§ 62. Ausläufer der Frühscholastik (12. Jahrh.):

1. Platonisierende Naturphilosophen und Dialektiker, 2. Mystiker, 3. Summisten.

[248] Die verschiedenen Richtungen, die Abälards vielseitiger Geist in sich vereinte, treten bei anderen seiner[248] Zeitgenossen und Nachfolger wieder auseinander. Auch solche, die sich »reine Aufklärer« (puri philosophi) nannten, hat es damals schon gegeben; doch kennen wir von ihnen nicht einmal die Namen. Etwas mehr wissen wir von

1. einer platonisierenden Richtung, die, dem Vorbilde Gerberts folgend, mit dem Studium der Antike dasjenige der Natur verband und besonders in der Schule von Chartres (§ 69) gepflegt ward. Hier lebten und lehrten als magistri scholae in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die beiden gelehrten Brüder Bernhard und Thierry (Dietrich). In dem benachbarten Tours schrieb des letzteren Freund Bernhard Silvestris, in Anlehnung an den platonischen Timäus (die damals fast allein bekannte von Platos Schriften), seinen vielgelesenen und uns erhaltenen Megakosmus und Mikrokosmus, eine halb in Prosa, halb in Versen abgefaßte, mit mythischen Allegorien verbrämte tiefsinnige Naturphilosophie, in der von kirchlicher Dogmatik so gut wie nichts zu spüren ist. – Die ähnliche Weisheit Adelards von Bath, der schon der Psychologie der Tiere seine Aufmerksamkeit zuwendet, suchte dem Verdachte der Ketzerei und der Verfolgung dadurch zu entgehen, daß sie einem Araber in den Mund gelegt wird. – Auch Wilhelm von Conches will in seiner philosophia mundi bloß »Akademiker«, d.h. platonischer Philosoph sein, womit er jedoch eine Art Atomismus, ja den Versuch einer materialistischen Gehirnphysiologie (Lokalisierung der Denkkraft, der Phantasie und des Gedächtnisses in gesonderten cellulae) verbunden zu haben scheint, während er in Glaubenssachen der Autorität der Kirchenväter folgen zu wollen erklärte. Trotzdem entging auch dieser im Gegensatz zu dem unruhigen, vielfach umhergetriebenen Abälard stille Wahrheitsforscher und Lehrer der Verfolgungssucht derer nicht, die »von Ketzerei sprechen, wo sie nicht mehr verstehen«, und z.B. an seiner Rationalisierung der Schöpfungsgeschichte Anstoß nahmen. Auch er widerrief. – Waren Bernhard Silvestris und Wilhelm von Conches außerdem auch als gute Grammatiker berühmt, so zeichnete sich der Bischof von Poitiers Gilbert de la Porrée († 1154) durch die logische oder, wie man damals sagte, dialektische Virtuosität aus, mit der er die kirchliche Dogmatik auf dem Wege der natürlichen Vernunft zu begründen versuchte. Erhalten von ihm ist ein Kommentar zu zwei Schriften des Boethius und ein kurzer Abriß betr. die sechs letzten Kategorien[249] des Aristoteles. Sein Satz, daß in Gott oder der reinen Form die gleichfalls stofflosen Ideen oder Urbilder der körperlichen Dinge, nach denen alles geschaffen ist, ihren Grund haben, erinnert an den Neuplatonismus. Zu Gilberts Schülern zählte u. a. der bekannte deutsche Geschichtsschreiber, Bischof Otto von Freising († 1158), der seine Chronik als »Geschichte von den zwei Staaten« (Augustins), des ewig-himmlischen und des zeitlich-weltlichen, bezeichnet.

