4. Großer Geist in gebrechlichem Leib

[77] Fürst Ai von Lu befragte den Kung Dsï und sprach: »Im Staate We gibt es einen häßlichen Menschen namens (Ai Tai To) der elende Bucklige. Die Männer, die mit ihm zusammenleben, sind ihm zugetan und können sich nicht von ihm trennen. Die Mädchen, die ihn sehen, bitten ihre Eltern und sagen: ›Lieber als die Ehefrau eines anderen Mannes will ich eine Nebenfrau des Meisters sein.‹ Er hat schon über ein Dutzend, und es hört noch immer nicht auf. Dabei hat man noch niemals gehört, daß er sich besonders hervortut. Er lebt immer mit den Leuten im Frieden: das ist alles. Er sitzt auf keinem Fürstenthron, daß er die Leute vom Tode erretten könnte; er besitzt nicht Geld und Gut, daß er den Leib der Menschen voll und rund machen könnte. Dazuhin ist er von einer erschreckenden Häßlichkeit und besitzt kein außergewöhnliches Wissen. Und dennoch drängen sich Männlein und Weiblein um ihn. Er muß sicher etwas ganz Besonderes an sich haben. Ich ließ ihn rufen und betrachtete ihn: er war tatsächlich von einer erschreckenden Häßlichkeit. Er lebte in[77] meiner Umgebung kaum einen Monat lang, da kam er mir schon ganz menschlich vor, und ehe ein Jahr um war, hatte ich Vertrauen zu ihm gefaßt. Und da ich gerade keinen Kanzler im Staate hatte, so bot ich ihm die Lenkung des Staates an. Zögernd sagte er zu und unentschlossen, als wollte er lieber ablehnen. Ich war beschämt, aber schließlich gelang es mir, ihm die Lenkung des Staates zu übergeben. Kurz darauf aber verließ er mich und ging. Ich war traurig wie bei einem Todesfall, und es war mir, als hätte ich niemand mehr, mit dem ich mich zusammen meines Reiches freuen könnte. Was ist das für ein Mensch?«

Kung Dsï sprach: »Ich war einmal auf einer Gesandtschaft im Staate Tschu. Da erblickte ich zufällig einen Wurf junger Schweinchen, die an ihrer toten Mutter tranken. Nach einer Weile aber blinzelten sie sie an, dann ließen alle sie liegen und liefen weg, denn ihre tote Mutter blickte sie nicht mehr an, und sie war ihnen fremd geworden. Was sie an ihrer Mutter geliebt hatten, war nicht der Körper, sondern das, was den Körper belebte. Nun braucht der elende Bucklige nicht zu reden und findet schon Glauben; er braucht keine Taten zu tun und wird geliebt; er bringt die Fürsten dazu, daß sie ihm ihr eigenes Reich übergeben und nur besorgt sind, er möchte es nicht annehmen. Das zeigt, daß seine Naturanlagen völlig sind und daß sein Geist sich nur nicht in der äußeren Gestalt ausprägt.«

Der Fürst Ai fragte: »Was soll das heißen, daß seine Naturanlagen völlig seien?«

Kung Dsï sprach: »Geburt und Sterben, Leben und Tod, Erfolg und Mißerfolg, Armut und Reichtum, Würdigkeit und Unwürdigkeit, Lob und Tadel, Hunger und Durst, Hitze und Kälte wechseln in den Ereignissen miteinander ab, wie es dem Gang des Schicksals entspricht. Darum ist es nicht der Mühe wert, durch diese Dinge den inneren Einklang stören zu lassen; man darf sie nicht eindringen lassen in die Behausung der Seele. Wer es vermag, mit diesem inneren Einklang sein ganzes Leben im voraus zu durchdringen, und seine Freudigkeit nie verliert; wer Tag und Nacht ohne Unterbrechung der Welt diese Frühlingsmilde zeigt und so entgegennimmt,[78] was der Zeit entsprechend in seinem Herzen entsteht: der beweist die Völligkeit seiner Naturanlagen.«

»Was bedeutet es, daß der Geist sich nicht in der äußeren Gestalt ausprägt?« (fragte der Fürst).

Kung Dsï sprach: »Nichts kommt an ebenmäßiger Ruhe dem stillen Wasser gleich: Das kann man zum Vorbild nehmen. Wer sein Inneres wahrt, daß es nicht überfließt nach außen hin, der hat den Geist, der die Bildung des inneren Einklangs zustande bringt. Wessen Geist sich nicht äußerlich ausprägt, der bleibt in ungestörtem Einklang mit der Natur.«

Einige Tage darauf erzählte der Fürst Ai den Vorfall dem Min Dsï Kiën (einem Schüler Kungs) und sprach: »Früher dachte ich, daß der Herrscher auf dem Throne, der sich auf dem Laufenden hält über den Zustand seines Volks und Sorge trägt, daß es nicht Schaden nimmt an seinem Leben, seiner höchsten Pflicht genüge. Seit ich nun diese Worte vom vollkommenen Menschen gehört habe, fürchte ich, daß ich doch nicht auf dem rechten Wege bin, daß ich mein eignes Leben zu leicht nehme und mein Reich zu Schaden bringe. Ich stehe zu Kung Kiu nicht wie der Fürst zu seinem Diener, wir sind Freunde im Geist!«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 77-79.
Lizenz: