3. Die Musik des Herrn der gelben Erde

[158] Nordheim der Fertige fragte den Herrn der gelben Erde und sprach: »Eure Majestät führten die Musik der Sphärenharmonien auf in den Gefilden des Dung Ting Sees. Als ich den ersten Satz hörte, bekam ich Angst; als ich den zweiten Satz hörte, ward ich erschöpft; als ich den letzten Satz hörte, ward ich verwirrt. Unaussprechliche Unendlichkeitsgefühle stiegen in mir auf, und ich verlor mich selbst.«

Der Herrscher sprach: »Es konnte dir nicht anders gehen. Ich machte die Musik mit menschlichen Mitteln, aber stellte Himmlisches dar. Ich ordnete ihre Bewegungen nach den Regeln der Kunst und gab ihr Gehalt durch die große Reinheit. Die höchste Musik entspricht zuerst den menschlichen Geschäften; sie paßt sich an den Ordnungen des Himmels. Sie wandelt sich nach den verschiedenen Daseinsformen und entspricht der Freiheit. Dann ordnet sie die Jahreszeiten und bringt in Harmonie alle Geschöpfe. Die Jahreszeiten treten nacheinander auf, und die Geschöpfe entstehen in ihrem Lauf. Der Wechsel von Blüte und Untergang wird bezeichnet durch friedliche und kriegerische Klänge. Bald rein, bald trübe zeigt sie die Harmonie der lichten und dunklen Weltkraft. Wie fließender Glanz ist ihr Ton. Die Larven der Insekten beginnen sich zu regen; ich schreckte sie auf durch Donner und Blitz. Das Ende wird durch keinen Schluß bezeichnet, der Anfang hat keine Einleitung. Bald Tod, bald Leben; bald schien sie zu enden, bald fing sie wieder an. Was ewig ist und[158] unerschöpflich, kann nicht durch eine Weise ausgedrückt werden. Deshalb bekamst du Angst.«

Beim zweiten Satz folgte meine Musik der Harmonie der lichten und dunklen Urgewalt. Ich ließ den Schein von Sonne und Mond darin leuchten; so vermochten ihre Töne bald kurz zu sein, bald lang, bald weich, bald stark. Sie wechselten und wandelten sich und blieben doch in einer Tonart. Es war kein beherrschendes Motiv darin, so gab es eine ewige Melodie. Sie füllte die Täler, sie füllte die Schluchten; sie stillte das Sehnen, sie wahrte den Geist; sie gab allen Dingen das Maß. Ihre Klänge waren breit verhallend, ihr Ton war hoch und klar. Darum wahrten Geister und Götter ihre Verborgenheit. Sonne, Mond und Sterne wandelten ihre Bahnen. Ich gab ihnen ihre festen Grenzen durch die Endlichkeit. Ich ließ sie strömen durch die Unaufhörlichkeit. Du wolltest sie erfassen, aber du konntest sie nicht begreifen; du blicktest darnach, aber konntest nichts sehen; du folgtest ihr, aber konntest sie nicht erreichen. So standest du überwältigt am Weg zum Nichts. Du lehntest dich auf deine Laute und summtest mit. Dein Augenlicht erschöpfte sich, als du zu schauen begehrtest. Da ich dir unerreichbar blieb, behieltest du nur die äußere Form, dein Inneres ward leer. Du warst wie die abgestreifte Hülle einer Zikade, und du wardst erschöpft.

Beim dritten Satz gab meine Musik Töne, die keine Erschöpfung aufkommen ließen. Ich stimmte sie ein auf das Gesetz der Freiheit. Darum folgten sich die Töne wie sprudelnde Quellen, wie üppig sprossende Pflanzen, wie die Freude der Wälder, die den Blicken verborgen ist. Sie breitete sich in ihren Bewegungen aus und ließ keine Spur zurück. Tief und dämmernd und ohne Klang bewegte sie sich im Jenseits und weilte in dunklen Tiefen. Der eine mag es für Tod halten, der andere für Leben, der eine für Wirklichkeit, ein anderer für Schein. Die Töne flossen aufgelöst dahin. Ohne beherrschendes Motiv war es eine ewige Melodie. Die Welt versteht sie nicht und muß sie zur Beurteilung dem Berufenen überlassen. Der Berufene erfaßt ihre Gefühle und vermag ihren Gesetzen zu folgen. Wenn keine unsichtbare Triebkraft sich spannt und[159] doch alle Sinne Fülle haben: das ist himmlische Musik. Wortlos erfreut sich das Herz. So hat der Herr des Wirbels zu ihrem Lob gesagt:


»Man horcht nach ihr und hört nicht ihren Laut;

Man schaut nach ihr und sieht nicht ihre Form.


Sie erfüllt Himmel und Erde und umfaßt den ganzen Raum. Du wolltest sie hören und erfaßtest nichts. Darum wurdest du verwirrt.

Die Musik wirkte anfangs Angst; durch die Angst wurdest du berückt. Dann ließ ich die Erschöpfung folgen; durch die Erschöpfung wurdest du vereinsamt. Zum Schluß erzeugte ich Verwirrung; durch die Verwirrung fühltest du dich als Tor. Durch die Torheit gehst du ein zum SINN. Also kannst du den SINN beherbergen und eins mit ihm werden.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 158-160.
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