Die theologische, richtiger theosophische Epoche, welche die antike Philosophie beschließt, haben wir bereits im vorigen Abschnitt mehrfach sich ankündigen sehen. Immer entschiedener wird der Verzicht auf die menschliche Erkenntniskraft, immer stärker die Hinneigung zu dem, was allein festzustehen scheint, der Welt des sittlichen Handelns als besten Mittels zur Glückseligkeit, und auf diesem Gebiete wieder immer häufiger die Umschau nach einer höheren Macht als Halt und Stütze unseres hilfsbedürftigen Selbst. Etappen auf diesem Wege waren: Cicero – Seneka – Mark Aurel. Dazu kommt dann vielfach bis zum Ekel gesteigerter Überdruß an der Gegenwart, Sehnsucht nach einem rettenden Neuen, das man nicht mehr von der menschlichen Vernunft, sondern von übernatürlicher Offenbarung erwartet. Kein Wunder, daß viele Gemüter in ihrer Verzweiflung schließlich zu Aberglauben oder Mystizismus greifen, daß eine Religionsmischung[184] eintritt, wie sie vorher nie dagewesen ist, ohne daß damit dauernde innere Befriedigung erzielt wird. Inwiefern das Christentum hier welthistorisch eingriff, wird im nächsten Teile zu erörtern sein. An dieser Stelle haben wir es mit den letzten religiös-philosophischen Restaurationsversuchen auf dem Boden der antiken Weltanschauung zu tun.
Dem jetzt in erster Linie auf theologische oder damit verwandte Probleme gerichteten philosophischen Drange kamen von den alten Systemen am meisten entgegen: das pythagoreische und das platonische, das letztere freilich nur in einer bestimmten Art seiner Ausgestaltung, und beide viel weniger als Lehr- denn als Lebensformen.
Als der erste Erneuerer pythagoreischer Philosophie unter den Römern wird Ciceros gelehrter Freund P. Nigidius Figulus († 45 v.Chr., seine Fragmente untersucht und herausgegeben von A. Swoboda, Wien 1889) genannt, von dem indes sehr wenig bekannt ist. Es folgte der bereits (§ 45, 2 c.) erwähnte Sotion, aus der Schule der Sextier. Zu Neros Zeit wirkte Moderatus aus Gades, während gleichzeitig Apollonius von Tyana als Wundertäter das Römische Reich durchzog, der dann später (um 200 n. Chr.) bei Philostratus zu einem heidnischen Gegenbilde Christi (mit Jungfrauengeburt, wunderbaren Heilungen, Allwissenheit und Allmacht, Auferstehung, Verschwinden von der Erde u. a.) umgeformt erscheint: nebenbei gesagt, ein Beweis, wieviel nichtreligiöses Beiwerk damals, wie allezeit, von den Anhängern eines Religionsstifters als für ihn unerläßlich angesehen wurde (vgl. Chr. Baur, Apollonius und Christus, herausg. von Zeller, 1876). Indem diese Neupythagoreer die altpythagoreische Zahlenspekulation (§ 3) erneuern und erweitern und die platonische Naturphilosophie (§ 23) teilweise buchstäblich verstehen, teilweise umdeuten, setzen sie die Zahlen, welche zugleich die Urbilder aller Dinge sind, als Ideen, d.h. Gedanken der Gottheit. Der letzte Grund alles Geschaffenen ist die Einheit als Form, wirkende Ursache, Gottheit; ihr in schroffem Dualismus entgegengesetzt; die Materie. (Der aufmerksame Leser wird neben den pythagoreischen auch aristotelische, namentlich aber altakademische [§ 26] Elemente in diesen Theoremen bemerkt haben). Ähnliche Entlehnungen[185] finden sich in der Physik (Vollkommenheit der Welt von den Stoikern, Ewigkeit derselben von Aristoteles) und der Ethik der Neupythagoreer. Das eigentümliche Neue besteht eigentlich nur in ihren religiösen Anschauungen. Mit einem geläuterten Monotheismus, einer Verehrung Gottes als reinen Geistes durch wortloses Gebet und tugendhaftes Leben verbindet sich die phantastische Annahme einer Reihe von Dämonen oder niederen Göttern, bei denen der schwache und sündhafte Mensch in der Erfüllung seiner Aufgabe, Unterdrückung der Sinnlichkeit durch den reinen Geist, Beistand findet, sei es durch unmittelbare Erleuchtung oder durch Orakel oder durch die Vermittlung besonders gottbegnadeter, göttliche Offenbarung spendender Weisen, wie des Pythagoras selbst, über den sich jetzt zahlreiche neue Legenden bilden, und des Apollonius von Tyana. Auch asketische Tendenzen treten in Anknüpfung an den Altpythagoreismus hervor: Enthaltung von Fleisch und Wein, vom Tieropfer, von der Ehe, leinene Kleidung, Gütergemeinschaft. Der letzte Neupythagoreer ist Nikomachos aus Gerasa (Arabien), der Verfasser einer »theologischen Arithmetik« oder »arithmetischen Theologie« (!), die uns der Byzantiner Photius im Auszuge erhalten hat.
a) Der bedeutendste derselben ist Plutarch, lange Jahre Archon und Priester in seiner Vaterstadt Chäronea (um 50-125 n. Chr.), der außer seinen bekannten Biographien auch eine Reihe ethischer Schriften verfaßte. (In der Sammlung dieser sogen. Moralia finden sich übrigens viele ihm untergeschobene Abhandlungen.) Plutarchs sittliche Gesinnung ist edel, mild und vernünftig, dagegen streifen seine religiösen Vorstellungen stark ans Mystische. Äußerlich schließt er sich zwar an Plato an, faßt ihn aber wesentlich neupythagoreisch, seine Mythen dogmatisch auf und kehrt das dualistische Moment stark hervor. Die Gottheit ist hoch erhaben über die Welt (transzendent) und nur in ihren Wirkungen, als Vorsehung, uns erkennbar. In der Materie existiert eine Sehnsucht nach dem Göttlichen, aber daneben – und nicht bloß in der Seele des Menschen – ein böses Prinzip, bei dessen Erklärung[186] auch persische und ägyptische Religionsvorstellungen herangezogen werden. Zwischen dem Göttlichen und Menschlichen vermitteln ebenfalls gute und böse Dämonen; auch übernatürliche Offenbarungen und Erleuchtungen, Weissagungen, persönliche Unsterblichkeit mit Seelenwanderung mag Plutarchs weiches Gemüt, trotz alles Eiferns gegen den Aberglauben, nicht entbehren. Zum Volksglauben stellt er sich freundlich und sucht ihn durch allegorische Auslegung zu rechtfertigen. Alle Religionen verkünden im Grunde denselben Gott.
b) Mit Plutarch verwandt sind spätere Platoniker, wie der Rhetor Maximus von Tyrus, Apulejus von Madaura (geb. um 130), der Verfasser des bekannten Romans »Der goldene Esel« mit der schönen Episode von Amor und Psyche, der Mathematiker Theo von Smyrna und andere. Nicht bloß die Heimat, sondern auch die Vorstellungen dieser Männer, insbesondere ihr Dämonenglaube, rückt sie dem Orient näher. Zu ihnen gehört auch Celsus, der Gegner des Christentums (um 180), dessen von dem Kirchenvater Origenes bekämpftes Buch Logos alêthês (»wahres Wort«) der Züricher Theologe Keim aus den Zitaten des Origenes wiederhergestellt hat (samt Übersetzung und Erläuterung dieser »ältesten Streitschrift antiker Weltanschauung gegen das Christentum«, Zürich 1873). Ferner der zu derselben Zeit lebende Syrier Numenius, der pythagoreische, platonische und orientalische Elemente miteinander verschmilzt, Plato einen »attisch sprechenden Moses« (!) nennt und eine Art göttlicher Dreieinigkeit annimmt: 1. den »ersten« Gott (Vater), 2. einen göttlichen Weltbildner (Sohn), 3. die Welt selbst (beider Abkömmling, apogonos).
Anscheinend aus einem ägyptischen Zweig dieser pythagoraisierenden Platoniker oder platonisierenden Neupythagoreer sind die meisten der Schriften hervorgegangen, die unter dem Namen des »dreimalgrößten« Hermes, Hermes Trismegistos, überliefert sind und ihrem Inhalte nach bereits zu den völlig neuplatonischen gerechnet werden können. Gott ist über allem Sein und aller Vernunft, die Welt der zweite, der Mensch der dritte Gott. Philosophie fällt zusammen mit Frömmigkeit und Abkehr von der Sinnenwelt.
Unterdessen hatte sich längst auch im Morgenlande selbst eine theosophische Richtung aus verschiedenen. Elementen herangebildet, die man als die jüdisch-alexandrinische Philo- oder Theosophie bezeichnet.[187]
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro