§ 25. Das platonische Staatsideal.

  • [111] Literatur: K. F. Hermann, Die historischen Elemente des platonischen Staatsideals, 1849. – E. Zeller, Vorträge u. Abh. I, 62-81. – R. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus I, 269 bis 581. – Natorp, Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik Berlin 1895 (jetzt auch in desselben: Ges. Abhandlungen zur Sozialpädagogik. Bd. I, 1-36).

Platos »Staat« hat seine Bedeutung als eine der großartigsten Schöpfungen des philosophischen Idealismus bis heute bewahrt. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung hat man in der Hierarchie des christlichen Mittelalters eine Analogie von ihm gesehen oder den modernen Beamtenund[111] Militärstaat mit ihm verglichen (Zeller, Pöhlmann). Freilich, wie alle Vergleiche, hinken auch diese, namentlich der letztere, bedeutend. Mehr innere Berührungspunkte bietet der moderne Sozialismus, wie denn auch der erste große Utopist der neueren Zeit (Thomas Morus) sich auf Plato beruft. Freilich ruht, trotz alles hochgespannten Idealismus, der platonische Staat doch auf hellenischem Grunde. Macht er sich auch einmal – in dem überdies zweifelhaften Staatsmann – über den Hochmut seiner Landsleute gegenüber den unter einen Sammelnamen gefaßten »Barbaren« lustig, so wird doch die Aufhebung der Sklaverei nicht gefordert. Nur soll kein Hellene als Sklave verkauft, keine Griechenstadt zerstört werden; der weltbürgerliche Fortschritt besteht also darin, daß man mit den Barbaren so verfahren soll, wie jetzt die Hellenen untereinander. Zu einer ganzen Reihe von Bestimmungen hat Spartas Kriegerstaat, der Platos aristokratischem Standpunkte ohnehin politisch sympathisch war, das Vorbild geliefert. Das platonische Staatsideal ist keine phantastische Träumerei, sondern in der ernsten Absicht erdacht, der tatsächlichen Zerrüttung des griechischen Gemeinwesens aufzuhelfen. Der Philosoph fühlt sich zum politisch-sozialen Reformator berufen.

Realist ist Plato schon gleich in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen über den Ursprung und die Entwicklung des Staates (Rep. II, 369 ff.). Dessen wirtschaftliche Grundlage wird unumwunden anerkannt, sein Entstehen aus den ersten ökonomischen Bedürfnissen heraus geschildert. Die Teilung der Arbeit infolge der fortschreitenden Technik, die Warenerzeugung und der Handel, die Fixierung des Geldes als Tauschwert, die allmähliche Herausbildung einer erwerbenden, kriegerischen und regierenden Klasse wird bereits hier in klarster Weise entwickelt (vgl. dazu auch das Kritias- Fragment). Reinstem, deshalb aber doch mit tiefster Einsicht in die Natur des wirklichen Staates gepaartem Idealismus entspringt anderseits das Ziel seines Staatswesens: höchste Glückseligkeit aller durch die höchste Tugend, die nur durch die Philosophie wissenschaftlich erkannt und zur Ausführung gebracht werden kann. Ein ausgeführtes Gemälde des platonischen Zukunftsstaates kann hier nicht gegeben werden, noch weniger eine Kritik; wir müssen uns auf eine kurze Skizze, unter Hervorhebung der philosophischen Zusammenhänge, beschränken.[112]

Wie der Mensch ein Organismus im kleinen, so ist der Staat ein Mensch im großen. Die Grundtätigkeiten des einen kehren im anderen wieder. Daher entsprechen den drei Seelenkräften in Platos Staat drei voneinander abgesonderte Stände:


1. Dem epithymêtikon das »Volk«, die Menge der Ackerbauer, Handwerker und Kaufleute, mit ihrer dem Begehren entspringenden Sorge für die alltäglichen Bedürfnisse. Sie sind die »Lohngeber und Ernährer« der beiden anderen Stände und bilden die wirtschaftliche Grundlage des Staates, ohne indes Anteil an der Regierung zu erhalten; sie werden jedoch von jenen geschützt und gefördert. Für sie bleibt Privateigentum und Familie bestehen. Die Begabten unter ihnen können zu den oberen Klassen aufsteigen. Auch sie sind »Bürger«, »Freunde« und »Brüder« der anderen13.

2. Dem thymoeides entsprechend, haben die »Hüter« (phylakes) oder »Helfer« (epikouroi) die Aufgabe, den Bestand des Staates nach außen durch Abwehr der Feinde, nach innen durch Durchführung der Gesetze zu sichern. Um jede Selbstsucht bei ihnen nach Möglichkeit auszurotten, sollen ihnen Erziehung (s. u.), Frauen und Kinder, ja alles gemeinsam sein. Kein persönliches Interesse soll sie an der Hingabe für das Ganze hindern. Alles Zueigenhaben wird als Übel betrachtet; alle bilden eine große Familie. Die Frauen sollen im wesentlichen die gleiche Erziehung wie die Männer erhalten. Die Edelsten und Weisesten der Krieger erheben sich zu der

3. dem logistikon entsprechenden obersten Klasse: der Regierenden (archontes) oder Philosophen. Ihr Beruf ist die Gesetzgebung und Überwachung von deren Ausführung, vor allem der Erziehung. Sie bekleiden, sobald sie das Los dazu beruft, die höchsten Ämter und widmen die übrige Zeit philosophischer Betrachtung, d.h. den Wissenschaften und der Idee des Guten, die eben in diesem Zusammenhange als der Gipfel der platonischen Ethik erscheint.

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Auch die vier Kardinaltugenden werden mit dieser Dreiteilung in Beziehung gesetzt. Die Haupttugend des[113] dritten oder Nährstandes ist die Zügelung der Triebe durch Besonnenheit und Selbstbeherrschung (sôphrosynê), die des zweiten oder Wehrstandes Mannhaftigkeit (andreia), die des ersten oder Lehrstandes Geistesbildung (sophia). Die dikaiosynê (Gerechtigkeit, Sittlichkeit) endlich in ihrer Vollendung stellt der Idealstaat in seiner Gesamtheit dar; denn nicht das Wohl der einzelnen Klassen, sondern das des Ganzen soll für ihn bestimmend sein.

Seinem wesentlichen Charakter nach ist Platos Staat Erziehungsanstalt der menschlichen Gesellschaft (wenn auch nur mit Beziehung auf das hellenische Volkstum durchgeführt) zum höchsten sittlichen Ideal. Freilich wird diese Erziehung im höchsten Sinne nur für die beiden oberen bezw. den obersten Stand gefordert; indessen wird auch für den Erwerbsstand die »einfache« musisch-gymnastische Erziehung verlangt. Jene höhere wird bis ins kleinste geregelt. Schon vor ihrer Geburt ist der Staat für die Tüchtigkeit seiner künftigen Hüter und Erhalter besorgt. Die edelsten und kräftigsten Männer sollen sich mit den edelsten und kräftigsten Frauen verbinden; der Philosoph scheut zu diesem Zwecke vor starken Eingriffen in das Geschlechtsleben nicht zurück. Nach den drei ersten Jahren rein leiblicher Pflege soll sich die von nun an gemeinsame Erziehung der Jugend, auf daß sie vollkommen harmonische Menschen heranbilde, gleichmäßig auf die körperliche wie auf die geistige Ausbildung richten. Die letztere erfolgt zunächst durch Mythenerzählungen, aus denen jedoch alle unsittlichen und unwürdigen Züge (von den Göttern, den Heroen und der Unterwelt) streng ausgeschieden sind; später durch Lese- und Schreibunterricht. Dem begeisterungsfähigen Alter von 14-16 Jahren werden Dichtkunst und Musik, dem angehenden Jünglingsalter (16. – 18. Jahr) die ernsteren mathematischen Wissenschaften als geistige Kost dargeboten. Alles Üppige und Weichliche, Sittenverderbende und Zweideutige aus Musik und Poesie ist zu verbannen, sogar Homer; nur die veredelnde, auf das wahrhaft Gute und Schöne gerichtete Kunst soll zugelassen werden, damit ein ernster sittlicher Sinn, eine hohe und reine Gottesvorstellung, eine mutige Verachtung des Todes und der vergänglichen Lebensgüter in den jungen Seelen erzeugt werde. Dem musisch-mathematischen Kursus folgt dann vom 18. bis 20. Lebensjahre – ähnlich wie bei uns – die kriegerische Ausbildung. Danach tritt eine erste Auslese ein. Die wissenschaftlich minder Begabten bleiben[114] im Kriegerstande, die übrigen betreiben nun die Wissenschaften intensiver und in mehr systematischer Form. Während dann – zweite Auslese – die minder Vorzüglichen unter ihnen zu praktischen Staatsämtern übergehen, widmen sich die Ausgezeichnetsten nach fünf weiteren Jahren der Erkenntnis des Seienden (Ideenlehre, Dialektik) und übernehmen dann ihrerseits höhere Regierungsämter. Haben sie sich in denselben 15 Jahre lang bewährt, so sind sie im fünfzigsten Lebensjahre reif, unter die Zahl der »Herrscher« oder Philosophen (s. o.) aufgenommen zu werden.

Mit seinem großzügigen Entwurf eines neuen Staatsideals verbindet Plato (bes. in Staat VIII) eine äußerst scharfe, von dem heutigen Sozialismus kaum überbotene Kritik der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Schon hier (551 D) findet sich das Wort von den zwei »Staaten«, dem der Reichen und Armen. Mit den schärfsten Worten geißelt er den Mammonismus, das »Drohnen-« und Spekulantentum, den schwelgerischen Müßiggang der »goldenen« Jugend, die notwendig zur Katastrophe führen müssen. An anderer Stelle wird der gegenwärtige Zustand bereits als der »Krieg aller gegen alle« bezeichnet (Gesetze I, 626 D). Reformen auf dem Boden des Bestehenden würden dürftige Notbehelfe bleiben und die Mißstände nur verlängern. Eine radikale Umwälzung der Gemüter, ein gründlicher Reinigungsprozeß tut not.

In einem besonderen Abschnitte (B. V, 471 ff.) erörtert Plato die Möglichkeit der Verwirklichung seines Ideals. Sein Staat ist ein »Urbild«, das, wie jede Idee, von der Erfahrung nie ganz erreicht werden kann, aber doch annähernd; denn seine Forderungen entsprechen der Natur der Dinge. Freilich muß sich, wenn anders er Bestand haben soll, das Volksleben mit einem völlig neuen sittlichen Geiste erfüllen; denn Staatsverfassungen wachsen nicht auf den Bäumen, wie die Eicheln, sondern wurzeln in der Sinnesart der Bürger. Dazu soll eben die neue Erziehung, die er selbst in seiner Akademie zu verwirklichen suchte, helfen. Ein neues Geschlecht muß erst heranwachsen. Übrigens werden sich die jetzigen Erwachsenen durch die segensreichen Wirkungen des neuen Staates, so hofft Platos Optimismus, unschwer für ihn gewinnen lassen. So ist denn sein bekannter Satz: »Nicht eher wird ein Aufhören der Übel in den Staaten, ja beim Menschengeschlecht überhaupt eintreten, ehe die Philosophen zur[115] Regierung kommen oder die jetzigen Könige und Machthaber wahrhaft und gründlich philosophieren« (V, 473 D), durchaus ernst gemeint. Aber seine Hoffnungen auf Dionys schlugen fehl, und sein Vaterland versank in immer größere Zerrüttung, Schmach und Schwäche. So mußte er denn seine Hoffnung, eine ähnliche politische Macht, wie einst der Bund der Pythagoreer in Großgriechenland, zu gewinnen, zu Grabe tragen. Dennoch versiegt sein Idealismus nicht. Gegen Ende seines Lebens entwirft er in den »Gesetzen« (Nomoi, Leges) die Grundzüge eines zweitbesten Staates, der, den bestehenden Verhältnissen angepaßt, mehr Aussicht auf Verwirklichung zu bieten schien14.

Plato denkt ihn sich als eine Kolonie im Inneren Kretas, von wesentlich agrarischem Charakter. Statt der Philosophen regiert ein Verein der Einsichtigsten und Bewährtesten nach geschriebenen, aber fortzubildenden Gesetzen. An Stelle der Ideenerkenntnis tritt ein mathematisch-musischer Kurs und eine geläuterte Staatsreligion, an Stelle der Aufhebung von Familie und Privateigentum eine sorgfältige Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens und eine – wohl nach altspartanischem Muster getroffene – Teilung des Staatsgebietes in 5040 gleiche Landlose. Indessen sind mit dieser größeren Demokratisierung des Staatswesens doch – im allgemeinen von den Historikern der Philosophie zu wenig beachtete – Fortschritte verbunden. Die starre Trennung der Stände ist gemildert, die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten fast geschlossen, die Regierenden sind an strenge Gesetze gebunden, der ideale Wert der wirtschaftlichen Arbeit wird stärker gewürdigt, der Volksbildung aller Klassen, auch der weiblichen Jugend, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Ja, was besonders merkwürdig und erst von Natorp (a. a. O. Anm. 24) mit voller Deutlichkeit hervorgehoben worden, ist, diese Demokratisierung führt dahin, daß der Halbkommunismus der »Republik« hier, wenigstens in der Idee, zur vollen wirtschaftlichen Gemeinschaft aller Bürger (zu denen freilich die unfreien Landarbeiter nicht gehören!) erweitert wird. Jeder soll sein Ackerlos, ja »sich selbst und sein Vermögen« als Gemeingut des ganzen Staates ansehen. Ein[116] gemeinsames Besitzen und Bebauen des öffentlichen Grund und Bodens wäre noch »zu groß für das jetzige Geschlecht und die Art, wie es aufwächst und erzogen wird«; es wäre, zusammen mit der Gemeinschaft der Frauen, Kinder und aller Habe, ein Ideal »vielleicht für Götter und Göttersöhne«, von dem er nicht weiß, »ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen wird« (Leg. V, 739 Cf.).


Damit haben wir die Grundzüge von Platos Philosophie zur Darstellung gebracht. Seine »Theologie«, d.h. seine mehr oder weniger freie Umbildung der orphisch-dionysischen Geheimlehren von Seele, Erlösung und Jenseits, die von einzelnen neueren Darstellern (z.B. Windelband in seiner zu § 20 genannten Monographie) in den Vordergrund gerückt wird, ziehen wir absichtlich nicht in den Kreis dieser Darstellung. Wo die Predigt beginnt, hört die Philosophie auf.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 111-117.
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