5. Wie man das Leben hüten soll

[200] Tiën Kai Dschï besuchte den Herzog We von Dschou.

Herzog We sprach: »Ich habe gehört, daß Dschu Schen die Kunst des Lebens erlernte. Ihr, Meister, wart unter seinen Jüngern; was habt Ihr darüber von ihm gehört?«

Tiën Kai Dschï sprach: »Ich stand wohl mit dem Besen in der Hand vor seiner Tür, um Staub zu kehren. Was sollte ich vom Meister gehört haben?«[200]

Der Herzog We sprach: »Seid nicht allzu bescheiden; wir möchten es in der Tat erfahren.«

Tiën Kai Dschï sprach: »Ich habe den Meister sagen hören: Wer tüchtig ist in der Pflege des Lebens, der ist wie ein Schafhirte. Er sieht auf die Nachzügler und peitscht sie voran.«

Der Herzog sprach: »Was heißt das?«

Tiën Kai Dschï sprach: »Im Staate Lu war einmal ein Mann, der lebte in Felsklüften und trank Wasser und hielt sich fern von allem Streben nach weltlichem Gewinn. So war er siebzig Jahre alt geworden, und sein Antlitz war noch frisch wie das eines Kindes. Unglücklicherweise begegnete er einmal einem hungrigen Tiger. Der hungrige Tiger zerriß ihn und fraß ihn auf. Da war auch ein anderer Mann, der lebte mit Arm und Reich in regem Verkehr. Als er aber vierzig Jahre alt geworden war, da bekam er ein innerliches Fieber, an dem er starb. Der eine dieser beiden pflegte sein Inneres, aber der Tiger fraß sein Äußeres; der andere pflegte sein Äußeres, aber die Krankheit griff sein Inneres an. Alle beide verstanden es nicht, ihre Nachzügler voranzupeitschen. Kung Dsï hat einmal gesagt: Sich nicht zurückziehen und verbergen, nicht hervortreten und sich zeigen, frei von allen Nebengedanken die Mitte wahren; wer das erlangt hat, der ist sicher höchsten Ruhmes würdig. Vor einer gefährlichen Straße, wo unter zehn Wanderern einer ermordet wird, da warnen Väter, Söhne und Brüder einander, und nur in Begleitung eines zahlreichen Gefolges lassen sie einander ziehen. Wo aber den Menschen die größten Gefahren drohen, bei Nacht im Bett und bei Trink- und Eßgelagen, da verstehen sie es nicht, einander zu warnen. Das ist der Fehler.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 200-201.
Lizenz: