§ 26. Die Gefühlsphilosophie Rousseaus

(1712-1778).

  • [146] Literatur: Morley, Rousseau, 2 Bde., London 1883. B. Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, 1890. Höffding, Rousseau und seine Philosophie (Klassiker der Philosophie, IV). 3. Aufl. Stuttg. 1909. Haymann, Rousseaus Sozialphilosophie, Lpz. 1898 (vielfach neue Gesichtspunkte). Liepmann, Die Rechtsphilosophie des Rousseau, 1898. Seit 1905 gibt die Genfer Rousseau-Gesellschaft besondere ›Annales‹ heraus, um das Studium Rousseaus zu fördern. Das Jubiläumsjahr 1912 brachte eine große Reihe neuer Schriften über den Philosophen.

Goethe kennzeichnet die Wirkung der französischen Enzyklopädisten auf ihn und seine Straßburger Freunde mit den Worten: »Wenn wir von den Enzyklopädisten reden hörten oder einen Band ihres ungeheuren Werkes aufschlugen, so war es uns zumute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen einer großen Fabrik: hingeht und vor lauter Schnarren und Rasseln, vor allem Aug' und Sinnverwirrenden Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste ineinander greifenden Anstalt in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch zu fertigen, sich den eigenen Rock selbst verleidet fühlt, den man auf dem Leibe trägt.« Aus dieser Stimmung erwuchs in Deutschland die Periode der Stürmer und Dränger, in Frankreich schon vor ihr die Gefühlsphilosophie Jean Jacques Rousseaus.

1. Persönlichkeit und schriftstellerische Entwicklung. Rousseau ist kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung. Man hat zur Erklärung dieser Tatsache mit Recht auf seine Abstammung aus dem Volke und zwar aus dem demokratisch-protestantischen Genf hingewiesen. Allein das erschöpft die Sache nicht. Der Grundzug seines Lebens und seiner Philosophie ist vielmehr sein überschwengliches Gefühl. Gegenüber der Philosophie und dem Egoismus des Verstandes macht er die natürlichen und sittlichen Gefühle des Herzens, gegenüber dem Assoziationsmechanismus und psychologischen Atomismus der Materialisten und Sensualisten die Selbständigkeit der menschlichen Persönlichkeit geltend. Das geistige Leben[146] vollzieht sich nicht bloß in uns, sondern wird auch durch uns bestimmt. Auch das Gefühl gehört zu den Erkenntnisquellen. Nach seinem eigenen Geständnis war Rousseau »langsam im Denken, lebhaft im Gefühl«. Die philosophischen Konsequenzen dieses Standpunktes sind es, die wir im folgenden zu charakterisieren haben.

Im Jahre 1749 stellte die Akademie von Dijon die Preisaufgabe: ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste zur Veredlung der Sitten beigetragen habe? Diese Frage traf Rousseau, der nach mancherlei Schicksalen damals in Paris lebte und von den Enzyklopädisten schon als einer der Ihrigen betrachtet wurde, wie ein Blitzstrahl. Er sah, wie er selbst berichtet, plötzlich eine ganz neue Welt vor sich: entgegen der Welt des Verstandes, der Äußerlichkeit, der Konvention die des Gefühls, der Innerlichkeit, der Persönlichkeit, der Natur. Die Bearbeitung (der Discours sur les sciences et les arts), mit der Rousseau den Preis gewann, indem er die Frage in durchaus verneinendem Sinne entschied, war zwar in der Begründung ziemlich schwach und unreif, aber sie wirkte durch die Glut der Begeisterung, die aus dem Verfasser redete, und machte ihn mit einem Schlage zum berühmten Mann.

Eine zweite von derselben Akademie fünf Jahre später gestellte Preisaufgabe: »Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?« reizte Rousseau aufs neue zur Bearbeitung. Hatte er in seiner ersten Abhandlung der falschen Bildung den Krieg erklärt, so stellt er jetzt den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die nur Herren und Knechte kennen, die Idee eines an sich guten ursprünglichen Naturzustandes gegenüber. Hat es einen solchen in Wirklichkeit vielleicht auch nie gegeben – Rousseau will ihn keineswegs, wie man meistens annimmt, als geschichtliche Tatsache hinstellen –, so kann er uns doch zum Richtmaß dienen. Die Ungleichheit entspringt aus der Entstehung des Eigentums, das sich alsbald mit Gesetzlichkeit und Recht umgibt (Arme und Reiche), der Obrigkeit (Starke und Schwache) und der Willkür- und Gewaltherrschaft (Herren und Diener). Es gilt heute für uns, wieder von vorne anzufangen, eine möglichst natürliche Gestaltung des menschlichen Lebens durch Erziehung und Staatseinrichtungen zu erreichen.

