§ 67. Neue Tendenzen: Roger Bacon (1214 – c. 1294). Raymundus Lullus (1235-1315).

1. Roger Bacon.

[273] Wie Alexander von Hales, Richard von Middletown und Duns Scotus, ist auch Roger Bacon Engländer und[273] Franziskanermönch. Geboren gegen 1214, aus reicher Familie, widmete er sich zu Oxford und Paris den Studien, insbesondere der Mathematik und Naturwissenschaft. Umgang mit Gelehrten, Unterricht armer Jünglinge, besonders aber physikalische Experimente waren seine Hauptbeschäftigung. Im Dienste der letzteren ging allmählich sein ganzes Vermögen (2000 Pf. St.) darauf. Für seinen Gönner Papst Clemens IV. schrieb er 1266-68 sein Opus maius, ein Erläuterungsbuch dazu (Opus minus) und eine Einleitungsschrift (Opus tertium); sein geplantes Hauptwerk (Opus principale) blieb unvollendet. Nach Clemens' Tode wurde der schon früher gegen Ihn aufgetauchte Verdacht des Unglaubens und der Zauberei aufs neue rege; er wurde verfolgt und erhielt, wie es heißt, zehn Jahre Klosterhaft. Seine Werke sind, wenn auch nicht vollständig, von Brewer (London 1859) herausgegeben worden. Ergänzungen dazu von R. Steele, Opera inedita R. B. (4 Teile, Oxford 1905-11). Die ausführlichste Monographie über sein Leben, seine Werke und seine Lehre hat E. Charles (Paris 1861) verfaßt. Vgl. auch das Sammelwerk von Little, Roger Bacon Essays (Oxf. 1914). Seine Bedeutung für die Aufklärung hebt H. Reuter a. a. O. II, 67-86 energisch hervor.

Roger Bacon ist ein Zeitgenosse des Thomas und geht dem Duns Scotus zeitlich sogar vorauf. Wir haben gleichwohl vorgezogen, ihn erst an dieser Stelle und in einem neuen Abschnitt zu behandeln, weil er eine ganz eigenartige Stellung in der Philosophie des Mittelalters einnimmt. Unser »Dr. mirabilis« mußte in der Tat seinen scholastischen Zeitgenossen »wunderbar« erscheinen, denn es regen sich in ihm schon ganz moderne Tendenzen, ohne freilich zu völliger Durchbildung und fester Gestalt gekommen zu sein. E. Dühring erklärt ihn in seiner Geschichte der Philosophie sogar für den einzigen Philosophen des Mittelalters. Goethe hat sich für ihn interessiert und in seiner Farbenlehre seine Bedeutung in rühmenden Worten anerkannt.

Das Grundlegende und Neue bei Roger Bacon ist, daß er im Gegensatz zu den Formeln der Scholastik auf das Kennen der Dinge dringt. Albert und Thomas heißen ihm Knaben, Lehrer, ehe sie gelernt; der letztere habe dicke Bücher über Aristoteles geschrieben, ohne Griechisch zu verstehen und ohne mathematisch-physikalische Kenntnisse. Auch Bacon schätzt den Aristoteles hoch und nächst ihm dessen Ausleger Avicenna; aber die Hauptsache ist[274] ihm doch die Rückkehr zu den Dingen selbst. Die Welt steckt voller Vorurteile: Autorität, Gewohnheit, Phrase. Mangel an Selbstkritik. Und die Wissenschaft ist ein langsames Fortschreiten in stetem Kampf mit dem großen laufen der Ungebildeten und Gewohnheitsmenschen. Ihr schlimmster Feind ist die Meinung, als ob sie schon abgeschlossen sei, die Anbetung der Autorität, die stete Berufung auf berühmte Namen. Die Logik und Grammatik gewisser Meister nachbeten, hat keinen Wert. Es heißt: an der Quelle studieren! Daher tüchtig Hebräisch, Griechisch, Arabisch lernen, wenn man die Bibel, Aristoteles, die Araber wirklich verstehen will; mit physikalischen und astronomischen Instrumenten arbeiten, wenn man die Natur wahrhaft kennen zu lernen strebt. Es gibt einen doppelten Weg der Erkenntnis: durch Vernunftbeweis oder durch Erfahrung. Bacon dringt, im Gegensatz zu den Scholastikern, vor allem auf den letzteren. Freilich genügen nicht einzelne unzusammenhängende Beobachtungen. Dieselben müssen methodisch geregelt, in Zusammenhang gebracht, die bedingenden Ursachen erforscht und so das Gesetz gefunden werden. Das ABC der Philosophie, die Grundlage aller Wissenschaften ist die Mathematik, die vollkommenste aber, die Königin aller die scientia experimentalis. Keinerlei magische Künste vermögen den Naturlauf zu ändern.

Allein der englische Franziskanermönch führt diese Ansätze zu echter Wissenschaft nicht folgerichtig durch. Neben der der menschlichen Wissenschaft erkennbaren natürlichen Kausalität gibt es noch eine übernatürliche der schöpferischen Gottheit; neben der äußeren Erfahrung noch eine innere, von Gott eingegebene, deren Gipfelpunkt die ekstatische Verzückung ist. Die höhere Vernunft ist nur möglich durch göttliche Wirkung. Die Autorität, die er sonst so energisch bekämpft, wird doch gefordert für die Kirche. In ihr ist der Glaube das Erste, die Erfahrung das Zweite, das Begreifen erst das Dritte. Die Theologie heißt an solchen Stellen die »edelste« Wissenschaft, der die Philosophie »absolut« dienen muß; alle den Menschen nützliche Weisheit liegt in der Heiligen Schrift, wo sie allerdings nur von Kundigen gefunden wird; der Papst ist der Stellvertreter (vicarius) Gottes auf Erden usw. Freilich, um die Ungläubigen zu überzeugen, soll man sich nur an das Vernunftgemäße, Allgemein-Menschliche halten. Das Christentum ist schließlich doch nichts anderes als die von Gott durch Christus[275] offenbarte natürliche Religion; das zum Heil Notwendige ist allen gemein, desgleichen die wesentlichen Grundzüge der Sittlichkeit. »Jeder Mensch trägt in seiner Seele ein großes Buch über die Sünden, die er von Jugend auf begangen hat, und selbst Bauern und alte Frauen, nicht bloß bei Christen, sondern auch bei den Sarazenen und anderen Ungläubigen, verstehen in sittlichen Fragen zu überzeugen.«

