II.

[161] Die Zeitschrift3 hat von Anfang an die Gegenstände, mit denen sie sich befaßte, als sozial-ökonomische behandelt. So wenig Sinn es nun hätte, hier Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen von Wissenschaften vorzunehmen, so müssen wir uns doch darüber summarisch ins klare setzen, was das bedeutet.

Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf, das ist, möglichst unpräzis ausgedrückt, der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als »sozial-ökonomische« bezeichnen. Die Qualität eines Vorganges als »sozial-ökonomischer« Erscheinung ist nun nicht etwas, was ihm als solchem »objektiv« anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses, wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgange im einzelnen Fall beilegen. Wo immer ein Vorgang des Kulturlebens in denjenigen Teilen seiner Eigenart, auf welchen für uns seine spezifische Bedeutung beruht, direkt oder in noch so vermittelter Weise an jenem Tatbestand verankert ist, da enthält er oder kann er wenigstens, so weit dies der Fall [ist], ein sozialwissenschaftliches Problem enthalten, d.h. eine Aufgabe für eine Disziplin, welche die Aufklärung der Tragweite jenes grundlegenden Tatbestandes zu ihrem Gegenstande macht.[161] Wir können nun innerhalb der sozialökonomischen Probleme unterscheiden: Vorgänge und Komplexe von solchen, Normen, Institutionen usw., deren Kulturbedeutung für uns wesentlich auf ihrer ökonomischen Seite beruht, die uns – wie z.B. etwa Vorgänge des Börsen- und Banklebens – zunächst wesentlich nur unter diesem Gesichtspunkt interessieren. Dies wird regelmäßig (aber nicht etwa ausschließlich) dann der Fall sein, wenn es sich um Institutionen handelt, welche bewußt zu ökonomischen Zwecken geschaffen wurden oder benutzt werden. Solche Objekte unseres Erkennens können wir i.e. S. »wirtschaftliche« Vorgänge bzw. Institutionen nennen. Dazu treten andere, die – wie z.B. etwa Vorgänge des religiösen Lebens – uns nicht oder doch sicherlich nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedeutung und um dieser willen interessieren, die aber unter Umständen unter diesem Gesichtspunkt Bedeutung gewinnen, weil von ihnen Wirkungen ausgehen, die uns unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren: »ökonomisch relevante« Erscheinungen. Und endlich gibt es unter den nicht in unserem Sinne »wirtschaftlichen« Erscheinungen solche, deren ökonomische Wirkungen für uns von keinem oder doch nicht erheblichem Interesse sind: etwa die Richtung des künstlerischen Geschmacks einer Zeit, – die aber ihrerseits im Einzelfalle in gewissen bedeutsamen Seiten ihrer Eigenart durch ökonomische Motive, also z.B. in unserem Fall etwa durch die Art der sozialen Gliederung des künstlerisch interessierten Publikums mehr oder minder stark mit beeinflußt sind: ökonomisch bedingte Erscheinungen. Jener Komplex menschlicher Beziehungen, Normen und normbestimmter Verhältnisse, die wir »Staat« nennen, ist beispielsweise bezüglich der staatlichen Finanzwirtschaft eine »wirtschaftliche« Erscheinung; – insofern er gesetzgeberisch oder sonst auf das Wirtschaftsleben einwirkt (und zwar auch da, wo ganz andere als ökonomische Gesichtspunkte sein Verhalten bewußt bestimmen), ist er »ökonomisch relevant«, – sofern endlich sein Verhalten und seine Eigenart auch in anderen als in seinen »wirtschaftlichen« Beziehungen durch ökonomische Motive mitbestimmt wird, ist er »ökonomisch bedingt«. Es versteht sich nach dem Gesagten von selbst, daß einerseits der Umkreis der »wirtschaftlichen« Erscheinungen ein flüssiger und nicht scharf abzugrenzender ist, und daß andererseits natürlich keineswegs etwa die »wirtschaftlichen«[162] Seiten einer Erscheinung nur »wirtschaftlich bedingt« oder nur »wirtschaftlich wirksam« sind, und daß eine Erscheinung überhaupt die Qualität einer »wirtschaftlichen« nur insoweit und nur so lange behält, als unser Interesse sich der Bedeutung, die sie für den materiellen Kampf ums Dasein besitzt, ausschließlich zuwendet.

Unsere Zeitschrift nun befaßt sich wie die sozialökonomische Wissenschaft seit Marx und Röscher nicht nur mit »wirtschaftlichen«, sondern auch mit »wirtschaftlich relevanten« und »wirtschaftlich bedingten« Erscheinungen. Der Umkreis derartiger Objekte erstreckt sich natürlich – flüssig, wie er je nach der jeweiligen Richtung unseres Interesses ist, – offenbar durch die Gesamtheit aller Kulturvorgänge. Spezifisch ökonomische Motive – d.h. Motive, die in ihrer für uns bedeutsamen Eigenart an jenem grundlegenden Tatbestand verankert sind – werden überall da wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Bedürfnisses an die Verwendung begrenzter äußerer Mittel gebunden ist. Ihre Wucht hat deshalb überall nicht nur die Form der Befriedigung, sondern auch den Inhalt von Kulturbedürfnissen auch der innerlichsten Art mitbestimmt und umgestaltet. Der indirekte Einfluß, der unter dem Drucke »materieller« Interessen stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen der Menschen, erstreckt sich (oft unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen und religiösen Empfindens hinein. Die Vorgänge des alltäglichen Lebens nicht minder wie die »historischen« Ereignisse der hohen Politik, Kollektiv-und Massenerscheinungen ebenso wie »singuläre« Handlungen von Staatsmännern oder individuelle literarische und künstlerische Leistungen sind durch sie mitbeeinflußt, – »ökonomisch bedingt«. Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interressengruppen und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art des Verlaufes der »ökonomischen Entwicklung« ein, – wird »ökonomisch relevant«. Soweit unsere Wissenschaft wirtschaftliche Kulturerscheinungen im kausalen Regressus individuellen Ursachen – ökonomischen oder nicht ökonomischen Charakters – zurechnet, erstrebt sie »historische« Erkenntnis. Soweit sie ein spezifisches Element der[163] Kulturerscheinungen: das ökonomische, in seiner Kulturbedeutung durch die verschiedensten Kulturzusammenhänge hindurch verfolgt, erstrebt sie Geschichtsinterpretation unter einem spezifischen Gesichtspunkt und bietet ein Teilbild, eine Vorarbeit für die volle historische Kulturerkenntnis.

Wenn nun auch nicht überall, wo ein Hineinspielen ökonomischer Momente als Folge oder Ursache stattfindet, ein sozial-ökonomisches Problem vorliegt – denn ein solches entsteht nur da, wo die Bedeutung jener Faktoren eben problematisch und nur durch die Anwendung der Methoden der sozial-ökonomischen Wissenschaft sicher feststellbar ist –, so ergibt sich doch der schier unübersehbare Umkreis des Arbeitsgebietes der sozial-ökonomischen Betrachtungsweise.

Unsere Zeitschrift hat nun schon bisher in wohlerwogener Selbstbeschränkung auf die Pflege einer ganzen Reihe höchst wichtiger Spezialgebiete unserer Disziplin, wie namentlich der deskriptiven Wirtschaftskunde, der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne und der Statistik, im allgemeinen verzichtet. Ebenso hat sie die Erörterung der finanztechnischen Fragen und die technisch-ökonomischen Probleme der Markt- und Preisbildung in der modernen Tauschwirtschaft anderen Organen überlassen. Ihr Arbeitsgebiet waren gewisse Interessenkonstellationen und -konflikte, welche durch die führende Rolle des Verwertung suchenden Kapitals in der Wirtschaft der modernen Kulturländer entstanden sind, in ihrer heutigen Bedeutung und ihrem geschichtlichen Gewordensein. Sie hat sich dabei nicht auf die im engsten Sinne »soziale Frage« genannten praktischen und entwicklungsgeschichtlichen Probleme: die Beziehungen der modernen Lohnarbeiterklasse zu der bestehenden Gesellschaftsordnung, beschränkt. Freilich mußte die wissenschaftliche Vertiefung des im Laufe der 80er Jahre [des 19. Jahrh.] bei uns sich verbreitenden Interesses gerade an dieser Spezialfrage zunächst eine ihrer wesentlichsten Aufgaben sein. Allein je mehr die praktische Behandlung der Arbeiterverhältnisse auch bei uns dauernder Gegenstand der gesetzgebenden Tätigkeit und der öffentlichen Erörterung geworden ist, um so mehr mußte der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit sich auf die Feststellung der universelleren Zusammenhänge, in welche diese Probleme hineingehören, verschieben und damit in die Aufgabe einer Analyse aller, durch die Eigenart der ökonomischen Grundlagen unserer Kultur geschaffenen und insofern[164] spezifisch modernen Kulturprobleme ausmünden. Die Zeitschrift hat denn auch schon sehr bald die verschiedensten, teils »ökonomisch relevanten«, teils »ökonomisch bedingten« Lebensverhältnisse auch der übrigen großen Klassen der modernen Kulturnationen und deren Beziehungen zueinander historisch, statistisch und theoretisch zu behandeln begonnen. Wir ziehen nur die Konsequenzen dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. – Dies und nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft« genannt haben. Das Wort soll hier die geschichtliche und theoretische Beschäftigung mit den gleichen Problemen umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der »Sozial politik« im weitesten Sinne dieses Wortes ist. Wir machen dabei von dem Rechte Gebrauch, den Ausdruck »sozial« in seiner durch konkrete Gegenwartsprobleme bestimmten Bedeutung zu verwenden. Will man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten, »Kulturwissenschaften« nennen, so gehört die Sozialwissenschaft in unserem Sinne in diese Kategorie hinein. Wir werden bald sehen, welche prinzipiellen Konsequenzen das hat.

Unzweifelhaft bedeutet die Heraushebung der sozialökonomischen Seite des Kulturlebens eine sehr fühlbare Begrenzung unserer Themata. Man wird sagen, daß der ökonomische oder, wie man unpräzis gesagt hat, der »materialistische« Gesichtspunkt, von dem aus das Kulturleben hier betrachtet wird, »einseitig« sei. Sicherlich, und diese Einseitigkeit ist beabsichtigt. Der Glaube, es sei die Aufgabe fortschreitender wissenschaftlicher Arbeit, die »Einseitigkeit« der ökonomischen Betrachtungsweise dadurch zu heilen, daß sie zu einer allgemeinen Sozialwissenschaft erweitert werde, krankt zunächst an dem Fehler, daß der Gesichtspunkt des »Sozialen«, also der Beziehung zwischen Menschen, nur dann irgend welche zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmtheit besitzt, wenn er mit irgend einem speziellen inhaltlichen Prädikat versehen ist. Sonst umfaßte er, als Objekt einer Wissenschaft gedacht, natürlich[165] z.B. die Philologie ebensowohl wie die Kirchengeschichte und namentlich alle jene Disziplinen, die mit dem wichtigsten konstitutiven Elemente jedes Kulturlebens: dem Staat, und mit der wichtigsten Form seiner normativen Regelung: dem Recht, sich beschäftigen. Daß die Sozialökonomik sich mit »sozialen« Beziehungen befaßt, ist so wenig ein Grund, sie als notwendigen Vorläufer einer »allgemeinen Sozialwissenschaft« zu denken, wie etwa der Umstand, daß sie sich mit Lebenserscheinungen befaßt, dazu nötigt, sie als Teil der Biologie, oder der andere, daß sie es mit Vorgängen auf einem Himmelskörper zu tun hat, dazu, sie als Teil einer künftigen vermehrten und verbesserten Astronomie anzusehen. Nicht die »sachlichen« Zusammenhänge der »Dinge«, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue »Wissenschaft«. –

Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des »Sozialen«, der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das »allgemeine« beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner »allgemeinen« Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichtspunkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte.

Frei von dem veralteten Glauben, daß die Gesamtheit der Kulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktion »materieller« Interessenkonstellationen deduzieren lasse, glauben wir unsrerseits doch, daß die Analyse der sozialen Erscheinungen und Kulturvorgänge unter dem speziellen Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in aller absehbarer Zeit noch bleiben wird. Die sogenannte »materialistische Geschichtsauffassung« als »Weltanschauung« oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf[166] das Bestimmteste abzulehnen, – die Pflege der ökonomischen Geschichtsinterpretation ist einer der wesentlichsten Zwecke unserer Zeitschrift. Das bedarf der näheren Erläuterung.