2. Mystiker. Hatte Gilbert nach dem Ausdrucke J. E. Erdmanns die Scholastik als »bloße Vernunftlehre« zu begründen unternommen, so suchte man sie von anderer Seite zur »bloßen Religionslehre« zu machen und gelangte dadurch in den Hafen der Mystik. Viel trägt die aus dem religiösen Aufschwung des 11. Jahrhunderts (Cluniazenser) hervorgegangene Kreuzzugsstimmung dazu bei, und als deren hervorragendster Träger im 12. Jahrhundert der berühmte Abt Bernhard von Clairvaux (1091-1153), der siegreiche Gegner Abälards, diesem an Tiefe des religiösen Gemüts und Geschlossenheit des Charakters wie an weltgeschichtlicher Bedeutung ebenso überlegen, wie an theoretischer Begabung unter ihm stehend. Streitbarer Vorkämpfer der Orthodoxie und Mystik zugleich, verachtet er als heidnisch alles Wissen um des Wissens willen, ja überhaupt die Welt (De contemptu mundi) und preist als die eigentliche Tugend des Christen die Demut. Die letzte und höchste aber von deren zwölf Stufen (De gradibus humilitatis), zugleich die höchste der Seligkeiten, bildet »die geheimnisvolle Auffahrt der Seele in den Himmel, das süße Heimkehren aus dem Lande der Leiber in die Religion der Geister, das Sichaufgeben an und in Gott«. Die theoretische Grundlage aller Frömmigkeit ist ihm die Betrachtung (De consideratione l. V), ihre Krone die Gottesliebe (De deligendo Deo). Mit schwärmerischer Innigkeit (daher sein Beiname »Dr. mellifluus«), ja oft in gefühlsseliger Überschwenglichkeit versenkt er sich in die Wunder der göttlichen Liebe, in die Anschauung der Wunden des gekreuzigten Heilands, gern in den Bildern des Hohen Liedes schwelgend, über das er seinen Mönchen 86 noch erhaltene Predigten gehalten hat. Auf der höchsten Stufe der Liebe, der wahren Gottesliebe, liebt der Mensch auch sich selbst nur noch um Gottes willen. Freilich ist diese höchste Stufe nur für Augenblicke erreichbar (vgl. die Monographien von Hüffer, Bd. I, Münster 1886 und Vacandard, 2 Bde., Paris 1895).[250]

Systematischer als Bernhard gehen die Viktoriner (Leiter der Klosterschule S. Viktor in der Nähe von Paris) Hugo und Richard zu Werke. Hugo (1096-1141), von Geburt ein deutscher Graf von Blankenburg am Harz, unterscheidet in seinem Soliloquium und seinem Werke De sacramentis christianae fidei unter dem Einflusse augustinischer Weltanschauung, unter dem auch schon Bernhard stand, drei Stufen der intellektuellen Tätigkeit, drei »Augen« des Menschen. Die erste (cogitatio) – das äußere Auge – hat es nur mit dem Sinnlichen zu tun, die zweite (meditatio) – das innere Auge – mit dem begrifflichen Denken, welches das hinter den werdenden und vergehenden äußeren Formen verborgene Wesen der Dinge zu erforschen sucht. Beide aber sind streng auf die Welt der Erfahrung beschränkt, während die dritte und höchste Stufe (contemplatio) – das geistige Auge – in der unmittelbaren Anschauung (Vision) des Göttlichen besteht, welche die heilige Ruhe der reinen Liebe in uns schafft. Auch sonst war sein Einfluß auf die Ausbildung der kirchlichen Weltanschauung des Mittelalters bedeutend. Die Hauptsätze über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt in Papst Bonifaz' VIII. berühmter Bulle Unam sanctam entstammen einer von Hugos Schriften. Sein Schüler, der Schotte Richard von S. Viktor († 1173), gleich ihm ein Mann von umfangreicher Gelehrsamkeit, die er in einem besonderen Unterrichtsbuche niederlegte, baut die Lehre des Meisters noch weiter aus, indem er sechs Stufen der Erkenntnis, darunter drei der Kontemplation, unterscheidet. Diese letztere wird erst durch den Tod der Vernunft geboren und erhebt sich nicht bloß über, sondern auch wider dieselbe. Während diese beiden Viktoriner mit germanischer Gemütsinnigkeit in die Tiefen des Gefühlslebens dringen, erscheint dagegen Richards Nachfolger Walter von S. Viktor in seiner literarischen Tätigkeit als ein beschränkter Fanatiker, der mit Kampfeswut gegen die »vier Labyrinthe Frankreichs«: Abälard, dessen Schüler Peter von Poitiers, Gilbert und Petrus Lombardus (s. unten 3.) zu Felde zieht. Die sogenannte Wissenschaft dieser »Dialektiker« gilt ihm als Gaukelei, zum Lachen reizend, als leeres Wortgepränge und heidnische Empörung gegen das Evangelium, die Kirche dagegen als das Orakel, das man anzurufen hat.