So mischt sich in Bacon Altes und Neues, kirchlicher Glaube und Keime echter Wissenschaft. Ohne Zweifel war er seiner Zeit an naturwissenschaftlicher Einsicht weit voraus. Er hat Vergrößerungsgläser erfunden, die Wirkung des Pulvers gekannt, richtige Beobachtungen über die Strahlenbrechung und das Sehen sowie über die Größe von Sonne und Mond angestellt, den Kalender zu verbessern gesucht und chemische Entdeckungen gemacht, deren Verständnis uns nur durch die von ihm gebrauchten rätselhaften Ausdrücke erschwert wird; ja, er hat die pfeilschnelle Bewegung von Schiffen ohne Segel und Ruder, von Wagen ohne Zugtiere ein halbes Jahrtausend voraus geahnt. Dennoch muß man sich vor seiner Überschätzung hüten. Neben dem Richtigen findet sich doch auch vieles Phantastische und Fehlerhafte. So sind bei ihm mit der Willensfreiheit des Menschen astrologische Einflüsse (Konstellation der Planeten) verbunden; Aristoteles wird bedauert, weil er die Quadratur des Kreises nicht gefunden; er rühmt sich, einem Schüler in drei Tagen Hebräisch und Griechisch beibringen zu können und verwechselt selbst doch dia mit dyo (nach Erdmann) u. a. So hat er denn zwar anregend, aber nicht nachhaltig auf die Nachwelt gewirkt, ja kaum unmittelbare Spuren hinterlassen.


2. Raymundus Lullus.

Eine noch merkwürdigere Gestalt als Roger Bacon ist der Spanier Ramon Lull (Raymundus Lullus, 1235 bis 1315), der nach einem abenteuerlichen weltlichen Leben sich auf das Bekehren der Averroisten verlegte und die Wahrheiten des Christentums auf eine neue, untrügliche Art beweisen wollte. Er verfaßte zu diesem Zweck eine ungeheure Masse – wie es heißt 400, nach anderen sogar 4000! – Schriften, von denen 45 in acht Bänden 1721 bis 1740 ediert worden sind. Außer durch seine alchimistischen Schriften und Entdeckungen – unter denen neben vielem Unsinn wirklich einige wichtige sich befinden – ward er besonders berühmt durch sein Hauptwerk: [276] Die große Kunst (Ars generalis). Alle möglichen aus Aristoteles, der Scholastik und – der Kabbalah aufgerafften Begriffe werden danach auf die Fächer von sieben konzentrischen Kreisen, deren jeder ein besonderes Wissensgebiet (z.B. A die ganze Theologie, B die Psychologie) darstellt, verteilt. Je nachdem man nun diese Kreise um einen gemeinsamen Mittelpunkt sich drehen läßt, lassen alle gewünschten Kombinationen sich mit Leichtigkeit herstellen und so alle – gewünschten Wahrheiten, auch die von Thomas als unbeweisbar angesehenen, wie Trinität und Inkarnation, »beweisen«. Der erste Kreis enthält z.B. 16 durch die Buchstaben B bis R bezeichnete Eigenschaften Gottes; durch Kombination derselben (BB, BC, BD usw.) entstehen 136 weitere Begriffe usf. Man wird uns wohl erlassen, auf diesen spitzfindigen Unsinn weiter einzugehen. (Näheres findet der dafür Interessierte in Erdmanns Grundriß I, S. 373-384.) Die Schreibweise ist in hohem Grade schwülstig und überschwenglich, dabei anspruchsvoll. Daß diese ars investigandi (des Aufsuchens), demonstrandi et inveniendi trotzdem, namentlich in mnemotechnischer Beziehung, nicht ganz ohne Nutzen war und eine geistreich erdachte Schablone für das ohnehin so sehr an das Gedächtnis appellierende scholastische Denken bot, soll damit nicht geleugnet werden. Jedenfalls fand sie zahlreiche Anhänger; es bildete sich eine förmliche Sekte der Lullisten, die ihren Meister als den »Dr. illuminatissimus« feierte.

Ähnliche Tendenzen wiederholen sich zwei Jahrhunderte später bei seinem Landsmann, dem in Toulouse lehrenden und noch von Montaigne (s. S. 319) verteidigten spanischen Arzte Raymund von Sabunde. Nur daß dieser sich weniger als dialektische, denn als gemütvollbeschauliche Natur zeigt, wenn er in seiner Natürlichen Theologie oder dem Buch der Geschöpfe (1436) Natur und Bibel, das »lebendige« und das »geschriebene« Buch der göttlichen Offenbarung, in Übereinstimmung zu bringen sucht, indem er von den vier Stufen des esse, vivere, sentire und intellegere ausgeht und ontologische, physiko-teleologische und moralische Beweisführung mit mystischen Gedanken verbindet.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 273-277.
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