Die sogenannte »materialistische Geschichtsauffassung« in dem alten genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests beherrscht heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilettanten. Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigentümliche Erscheinung verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis bei der Erklärung einer historischen Erscheinung so lange nicht Genüge geschehen ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen); ist dies aber der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der fadenscheinigsten Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen »Triebkräfte« die »eigentlichen«, einzig »wahren«, in »letzter Instanz überall Ausschlag gebenden« seien, Genüge geschehen ist. Die Erscheinung ist ja nichts Einzigartiges. Es haben fast alle Wissenschaften, von der Philologie bis zur Biologie, gelegentlich den Anspruch erhoben, Produzenten nicht nur von Fachwissen, sondern auch von »Weltanschauungen« zu sein. Und unter dem Eindruck der gewaltigen Kulturbedeutung der modernen ökonomischen Umwälzungen und speziell der überragenden Tragweite der »Arbeiterfrage« glitt der unausrottbare monistische Zug jedes gegen sich selbst unkritischen Erkennens naturgemäß auf diesen Weg. Der gleiche Zug kommt jetzt, wo in zunehmender Schärfe der politische und handelspolitische Kampf der Nationen untereinander um die Welt gekämpft wird, der Anthropologie zugute: ist doch der Glaube weit verbreitet, daß »in letzter Linie« alles historische Geschehen Ausfluß des Spiels angeborener »Rassenqualitäten« gegeneinander sei. An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung von »Volkscharakteren« trat die noch kritiklosere Aufstellung von eigenen »Gesellschaftstheorien« auf »naturwissenschaftlicher« Grundlage. Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthropologischen Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Bedeutung gewinnt, sorgsam verfolgen. Es steht zu hoffen, daß der Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvorgängen auf die »Rasse« lediglich unser Nicht wissen dokumentierte – ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das »Milieu« oder, früher, auf die »Zeitumstände« –, allmählich durch[167] methodisch geschulte Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten, daß sie für die Erkenntnis der Kultur etwas spezifisch Anderes und Er heblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglichkeit sicherer Zurechnung einzelner konkreter Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu konkreten historisch gegebenen Ursachen durch Gewinnung exakten, unter spezifischen Gesichtspunkten erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit sie uns dies zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns Interesse und qualifizieren sie die »Rassenbiologie« als etwas mehr als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers.

Nicht anders steht es um die Bedeutung der ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen. Wenn nach einer Periode grenzenloser Ueberschätzung heute beinahe die Gefahr besteht, daß sie in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit unterwertet werde, so ist das die Folge der beispiellosen Unkritik, mit welcher die ökonomische Deutung der Wirklichkeit als »universelle« Methode in dem Sinne einer Deduktion aller Kulturerscheinungen – d.h. alles an ihnen für uns Wesentlichen – als in letzter Instanz ökonomisch bedingt verwendet wurde. Heute ist die logische Form, in der sie auftritt, nicht ganz einheitlich. Wo für die rein ökonomische Erklärung sich Schwierigkeiten ergeben, stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um ihre Allgemeingültigkeit als entscheidendes ursächliches Moment aufrecht zu erhalten. Entweder man behandelt alles das, was in der historischen Wirklichkeit nicht aus ökonomischen Motiven deduzierbar ist, als eben deshalb wissenschaftlich bedeutungslose »Zufälligkeit«. Oder man dehnt den Begriff des Oekonomischen bis zur Unkenntlichkeit, so daß alle menschlichen Interessen, welche irgendwie an äußere Mittel gebunden sind, in jenen Begriff einbezogen werden. Steht historisch fest, daß auf zwei in ökonomischer Hinsicht gleiche Situationen dennoch verschieden reagiert wurde – infolge der Differenzen der politischen und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen nicht ökonomischen Determinanten –, dann degradiert man, um die Suprematie des Oekonomischen zu erhalten, alle diese Momente zu den historisch zufälligen »Bedingungen«, unter denen die ökonomischen Motive als »Ursachen« wirken.[168] Es versteht sich aber, daß alle jene für die ökonomische Betrachtung »zufälligen« Momente ganz in demselben Sinne wie die ökonomischen je ihren eigenen Gesetzen folgen, und daß für eine Betrachtungsweise, welche ihre spezifische Bedeutung verfolgt, die jeweiligen ökonomischen »Bedingungen« ganz in dem gleichen Sinne »historisch zufällig« sind, wie umgekehrt. Ein beliebter Versuch, demgegenüber die überragende Bedeutung des Oekonomischen zu retten, besteht endlich darin, daß man das konstante Mit- und Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente des Kulturlebens in eine kausale oder funktionelle Abhängigkeit des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen von einem: dem ökonomischen, deutet. Wo eine bestimmte einzelne nicht wirtschaftliche Institution historisch auch eine bestimmte »Funktion« im Dienste von ökonomischen Klasseninteressen versehen hat, d.h. diesen dienstbar geworden ist, wo z.B. etwa bestimmte religiöse Institutionen als »schwarze Polizei« sich verwenden lassen und verwendet werden, wird dann die ganze Institution entweder als für diese Funktion geschaffen, oder – ganz metaphysisch – als durch eine vom Oekonomischen ausgehende »Entwicklungstendenz« geprägt, vorgestellt.

Es bedarf heute für keinen Fachmann mehr der Ausführung, daß diese Deutung des Zweckes der ökonomischen Kulturanalyse der Ausfluß teils einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, die das wissenschaftliche Interesse bestimmten ökonomisch bedingten Kulturproblemen zuwendete, teils eines rabiaten wissenschaftlichen Ressortpatriotismus war und daß sie heute mindestens veraltet ist. Die Reduktion auf ökonomische Ursachen allein ist auf keinem Gebiete der Kulturerscheinungen je in irgend einem Sinn erschöpfend, auch nicht auf demjenigen der »wirtschaftlichen« Vorgänge. Prinzipiell ist eine Bankgeschichte irgend eines Volkes, die nur die ökonomischen Motive zur Erklärung heranziehen wollte, natürlich ganz ebenso unmöglich, wie es etwa eine »Erklärung« der Sixtinischen Madonna aus den sozial-ökonomischen Grundlagen des Kulturlebens zur Zeit ihrer Entstehung sein würde, und sie ist in keiner Weise prinzipiell erschöpfender als es etwa die Ableitung des Kapitalismus aus gewissen Umgestaltungen religiöser Bewußtseinsinhalte, die bei der Genesis des kapitalistischen Geistes mitspielten, oder etwa irgend eines politischen Gebildes aus geographischen Bedingungen sein würden. In allen diesen Fällen ist für das[169] Maß der Bedeutung, die wir ökonomischen Bedingungen beizumessen haben, entscheidend, welcher Klasse von Ursachen diejenigen spezifischen Elemente der betreffenden Erscheinung, denen wir im einzelnen Falle Bedeutung beilegen, auf die es uns ankommt, zuzurechnen sind. Das Recht der einseitigen Analyse der Kulturwirklichkeit unter spezifischen »Gesichtspunkten« aber – in unserem Falle dem ihrer ökonomischen Bedingtheit – ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstande, daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwendung des gleichen begrifflich-methodischen Apparates alle Vorteile der Arbeitsteilung bietet. Sie ist so lange nicht »willkürlich«, als der Erfolg für sie spricht, d.h. als sie Erkenntnis von Zusammenhängen liefert, welche für die kausale Zurechnung konkreter historischer Vorgänge sich als wertvoll erweisen. Aber: die »Einseitigkeit« und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen ist überhaupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit geltenden Prinzips. Dies in seinen logischen Grundlagen und in seinen allgemeinen methodischen Konsequenzen uns zu verdeutlichen, ist der wesentliche Zweck der weiteren Auseinandersetzungen.

Es gibt keine schlechthin »objektive« wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder – was vielleicht etwas Engeres, für unsern Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet – der »sozialen Erscheinungen« unabhängig von speziellen und »einseitigen« Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit, die über eine rein formale Betrachtung der Normen – rechtlichen oder konventionellen – des sozialen Beieinanderseins hinausgehen will.

Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres[170] geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits. Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, »in« uns und »außer« uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes »Objekt« – etwa einen konkreten Tauschakt – isoliert ins Auge fassen, – sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies »Einzelne« erschöpfend in allen seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er »wesentlich« im Sinne von »wissenswert« sein solle. Nach welchen Prinzipien aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften in letzter Linie in der »gesetzmäßigen« Wiederkehr bestimmter ursächlicher Verknüpfungen finden zu können. Das, was die »Gesetze«, die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß – nach dieser Auffassung – das allein wissenschaftlich »Wesentliche« an ihnen sein: sobald wir die »Gesetzlichkeit« einer ursächlichen Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer Induktion als ausnahmslos geltend nachgewiesen, sei es für die innere Erfahrung zur unmittelbar anschaulichen Evidenz gebracht haben, ordnet sich ja jeder so gefundenen Formel jede noch so großgedachte Zahl gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Heraushebung des »Gesetzmäßigen« jeweils von der individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des »Gesetzes«-Systems in dies hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als »zufällig« und eben deshalb wissenschaftlich unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht »gesetzlich begreifbar« ist, also nicht zum »Typus« des Vorgangs gehört und daher nur Gegenstand »müßiger Neugier« sein kann. Immer wieder taucht demgemäß – selbst bei Vertretern der historischen Schule –[171] die Vorstellung auf, das Ideal, dem alle, also auch die Kulturerkenntnis zustrebe und, wenn auch für eine ferne Zukunft, zustreben könne, sei ein System von Lehrsätzen, aus dem die Wirklichkeit »deduziert« werden könnte. Ein Führer der Naturwissenschaft hat bekanntlich geglaubt, als das (faktisch unerreichbare) ideale Ziel einer solchen Verarbeitung der Kulturwirklichkeit eine »astronomische« Erkenntnis der Lebensvorgänge bezeichnen zu können. Lassen wir uns, so oft diese Dinge nun auch schon erörtert sind, die Mühe nicht verdrießen, auch unsererseits hier etwas näher zuzusehen. Zunächst fällt in die Augen, daß diejenige »astronomische« Erkenntnis, an welche dabei gedacht wird, keine Erkenntnis von Gesetzen ist, sondern vielmehr die »Gesetze«, mit denen sie arbeitet, als Voraussetzungen ihrer Arbeit anderen Disziplinen, wie der Mechanik, entnimmt. Sie selbst aber interessiert sich für die Frage: welches individuelle Ergebnis die Wirkung jener Gesetze auf eine individuell gestaltete Konstellation erzeugt, da diese individuellen Konstellationen für uns Bedeutung haben. Jede individuelle Konstellation, die sie uns »erklärt« oder voraussagt, ist natürlich kausal nur erklärbar als Folge einer anderen gleich individuellen ihr vorhergehenden, und soweit wir zurückgreifen in den grauen Nebel der fernsten Vergangenheit, – stets bleibt die Wirklichkeit, für welche die Gesetze gelten, gleich individuell, gleich wenig aus den Gesetzen deduzierbar. Ein kosmischer »Urzustand«, der einen nicht oder weniger individuellen Charakter an sich trüge, als [es] die kosmische Wirklichkeit der Gegenwart ist, wäre natürlich ein sinnloser Gedanke: – aber spukt nicht ein Rest ähnlicher Vorstellungen auf unserm Gebiet in jenen bald naturrechtlich erschlossenen, bald durch Beobachtung an »Naturvölkern« verifizierten Annahmen ökonomisch-sozialer »Urzustände« ohne historische »Zufälligkeiten«, – so des »primitiven Agrarkommunismus«, der sexuellen »Promiskuität« usw., – aus denen heraus alsdann durch eine Art von Sündenfall ins Konkrete die individuelle historische Entwicklung entsteht?

Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen,[172] selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus. Offenbar liegt hier der Sachverhalt, den wir eben an der Astronomie als einem (auch von den Logikern regelmäßig zum gleichen Behufe herangezogenen) Grenzfalle erläuterten, in spezifisch gesteigertem Maße vor. Während für die Astronomie die Weltkörper nur in ihren quantitativen, exakter Messung zugänglichen Beziehungen für unser Interesse in Betracht kommen, ist die qualitative Färbung der Vorgänge das, worauf es uns in der Sozialwissenschaft ankommt. Dazu tritt, daß es sich in den Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge handelt, welche nacherlebend zu »verstehen« natürlich eine Aufgabe spezifisch anderer Art ist, als sie die Formeln der exakten Naturerkenntnis überhaupt lösen können oder wollen. Immerhin sind diese Unterschiede nicht an sich derart prinzipielle, wie es auf den ersten Blick scheint. Ohne Qualitäten kommen – von der reinen Mechanik abgesehen – auch die exakten Naturwissenschaften nicht aus; wir stoßen ferner auf unserem Spezialgebiet auf die – freilich schiefe – Meinung, daß wenigstens die für unsere Kultur fundamentale Erscheinung des geldwirtschaftlichen Verkehrs quantifizierbar und eben deshalb »gesetzlich« erfaßbar sei; und endlich hängt es von der engeren oder weiteren Fassung des Begriffs »Gesetz« ab, ob man auch Regelmäßigkeiten, die, weil nicht quantifizierbar, keiner zahlenmäßigen Erfassung zugänglich sind, darunter verstehen will. Was speziell die Mitwirkung »geistiger« Motive anlangt, so schließt sie jedenfalls die Aufstellung von Regeln rationalen Handelns nicht aus, und vor allem ist die Ansicht noch heute nicht ganz verschwunden, daß es eben die Aufgabe der Psychologie sei, eine der Mathematik vergleichbare Rolle für die einzelnen »Geisteswissenschaften« zu spielen, indem sie die komplizierten Erscheinungen des Soziallebens auf ihre psychischen Bedingungen und Wirkungen hin zu zergliedern, diese auf möglichst einfache psychische Faktoren zurückzuführen, letztere wieder gattungsmäßig zu klassifizieren und in ihren funktionellen Zusammenhängen zu untersuchen habe. Damit wäre dann, wenn auch keine »Mechanik«, so doch eine Art von »Chemie« des Soziallebens in seinen psychischen Grundlagen geschaffen. Ob derartige Untersuchungen jemals wertvolle und – was davon verschieden ist – für die Kulturwissenschaften[173] brauchbare Einzelergebnisse liefern würden, können wir hier nicht entscheiden wollen. Für die Frage aber, ob das Ziel sozialökonomischer Erkenntnis in unserem Sinn: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang durch die Aufsuchung des sich gesetzmäßig Wiederholenden erreicht werden kann, wäre dies ohne allen Belang. Gesetzt den Fall, es gelänge einmal, sei es mittels der Psychologie, sei es auf anderem Wege, alle jemals beobachteten und weiterhin auch alle in irgend einer Zukunft denkbaren ursächlichen Verknüpfungen von Vorgängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgend welche einfache letzte »Faktoren« hin zu analysieren, und dann in einer ungeheuren Kasuistik von Begriffen und streng gesetzlich geltenden Regeln erschöpfend zu erfassen, – was würde das Resultat für die Erkenntnis der geschichtlich gegebenen Kulturwelt, oder auch nur irgend einer Einzelerscheinung daraus – etwa des Kapitalismus in seinem Gewordensein und seiner Kulturbedeutung –, besagen? Als Erkenntnismittel ebensoviel und ebensowenig wie etwa ein Lexikon der organischen chemischen Verbindungen für die biogenetische Erkenntnis der Tier- und Pflanzenwelt. Im einen Falle wie im andern würde eine sicherlich wichtige und nützliche Vorarbeit geleistet sein. Im einen Fall so wenig wie im andern ließe sich aber aus jenen »Gesetzen« und »Faktoren« die Wirklichkeit des Lebens jemals deduzieren, – nicht etwa deshalb nicht, weil noch irgend welche höhere und geheimnisvolle »Kräfte« (»Dominanten«, »Entelechien« oder wie man sie sonst genannt hat) in den Lebenserscheinungen stecken müßten – das ist eine Frage ganz für sich –, sondern schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) »Faktoren«, zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden, und weil, wenn wir nun diese individuelle Gruppierung »kausal erklären« wollen, wir immer auf andere, ganz ebenso individuelle Gruppierungen zurückgreifen müßten, aus denen wir sie, natürlich unter Benutzung jener (hypothetischen!) »Gesetzes«-Begriffe »erklären« würden. Jene (hypothetischen) »Gesetze« und »Faktoren« festzustellen, wäre für uns also jedenfalls nur die erste der mehreren Arbeiten, die zu der von uns erstrebten Erkenntnis führen würden. Die Analyse und ordnende Darstellung der jeweils historisch gegebenen, individuellen Gruppierung jener »Faktoren« und ihres dadurch[174] bedingten konkreten, in seiner Art bedeutsamen Zusammenwirkens und vor allem die Verständlichmachung des Grundes und der Art dieser Bedeutsamkeit wäre die nächste, zwar unter Verwendung jener Vorarbeit zu lösende, aber ihr gegenüber völlig neue und selbständige Aufgabe. Die Zurückverfolgung der einzelnen, für die Gegenwart bedeutsamen, individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen in ihrem Gewordensein, so weit in die Vergangenheit als möglich, und ihre historische Erklärung aus früheren, wiederum individuellen Konstellationen wäre die dritte, – die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen endlich eine denkbare vierte Aufgabe.

