V.

[442] Vergesellschaftetes Handeln (»Gesellschaftshandeln«) wollen wir ein Gemeinschaftshandeln dann und soweit nennen, als es 1. sinnhaft orientiert ist an Erwartungen, die gehegt werden auf Grund von Ordnungen, wenn 2. deren »Satzung« rein zweckrational erfolgte im Hinblick auf das als Folge erwartete Handeln der Vergesellschafteten, und wenn 3. die sinnhafte Orientierung subjektiv zweckrational geschieht. – Eine gesatzte Ordnung in dem hier gemeinten rein empirischen Sinn ist – wie hier nur ganz provisorisch definiert sei – entweder 1. eine einseitige, im rationalen Grenzfall: ausdrückliche, Aufforderung[442] von Menschen an andere Menschen oder 2. eine, im Grenzfall: ausdrückliche, beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde. Alles Nähere darüber bleibt zunächst dahingestellt.

Daß ein Handeln subjektiv sinnhaft an einer gesatzten Ordnung »orientiert« wird, kann nun zunächst bedeuten: daß dem subjektiv von den Vergesellschafteten in Aussicht genommenen Handeln auch ihr tatsächliches Handeln objektiv entspricht. Der Sinn einer gesatzten Ordnung und also das eigene in Aus sicht gestellte wie das von andern erwartete Handeln kann aber von den einzelnen Vergesellschafteten untereinander verschieden erfaßt worden sein oder später gedeutet werden, so daß ein Handeln, welches subjektiv entsprechend einer (von den Beteiligten subjektiv für mit sich identisch gehaltenen) Ordnung orientiert ist, nicht notwendig ein auch objektiv in gleichen Fällen gleichartiges Handeln sein muß. Und ferner kann eine »Orientierung« des Handelns an einer gesatzten Ordnung auch darin bestehen, daß deren subjektiv erfaßtem Sinn von einem Vergesellschafteten bewußt entgegengehandelt wird. Auch indem jemand bewußt und absichtsvoll dem von ihm subjektiv erfaßten Sinn der Ordnung eines Kartenspiels entgegen, also »falsch«, spielt, bleibt er dennoch als »Mitspieler« vergesellschaftet, im Gegensatz zu jemandem, der sich dem Weiterspielen entzieht. Ganz ebenso wie ein »Dieb« oder ein »Totschläger« sein Verhalten an eben jenen Ordnungen, denen er subjektiv bewußt sinnhaft zuwiderhandelt, dennoch dadurch orientiert, daß er sein Tun oder seine Person verhehlt. Das Entscheidende für die empirische »Geltung« einer zweckrational gesatzten Ordnung ist also nicht: daß die einzelnen Handelnden ihr eigenes Handeln kontinuierlich dem von ihnen subjektiv gedeuteten Sinngehalt entsprechend orientieren. Sie kann vielmehr zweierlei Dinge bedeuten: 1. daß tatsächlich (subjektiv) die Einzelnen im Durchschnitt wie die Falschspieler und Diebe die Erwartung hegen, daß die anderen Vergesellschafteten ihr Verhalten durchschnittlich so gestalten werden: »als ob« sie die Innehaltung der gesatzten Ordnung zur Richtschnur ihres Handelns nähmen; 2. daß sie, nach der durchschnittlich anzuwendenden Beurteilung von Chancen menschlichen Sichverhaltens, solche Erwartungen objektiv hegen konnten (eine besondere Formung der Kategorie[443] der »adäquaten Verursachtheit«). Logisch ist an sich beides (1 und 2) streng auseinanderzuhalten. Das eine ist ein bei den das Beobachtungsobjekt bildenden Handelnden subjektiv vorliegender, d.h. vom Forscher als »durchschnittlich« vorhanden angenommener, Tatbestand. Das andere ist eine von dem erkennenden Subjekt (Forscher) objektiv unter Berücksichtigung der wahrscheinlichen Kenntnisse und Denkgepflogenheiten der Beteiligten zu kalkulierende Chance. Bei Bildung genereller Begriffe schätzt aber die Soziologie ein