Während die beiden Discours die bestehenden Zustände, das Frankreich Ludwigs XV. kritisch verneinen,[147] enthalten die beiden im Jahre 1762 erschienenen philosophischen Hauptschriften Rousseaus den positiven Neubau. Der falschen Bildung, gegen die der erste Diskurs geeifert hatte, stellt der Emile die rechte Bildung und die wahre Religion, dem Staate der Ungleichheit und der Willkür, den die Abhandlung von 1754 bekämpfte, der Contrat social den rechten Staat gegenüber.

2. Erziehungs- und Religionslehre. Der Emile, in seiner äußeren Form bekanntlich halb Lehrbuch halb Roman, enthält sowohl Rousseaus Erziehungs- wie seine religiösen Grundsätze. Der Mensch ist von Natur gut. Darum der natürlichen Entwicklung freie Bahn! Weder Autoritäts- noch Aufklärungszwang, sondern Entfaltung von innen heraus! Die Erziehung soll die Natur walten lassen und die Künstelei fern halten, womit allerdings die Kunstgriffe des höchst weisen Erziehers seines Emil nicht immer stimmen. Übe die körperlichen Organe und Sinne deines Zöglings, aber halte seine Seele möglichst lange müßig! Am liebsten würde Rousseau das Kind, über dessen Seele er manche treffende Bemerkung macht, ganz der Erziehung der Natur und der Dinge überlassen, aber er sieht ein, daß die Kulturverhältnisse zu einer Erziehung durch Menschen nötigen. So begnügt er sich denn, seinen Emil und seine Sophie zu möglichst natürlichen, nach den Grundsätzen der Natur und Vernunft erzogenen Wesen werden zu lassen. Mit der Kirche stieß er freilich durch die Betonung der natürlichen Gutheit des Menschen und die Ablehnung früher religiöser Einwirkung auf die Kindesseele zusammen. Im übrigen war der Einfluß des Buches ein ungeheurer, er reicht noch bis in unsere Zeit. Manche seiner Mängel, wie die untergeordnete geistige Stellung der Frau und vor allem die Privaterziehung, lassen sich zum Teil durch die Zeitverhältnisse erklären, andere durch die im vorigen geschilderte Eigenart des Verfassers.

Der Kern echter Bildung ist echte Religion. Daher enthält die pädagogische Hauptschrift Rousseaus zugleich auch sein religiöses Bekenntnis: das berühmte Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars. Daß er es ihn auf einem Berge, im Angesichte der herrlichen Alpenwelt verkünden läßt, ist für Rousseau bezeichnend. Seine Religion ist eben vor allem Natur– und Gefühlsreligion, auf das unverdorbene natürliche Gefühl des Menschen sich gründend, ihr Gipfel stumme Bewunderung des Alls und zugleich innigste Entfaltung des Lebens- und Hingebungsdranges. Sie ist etwas von der Erkenntnis Grundverschiedenes:[148] »Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und über mir, aber ich kann das Geheimnis seines Wesens nicht erkennen.« Anderseits streitet die natürliche Religion jedoch auch nicht gegen die Vernunft; vielmehr sucht Rousseau ihre Vernunftmäßigkeit gegen die Materialisten zu beweisen. Ihnen gegenüber weist er die Zusammenstellung des Menschen mit den Tieren ab, verteidigt er die Freiheit des Willens, die Geistigkeit und die auch von unserem Gerechtigkeitssinn geforderte Unsterblichkeit der Seele. Woher stammen Bewegung, Zusammenhang, Seelenleben? Nur aus dem schaffenden Willen. Wenn auch die Empfindung rein passiv ist, die Wahrnehmung allein aus den Sinnen entspringt, so kann doch das Vergleichen und Urteilen nur aus uns selbst stammen. Es gibt zwei Prinzipien: Materie und Geist (Gott). Das ist zugleich das Wenige, was sich von allgemein-philosophischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen bei Rousseau findet. Der letzte Maßstab ist ihm auch hier nicht die Vernunft, sondern das innere Gefühl. Die andere, wenn auch weniger stark hervortretende, Seite seiner natürlichen Religion ist gegen die Offenbarungsgläubigen gerichtet. Eine übermenschliche Offenbarung ist für uns nicht notwendig. Das wahre Christentum besteht in dem uns von Gott selbst unmittelbar eingepflanzten religiösen Gefühl; nicht aufgeschriebenen Blättern, sondern in unserem Herzen müssen wir das Gesetz Gottes suchen. Rousseau verteidigte seine Lehre gegen die orthodoxen Angriffe in einem offenen Brief an den Erzbischof von Paris (1762) und gegen einen Genfer Staatsanwalt in den glänzenden Lettres de la montagne (Amsterdam 1764).