Für alle diese Zwecke wäre das Vorhandensein klarer Begriffe und die Kenntnis jener (hypothetischen) »Gesetze« offenbar als Erkenntnismittel – aber auch nur als solches – von großem Werte, ja sie wäre zu diesem Zwecke schlechthin unentbehrlich. Aber selbst in dieser Funktion zeigt sich an einem entscheidenden Punkt sofort die Grenze ihrer Tragweite, und mit deren Feststellung gelangen wir zu der entscheidenden Eigenart kulturwissenschaftlicher Betrachtungsweise. Wir haben als »Kulturwissenschaften« solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen streben. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns »Kultur«, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns; er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind. Nur weil und soweit dies der Fall [ist], ist er in seiner individuellen Eigenart für uns wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine »voraussetzungslose« Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung[175] ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird. Das Bedeutsame koinzidiert natürlich auch als solches mit keinem Gesetze als solchem, und zwar um so weniger, je allgemeingültiger jenes Gesetz ist. Denn die spezifische Bedeutung, die ein Bestandteil der Wirklichkeit für uns hat, findet sich natürlich gerade nicht in denjenigen seiner Beziehungen, die er mit möglichst vielen anderen teilt. Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander. Sie können in einem Einzelfall einmal koinzidieren, aber es ist von den verhängnisvollsten Folgen, wenn dies zufällige Zusammentreffen über ihr prinzipielles Auseinanderfallen täuscht. Es kann die Kulturbedeutung einer Erscheinung, z.B. des geldwirtschaftlichen Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt, wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er diese Rolle spielt, das, was in seiner Kulturbedeutung verständlich zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären ist. Die Untersuchung des generellen Wesens des Tausches und der Technik des Marktverkehrs ist eine – höchst wichtige und unentbehrliche! – Vorarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn historisch der Tausch zu seiner heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die Kulturbedeutung der Geldwirtschaft, um derentwillen wir uns für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit jener Technik befaßt, – sie folgt aus keinem jener »Gesetze«. Die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, Kaufs usw. interessieren den Juristen, – was uns angeht, ist die Aufgabe, eben jene Kulturbedeutung der historischen Tatsache, daß der Tausch heute Massenerscheinung ist, zu analysieren. Wo sie erklärt werden soll, wo wir verstehen[176] wollen, was unsere sozialökonomische Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja genau die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute, unterscheidet, worin also die Bedeutung der »Geldwirtschaft« liegt, da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft in die Untersuchung hinein: wir werden jene Begriffe, welche die Untersuchung der gattungsmäßigen Elemente der ökonomischen Massenerscheinungen uns liefert, zwar, soweit in ihnen bedeutungsvolle Bestandteile unserer Kultur enthalten sind, als Darstellungsmittel verwenden: – nicht nur aber ist das Ziel unserer Arbeit durch die noch so genaue Darstellung jener Begriffe und Gesetze nicht erreicht, sondern die Frage, was zum Gegenstand der gattungsmäßigen Begriffsbildung gemacht werden soll, ist gar nicht »voraussetzungslos«, sondern eben im Hinblick auf die Bedeutung entschieden worden, welche bestimmte Bestandteile jener unendlichen Mannigfaltigkeit, die wir »Verkehr« nennen, für die Kultur besitzen. Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen, d.h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller »Gesetze« des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich?, – da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist. Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets unendlich, und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend auszusondern. Ein Chaos von »Existenzialurteilen« über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich »voraussetzungslosen« Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können. In dieses Chaos bringt nur der[177] Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Auch diese kausale Erklärung selbst weist dann wiederum die gleiche Erscheinung auf: ein erschöpfender kausaler Regressus von irgend einer konkreten Erscheinung in ihrer vollen Wirklichkeit aus ist nicht nur praktisch unmöglich, sondern einfach ein Unding. Nur diejenigen Ursachen, welchen die im Einzelfalle »wesentlichen« Bestandteile eines Geschehens zuzurechnen sind, greifen wir heraus: die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten kausalen Zusammenhängen, nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage. Wo immer die kausale Erklärung einer »Kulturerscheinung« – eines »historischen Individuums«, wie wir im Anschluß an einen in der Methodologie unserer Disziplin schon gelegentlich gebrauchten und jetzt in der Logik in präziser Formulierung üblich werdenden Ausdruck sagen wollen – in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit, und nur soweit, als sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge wertvoll. Und je »allgemeiner«, d.h. abstrakter, die Gesetze [sind], desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge.

Was folgt nun aus alledem?

Natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften die Erkenntnis des Generellen, die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten[178] und der Versuch der Formulierung von »gesetzlichen« Zusammenhängen keine wissenschaftliche Berechtigung hätte. Im geraden Gegenteil: wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zurechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung »nomologischer« Kenntnis – Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge – überhaupt nicht möglich. Ob einem einzelnen individuellen Bestandteil eines Zusammenhanges in der Wirklichkeit in concreto kausale Bedeutung für den Erfolg, um dessen kausale Erklärung es sich handelt, beizumessen ist, kann ja im Zweifelsfalle nur durch Abschätzung der Einwirkungen, welche wir von ihm und den anderen, für die Erklärung mit in Betracht kommenden Bestandteilen des gleichen Komplexes generell zu erwarten pflegen: welche [mithin] »adäquate« Wirkungen der betreffenden ursächlichen Elemente sind, bestimmt werden. Inwieweit der Historiker (im weitesten Sinne des Wortes) mit seiner aus der persönlichen Lebenserfahrung gespeisten und methodisch geschulten Phantasie diese Zurechnung sicher vollziehen kann und inwieweit er auf die Hilfe spezieller Wissenschaften angewiesen ist, welche sie ihm ermöglichen, das hängt vom Einzelfalle ab. Ueberall aber und so auch auf dem Gebiet komplizierter wirtschaftlicher Vorgänge ist die Sicherheit der Zurechnung um so größer, je gesicherter und umfassender unsere generelle Erkenntnis ist. Daß es sich dabei stets, auch bei allen sog. »wirtschaftlichen Gesetzen« ohne Ausnahme, nicht um im engeren, exakt naturwissenschaftlichen Sinne »gesetzliche«, sondern um in Regeln ausgedrückte adäquate ursächliche Zusammenhänge, um eine hier nicht näher zu analysierende Anwendung der Kategorie der »objektiven Möglichkeit« handelt, tut diesem Satz nicht den mindesten Eintrag. Nur ist eben die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis, und ob es Sinn hat, eine aus der Alltagserfahrung bekannte Regelmäßigkeit ursächlicher Verknüpfung als »Gesetz« in eine Formel zu bringen, ist in jedem einzelnen Fall eine Zweckmäßigkeitsfrage. Für die exakte Naturwissenschaft sind die »Gesetze« um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die[179] wertlosesten. Denn je umfassender die Geltung eines Gattungsbegriffes – sein Umfang – ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll.

Was sich nun als Resultat des bisher Gesagten er gibt, ist, daß eine »objektive« Behandlung der Kulturvorgänge in dem Sinne, daß als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf »Gesetze« zu gelten hätte, sinnlos ist. Sie ist dies nicht etwa, wie oft behauptet worden ist, deshalb weil die Kulturvorgänge oder etwa die geistigen Vorgänge »objektiv« weniger gesetzlich abliefen, sondern weil 1) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Behufe braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von Kulturvorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein Gesetz, denn das entscheidet sich nach den Wertideen, unter denen wir die »Kultur« jeweils im einzelnen Falle betrachten. »Kultur« ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. Sie ist es für den Menschen auch dann, wenn er einer konkreten Kultur als Todfeind sich entgegenstellt und »Rückkehr zur Natur« verlangt. Denn auch zu dieser Stellungnahme kann er nur gelangen, indem er die konkrete Kultur auf seine Wertideen bezieht und »zu leicht« befindet. Dieser rein logisch-formale Tatbestand ist gemeint, wenn hier von der logisch notwendigen Verankerung aller historischen Individuen an »Wertideen« gesprochen wird. Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine »Kultur« wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß[180] wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, – diese Erscheinungen haben für uns Kulturbedeutung, auf dieser Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse. Wenn also hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeutung solle nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden, nicht ausgesetzt. Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und die Form, die sie historisch annehmen, unsere Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen.

Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist, wie sich daraus ergibt, stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderten Gesichtspunkten. Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung die erforderlichen »Gesichtspunkte« habe, so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit – bewußt oder unbewußt – auf universelle »Kulturwerte« zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem »Stoff selbst entnommen« werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt. In dieser immer und überall bewußt oder unbewußt erfolgenden Auswahl einzelner spezieller »Seiten« des Geschehens waltet auch dasjenige Element kulturwissenschaftlicher Arbeit, welches jener oft gehörten Behauptung zugrunde liegt, daß das »Persönliche«[181] eines wissenschaftlichen Werkes das eigentlich Wertvolle an ihm sei, daß sich in jedem Werk, solle es anders zu existieren wert sein, »eine Persönlichkeit« aussprechen müsse. Gewiß: ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele, seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht, werden die »Auffassung« einer ganzen Epoche zu bestimmen, d.h. entscheidend zu sein vermögen: nicht nur für das, was als »wertvoll«, sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als »wichtig« und »unwichtig« an den Erscheinungen gilt.

Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist also insofern an »subjektive« Voraussetzungen gebunden, als sie sich nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche irgend eine – noch so indirekte – Beziehung zu Vorgängen haben, denen wir Kulturbedeutung beilegen. Sie ist trotzdem natürlich rein kausale Erkenntnis genau in dem gleichen Sinn wie die Erkenntnis bedeutsamer individueller Naturvorgänge, welche qualitativen Charakter haben. Neben die mancherlei Verirrungen, welche das Hinübergreifen formal-juristischen Denkens in die Sphäre der Kulturwissenschaften gezeitigt hat, ist neuerdings u.a. der Versuch getreten, die »materialistische Geschichtsauffassung« durch eine Reihe geistreicher Trugschlüsse prinzipiell zu »widerlegen«, indem ausgeführt wurde, daß, da alles Wirtschaftsleben sich in rechtlich oder konventionell geregelten Formen abspielen müsse, alle ökonomische »Entwicklung« die Form von Bestrebungen zur Schaffung neuer Rechtsformen annehmen müsse, also nur aus sittlichen Maximen verständlich und aus diesem Grunde von jeder »natürlichen« Entwicklung dem Wesen nach verschieden sei. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung sei daher »teleologischen« Charakters. Ohne hier die Bedeutung des vieldeutigen Begriffs der »Entwicklung« für die Sozialwissenschaft oder auch den logisch nicht minder vieldeutigen Begriff des »Teleologischen« erörtern zu wollen, sei demgegenüber hier nur[182] festgestellt, daß sie jedenfalls nicht in dem Sinn »teleologisch« zu sein genötigt ist, wie diese Ansicht voraussetzt. Bei völliger formaler Identität der geltenden Rechtsnormen kann die Kulturbedeutung der normierten Rechtsverhältnisse und damit auch der Normen selbst sich grundstürzend ändern. Ja, will man sich denn einmal in Zukunftsphantasien spintisierend vertiefen, so könnte jemand sich z.B. eine »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« theoretisch als vollzogen denken, ohne daß irgend eine auf diesen Erfolg bewußt abzielende »Bestrebung« entstanden wäre und ohne daß irgend ein Paragraph unserer Gesetzgebung verschwände oder neu hinzuträte: das statistische Vorkommen der einzelnen rechtlich normierten Beziehungen freilich wäre von Grund aus geändert, bei vielen auf Null gesunken, ein großer Teil der Rechtsnormen praktisch bedeutungslos, ihre ganze Kulturbedeutung bis zur Unkenntlichkeit verändert. Erörterungen de lege ferenda konnte daher die »materialistische« Geschichtstheorie mit Recht ausscheiden, denn ihr zentraler Gesichtpunkt war gerade der unvermeidliche Bedeutungswandel der Rechtsinstitutionen. Wem die schlichte Arbeit kausalen Verständnisses der historischen Wirklichkeit subaltern erscheint, der mag sie meiden, – sie durch irgend eine »Teleologie« zu ersetzen, ist unmöglich. »Zweck« ist für unsere Betrachtung die Vorstellung eines Erfolges, welche Ursache einer Handlung wird; wie jede Ursache, welche zu einem bedeutungsvollen Erfolg beiträgt oder beitragen kann, so berücksichtigen wir auch diese. Und ihre spezifische Bedeutung beruht nur darauf, daß wir menschliches Handeln nicht nur konstatieren, sondern verstehen können und wollen. –

Ohne alle Frage sind nun jene Wertideen »subjektiv«. Zwischen dem »historischen« Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der »Bedeutungen«, deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden. Und ebenso sind sie natürlich historisch wandelbar mit dem Charakter der Kultur und der die Menschen beherrschenden Gedanken selbst. Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die kulturwissenschaftliche [183] Forschung nur Ergebnisse haben könne, die »subjektiv« in dem Sinne seien, daß sie für den einen gelten und für den andern nicht. Was wechselt, ist vielmehr der Grad, in dem sie den einen interessieren und den andern nicht. Mit anderen Worten: was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen; – im Wie?, in der Methode der Forschung, ist der leitende »Gesichtspunkt« zwar – wie wir noch sehen werden – für die Bildung der begrifflichen Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in der Art ihrer Verwendung aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.

Aber allerdings folgt daraus eins: die Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte. Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, »historisches Individuum« wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird. Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpfliche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich: stets kann bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und disparaten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit[184] für uns jeweils »Kultur«, d.h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist. –

Nach diesen langwierigen Auseinandersetzungen können wir uns nun endlich der Frage zuwenden, die uns bei einer Betrachtung der »Objektivität« der Kulturerkenntnis methodisch interessiert: welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet: welches ist die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begriffsbildung für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit?

Die Nationalökonomie war – wir sahen es schon – ursprünglich wenigstens dem Schwerpunkt ihrer Erörterungen nach »Technik«, d.h. sie betrachtete die Erscheinungen der Wirklichkeit von einem, wenigstens scheinbar, eindeutigen, feststehenden praktischen Wertgesichtspunkt aus: dem der Vermehrung des »Reichtums« der Staatsangehörigen. Sie war anderer seits von Anfang an nicht nur »Technik«, denn sie wurde eingegliedert in die mächtige Einheit der naturrechtlichen und rationalistischen Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts. Aber die Eigenart jener Weltanschauung mit ihrem optimistischen Glauben an die theoretische und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen wirkte wesentlich insofern, als sie hinderte, daß der problematische Charakter jenes als selbstverständlich vorausgesetzten Gesichtspunktes entdeckt wurde. Wie die rationale Betrachtung der sozialen Wirklichkeit im engen Zusammenhalt mit der modernen Entwicklung der Naturwissenschaft entstanden war, so blieb sie in der ganzen Art ihrer Betrachtung ihr verwandt. In den naturwissenschaftlichen Disziplinen nun war der praktische Wertgesichtspunkt des unmittelbar technisch Nützlichen von Anfang an mit der als Erbteil der Antike überkommenen und weiter entwickelten Hoffnung eng verbunden, auf dem Wege der generalisierenden Abstraktion und der Analyse des Empirischen auf gesetzliche Zusammenhänge hin zu einer rein »objektiven«, d.h. hier: von allen Werten losgelösten, und zugleich durchaus rationalen, d.h. von allen individuellen »Zufälligkeiten« befreiten monistischen Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit in Gestalt eines Begriffssystems von metaphysischer Geltung und von mathematischer Form zu gelangen. Die an Wertgesichtspunkte geketteten naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie die klinische Medizin und noch mehr die gewöhnlich sogenannte[185] »Technologie«, wurden rein praktische »Kunstlehren«. Die Werte, denen sie zu dienen hatten: Gesundheit des Patienten, technische Vervollkommnung eines konkreten Produktionsprozesses etc. standen für jede von ihnen jeweils fest. Die Mittel, die sie anwendeten, waren und konnten nur sein die Verwertung der durch die theoretischen Disziplinen gefundenen Gesetzesbegriffe. Jeder prinzipielle Fortschritt in der Bildung dieser war oder konnte doch sein auch ein Fortschritt der praktischen Disziplin. Bei feststehendem Zweck war ja die fortschreitende Reduktion der einzelnen praktischen Fragen (eines Krankheitsfalles, eines technischen Problems) als Spezialfall auf generell geltende Gesetze, also die Erweiterung des theoretischen Erkennens, unmittelbar mit der Ausweitung der technisch-praktischen Möglichkeiten verknüpft und identisch. Als dann die moderne Biologie auch diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die uns historisch, d.h. in der Art ihres So-und-nicht-anders-Gewordenseins interessieren, unter den Begriff eines allgemeingültigen Entwicklungsprinzips gebracht hatte, welches wenigstens dem Anschein nach – aber freilich nicht in Wahrheit – alles an jenen Objekten Wesentliche in ein Schema generell geltender Gesetze einzuordnen gestattete, da schien die Götterdämmerung aller Wertgesichtspunkte in allen Wissenschaften heraufzuziehen. Denn da ja doch auch das sogenannte historische Geschehen ein Teil der gesamten Wirklichkeit war, und das Kausalprinzip, die Voraussetzung aller wissenschaftlichen Arbeit, die Auflösung alles Geschehens in generell geltende »Gesetze« zu fordern schien, da endlich der ungeheure Erfolg der Naturwissenschaften, die mit diesem Gedanken ernst gemacht hatten, zutage lag, so schien ein anderer Sinn des wissenschaftlichen Arbeitens als die Auffindung der Gesetze des Geschehens überhaupt nicht vorstellbar. Nur das »Gesetzmäßige« konnte das wissenschaftlich Wesentliche an den Erscheinungen sein, »individuelle« Vorgänge [konnten] nur als »Typen«, d.h. hier: als illustrative Repräsentanten der Gesetze, in Betracht kommen, ein Interesse an ihnen um ihrer selbst willen schien »kein wissenschaftliches« Interesse [zu sein].

Die mächtigen Rückwirkungen dieser glaubensfrohen Stimmung des naturalistischen Monismus auf die ökonomischen Disziplinen hier zu verfolgen, ist unmöglich. Als die sozialistische Kritik und die Arbeit der Historiker die ursprünglichen Wertgesichtspunkte in Probleme zu verwandeln begannen, hielt[186] die mächtige Entwicklung der biologischen Forschung auf der einen Seite, der Einfluß des Hegelschen Panlogismus auf der anderen Seite die Nationalökonomie davon ab, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit in vollem Umfang deutlich zu erkennen. Das Resultat, soweit es uns hier interessiert, ist, daß trotz des gewaltigen Dammes, welchen die deutsche idealistische Philosophie seit Fichte, die Leistungen der deutschen historischen Rechtsschule und die Arbeit der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie dem Eindringen naturalistischer Dogmen entgegenbauten, dennoch und zum Teil infolge dieser Arbeit an entscheidenden Stellen die Gesichtspunkte des Naturalismus noch immer unüberwunden sind. Dahin gehört insbesondere das noch immer problematisch gebliebene Verhältnis zwischen »theoretischer« und »historischer« Arbeit in unserem Fache.

In unvermittelter und anscheinend unüberbrückbarer Schroffheit steht noch heute die »abstrakt«-theoretische Methode der empirisch-historischen Forschung [in unserer Disziplin] gegenüber. Sie erkennt durchaus richtig die methodische Unmöglichkeit, durch Formulierung von »Gesetzen« die geschichtliche Erkenntnis der Wirklichkeit zu ersetzen oder umgekehrt durch bloßes Aneinanderreihen historischer Beobachtungen zu »Gesetzen« im strengen Sinn zu gelangen. Um nun solche zu gewinnen, – denn daß dies die Wissenschaft als höchstes Ziel zu erstreben habe, steht ihr fest –, geht sie von der Tatsache aus, daß wir die Zusammenhänge menschlichen Handelns beständig selbst in ihrer Realität unmittelbar erleben, daher – so meint sie – dessen Ablauf mit axiomatischer Evidenz direkt verständlich machen und so in seinen »Gesetzen« erschließen können. Die einzig exakte Form der Erkenntnis, die Formulierung unmittelbar anschaulich evidenter Gesetze, sei aber zugleich die einzige, welche den Schluß auf die nicht unmittelbar beobachteten Vorgänge zulasse, daher sei mindestens für die fundamentalen Phänomene des wirtschaftlichen Lebens die Aufstellung eines Systems von abstrakten und – infolgedessen – rein formalen Lehrsätzen nach Analogie derjenigen der exakten Naturwissenschaften das einzige Mittel geistiger Beherrschung der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit. Trotz der prinzipiellen methodischen Scheidung gesetzlicher und historischer Erkenntnis, welche der Schöpfer der Theorie als Erster und Einziger vollzogen hatte, wird nun aber für die Lehrsätze der abstrakten Theorie[187] von ihm empirische Geltung im Sinne der Deduzierbarkeit der Wirklichkeit aus den »Gesetzen« in Anspruch genommen. Zwar nicht im Sinne der empirischen Geltung der abstrakten ökonomischen Lehrsätze für sich allein, sondern in der Art, daß, wenn man entsprechende »exakte« Theorien von allen übrigen in Betracht kommenden Faktoren gebildet haben werde, diese sämtlichen abstrakten Theorien zusammen dann die wahre Realität der Dinge – d.h.: das, was von der Wirklichkeit wissenswert sei – in sich enthalten müßten. Die exakte ökonomische Theorie stelle die Wirkung eines psychischen Motivs fest, andere Theorien hätten die Aufgabe, alle übrigen Motive in ähnlicher Art in Lehrsätzen von hypothetischer Geltung zu entwickeln. Für das Ergebnis der theoretischen Arbeit, die abstrakten Preisbildungs-, Zins-, Renten-usw.-Theorien, wurde demgemäß hie und da phantastischerweise in Anspruch genommen: sie könnten, nach – angeblicher – Analogie physikalischer Lehrsätze, dazu verwendet werden, aus gegebenen realen Prämissen quantitativ bestimmte Resultate – also Gesetze im strengsten Sinne – mit Gültigkeit für die Wirklichkeit des Lebens [zu] deduzieren, da die Wirtschaft des Menschen bei gegebenem Zweck in bezug auf die Mittel eindeutig »determiniert« sei. Es wurde nicht beachtet, daß, um dies Resultat in irgendeinem noch so einfachen Falle erzielen zu können, die Gesamtheit der jeweiligen historischen Wirklichkeit einschließlich aller ihrer kausalen Zusammenhänge als »gegeben« gesetzt und als bekannt vorausgesetzt werden müßte und daß, wenn dem endlichen Geist diese Kenntnis zugänglich würde, irgendein Erkenntniswert einer abstrakten Theorie nicht vorstellbar wäre. Das naturalistische Vorurteil, daß in jenen Begriffen etwas den exakten Naturwissenschaften Verwandtes geschaffen werden solle, hatte eben dahin geführt, daß man den Sinn dieser theoretischen Gedankengebilde falsch verstand. Man glaubte, es handele sich um die psychologische Isolierung eines spezifischen »Triebes«, des Erwerbstriebes, im Menschen, oder aber um die isolierte Beobachtung einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, des sogenannten wirtschaftlichen Prinzips. Die abstrakte Theorie meinte, sich auf psychologische Axiome stützen zu können, und die Folge war, daß die Historiker nach einer empirischen Psychologie riefen, um die Nichtgeltung jener Axiome beweisen und[188] den Verlauf der wirtschaftlichen Vorgänge psychologisch ableiten zu können. Wir wollen nun an dieser Stelle den Glauben an die Bedeutung einer – erst zu schaffenden – systematischen Wissenschaft der »Sozialpsychologie« als künftiger Grundlage der Kulturwissenschaften, speziell der Sozialökonomik, nicht eingehend kritisieren. Gerade die bisher vorliegenden, zum Teil glänzenden Ansätze psychologischer Interpretation ökonomischer Erscheinungen zeigen jedenfalls, daß nicht von der Analyse psychologischer Qualitäten des Menschen zur Analyse der gesellschaftlichen Institutionen fortgeschritten wird, sondern gerade umgekehrt die Aufhellung der psychologischen Voraussetzungen und Wirkungen der Institutionen die genaue Bekanntschaft mit diesen letzteren und die wissenschaftliche Analyse ihrer Zusammenhänge voraussetzt. Die psychologische Analyse bedeutet alsdann lediglich eine im konkreten Fall höchst wertvolle Vertiefung der Erkenntnis ihrer historischen Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung. Das, was uns an dem psychischen Verhalten des Menschen in seinen sozialen Beziehungen interessiert, ist eben in jedem Falle je nach der spezifischen Kulturbedeutung der Beziehung, um die es sich handelt, spezifisch besondert. Es handelt sich dabei um untereinander höchst heterogene und höchst konkret kombinierte psychische Motive und Einflüsse. Die sozial-psychologische Forschung bedeutet eine Durchmusterung verschiedener einzelner, untereinander vielfach disparater Gattungen von Kulturelementen auf ihre Deutungsfähigkeit für unser nacherlebendes Verständnis hin. Wir werden durch sie, von der Kenntnis der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung in steigendem Maße geistig verstehen lernen, nicht aber die Institutionen aus psychologischen Gesetzen deduzieren oder aus psychologischen Elementarerscheinungen erklären wollen.

So ist denn auch die weitschichtige Polemik, welche sich um die Frage der psychologischen Berechtigung der abstrakt theoretischen Aufstellungen, um die Tragweite des »Erwerbstriebes« und des »wirtschaftlichen Prinzips« usw. gedreht hat, wenig fruchtbar gewesen. –

Es handelt sich bei den Aufstellungen der abstrakten Theorie nur scheinbar um »Deduktionen« aus psychologischen Grundmotiven, in Wahrheit vielmehr um einen Spezialfall einer Form[189] der Begriffsbildung, welche den Wissenschaften von der menschlichen Kultur eigentümlich und in gewissem Umfang unentbehrlich ist. Es lohnt sich, sie an dieser Stelle etwas eingehender zu charakterisieren, da wir dadurch der prinzipiellen Frage nach der Bedeutung der Theorie für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis näher kommen. Dabei lassen wir es ein- für allemal unerörtert, ob die theoretischen Gebilde, welche wir als Beispiele heranziehen, oder auf die wir anspielen, so wie sie sind, dem Zwecke entsprechen, dem sie dienen wollen, ob sie also sachlich zweckmäßig gebildet sind. Die Frage, wie weit z.B. die heutige »abstrakte Theorie« noch ausgesponnen werden soll, ist schließlich auch eine Frage der Oekonomie der wissenschaftlichen Arbeit, deren doch auch andere Probleme harren. Auch die »Grenznutzentheorie« untersteht dem »Gesetz des Grenznutzens«. –

Wir haben in der abstrakten Wirtschaftstheorie ein Beispiel jener Synthesen vor uns, welche man als »Ideen« historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt. Sie bieten uns ein Idealbild der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln. Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom »Markt« abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine »Hypothese«, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die »Idee« der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation[190] der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z.B. die Idee der »Stadtwirtschaft« des Mittelalters als »genetischen« Begriff konstruiert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff »Stadtwirtschaft« nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus. Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als »stadtwirtschaftlich« im begrifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seine spezifischen Dienste. – Ganz in der gleichen Art kann man, um noch ein weiteres Beispiel zu analysieren, die »Idee« des »Handwerks« in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt und auf einen Gedankenausdruck bezieht, den man darin manifestiert findet. Man kann dann ferner den Versuch machen, eine Gesellschaft zu zeichen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen »Handwerk« charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Idealtypus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran anschließend den Versuch machen, die Utopie einer »kapitalistischen«, d.h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschten[191] Kultur zu zeichnen. Sie hätte einzelne diffus vorhandene Züge des modernen materiellen und geistigen Kulturlebens in ihrer Eigenart gesteigert zu einem für unsere Betrachtung widerspruchslosen Idealbilde zusammenzuschließen. Das wäre dann ein Versuch der Zeichnung einer »Idee« der kapitalistischen Kultur, – ob und wie er etwa gelingen könnte, müssen wir hier ganz dahingestellt sein lassen. Nun ist es möglich, oder vielmehr es muß als sicher angesehen werden, daß mehrere, ja sicherlich jeweils sehr zahlreiche Utopien dieser Art sich entwerfen lassen, von denen keine der anderen gleicht, von denen erst recht keine in der empirischen Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen Zustände zu beobachten ist, von denen aber doch jede den Anspruch erhebt, eine Darstellung der »Idee« der kapitalistischen Kultur zu sein, und von denen auch jede diesen Anspruch insofern erheben kann, als jede tatsächlich gewisse, in ihrer Eigenart bedeutungsvolle Züge unserer Kultur der Wirklichkeit entnommen und in ein einheitliches Idealbild gebracht hat. Denn diejenigen Phänomene, die uns als Kulturerscheinungen interessieren, leiten regelmäßig dieses unser Interesse – ihre »Kulturbedeutung« – aus sehr verschiedenen Wertideen ab, zu denen wir sie in Beziehung setzen können. Wie es deshalb die verschiedensten »Gesichtspunkte« gibt, unter denen wir sie als für uns bedeutsam betrachten können, so lassen sich die allerverschiedensten Prinzipien der Auswahl der in einen Idealtypus einer bestimmten Kultur aufzunehmenden Zusammenhänge zur Anwendung bringen.

Was ist nun aber die Bedeutung solcher idealtypischen Begriffe für eine Erfahrungswissenschaft, wie wir sie treiben wollen? Vorweg sei hervorgehoben, daß der Gedanke des Sein sollenden, »Vorbildlichen« von diesen in rein logischem Sinn »idealen« Gedankengebilden, die wir besprechen, hier zunächst sorgsam fernzuhalten ist. Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert und also »objektiv möglich«, unserem nomologischen Wissen als adäquat erscheinen.

Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit »voraussetzungslose« Abbildung »objektiver« Tatsachen sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen. Und selbst wer erkannt hat, daß es eine »Voraussetzungslosigkeit« im logischen Sinn auf dem Boden der Wirklichkeit nicht[192] gibt und auch das einfachste Aktenexzerpt oder Urkundenregest nur durch Bezugnahme auf »Bedeutungen«, und damit auf Wertideen als letzte Instanz, irgend welchen wissenschaftlichen Sinn haben kann, wird doch die Konstruktion irgend welcher historischer »Utopien« als ein für die Unbefangenheit der historischen Arbeit gefährliches Veranschaulichungsmittel, überwiegend aber einfach als Spielerei ansehen. Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht. Jede aufmerksame Beobachtung der begrifflichen Elemente historischer Darstellung zeigt nun aber, daß der Historiker, sobald er den Versuch unternimmt, über das bloße Konstatieren konkreter Zusammenhänge hinaus die Kulturbedeutung eines noch so einfachen individuellen Vorgangs festzustellen, ihn zu »charakterisieren«, mit Begriffen arbeitet und arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf und eindeutig bestimmbar sind. Oder sind Begriffe wie etwa: »Individualismus«, »Imperialismus«, »Feudalismus«, »Merkantilismus« »konventionell« und die zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art, mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu bemächtigen suchen, ihrem Inhalt nach durch »voraussetzungslose« Beschreibung irgend einer konkreten Erscheinung oder aber durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren konkreten Erscheinungen gemeinsam ist, zu bestimmen? Die Sprache, die der Historiker spricht, enthält in hunderten von Worten solche unbestimmten, dem unreflektiert waltenden Bedürfnis des Ausdrucks entnommenen Gedankenbilder, deren Bedeutung zunächst nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird. In unendlich vielen Fällen, zumal auf dem Gebiet der darstellenden politischen Geschichte, tut nun die Unbestimmtheit ihres Inhaltes der Klarheit der Darstellung sicherlich keinen Eintrag. Es genügt dann, daß im einzelnen Falle empfunden wird, was dem Historiker vorschwebt, oder aber man kann sich damit begnügen, daß eine partikuläre Bestimmtheit des Begriffsinhaltes von relativer Bedeutung für den einzelnen[193] Fall als gedacht vorschwebt. Je schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig bestimmten Begriffen zu arbeiten. Eine »Definition« jener Synthesen des historischen Denkens nach dem Schema: genus proximum, differentia specifica ist natürlich ein Unding: man mache doch die Probe. Eine solche Form der Feststellung der Wortbedeutung gibt es nur auf dem Boden dogmatischer Disziplinen, welche mit Syllogismen arbeiten. Eine einfach »schildernde Auflösung« jener Begriffe in ihre Bestandteile gibt es ebenfalls nicht oder nur scheinbar, denn es kommt eben darauf an, welche dieser Bestandteile denn als wesentlich gelten sollen. Es bleibt, wenn eine genetische Definition des Begriffsinhaltes versucht werden soll, nur die Form des Idealtypus im oben fixierten Sinn. Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die »eigentliche« Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt.

Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Versuch, historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen. Man nehme etwa die Begriffe: »Kirche« und »Sekte«. Sie lassen sich rein klassifizierend in Merkmalskomplexe auflösen, wobei dann nicht nur die Grenze zwischen beiden, sondern auch der Begriffsinhalt stets flüssig bleiben muß. Will ich aber den Begriff der »Sekte« genetisch, z.B. in bezug auf gewisse wichtige Kulturbedeutungen, die der »Sektengeist« für die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merkmale beider wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann zugleich ideal typisch, d.h. in voller begrifflicher Reinheit sind sie nicht oder nur vereinzelt[194] vertreten. Hier wie überall führt eben jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab. Aber die diskursive Natur unseres Erkennens: der Umstand, daß wir die Wirklichkeit nur durch eine Kette von Vorstellungsveränderungen hindurch erfassen, postuliert eine solche Begriffsstenographie. Unsere Phantasie kann ihre ausdrückliche begriffliche Formulierung sicherlich oft als Mittel der Forschung entbehren, – für die Darstellung ist, soweit sie eindeutig sein will, ihre Verwendung auf dem Boden der Kulturanalyse in zahlreichen Fällen ganz unvermeidlich. Wer sie grundsätzlich verwirft, muß sich auf die formale, etwa die rechtshistorische Seite der Kulturerscheinungen beschränken. Der Kosmos der rechtlichen Normen ist natürlich zugleich begrifflich klar bestimmbar und (im rechtlichen Sinn!) für die historische Wirklichkeit geltend. Aber ihre praktische Bedeutung ist es, mit der die Arbeit der Sozialwissenschaft in unserem Sinn zu tun hat. Diese Bedeutung aber ist sehr oft nur durch Beziehung des empirisch Gegebenen auf einen idealen Grenzfall eindeutig zum Bewußtsein zu bringen. Lehnt der Historiker (im weitesten Sinne des Wortes) einen Formulierungsversuch eines solchen Idealtypus als »theoretische Konstruktion«, d.h. als für seinen konkreten Erkenntniszweck nicht tauglich oder entbehrlich, ab, so ist die Folge regelmäßig entweder, daß er, bewußt oder unbewußt, andere ähnliche ohne sprachliche Formulierung und logische Bearbeitung verwendet, oder daß er im Gebiet des unbestimmt »Empfundenen« stecken bleibt.

Nichts aber ist allerdings gefährlicher als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den »eigentlichen« Gehalt, das »Wesen« der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die »Ideen« als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende »eigentliche« Wirklichkeit, als reale »Kräfte« hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.

Speziell diese letztere Gefahr liegt nun um so näher, als wir unter »Ideen« einer Epoche auch und sogar in erster Linie Gedanken oder Ideale zu verstehen gewohnt sind, welche die Masse oder einen geschichtlich ins Gewicht fallenden Teil der[195] Menschen jener Epoche selbst beherrscht haben und dadurch für deren Kultureigenart als Komponenten bedeutsam gewesen sind. Und es kommt noch zweierlei hinzu: Zunächst der Umstand, daß zwischen der »Idee« im Sinn von praktischer oder theoretischer Gedankenrichtung und der »Idee« im Sinn eines von uns als begriffliches Hilfsmittel konstruierten Idealtypus einer Epoche regelmäßig bestimmte Beziehungen bestehen. Ein Idealtypus bestimmter gesellschaftlicher Zustände, welcher sich aus gewissen charakteristischen sozialen Erscheinungen einer Epoche abstrahieren läßt, kann – und dies ist sogar recht häufig der Fall – den Zeitgenossen selbst als praktisch zu erstrebendes Ideal oder doch als Maxime für die Regelung bestimmter sozialer Beziehungen vorgeschwebt haben. So steht es schon mit der »Idee« des »Nahrungsschutzes« und manchen Theorien der Kanonisten, speziell des heiligen Thomas, im Verhältnis zu dem heute verwendeten idealtypischen Begriff der »Stadtwirtschaft« des Mittelalters, den wir oben besprachen. Erst recht steht es so mit dem berüchtigten »Grundbegriff« der Nationalökonomie: dem des »wirtschaftlichen Werts«. Von der Scholastik an bis in die Marxsche Theorie hinein verquickt sich hier der Gedanke von etwas »objektiv« Geltendem, d.h. also: Seinsollendem, mit einer Abstraktion aus dem empirischen Verlauf der Preisbildung. Und jener Gedanke, daß der »Wert« der Güter nach bestimmten »naturrechtlichen« Prinzipien reguliert sein solle, hat unermeßliche Bedeutung für die Kulturentwicklung – und zwar nicht nur des Mittelalters – gehabt und hat sie noch. Und er hat speziell auch die empirische Preisbildung intensiv beeinflußt. Was aber unter jenem theoretischen Begriff gedacht wird und gedacht werden kann, das ist nur durch scharfe, das heißt idealtypische Begriffsbildung wirklich eindeutig klar zu ma chen, – das sollte der Spott über die »Robinsonaden« der abstrakten Theorie jedenfalls so lange bedenken, als er nichts besseres, d.h. hier: Klareres an die Stelle zu setzen vermag.

Das Kausalverhältnis zwischen der historisch konstatierbaren, die Menschen beherrschenden, Idee und denjenigen Bestandteilen der historischen Wirklichkeit, aus welchen der ihr korrespondierende Idealtypus sich abstrahieren läßt, kann dabei natürlich höchst verschieden gestaltet sein. Festzuhalten ist prinzipiell nur, daß beides selbstverständlich grundverschiedene[196] Dinge sind. Nun aber tritt noch etwas weiteres hinzu: Jene die Menschen einer Epoche beherrschenden, d.h. diffus in ihnen wirksamen »Ideen« selbst können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere Gedankengebilde handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja in den Köpfen einer unbestimmten und wechselnden Vielzahl von Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen nach Form und Inhalt, Klarheit und Sinn erfahren. Diejenigen Bestandteile des Geisteslebens der einzelnen Individuen in einer bestimmten Epoche des Mittelalters z.B., die wir als »das Christentum« der betreffenden Individuen ansprechen dürfen, würden, wenn wir sie vollständig zur Darstellung zu bringen vermöchten, natürlich ein Chaos unendlich differenzierter und höchst widerspruchsvoller Gedanken- und Gefühlszusammenhänge aller Art sein, trotzdem die Kirche des Mittelalters die Einheit des Glaubens und der Sitten sicherlich in besonders hohem Maße durchzusetzen vermocht hat. Wirft man nun die Frage auf, was denn in diesem Chaos das »Christentum« des Mittelalters, mit dem man doch fortwährend als mit einem feststehenden Begriff operieren muß, gewesen sei, worin das »Christliche«, welches wir in den Institutionen des Mittelalters finden, denn liege, so zeigt sich alsbald, daß auch hier in jedem einzelnen Fall ein von uns geschaffenes reines Gedankengebilde verwendet wird. Es ist eine Verbindung von Glaubenssätzen, Kirchenrechts- und sittlichen Normen, Maximen der Lebensführung und zahllosen Einzelzusammenhängen, die wir zu einer »Idee« verbinden: eine Synthese, zu der wir ohne die Verwendung idealtypischer Begriffe gar nicht widerspruchslos zu gelangen vermöchten.

Die logische Struktur der Begriffssysteme, in denen wir solche »Ideen« zur Darstellung bringen, und ihr Verhältnis zu dem, was uns in der empirischen Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, sind nun natürlich höchst verschieden. Verhältnismäßig einfach gestaltet sich die Sache noch, wenn es sich um Fälle handelt, in denen ein oder einige wenige leicht in Formeln zu fassende theoretische Leitsätze – etwa der Prädestinati onsglaube Calvins – oder klar formulierbare sittliche Postulate es sind, welche sich der Menschen bemächtigt und historische Wirkungen erzeugt haben, so daß wir die »Idee« in eine Hierarchie von Gedanken gliedern können, welche logisch aus jenen Leitsätzen[197] sich entwickeln. Schon dann wird freilich leicht übersehen, daß, so gewaltig die Bedeutung auch der rein logisch zwingenden Macht des Gedankens in der Geschichte gewesen ist – der Marxismus ist ein hervorragendes Beispiel dafür –, doch der empirisch-historische Vorgang in den Köpfen der Menschen regelmäßig als ein psychologisch, nicht als ein logisch bedingter verstanden werden muß. Deutlicher noch zeigt sich der idealtypische Charakter solcher Synthesen von historisch wirksamen Ideen dann, wenn jene grundlegenden Leitsätze und Postulate gar nicht oder nicht mehr in den Köpfen derjenigen Einzelnen leben, die von den aus ihnen logisch folgenden oder von ihnen durch Assoziation ausgelösten Gedanken beherrscht sind, weil die historisch ursprünglich zugrunde liegende »Idee« entweder abgestorben ist, oder überhaupt nur in ihren Konsequenzen in die Breite gedrungen war. Und noch entschiedener tritt der Charakter der Synthese als einer »Idee«, die wir schaffen, dann hervor, wenn jene grundlegenden Leitsätze von Anfang an nur unvollkommen oder gar nicht zum deutlichen Bewußtsein gekommen sind oder wenigstens nicht die Form klarer Gedankenzusammenhänge angenommen haben. Wenn alsdann diese Prozedur von uns vorgenommen wird, wie es unendlich oft geschieht und auch geschehen muß, so handelt es sich bei dieser »Idee« – etwa des »Liberalismus« einer bestimmten Periode oder des »Methodismus« oder irgendeiner gedanklich unentwickelten Spielart des »Sozialismus« – um einen reinen Idealtypus ganz des gleichen Charakters wie die Synthese von »Prinzipien« einer Wirtschaftsepoche, von denen wir ausgingen. Je umfassender die Zusammenhänge sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je vielseitiger ihre Kulturbedeutung gewesen ist, desto mehr nähert sich ihre zusammenfassende systematische Darstellung in einem Begriffs- und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus, desto weniger ist es möglich, mit einem derartigen Begriffe auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die immer wiederholten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsamkeit durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen. Alle Darstellungen eines »Wesens« des Christentums z.B. sind Idealtypen von stets und notwendig nur sehr relativer und problematischer Gültigkeit, wenn sie als historische Darstellung des empirisch Vorhandenen angesehen sein wollen, dagegen von hohem heuristischen Wert[198] für die Forschung und hohem systematischen Wert für die Darstellung, wenn sie lediglich als begriffliche Mittel zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit an ihnen verwendet werden. In dieser Funktion sind sie geradezu unentbehrlich. Nun aber haftet solchen idealtypischen Darstellungen regelmäßig noch ein anderes, ihre Bedeutung noch weiter komplizierendes Moment an. Sie wollen sein, oder sind unbewußt, regelmäßig Idealtypen nicht nur im logischen, sondern auch im praktischen Sinne: vorbildliche Typen, welche – in unserem Beispiel – das enthalten, was das Christentum nach der Ansicht des Darstellers sein soll, was an ihm das für ihn »Wesentliche«, weil dauernd Wertvolle ist. Ist dies aber bewußt oder – häufiger – unbewußt der Fall, dann enthalten sie Ideale, auf welche der Darsteller das Christentum wertend bezieht: Aufgaben und Ziele, auf die hin er seine »Idee« des Christentums ausrichtet und welche natürlich von den Werten, auf welche die Zeitgenossen, etwa die Urchristen, das Christentum bezogen, höchst verschieden sein können, ja zweifellos immer sein werden. In dieser Bedeutung sind die »Ideen« dann aber natürlich nicht mehr rein logische Hilfsmittel, nicht mehr Begriffe, an welchen die Wirklichkeit vergleichend gemessen, sondern Ideale, aus denen sie wertend beurteilt wird. Es handelt sich hier nicht mehr um den rein theoretischen Vorgang der Beziehung des Empirischen auf Werte, sondern um Werturteile, welche in den »Begriff« des Christentums aufgenommen sind. Weil hier der Idealtypus empirische Geltung beansprucht, ragt er in die Region der wertenden Deutung des Christentums hinein: der Boden der Erfahrungswissenschaft ist verlassen; es liegt ein persönliches Bekenntnis vor, nicht eine ideal-typische Begriffsbildung. So prinzipiell dieser Unterschied ist, so tritt die Vermischung jener beiden grundverschiedenen Bedeutungen der »Idee« im Verlauf der historischen Arbeit doch außerordentlich häufig ein. Sie liegt immer sehr nahe, sobald der darstellende Historiker seine »Auffassung« einer Persönlichkeit oder Epoche zu entwickeln beginnt. Im Gegensatz zu den konstant bleibenden ethischen Maßstäben, die Schlosser im Geiste des Rationalismus verwendete, hat der moderne relativistisch eingeschulte Historiker, der die Epoche, von der er spricht, einerseits »aus ihr selbst verstehen«, andererseits doch auch »beurteilen« will, das Bedürfnis,[199] die Maßstäbe seines Urteils »dem Stoff« zu entnehmen, d.h. die »Idee« im Sinne des Ideals aus der »Idee« im Sinne des »Idealtypus« herauswachsen zu lassen. Und das ästhetisch Reizvolle eines solchen Verfahrens verlockt ihn fortwährend dazu, die Linie, wo beide sich scheiden, zu verwischen – eine Halbheit, welche einerseits das wertende Urteilen nicht lassen kann, andererseits die Verantwortung für ihre Urteile von sich abzulehnen trachtet. Demgegenüber ist es aber eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur Verhütung von Erschleichungen, die logisch vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf Idealtypen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus scharf zu scheiden. Ein »Idealtypus« in unserem Sinne ist, wie noch einmal wiederholt sein mag, etwas gegenüber der wertenden Beurteilung völlig indifferentes, er hat mit irgend einer anderen als einer rein logischen »Vollkommenheit« nichts zu tun. Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen, und es gibt von den ersteren sowohl Idealtypen von solchen, die vom Standpunkt der heutigen Polizeiethik aus technisch »zweckmäßig« erscheinen würden, wie von solchen, bei denen das gerade Gegenteil der Fall ist.

Notgedrungen muß hier die eingehende Erörterung des weitaus kompliziertesten und interessantesten Falles: die Frage der logischen Struktur des Staatsbegriffes beiseite bleiben. Nur folgendes sei dazu bemerkt: Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit dem Gedanken »Staat« entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen, teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der Einzelnen vorhanden, welche, wenn sie die »Idee« wirklich selbst klar als solche dächten, ja nicht erst der »allgemeinen Staatslehre« bedürften, die sie entwickeln will. Der wissenschaftliche Staatsbegriff, wie immer er formuliert werde, ist nun natürlich stets eine Synthese, die wir[200] zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen. Aber er ist andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Synthesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden werden. Der konkrete Inhalt aber, den der historische »Staat« in jenen Synthesen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden. Und ferner unterliegt es nicht dem mindesten Zweifel, daß die Art, wie jene Synthesen, in logisch stets unvollkommener Form, von den Zeitgenossen vollzogen werden, der »Ideen«, die sie sich vom Staat machen, – die deutsche »organische« Staatsmetaphysik z.B. im Gegensatz zu der »geschäftlichen« amerikanischen Auffassung, – von eminenter praktischer Bedeutung ist, daß mit anderen Worten auch hier die als geltensollend oder geltend geglaubte praktische Idee und der zu Erkenntniszwecken konstruierte theoretische Idealtypus nebeneinander herlaufen und die stete Neigung zeigen, ineinander überzugehen. –

Wir hatten oben absichtlich den »Idealtypus« wesentlich – wenn auch nicht ausschließlich – als gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d.h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen – wie Christentum, Kapitalismus usw. – betrachtet. Dies geschah, um die landläufige Vorstellung zu beseitigen, als ob auf dem Gebiet der Kulturerscheinungen das abstrakt Typische mit dem abstrakt Gattungsmäßigen identisch sei. Das ist nicht der Fall. Ohne den viel erörterten und durch Mißbrauch stark diskreditierten Begriff des »Typischen« hier prinzipiell analysieren zu können, entnehmen wir doch schon unserer bisherigen Erörterung, daß die Bildung von Typenbegriffen im Sinn der Ausscheidung des »Zufälligen« auch und gerade bei historischen Individuen ihre Stätte findet. Nun aber können natürlich auch diejenigen Gattungsbegriffe, die wir fortwährend als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter historischer Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtypen geformt werden. Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger Anwendungsfall der idealtypischen Begriffe, und jeder individuelle Idealtypus setzt sich aus begrifflichen Elementen zusammen, die gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind. Auch in diesem Falle[201] zeigt sich aber die spezifische logische Funktion der idealtypischen Begriffe. Ein einfacher Gattungsbegriff im Sinne eines Komplexes von Merkmalen, die an mehreren Erscheinungen gemeinsam sich vorfinden, ist z.B. der Begriff des »Tausches«, so lange ich von der Bedeutung der Begriffsbestandteile absehe, also einfach den Sprachgebrauch des Alltags analysiere. Setze ich diesen Begriff nun aber etwa zu dem »Grenznutzgesetz« in Beziehung und bilde den Begriff des »ökonomischen Tausches« als eines ökonomisch rationalen Vorgangs, dann enthält dieser, wie jeder logisch voll entwickelte Begriff, ein Urteil über die »typischen« Bedingungen des Tausches in sich. Er nimmt genetischen Charakter an und wird damit zugleich im logischen Sinn idealtypisch, d.h. er entfernt sich von der empirischen Wirklichkeit, die nur mit ihm verglichen, auf ihn bezogen werden kann. Aehnliches gilt von allen sogenannten »Grundbegriffen« der Nationalökonomie: sie sind in genetischer Form nur als Idealtypen zu entwickeln. Der Gegensatz zwischen einfachen Gattungsbegriffen, welche lediglich das empirischen Erscheinungen Gemeinsame zusammenfassen, und gattungsmäßigen Idealtypen – wie etwa einem idealtypischen Begriff des »Wesens« des Handwerks – ist natürlich im einzelnen flüssig. Aber kein Gattungsbegriff hat als solcher »typischen« Charakter und einen reinen gattungsmäßigen »Durchschnitts«-Typus gibt es nicht. Wo immer wir – z.B. in der Statistik – von »typischen« Größen reden, liegt mehr als ein bloßer Durchschnitt vor. Je mehr es sich um einfache Klassifikation von Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um Gattungsbegriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeutung ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird der Begriff – oder das Begriffssystem – den Charakter des Idealtypus an sich tragen. Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen.

Die Tatsache, daß Idealtypen, auch gattungsmäßige, verwendet werden können und verwendet werden, bietet methodisches Interesse erst im Zusammenhang mit einem anderen Tatbestand.