Eine andere, nämlich pantheistische Wendung nimmt die Mystik unter Amalrich von Bene (Bennes bei Chartres), nach dessen, wahrscheinlich von Eriugena[251] beeinflußter, Lehre Gott in allen Kreaturen lebt. Inwieweit die Albigenser und später die »Brüder des freien Geistes« sich auf ihn mit Recht beriefen, ist ungewiß; jedenfalls wurde er 1204 verdammt, nach seinem Tode seine Gebeine ausgegraben und verscharrt, seine Anhänger, die Amalrikaner, als Ketzer mit Feuer und Schwert verfolgt. Noch ausgesprochener erscheint der Pantheismus Davids von Dinant, der – wahrscheinlich schon unter dem Einflusse arabischer Philosophen (§ 63) – die Identität seiner drei Prinzipien: Gott, Geist und Materie behauptete, denn ein und dasselbe Sein liege ihnen allen zugrunde (es erinnert das fast schon an Spinoza).

3. Summisten oder Sententiarier. Betonen die Mystiker vor allem den Akt des Glaubens (fides, qua creditur), so wollen die »Summen«-Schreiber dessen Inhalt (fides, quae creditur) mitteilen. Wie Abälard sein Sic et non, so hatte auch Hugo von S. Viktor eine Summa sententiarum, d.h. eine Sammlung theologischer Lehrmeinungen geschrieben, wie gleichzeitig die Engländer Robert Pulleyn (Pullus) und Robert von Melun. Am berühmtesten wurde die Sammlung des Lombarden Petrus (Petrus Lombardus, † um 1164 als Bischof von Paris), des sogen. magister sententiarum. Seine »4 Bücher Sentenzen« wurden für Jahrhunderte, vielleicht gerade um ihrer Farblosigkeit willen, das allgemein anerkannte Kompendium der Dogmatik und die Grundlage der theologischen Schulstreitigkeiten. Konnte doch später ein Jesuit Possevin 243 ihm bekannte Kommentare dazu zitieren. Das erste Buch handelt von Gott, das zweite von seinen Geschöpfen, das dritte von der Erlösung und den Tugenden, das vierte von den Sakramenten. Der begabteste Summist war der Niederländer Alanus von Lille oder ab insulis († 1203), wegen seiner allseitigen Beschlagenheit Dr. universales genannt, der unter dem Einflusse von Boethius und Gilbert in mehreren apologetischen Schriften, mit einem großen Aufwande von Gelehrsamkeit und nach mathematisch-deduktiver Methode, die Kirchenlehre gegen die Angriffe der Juden, Mohammedaner und Ketzer verteidigte und bereits eine bessere Kenntnis des Aristoteles (vgl. § 64) aufweist; übrigens einmal sich doch den ketzerischen Satz leistet, daß die Autorität eine »wächserne Nase« besitze, die man nach Belieben hierhin und dorthin drehen könne.

Einen passenden Abschluß dieser Frühperiode der Scholastik bildet die Gestalt des nach einem langen Leben[252] 1180 als Bischof von Chartres gestorbenen Engländers Johannes von Salisbury (Saresberiensis). Er war fast bei allen großen Zeitgenossen (Abälard, Wilhelm von Conches, Gilbert, Robert Pulleyn) in die Schule gegangen, aber auch bei den Alten, und hat sich von den letzteren nicht nur ein für seine Zeit außergewöhnlich elegantes Latein, sondern auch eine gewisse den meisten Scholastikern fremde Freiheit und Feinheit des Urteils angeeignet. Gegenüber den Wortklaubereien und Spitzfindigkeiten der Dialektik macht er den Standpunkt praktischer Nützlichkeit geltend. Cicero ist ihm Muster im Stil, wie auch in seiner eklektischen Haltung. Seine logische Hauptschrift (Metalogicus) ist reich an Mitteilungen über den logischen Schulbetrieb der Zeit und enthält eine verständige Darstellung des psychischen Entwicklungsprozesses: Empfindung, Anschauung, Begriff, Urteil usw. Die Krone der Wissenschaft ist ihm jedoch, von seinem praktischen Standpunkte aus, die Ethik. Seine diesbezügliche Schrift Policraticus entbehrt zwar fester Prinzipien und ist, als Ganzes betrachtet, ein recht ungeordnetes Gemisch, enthält aber manche treffende Einzelbemerkungen. Die ersten sechs Bücher kennzeichnen »die Nichtigkeiten des Hoflebens«, die folgenden sechs folgen mit kritischem Auge den »Spuren der Philosophie«, die freilich nur Momente der Wahrheit bringt; die ganze Wahrheit liegt allein bei der Kirche. Vorbedingung der Tugend ist die teils aus der Vernunft, teils aus Gottes Gnade stammende Selbsterkenntnis, Ziel aller Philosophie die nur auf der »Königsstraße« der Tugend zu erlangende wahre Glückseligkeit. Er billigt u. a. den Tyrannenmord.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 248-253.
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