IV.

[441] Von »Gemeinschaftshandeln« wollen wir da sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen wird. Ein ungewollter Zusammenprall zweier Radfahrer z.B. soll uns nicht Gemeinschaftshandeln heißen. Wohl aber ihre etwaigen vorherigen Versuche einander auszuweichen, oder, nach einem Zusammenstoß, ihre etwaige »Prügelei« oder »Verhandlung« über gütlichen »Ausgleich«. Nicht etwa nur Gemeinschaftshandeln ist für die soziologische Kausalzurechnung wichtig. Aber es ist das primäre Objekt einer »verstehenden« Soziologie. Einen wichtigen normalen – wenn auch nicht unentbehrlichen – Bestandteil des Gemeinschaftshandelns bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach für den Erfolg des eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten Chancen. Ein äußerst verständlicher und wichtiger Erklärungsgrund des Handelns ist dabei das objektive Bestehen dieser Chancen, d.h. die größere oder geringere, in einem »objektiven Möglichkeitsurteil« ausdrückbare Wahrscheinlichkeit, daß diese Erwartungen mit Recht gehegt werden. Davon bald mehr. Wir bleiben zunächst bei dem Tatbestand der subjektiv gehegten Erwartung. – Speziell alles im früher definierten Sinn »zweckrationale« Handeln überhaupt ist an Erwartungen orientiert. Im Prinzip scheint es daher zunächst dasselbe, ob Erwartungen bestimmter, sei es ohne Zutun des Handelnden, sei es als Reaktionen auf sein gerade auf ihren Eintritt abgezwecktes Handeln erwarteter, Naturvorgänge oder ob in ähnlicher Art Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen dem eigenen Handeln des Erwartenden die Wege weisen. Aber: die Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen können sich bei dem subjektiv rational Handelnden auch darauf gründen, daß er ein subjektiv sinnhaftes Verhalten von ihnen erwarten, also auch dessen Chancen aus bestimmten sinnhaften Beziehungen, mit einem verschieden großen Grade von Wahrscheinlichkeit, voraus berechnen zu können subjektiv glaubt. Insbesondere kann sich diese Erwartung darauf subjektiv gründen: daß der Handelnde sich mit dem oder den anderen »verständigt«, »Vereinbarungen« mit ihnen getroffen hat, deren »Innehaltung«, dem von ihm selbst[441] gemeinten Sinn gemäß, er von ihnen zu gewärtigen Anlaß zu haben glaubt. Schon dies ergibt eine dem Gemeinschaftshandeln spezifische qualitative Besonderheit, weil eine sehr wesentliche Erweiterung desjenigen Umkreises von Erwartungen, an welchen der Handelnde sein eigenes Handeln zweckrational orientieren zu können glauben wird. Der mögliche (subjektiv gemeinte) Sinn des Gemeinschaftshandelns erschöpft sich freilich nicht etwa in der Orientierung speziell an »Erwartungen« des »Handelns« Dritter. Im Grenzfall kann davon gänzlich abgesehen und das auf Dritte sinnbezogene Handeln lediglich an dem subjektiv geglaubten »Wert« seines Sinngehaltes als solchen (»Pflicht« oder was es sei) orientiert, das Handeln also nicht erwartungsorientiert, sondern wertorientiert sein. Ebenso muß bei den »Erwartungen« nicht ein Handeln, sondern es kann auch z.B. nur ein inneres Sichverhalten (etwa eine »Freude«) des Dritten den Inhalt der Erwartung ausmachen. Der Uebergang vom Idealtypus des sinnhaften Bezogenseins des eignen auf ein sinnhaftes Verhalten des Dritten endlich zu dem Fall, wo der Dritte (etwa ein Säugling) lediglich als »Objekt« in Betracht kommt, ist empirisch durchaus flüssig. Das an Erwartungen sinnhaften Handelns orientierte Handeln ist uns nur der rationale Grenzfall.

Stets aber ist uns »Gemeinschaftshandeln« ein entweder 1. historisch beobachtetes oder 2. ein theoretisch, als objektiv »möglich« oder »wahrscheinlich« konstruiertes Sichverhalten von Einzelnen zum aktuellen oder zum vorgestellten potentiellen Sichverhalten anderer Einzelner. Das ist ganz streng festzuhalten auch bei jenen Kategorien, welche nun weiter zu erörtern sind.

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 441-442.
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