3. Staatslehre und Sozialphilosophie. Auch die Staatslehre wird von Rousseau auf ein Gefühl gegründet, das Gefühl der Freiheit und Gleichheit, das den »natürlichen« Menschen beseelt. Die Ergänzung zu seinem zweiten Diskurs, der die Tatsache der Ungleichheit verkündet hatte, bildet der Contrat social (1762), der den neuen, auf dem Boden der liberté und égalité zu errichtenden Staat verkünden will34. Wenn er zu diesem Zweck die Entstehung des Staates überhaupt aus dem »Gesellschaftsvertrag« darlegt, so soll das nicht, wie man[149] oft geglaubt hat, eine geschichtliche Entwicklung, sondern einen idealen Maßstab bedeuten. Man muß wissen, was sein soll, um richtig zu beurteilen, was ist. Durch den Gesellschaftsvertrag verzichtet der einzelne freiwillig auf seine ursprüngliche Freiheit zugunsten der Gesamtheit, deren Glied er ist. Rousseau verficht nicht mehr den Konstitutionalismus eines Locke und Montesquieu, sondern die demokratische Republik, nicht mehr die Trennung der Gewalten, sondern die Volkssouveränität. Freilich ist die reine Demokratie ein nur annähernd und nur in kleinen Staaten (Rousseau mag an sein Genf gedacht haben) durchführbares Ideal. Je größer das Land, desto stärker wird die Zentralgewalt sein müssen; für sehr große Staatsgebilde empfiehlt sich am besten die Konföderation (wie sie bald nachher von den Vereinigten Freistaaten Nordamerikas praktisch durchgeführt ward). Während es nur eine einzige Staatsform, eben die der Souveränität des Volkes, das nie stirbt, geben kann, so können die Formen der Regierung wechseln. Die ausübende Gewalt kann nur in den Händen weniger, einer Art Wahlaristokratie, liegen; aber sie soll durch den direkt geäußerten Volkswillen kontrolliert werden. Dieser Gemeinwille (volonté générale), der Kernbegriff der Rousseauschen Sozialphilosophie, ist nicht einerlei mit der Summe der nur ihr persönliches Interesse verfolgenden Einzelwillen (volonté de tous); denn er ist seiner Natur nach nicht auf Einzelgegenstände oder -personen, etwa einen Monarchen, sondern auf das Wohl des Ganzen gerichtet. Ein sicheres Merkmal desselben fehlt freilich, ebenso die Durchführung im einzelnen. Nur ist zu bemerken, daß Rousseau sich in der Anwendung weit zurückhaltender zeigt, als man nach seinem abstrakt-radikalen Prinzip erwarten sollte. Sein Gefühlsstandpunkt zeigt sich auch hier in der Bevorzugung des Landlebens vor dem Stadtleben, des Ackerbaus und des Handwerks vor dem Handel und der Industrie.

Schon aus diesem Grunde ist es nicht angebracht, ihn als Vorläufer des modernen Sozialismus zu betrachten. In der Richtung des letzteren geht höchstens sein Kampf gegen eine immer mehr sich steigernde Arbeitsteilung, die den wirtschaftlich Schwächeren vom Willen des Stärkeren abhängig macht. Die persönliche Abhängigkeit des Menschen vom Menschen will Rousseau in eine rein gesetzliche verwandeln. Von einer Aufhebung des Privateigentums ist jedoch keine Rede. Im Gegenteil,[150] wie sein »Staatsbürger« (citoyen) durch den Gesellschaftsvertrag statt der natürlichen die bürgerliche Freiheit eintauscht, so erhält er durch denselben, statt des unbeschränkten Rechtes auf alles, das »Eigentumsrecht von allem, was er besitzt«.

Überhaupt zeigt sich bei Rousseau ein Schwanken zwischen Individualismus und Staatsallmacht. Der citoyen wird gezwungen, frei zu sein! Daß Rousseaus Freiheitsstaat im letzten Grunde doch despotisch ist, zeigt die den Schluß des Contrat social bildende Forderung einer Staatsreligion, die aus vier Artikeln besteht: 1. Dasein Gottes, 2. Vergeltung nach dem Tode, 3. Heiligkeit der Staatsverfassung und der Gesetze und 4. Ausschließung der – Intoleranz, während zu dieser Staatsreligion doch jeder Bürger bei Strafe der Verbannung verpflichtet sein soll!

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 146-151.
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