. v. Leclair (geb. 1848, Wien, Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie, 1882). Noch weiter bis zu einem erkenntnistheoretischen Solipsismus gehen fort: Richard v. Schubert-Soldern (geb. 1852, in Görz, Grundlagen einer Erkenntnistheorie, 1884) und Max Kauffmann († 1896, Immanente Philosophie, Band I: Analyse der Metaphysik, 1893). Wissenschaftlicher ist der »Psychomonismus« des Bonner Physiologen Max Verworn (geb. 1863), für den »das, was uns als Körperwelt erscheint, in Wirklichkeit unsere eigene Empfindung oder Vorstellung, unsere eigene Psyche ist«. Vgl. außer seinem Hauptwerk, der Allgemeinen Physiologie (5. Aufl. 1909), seine kurze, aber instruktive Göttinger Rede über Naturwissenschaft und Weltanschauung (1904). Verwandt damit ist die Psycho-physiologische Erkenntnistheorie (1898, 2. Aufl. 1907) von Th. Ziehen (geb. 1862, Berlin).

Zu nahe mit Schuppe zusammengerückt wird dagegen gewöhnlich der Standpunkt seines langjährigen Greifswalder Kollegen Johannes Rehmke (geb. 1848). Ihm zufolge hat die Philosophie von dem »Gegebenen« auszugehen. »Gegebenes« heißt ihm alles, dessen wir uns bewußt sind und je bewußt werden können, also z.B. auch die Seele. An diesem »Gegebenen« hat die Philosophie die »allgemeinsten Bestimmungen« klarzustellen; urteilen z.B. heißt konkretes Gegebenes durch allgemeines Gegebenes bestimmen. Vgl. sein Hauptwerk Philosophie als Grundwissenschaft (1910), nebst Anmerkungen dazu (1913). Sein Lehrbuch der allgemeinen Psychologie (2. Aufl. 1905) gelangt zur Behauptung einer Vielheit[480] seelischer Einzelwesen. Im Unterschiede von den seelichen Bewußtseinsbestimmtheiten (der gegenständlichen, zuständlichen und denkenden) ist ihm der Wille das ursächliche Bewußtsein. Vgl. Die Seele des Menschen (4. Aufl. 1913). Willensfreiheit (1911), Logik oder Philosophie als Willenslehre (1918)75.


Überblickt man die neueste Entwicklung der idealistischen Philosophie in Deutschland (und zum Teil gilt es auch von seinen Nachbarländern), so sprechen in der Tat manche Anzeichen für die Richtigkeit von Eduard v. Hartmanns Prophezeiung, daß diese gegenwärtig eine Art »Repetitionskursus« durchmache, nämlich die philosophische Entwicklung von Kant bis Hegel auf neuer Grundlage wiederhole, wie dies O. Ewald in seinem interessanten Aufsatze über Die deutsche Philosophie im Jahre 1906 (Kantstudien XII, 273-302) näher ausgeführt hat. Wirklich sind neben und nach den Neukantianern (§ 72) seit einigen Jahren Neufichteaner aufgetreten, zu denen man außer Bergmann, Eucken und einem Teil der »immanenten« Philosophen noch Windelband, Rickert, Medicus und Münsterberg (Philosophie der Werte 1908) zählen könnte, desgleichen Neuschellingianer: Hartmann, Drews und des letzteren Karlsruher Schüler Leopold Ziegler mit seinem Buche Der abendländische Rationalismus und der Eros, 1905, der jedoch seitdem zum Kritizismus übergegangen ist; und Neuhegelianer, besonders der Holländer Bolland, der Italiener B. Croce und E. Hammacher (1885-1916) in Bonn, während in Cohen, Volkelt, F. J. Schmidt nur einzelne Gedankengänge an Hegel anklingen; ja auch Fries zählt, wie wir S. 268 f. sahen, seit einigen Jahren eifrige Anhänger, die sich unter Nelsons Führung zu einer Art Schule in Göttingen verbunden haben. Aber einmal hinken diese Analogien doch sämtlich mehr oder weniger, zumal da die Entwicklung der Wissenschaft und Gesamtkultur in den letztverflossenen hundert Jahren ganz andere Vorbedingungen geschaffen hat; anderseits stehen den idealistischen heute mehr als damals starke realistische Richtungen gegenüber, von denen wir die wichtigsten noch nicht behandelten im folgenden mustern wollen.[481]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 476-482.
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