durchschnittliches Maß von Vorhandensein der zur Abschätzung jener Chancen erforderlichen »Fähigkeiten« des Auffassens auch den am Handeln Beteiligten als subjektiv vorhanden zu. Das heißt: sie setzt ein-für allemal idealtypisch voraus, daß objektiv vorhandene Durchschnittschancen von den zweckrational Handelnden durchschnittlich auch subjektiv annähernd in Rechnung gestellt werden. Daher soll auch uns die empirische »Geltung« einer Ordnung in der objektiven Begründetheit jener Durchschnittserwartungen (Kategorie der »objektiven Möglichkeit«) bestehen. In dem speziellen Sinn: daß uns nach Lage der jeweils durchschnittlich wahrscheinlichen Tatsachenberechnung ein subjektiv seinem Sinngehalt nach durchschnittlich an ihnen orientiertes Handeln als »adäquat verursacht« gilt. Dabei fungieren also die objektiv abschätzbaren Chancen der möglichen Erwartungen auch als zulänglicher verständlicher Erkenntnisgrund für das wahrscheinliche Vorhandensein jener Erwartungen bei den Handelnden. Beides koinzidiert hier der Tatsache nach im Ausdruck fast unvermeidlich, ohne daß aber natürlich der logische Abgrund verwischt werden dürfte. Nur im erstgedachten Sinn: als objektives Möglichkeitsurteil, ist es selbstverständlich gemeint: daß jene Chancen den subjektiven Erwartungen der Handelnden sinnhaft zur Grundlage zu dienen durchschnittlich geeignet seien »und daher« tatsächlich (in einem relevanten Maße) dienten. Es ist nun schon klar, daß mit dem bisher Gesagten zwischen der logisch scheinbar exklusiven Alternative: Fortbestand oder Nichtmehrbestand einer Vergesellschaftung, in der Realität eine lückenlose Skala von Uebergängen gegeben ist. Sobald freilich alle beteiligten Kartenspieler voneinander gegenseitig »wissen«, daß die vereinbarten Spielregeln überhaupt nicht mehr innegehalten werden, oder sobald keine normalerweise in Rechnung zu stellende Chance objektiv[444] besteht »und daher« subjektiv keine solche mehr in Rechnung gestellt wird: daß z.B. der Zerstörer fremden Lebens sich um die Ordnung, die er bewußt verletzt, normalerweise überhaupt noch kümmert, weil eben die Verletzung für ihn keinerlei Konsequenzen voraussehen läßt, – in solchen Fällen ist deren empirische Existenz nicht mehr gegeben und besteht also auch die betreffende Vergesellschaftung nicht mehr. Sie besteht so lange und insoweit, als ein an ihren Ordnungen irgendwie dem durchschnittlich gemeinten Sinn nach orientiertes Handeln noch in einem praktisch relevanten Umfang abläuft. Dies aber ist ein flüssiger Tatbestand.

Aus dem Gesagten folgt z.B. auch, daß das reale Handeln der Einzelnen subjektiv sinnhaft sehr wohl an mehreren Ordnungen orientiert sein kann, welche einander nach den jeweils konventionellen Denkgepflogenheiten sinnhaft »widersprechen«, dennoch aber nebeneinander empirisch »gelten«. Die durchschnittlich herrschenden Anschauungen vom »Sinn« unserer Gesetzgebung z.B. verbieten absolut den Zweikampf. Gewisse weitverbreitete Vorstellungen vom »Sinn« als geltend angenommener gesellschaftlicher Konventionen3 gebieten ihn. Indem der Einzelne ihn vollzieht, orientiert er sein Handeln an diesen konventionellen Ordnungen. Indem er aber dabei sein Tun verhehlt, orientiert er es an den Ordnungen der Gesetze. Die praktische Wirkung des empirischen, d.h. hier und immer: des durchschnittlich für die subjektive sinnhafte Orientierung des Handelns zu erwartenden, »Geltens« der beiderseitigen Ordnungen ist in diesem Fall also verschieden. Eine empirische »Geltung« aber, d.h. die Tatsache: daß das Handeln durch sinnhafte Orientierung an ihrem (subjektiv erfaßten) Sinn orientiert und dadurch beeinflußt wird, schreiben wir beiden zu. Als normalen Ausdruck der empirischen »Geltung« einer Ordnung werden wir aber freilich die Chance ihres »Befolgtwerdens« ansehen. Das heißt also: daß die Vergesellschafteten durchschnittlich sowohl auf das nach der Durchschnittsauffassung »ordnungsgemäße« Verhalten anderer mit Wahrscheinlichkeit zählen, als[445] auch im Durchschnitt ihr eigenes Handeln den gleichartigen Erwartungen anderer gemäß einrichten (»ordnungsgemäßes Gesellschaftshandeln«). Alsbald sei betont: die empirische »Geltung« einer Ordnung erschöpft sich nicht in der durchschnittlichen Begründetheit der »Erwartungen« der Vergesellschafteten in bezug auf ihr faktisches Verhalten. Dies ist nur die rationalste und dabei soziologisch unmittelbar greifbarste Bedeutung. Aber ein ausschließlich bei allen Beteiligten nur an »Erwartungen« des Verhaltens anderer orientiertes Verhalten eines jeden von ihnen wäre nur der absolute Grenzfall zum bloßen »Gemeinschaftshandeln« und bedeutete die absolute Labilität auch dieser Erwartungen selbst. Diese letzteren sind vielmehr gerade um so mehr mit durchschnittlicher Wahrscheinlichkeit »begründet«, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden darf, daß die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handelns der anderen orientieren, sondern je mehr bei ihnen die subjektive Ansicht in relevantem Maß verbreitet ist, daß die (subjektiv sinnhaft erfaßte) »Legalität« gegenüber der Ordnung »verbindlich« für sie sei.

Das Verhalten des »Diebes« und »Falschspielers« werden wir als (subjektiv) »ordnungswidriges« Gesellschaftshandeln bezeichnen, ein subjektiv der Intention nach ordnungsgemäß, aber dabei von der Durchschnittsdeutung der Ordnung abweichend orientiertes Handeln als objektiv »abnormes« Gesellschaftshandeln. Jenseits dieser Kategorien liegen die Fälle des nur »vergesellschaftungsbedingten« Handelns: Jemand sieht sich entweder bei seinem sonstigen Handeln veranlaßt, zweckrational auf die Notwendigkeiten Rücksicht zu nehmen, welche er durch die Vergesellschaftung sich auferlegt hat (z.B. um dadurch bedingter Ausgaben willen anderweite Ausgaben zu unterlassen). Oder er wird in seinem anderweiten Handeln (z.B. in der Entwicklung seiner »Freundschaften« oder seines gesamten »Lebensstils«), ohne dies zweckrational zu wollen und zu bemerken, durch die Orientiertheit gewisser Teile seines Handelns an vereinbarten Ordnungen (z.B. [die] einer religiösen Sekte) beeinflußt. Alle diese Unterschiede sind in der Realität flüssig. Kein prinzipieller Unterschied überhaupt liegt darin: ob Gesellschaftshandeln in sinnhaften Beziehungen unter den Vergesellschafteten gegenseitig oder zu Dritten abläuft; denn gerade dies letztere kann den vorwiegend gemeinten Sinn der Vereinbarung[446] bilden. Dagegen kann man das an den Ordnungen der Vergesellschaftung orientierte Handeln unterscheiden in »gesellschaftsbezogenes«, d.h. direkt zu den (wie immer: subjektiv sinnhaft gedeuteten) Ordnungen der Vergesellschaftung Stellung nehmend, also dem gemeinten Sinn nach auf die planvolle allgemeine Durchsetzung ihrer empirischen Geltung oder umgekehrt auf ihre Aenderung und Ergänzung gerichtet, oder nur »gesellschaftsgeregeltes«, d.h. an diesen Ordnungen orientiert, aber nicht in jenem Sinne »gesellschaftsbezogen«. Auch dieser Unterschied ist flüssig.