[202] Bisher haben wir die Idealtypen wesentlich nur als abstrakte Begriffe von Zusammenhängen kennen gelernt, welche, als im Fluß des Geschehens verharrend, als historische Individuen, an denen sich Entwicklungen vollziehen, von uns vorgestellt werden. Nun aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische Vorurteil, daß das Ziel der Sozialwissenschaften die Reduktion der Wirklichkeit auf »Gesetze« sein müsse, mit Hilfe des Begriffes des »Typischen« außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert. Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren, und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben. Aber es entsteht dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander geschoben werden. Man kann z.B. zu dem theoretischen Ergebnis gelangen, daß in einer streng »handwerksmäßig« organisierten Gesellschaft die einzige Quelle der Kapitalakkumulation die Grundrente sein könne. Daraus kann man dann vielleicht – denn die Richtigkeit der Konstruktion wäre hier nicht zu untersuchen – ein rein durch bestimmte einfache Faktoren: – begrenzter Boden, steigende Volkszahl, Edelmetallzufluß, Rationalisierung der Lebensführung, – bedingtes Idealbild einer Umbildung der handwerksmäßigen in die kapitalistische Wirtschaftsform konstruieren. Ob der empirischhistorische Verlauf der Entwicklung tatsächlich der konstruierte gewesen ist, wäre nun erst mit Hilfe dieser Konstruktion als heuristischem Mittel zu untersuchen im Wege der Vergleichung zwischen Idealtypus und »Tatsachen«. War der Idealtypus »richtig« konstruiert und entspricht der tatsächliche Verlauf dem idealtypischen nicht, so wäre damit der Beweis geliefert, daß die mittelalterliche Gesellschaft eben in bestimmten Beziehungen keine streng »handwerksmäßige« war. Und wenn der Idealtypus in heuristisch »idealer« Weise konstruiert war, – ob und wie dies in unserem Beispiel der Fall sein könnte, bleibt hier gänzlich außer Betracht, – dann wird er zugleich die Forschung auf den Weg lenken, der zu einer schärferen Erfassung jener nicht handwerksmäßigen Bestandteile der mittelalterlichen Gesellschaft in ihrer Eigenart und historischen Bedeutung führt. Er hat, wenn er zu diesem Ergebnis führt, seinen logischen Zweck erfüllt, gerade indem er seine eigene Unwirklichkeit manifestierte. Es war – in diesem Fall – die Erprobung einer Hypothese. Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, [203] so lange man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige Zurechnung eines historischen Vorganges zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.

Diese Scheidung streng aufrecht zu erhalten, wird nun erfahrungsgemäß durch einen Umstand oft ungemein erschwert. Im Interesse der anschaulichen Demonstration des Idealtypus oder der idealtypischen Entwicklung wird man sie durch Anschauungsmaterial aus der empirisch-historischen Wirklichkeit zu verdeutlichen suchen. Die Gefahr dieses an sich ganz legitimen Verfahrens liegt darin, daß das geschichtliche Wissen hier einmal als Diener der Theorie erscheint statt umgekehrt. Die Versuchung liegt für den Theoretiker recht nahe, dieses Verhältnis entweder als das normale anzusehen, oder, was schlimmer ist, Theorie und Geschichte ineinander zu schieben und geradezu miteinander zu verwechseln. In noch gesteigertem Maße liegt dieser Fall dann vor, wenn die Idealkonstruktion einer Entwicklung mit der begrifflichen Klassifikation von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde (z.B. der gewerblichen Betriebsformen von der »geschlossenen Hauswirtschaft« ausgehend, oder etwa der religiösen Begriffe von den »Augenblicksgöttern« anfangend) zu einer genetischen Klassifikation ineinander gearbeitet wird. Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ordnung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen in Raum, Zeit und ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Versuchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.

Absichtlich ist es vermieden worden, an dem für uns weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen zu demonstrieren: an Marx. Es geschah, um die Darstellung nicht durch Hineinziehen von Marx-Interpretationen noch zu komplizieren und um den Erörterungen in unserer Zeitschrift, welche die Literatur, die über und im Anschluß an den großen Denker erwächst, zum regelmäßigen Gegenstand kritischer Analyse machen wird,[204] nicht vorzugreifen. Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich alle spezifisch-marxistischen »Gesetze« und Entwicklungskonstruktionen – soweit sie theoretisch fehlerfrei sind – idealtypischen Charakter haben. Die eminente, ja einzigartige heuristische Bedeutung dieser Idealtypen, wenn man sie zur Vergleichung der Wirklichkeit mit ihnen benutzt, und ebenso ihre Gefährlichkeit, sobald sie als empirisch geltend oder gar als reale (d.h. in Wahrheit: metaphysische) »wirkende Kräfte«, »Tendenzen« usw. vorgestellt werden, kennt jeder, der je mit marxistischen Begriffen gearbeitet hat.

Gattungsbegriffe – Idealtypen – idealtypische Gattungsbegriffe, – Ideen im Sinne von empirisch in historischen Menschen wirksamen Gedankenverbindungen – Idealtypen solcher Ideen – Ideale, welche historische Menschen beherrschen – Idealtypen solcher Ideale – Ideale, auf welche der Historiker die Geschichte bezieht; – theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen – geschichtliche Untersuchung unter Benutzung der theoretischen Begriffe als idealer Grenzfälle, – dazu dann die verschiedenen möglichen Komplikationen, die hier nur angedeutet werden konnten: lauter gedankliche Bildungen, deren Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen in jedem einzelnen Fall problematisch ist: – diese Musterkarte allein zeigt schon die unendliche Verschlungenheit der begrifflich-methodischen Probleme, welche auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften fortwährend lebendig bleiben. Und wir mußten uns schlechthin versagen, auf die praktisch methodologischen Fragen hier, wo die Probleme nur gezeigt werden sollten, ernstlich einzugehen, die Beziehungen der idealtypischen zur »gesetzlichen« Erkenntnis, der idealtypischen Begriffe zu den Kollektivbegriffen usw. eingehender zu erörtern. –

Der Historiker wird nach allen diesen Auseinandersetzungen doch immer wieder darauf beharren, daß die Herrschaft der idealtypischen Form der Begriffsbildung und Konstruktion spezifische Symptome der Jugendlichkeit einer Disziplin seien. Und darin ist ihm in gewissem Sinne recht zu geben, freilich mit anderen Konsequenzen, als er sie ziehen wird. Nehmen wir ein paar Beispiele aus anderen Disziplinen. Es ist gewiß wahr: der geplagte Quartaner ebenso wie der primitive Philologe stellt sich zunächst eine Sprache »organisch«, d.h. als ein[205] von Normen beherrschtes überempirisches Ganzes vor, die Aufgabe der Wissenschaft aber als die: festzustellen, was – als Sprachregel – gelten solle. Die »Schriftsprache« logisch zu bearbeiten, wie etwa die Crusca es tat, ihren Gehalt auf Regeln zu reduzieren, ist die normalerweise erste Aufgabe, welche sich eine »Philologie« stellt. Und wenn demgegenüber heute ein führender Philologe das »Sprechen jedes Einzelnen« als Objekt der Philologie proklamiert, so ist selbst die Aufstellung eines solchen Programms nur möglich, nachdem in der Schriftsprache ein relativ fester Idealtypus vorliegt, mit welchem die sonst gänzlich orientierungs-und uferlose Durchforschung der unendlichen Mannigfaltigkeit des Sprechens (mindestens stillschweigend) operieren kann. – Und nicht anders funktionierten die Konstruktionen der naturrechtlichen und der organischen Staatstheorien, oder etwa – um an einen Idealtypus in unserm Sinn zu erinnern – die Benjamin Constantsche Theorie des antiken Staats, gewissermaßen als Nothäfen, bis man gelernt hatte, sich auf dem ungeheueren Meere der empirischen Tatsachen zurechtzufinden. Die reifwerdende Wissenschaft bedeutet also in der Tat immer Ueberwindung des Idealtypus, sofern er als empirisch geltend oder als Gattungsbegriff gedacht wird. Allein nicht nur ist z.B. die Benutzung der geistvollen Constantschen Konstruktion zur Demonstration gewisser Seiten und historischer Eigenarten antiken Staatslebens noch heute ganz legitim, sobald man sorgsam ihren idealtypischen Charakter festhält. Sondern vor allem: es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.

Stets wiederholen sich die Versuche, den »eigentlichen«, »wahren« Sinn historischer Begriffe festzustellen, und niemals gelangen sie zu Ende. Ganz regelmäßig bleiben infolgedessen die Synthesen, mit denen die Geschichte fortwährend arbeitet, entweder nur relativ bestimmte Begriffe, oder, sobald Eindeutigkeit des Begriffsinhaltes erzwungen werden soll, wird der Begriff zum abstrakten Idealtypus und enthüllt sich damit als ein theoretischer, also »einseitiger« Gesichtspunkt, unter dem die[206] Wirklichkeit beleuchtet, auf den sie bezogen werden kann, der aber zum Schema, in das sie restlos eingeordnet werden könnte, sich selbstverständlich als ungeeignet erweist. Denn keines jener Gedankensysteme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestandteile der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unendlichen Reichtum erschöpfen. Keins ist etwas anderes als der Versuch, auf Grund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ordnung in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in den Kreis unseres Interesses jeweils einbezogen haben. Der Gedankenapparat, welchen die Vergangenheit durch denkende Bearbeitung, das heißt aber in Wahrheit: denkende Umbildung, der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit und durch Einordnung in diejenigen Begriffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Richtung ihres Interesses entsprachen, entwickelt hat, steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit. Ihr Ergebnis ist ein steter Umbildungsprozeß jener Begriffe, in denen wir die Wirklichkeit zu erfassen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich zu ordnen, – der Auflösung der so gewonnenen Gedankenbilder durch Erweiterung und Verschiebung des wissenschaftlichen Horizontes, – und der Neubildung von Begriffen auf der so veränderten Grundlage. Nicht etwa das Fehlerhafte des Versuchs, Begriffssysteme überhaupt zu bilden, spricht sich darin aus: – eine jede Wissenschaft, auch die einfach darstellende Geschichte, arbeitet mit dem Begriffsvorrat ihrer Zeit –, sondern der Umstand kommt darin zum Ausdruck, daß in den Wissenschaften von der menschlichen Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst. Das Verhältnis von Begriff und Begriffenem in den Kulturwissenschaften bringt die Vergänglichkeit jeder solchen Synthese mit sich. Große begriffliche Konstruktionsversuche haben auf dem Gebiet unserer Wissenschaft ihren Wert regelmäßig gerade darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten.[207] Die weittragendsten Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften knüpfen sich sachlich an die Verschiebung der praktischen Kulturprobleme und kleiden sich in die Form einer Kritik der Begriffsbildung. Es wird zu den vornehmsten Aufgaben unserer Zeitschrift gehören, dem Zweck dieser Kritik und damit der Untersuchung der Prinzipien der Synthese auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft zu dienen. –

Bei den Konsequenzen, die aus dem Gesagten zu ziehen sind, gelangen wir nun an einen Punkt, wo unsere Ansichten sich vielleicht hier und da von denen mancher, auch hervorragender, Vertreter der historischen Schule, zu deren Kindern wir ja selbst gehören, scheiden. Diese letzteren nämlich verharren vielfach ausdrücklich oder stillschweigend in der Meinung, es sei das Endziel, der Zweck, jeder Wissenschaft, ihren Stoff in einem System von Begriffen zu ordnen, deren Inhalt durch Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, Hypothesenbildung und Verifikation derselben zu gewinnen und langsam zu vervollkommnen sei, bis irgend wann eine »vollendete« und deshalb deduktive Wissenschaft daraus entstanden sei. Für dieses Ziel sei die historisch-induktive Arbeit der Gegenwart eine durch die Unvollkommenheit unserer Disziplin bedingte Vorarbeit: nichts muß naturgemäß vom Standpunkt dieser Betrachtungsweise aus bedenklicher erscheinen als die Bildung und Verwendung scharfer Begriffe, die ja jenes Ziel einer fernen Zukunft voreilig vorwegzunehmen trachten müßte. – Prinzipiell unanfechtbar wäre diese Auffassung auf dem Boden der antik-scholastischen Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute steckt: als Zweck der Begriffe wird vorausgesetzt, vorstellungsmäßige Abbilder der »objektiven« Wirklichkeit zu sein; daher der immer wiederkehrende Hinweis auf die Unwirklichkeit aller scharfen Begriffe. Wer den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre, daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können, zu Ende denkt, dem wird der Umstand, daß scharfe genetische Begriffe notwendig Idealtypen sind, nicht gegen die Bildung von solchen sprechen können. Ihm kehrt sich das Verhältnis von Begriff und historischer Arbeit um: jenes Endziel erscheint ihm logisch unmöglich, die Begriffe [sind] nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Erkenntnis der unter individuellen[208] Gesichtspunkten bedeutsamen Zusammenhänge: gerade weil die Inhalte der historischen Begriffe notwendig wandelbar sind, müssen sie jeweils notwendig scharf formuliert werden. Er wird nur das Verlangen stellen, daß bei ihrer Verwendung stets ihr Charakter als idealer Gedankengebilde sorgsam festgehalten, Idealtypus und Geschichte nicht verwechselt werde. Er wird, da wirklich definitive historische Begriffe bei dem unvermeidlichen Wechsel der leitenden Wertideen als generelles Endziel nicht in Betracht kommen, glauben, daß eben dadurch, daß für den einzelnen, jeweils leitenden Gesichtspunkt scharfe und eindeutige Begriffe gebildet werden, die Möglichkeit gegeben sei, die Schranken ihrer Geltung jeweils klar im Bewußtsein zu behalten.

Man wird nun darauf hinweisen, und wir haben es selbst zugegeben, daß ein konkreter historischer Zusammenhang im einzelnen Fall sehr wohl in seinem Ablauf anschaulich gemacht werden könne, ohne daß er fortwährend mit definierten Begriffen in Beziehung gesetzt werde. Und man wird demgemäß für den Historiker unserer Disziplin in Anspruch nehmen, daß er ebenso, wie man dies von dem politischen Historiker gesagt hat, die »Sprache des Lebens« reden dürfe. Gewiß! Nur ist dazu zu sagen, daß es bei diesem Verfahren bis zu einem oft sehr hohen Grade notwendig Zufall bleibt, ob der Gesichtspunkt, unter welchem der behandelte Vorgang Bedeutung gewinnt, zu klarem Bewußtsein gelangt. Wir sind im allgemeinen nicht in der günstigen Lage des politischen Historikers, bei welchem die Kulturinhalte, auf die er seine Darstellung bezieht, regelmäßig eindeutig sind – oder zu sein scheinen. Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart der Bedeutung künstlerischer Darstellung an: »Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt«, – gültige Urteile setzen überall die logische Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die Verwendung von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft ästhetisch reizvoll, diese in petto zu behalten, aber es gefährdet stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schriftstellers selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile.

Ganz hervorragend gefährlich aber kann nun die Unterlassung scharfer Begriffsbildung für praktische, wirtschafts- und sozialpolitische Erörterungen werden. Was hier z.B. die Verwendung des Terminus »Wert« – jenes Schmerzenskindes[209] unserer Disziplin, welchem eben nur idealtypisch irgendein eindeutiger Sinn gegeben werden kann -–, oder Worte wie »produktiv«, »vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus« usw., die überhaupt keiner begrifflich klaren Analyse standhalten, für Verwirrung gestiftet haben, ist für den Außenstehenden geradezu unglaublich. Und zwar sind es hier vornehmlich die der Sprache des Lebens entnommenen Kollektivbegriffe, welche Unsegen stiften. Man nehme, um ein für den Laien möglichst durchsichtiges Schulbeispiel herauszugreifen, den Begriff »Landwirtschaft«, wie er in der Wortverbindung »Interessen der Landwirtschaft« auftritt. Nehmen wir zunächst die »Interessen der Landwirtschaft« als die empirisch konstatierbaren mehr oder minder klaren subjektiven Vorstellungen der einzelnen wirtschaftenden Individuen von ihren Interessen, und sehen wir dabei ganz und gar von den unzähligen Konflikten der Interessen viehzüchtender, viehmästender, kornbauender, kornverfütternder, schnapsdestillierender usw. Landwirte hier ab, so kennt zwar nicht jeder Laie, aber doch jeder Fachmann das gewaltige Knäuel von durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen, das darunter unklar vorgestellt wird. Wir wollen hier nur einige wenige aufzählen: Interessen von Landwirten, welche ihr Gut verkaufen wollen und deshalb lediglich an einer schnellen Hausse des Bodenpreises interessiert sind; – das gerade entgegengesetzte Interesse von solchen, die sich ankaufen, arrondieren oder pachten wollen; das Interesse derjenigen, die ein bestimmtes Gut ihren Nachfahren um sozialer Vorteile willen zu erhalten wünschen und deshalb an Stabilität des Bodenbesitzes interessiert sind; – das entgegengesetzte Interesse solcher, die in ihrem und ihrer Kinder Interesse Bewegung des Bodens in der Richtung zum besten Wirt oder – was nicht ohne weiteres dasselbe ist – zum kapitalkräftigsten Käufer wünschen; das rein ökonomische Interesse der im privatwirtschaftlichen Sinne »tüchtigsten Wirte« an ökonomischer Bewegungsfreiheit; – das damit im Konflikt stehende Interesse bestimmter herrschender Schichten an der Erhaltung der überkommenen sozialen und politischen Position des eigenen »Standes« und damit der eigenen Nachkommen; das soziale Interesse der nicht herrschenden Schichten der Landwirte am Wegfall jener oberen, ihre eigene Position drückenden Schichten; – ihr unter Umständen damit kollidierendes Interesse, in jenen politische Führer zur Wahrung[210] ihrer Erwerbsinteressen zu besitzen. – Die Liste könnte noch gewaltig vermehrt werden, ohne ein Ende zu finden, obwohl wir so summarisch und unpräzis wie nur möglich verfahren sind. Daß sich mit den mehr »egoistischen« Interessen dieser Art die verschiedensten rein idealen Werte mischen, verbinden, sie hemmen und ablenken können, übergehen wir, um uns vor allem zu erinnern, daß, wenn wir von »Interessen der Landwirtschaft« reden, wir regelmäßig nicht nur an jene materiellen und idealen Werte denken, auf welche die jeweiligen Landwirte selbst ihre »Interessen« beziehen, sondern daneben an die zum Teil ganz heterogenen Wertideen, auf welche wir die Landwirtschaft beziehen können, – beispielsweise: Produktionsinteressen, hergeleitet aus dem Interesse billiger und dem damit nicht immer zusammenfallenden Interesse qualitativ guter Ernährung der Bevölkerung, wobei die Interessen von Stadt und Land in den mannigfachsten Kollisionen liegen können, und wobei das Interesse der gegenwärtigen Generation mit den wahrscheinlichen Interessen künftiger Generationen keineswegs identisch sein muß; – populationistische Interessen: insbesondere Interesse an einer zahlreichen Landbevölkerung, hergeleitet, sei es aus Interessen »des Staates«, machtpolitischen oder innerpolitischen, oder aus anderen ideellen Interessen von unter sich verschiedener Art, z.B. an dem erwarteten Einfluß einer zahlreichen Landbevölkerung auf die Kultureigenart eines Landes; – dies populationistische Interesse kann mit den verschiedensten privat wirtschaftlichen Interessen aller Teile der Landbevölkerung, ja denkbarerweise mit allen Gegenwartsinteressen der Masse der Landbevölkerung kollidieren. Oder etwa das Interesse an einer bestimmten Art der sozialen Gliederung der Landbevölkerung wegen der Art der politischen oder Kultureinflüsse, die sich daraus ergeben: dies Interesse kann je nach seiner Richtung mit allen denkbaren, auch den dringlichsten Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der einzelnen Landwirte sowohl wie »des Staates« kollidieren. Und – dies kompliziert die Sache weiter – der »Staat«, auf dessen »Interesse« wir solche und zahlreiche andere ähnliche Einzelinteressen gern beziehen, ist uns dabei ja oft nur Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen, auf die er seinerseits von uns im einzelnen Falle bezogen wird: rein militärische Sicherung nach außen; Sicherung der Herrscherstellung einer Dynastie oder bestimmter Klassen[211] nach innen; Interesse an der Erhaltung und Erweiterung der formal-staatlichen Einheit der Nation, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Erhaltung bestimmter objektiver, unter sich wieder sehr verschiedener Kulturwerte, die wir als staatlich geeintes Volk zu vertreten glauben; Umgestaltung des sozialen Charakters des Staates im Sinne bestimmter, wiederum sehr verschiedener Kulturideale, – es würde zu weit führen, auch nur anzudeuten, was alles unter dem Sammelnamen »staatlicher Interessen« läuft, auf die wir »die Landwirtschaft« beziehen können. Das hier gewählte Beispiel und noch mehr unsere summarische Analyse sind plump und einfach. Der Laie möge sich nun einmal etwa den Begriff »Klasseninteresse der Arbeiter« ähnlich (und gründlicher) analysieren, um zu sehen, welch widerspruchsvolles Knäuel teils von Interessen und Idealen der Arbeiter, teils von Idealen, unter denen wir die Arbeiter betrachten, dahintersteckt. Es ist unmöglich, die Schlagworte des Interessenkampfes durch rein empiristische Betonung ihrer »Relativität« zu überwinden: klare, scharfe, begriffliche Feststellung der verschiedenen möglichen Gesichtspunkte ist der einzige Weg, der hier über die Unklarheit der Phrase hinausführt. Das »Freihandelsargument« als Weltanschauung oder gültige Norm ist eine Lächerlichkeit, aber schweren Schaden hat es für unsere handelspolitischen Erörterungen mit sich gebracht – und zwar ganz gleichgültig, welche handelspolitischen Ideale der Einzelne vertreten will –, daß wir die in solchen idealtypischen Formeln niedergelegte alte Lebensweisheit der größten Kaufleute der Erde in ihrem heuristischen Wert unterschätzt haben. Nur durch idealtypische Begriffsformeln werden die Gesichtspunkte, die im Einzelfalle in Betracht kommen, in ihrer Eigenart im Wege der Konfrontierung des Empirischen mit dem Idealtypus wirklich deut lich. Der Gebrauch der undifferenzierten Kollektivbegriffe, mit denen die Sprache des Alltags arbeitet, ist stets Deckmantel von Unklarheiten des Denkens oder Wollens, oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen, immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problemstellung zu hemmen.

Wir sind am Ende dieser Ausführungen, die lediglich den Zweck verfolgen, die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet, hervortreten und den Sinn sozialökonomischen Erkenntnisstrebens erkennen zu lassen. Die [212] objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag. Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist – und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes –, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten. Freilich wird er vergeblich nach einer anderen Wahrheit suchen, die ihm die Wissenschaft in demjenigen ersetzt, was sie allein leisten kann: Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen. Auf dem Gebiet der empirischen sozialen Kulturwissenschaften ist, so sahen wir, die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnis des für uns Wesentlichen in der unendlichen Fülle des Geschehens gebunden an die unausgesetzte Verwendung von Gesichtspunkten spezifisch besonderten Charakters, welche alle in letzter Instanz ausgerichtet sind auf Wertideen, die ihrerseits zwar empirisch als Elemente alles sinnvollen menschlichen Handelns konstatierbar und erlebbar, nicht aber aus dem empirischen Stoff als geltend begründbar sind. Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntis hängt vielmehr davon ab, daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen, die ihr allein Erkenntniswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung gemacht wird. Und der uns allen in irgendeiner Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern, schließt die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein: das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen[213] Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt. –

Das alles möge nun nicht dahin mißverstanden werden, daß die eigentliche Aufgabe der Sozialwissenschaft eine stete Hetzjagd nach neuen Gesichtspunkten und begrifflichen Konstruktionen sein solle. Im Gegenteil: nichts sollte hier schärfer betont werden als der Satz, daß der Dienst an der Erkenntnis der Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammenhänge ausschließlich und allein das letzte Ziel ist, dem, neben anderen Mitteln, auch die begriffsbildende und begriffskritische Arbeit dienen will. – Es gibt, um mit F. Th. Vischer zu reden, auch auf unserem Gebiete »Stoffhuber« und »Sinnhuber«. Der tatsachengierige Schlund der ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er unempfindlich. Die Gourmandise der letzteren verdirbt sich den Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate. Jene echte Künstlerschaft, wie sie z.B. unter den Historikern Ranke in so grandiosem Maße besaß, pflegt sich gerade darin zu manifestieren, daß sie durch Beziehung bekannter Tatsachen auf bekannte Gesichtspunkte dennoch ein Neues zu schaffen weiß.

Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewußt an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt bewußt zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen:


»... der neue Trieb erwacht,

Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,

Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,

Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.«


Fußnoten

1 Wo in Abschnitt I der nachstehenden Ausführungen ausdrücklich im Namen der Herausgeber gesprochen wird oder dem Archiv Aufgaben gestellt werden, handelt es sich natürlich nicht um Privatansichten des Verfassers, sondern sind die betreffenden Aeußerungen von den Mitherausgebern ausdrücklich gebilligt. Für Abschnitt II trifft die Verantwortung für Form und Inhalt den Verfasser allein.

Daß das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten wird, dafür bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch seiner Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlechthin identisch ist. Andererseits war natürlich eine Uebereinstimmung in gewissen Grundanschauungen Voraussetzung der gemeinsamen Uebernahme der Redaktion. Diese Uebereinstimmung besteht insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes theoretischer Erkenntnis unter »einseitigen« Gesichtspunkten, sowie bezüglich der Forderung der Bildung scharfer Begriffe und der strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil, wie sie hier – natürlich ohne den Anspruch, damit etwas »Neues« zu fordern – vertreten wird.

Die vielen Breiten der Erörterung (sub II) und die häufige Wiederholung desselben Gedankens dient dem ausschließlichen Zweck, das bei solchen Ausführungen mögliche Maximum von Gemeinverständlichkeit zu erzielen. Diesem Interesse ist viel – hoffentlich nicht zu viel – an Präzision des Ausdrucks geopfert, und ihm zuliebe ist auch der Versuch, an Stelle der Aneinanderreihung einiger methodologischer Gesichtspunkte eine systematische Untersuchung treten zu lassen, hier ganz unterlassen worden. Dies hätte das Hineinziehen einer Fülle von zum Teil noch weit tiefer liegenden erkenntnistheoretischen Problemen erfordert. Es soll hier nicht Logik getrieben, sondern es sollen bekannte Ergebnisse der modernen Logik für uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern dem Laien ihre Bedeutung veranschaulicht werden. Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt – ich nenne nur Windelband, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich Rickert –, wird sofort bemerken, daß in allem Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist.


2 Diese Abhandlung wurde beim Uebergang des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik an die Herausgeber Werner Sombart, Max Weber, Edgar Jaffé veröffentlicht [Anm. Marianne Weber].


3 Das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 214.
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