1. Fürsten und Menschen

[248] Sü Wu Gui erhielt auf Veranlassung des Ministers Nü Schang Zutritt beim Fürsten Wu von We.

Der Fürst Wu bedauerte ihn und sprach: »Ihr seid wohl krank, Herr, und seid der Mühsale des Lebens in Bergen und Wäldern müde; darum habt Ihr Euch entschlossen, Uns zu besuchen?«

Sü Wu Gui sprach: »Ich komme, um Eure Hoheit zu bedauern; welchen Grund hätten Eure Hoheit, mich zu bedauern? Wollten Eure Hoheit alle Wünsche und Begierden erfüllen und Ihren Neigungen und Abneigungen freien Lauf lassen, so leiden darunter die Grundbedingungen der Wesensnatur. Wollten Eure Hoheit die Lüste und Begierden unterdrücken und die Neigungen und Abneigungen hemmen, so leiden darunter die Sinne. Darum möchte ich Eure Hoheit bedauern. Weshalb sollten Eure Hoheit mich bedauern?«

Der Fürst We blieb betroffen die Antwort schuldig.

Nach einer kleinen Weile fuhr Sü Wu Gui fort und sprach: »Ich möchte Eurer Hoheit davon erzählen, wie ich die Hunde beurteile. Die gemeinste Rasse frißt sich satt und tut nichts weiter; sie machen's wie die Wölfe. Die mittlere Rasse (hält fortwährend die Nase hoch), als ob sie in die Sonne starre. Die edelste Rasse vergißt (beim Jagen) sich selber vollkommen. Auf die Hunde verstehe ich mich aber noch nicht so gut wie auf die Pferde. Wenn ich ein Pferd beurteilen soll, das grade läuft nach der Schnur, das Wendungen machen kann wie ein Haken, das einen rechten Winkel machen kann genau nach dem Richtmaß und Kreise machen kann genau nach dem Zirkel, so sage ich, das ist ein Staatspferd. Ein solches steht aber noch weit zurück hinter einem Allerweltspferd.[249] Einem Allerweltspferd – dem liegt's im Blut. Es ist wie zögernd, wie verloren, wie selbstvergessen. Ein solches Tier, das kommt allen voran, läßt Staub und Erde hinter sich und verliert sich vor den Blicken.«

Der Fürst Wu war hocherfreut und lachte.

Da ging Sü Wu Gui hinaus.

Der Kanzler Nü Schang fragte ihn: »Herr, wie macht Ihr's nur, daß Ihr unserem Fürsten Rat erteilen könnt? Womit ich unsern Fürsten berate, das sind einerseits die heiligen Schriften der Lieder, der Urkunden, der Riten und der Musik und andererseits die berühmtesten Werke der Kriegskunst, die in äußerst verdienstvoller Weise sich mit allen Angelegenheiten beschäftigen. Unzähligemale schon habe ich's so ge macht, und unser Fürst hat noch nie auch nur den Mund verzogen. Was habt Ihr nun unserem Fürsten für einen Rat erteilt, daß er so fröhlich wurde?«

Sü Wu Gui sprach: »Ich habe ihm eben nur erzählt, wie ich Hunde und Pferde beurteile.«

Nü Schang sprach: »Ach so.«

Sü Wu Gui sprach: »Wißt Ihr nicht, wie es einem geht, der in ferne Lande verbannt ist? Ist er von seiner Heimat einige Tage lang fern und sieht einen guten Bekannten, so freut er sich; ist er von seiner Heimat wochen- und monatelang fern und begegnet einem Menschen, den er in seiner Heimat schon einmal getroffen hat, so freut er sich; dauert es schließlich jahrelang, so freut er sich schon, wenn er nur überhaupt ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommt. Ist's nicht also? Je länger man von Menschen ferne ist, desto mehr sehnt man sich nach ihnen. Ist einer in die Wildnis entflohen, wo Dorngestrüpp des Wiesels Pfad umrankt und er sich mühsam Schritt für Schritt die Wege bahnt, und es dringt der Laut von menschlichen Schritten an sein Ohr, so freut er sich; wieviel mehr erst, wenn er das Räuspern eines Bruders oder Verwandten hört, der an seiner Seite auftaucht. Wahrlich, lange ist's her, daß eines wahren Menschen Wort und Räuspern zur Seite unsres Fürsten ertönte.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 248-250.
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