Rationaler Idealtypus der Vergesellschaftung ist uns vorläufig der »Zweckverein«: ein Gesellschaftshandeln mit einer zweckrational von allen Beteiligten vereinbarten Ordnung des Inhalts und der Mittel des Gesellschaftshandelns. In der Vereinbarung der Ordnung (»Satzung«) haben im idealtypischen Rationalitätsfall die vergesellschaftet Handelnden subjektiv eindeutig auch ausbedungen: welches in welchen Formen sich vollziehende Handeln welcher (oder in welcher Art zu bestimmender) Personen (»Vereinsorgane«) »dem Verein zugerechnet« werden soll und welchen »Sinn«, d.h. welche Folgen für die sich Vergesellschaftenden dies haben soll. Ferner: ob und welche Sachgüter und Leistungen für die vereinbarten Zwecke des Gesellschaftshandelns (»Vereinszwecke«) verfügbar sein sollen (»Zweckvermögen«). Ebenso: welche Vereinsorgane und wie sie darüber disponieren sollen; welche Leistungen die Beteiligten für Vereinszwecke zu bieten, welches Handeln ihnen »geboten«, »verboten«, oder »erlaubt« sein soll und was sie selbst auf Grund ihrer Beteiligung an Vorteilen zu gewärtigen haben. Endlich: ob und welche Vereinsorgane und unter welchen Bedingungen und durch welche Mittel sie auf die Innehaltung der vereinbarten Ordnung hinzuwirken sich bereit halten sollen (»Zwangsapparat«). Jeder am Gesellschaftshandeln Beteiligte verläßt sich in einem gewissen Umfang darauf, daß die anderen Beteiligten sich (annähernd und durchschnittlich) der Vereinbarung gemäß verhalten werden und zieht diese Erwartung bei der rationalen Orientierung seines eigenen Handelns in Rechnung. Die Gründe, welche der Einzelne für jene Zuversicht zu haben glaubt, sind für die empirische Existenz des Vereins gleichgültig, wenn er objektiv annehmen darf: daß, dem Erfolge nach, irgendwelche wie immer gearteten Interessen der anderen ihnen die Innehaltung[447] der vereinbarten Ordnung durchschnittlich mit hinlänglicher Wirkung anempfehlen. Natürlich aber kann die von ihm vorausgesetzte Chance: daß im Falle der Nichtinnehaltung die Ausübung physischen oder (noch so milden, z.B. nur in der christlichen »brüderlichen Vermahnung« bestehenden) psychischen Zwanges in Aussicht stehe, die subjektive Sicherheit, daß jene Zuversicht im Durchschnitt nicht enttäuscht werde, und die objektive Wahrscheinlichkeit, daß jene Erwartungen begründet sind, stark erhöhen. Das, nach seinem subjektiv durchschnittlich als gemeint vorausgesetzten Sinngehalt, eine »Vereinbarung« bedeutende Handeln heißt uns, im Gegensatz zum an dieser Vereinbarung orientierten »Gesellschaftshandeln«, das »Vergesellschaftungshandeln«. – Innerhalb des an der Vereinbarung orientierten Handelns ist die wichtigste Art des »gesellschaftsbezogenen« Gesellschaftshandelns einerseits das spezifische Gesellschaftshandeln der »Organe«, andererseits das Gesellschaftshandeln der Vergesellschafteten, welches sinnhaft auf jenes Handeln der Organe bezogen ist. Speziell innerhalb der später zu erörternden Vergesellschaftungskategorie der »Anstalten« (insbesondere des »Staates«) pflegt man diejenigen Ordnungen, welche zur Orientierung dieses Handelns geschaffen sind: das Anstaltsrecht (im Staat das »öffentliche Recht«) von den das sonstige Handeln der Vergesellschafteten regelnden Ordnungen zu scheiden. Aber auch innerhalb des Zweckvereins gilt die gleiche Scheidung (»Vereinsrecht« gegenüber den durch den Verein geschaffenen Ordnungen). Doch sollen uns diese (flüssigen) Gegensätze hier nicht beschäftigen.

Bei voller Entwicklung ist der Zweckverein kein ephemeres, sondern ein perennierendes »soziales Gebilde«. Das bedeutet: trotz des Wechsels der am Gesellschaftshandeln Beteiligten, d.h. also: trotz der Nichtmehrbeteiligung bisheriger und der Beteiligung immer neuer Personen, natürlich – im idealtypischen Grenzfall – stets kraft spezieller neuer Vereinbarung, betrachtet man ihn als mit sich identisch bleibend. Dies geschieht solange, als trotz des Wechsels der Personen ein an den »gleichen« Ordnungen des Verbandes orientiertes Handeln in einem soziologisch relevanten Umfang tatsächlich erwartet werden darf. »Gleich« aber ist die (subjektiv erfaßte) Ordnung im soziologischen Sinne solange, als die durchschnittlichen Denkgepflogenheiten der Vergesellschafteten diese Identität bezüglich der durchschnittlich[448] für wichtig angesehenen Punkte annehmen. Sie können sie mehr oder minder eindeutig und mehr oder minder annähernd annehmen: die »Gleichheit« ist soziologisch ein durchaus nur relativ und gleitend bestehender Sachverhalt. Die im Verein Vergesellschafteten können Ordnungen durch neues Vergesellschaftungshandeln bewußt ändern, oder diese können durch Veränderung der sich durchsetzenden durchschnittlichen Auffassung ihres »Sinnes« oder, und namentlich, durch Veränderung der Umstände, ohne neues Vergesellschaftungshandeln die Art ihrer praktischen Bedeutung für das Handeln wechseln (»Bedeutungswandel«, – ungenau auch »Zweckwandel« genannt) oder ganz verlieren. In solchen Fällen hängt es sowohl 1. von der Kontinuierlichkeit der Aenderungen, wie 2. von dem relativen Umfang der, in Gestalt entsprechend sich orientierenden Handelns, empirisch fortbestehenden alten Ordnungen, wie 3. von dem Fortbestand der entweder aus den gleichen oder gleichartig ausgelesenen Personen bestehenden oder doch gleichartig handelnden Verbandsorgane und Zwangsapparate ab: ob der Soziologe das verändert ablaufende Gesellschaftshandeln zweckmäßigerweise als eine »Fortsetzung« des alten oder als ein »neues« soziales Gebilde betrachtet. Wiederum liegt also ein durchaus in gleitenden Uebergängen verlaufender Tatbestand vor. Ebenso ist es durchaus eine Frage des Einzelfalls (und also: der durch den konkreten Forschungszweck bestimmten Zweckmäßigkeit): wann man eine Vergesellschaftung als ein »selbständiges« Gebilde und wann man sie als »Teil« einer übergreifenden Vergesellschaftung ansieht. Das letztere aber kann prinzipiell in zweierlei Arten der Fall sein. 1. Einmal so: daß die empirisch »geltenden« Ordnungen eines Gesellschaftshandelns nicht ausschließlich der Satzung durch die an diesem Handeln Beteiligten entspringen (autonome Ordnungen), sondern daß das Gesellschaftshandeln mitbedingt ist dadurch, daß die Beteiligten dasselbe (immer: normalerweise) auch an den Ordnungen einer anderen Vergesellschaftung, an der sie beteiligt sind, orientieren (heteronome Ordnungen: so etwa das Gesellschaftshandeln der Kirche an den Ordnungen der politischen Gewalt oder umgekehrt). 2. Oder aber so, daß die Organe einer Vergesellschaftung ihrerseits wieder in bestimmter Art vergesellschaftet sind in einem umfassenderen Gebilde von Verbandsorganen einer anderen Vergesellschaftung: so etwa die Organe eines »Regiments« im Gesamtapparat einer »Heeresverwaltung«[449] (heterokephaler im Gegensatz zum autokephalen Zweckverband, wie ihn etwa ein freier Verein oder ein selbständiger »Staat« darstellt). Heteronomie der Ordnungen und Heterokephalie der Organe fallen oft, aber nicht notwendig zusammen. Das Gesellschaftshandeln in einem autokephalen Verein ist heute normalerweise durch die Orientierung des Handelns seiner Mitglieder an Satzungen des politischen Verbandes mitbedingt, also heteronom. Die sozialistische »Vergesellschaftung« der Produktionsmittel würde bedeuten: daß das heute schon zum erheblichen Teil heteronome, d.h. an Ordnungen anderer, vor allem politischer, Verbände orientierte Gesellschaftshandeln jedes einzelnen, jetzt im Prinzip autokephalen, »Betriebs« heterokephal gegenüber den Organen einer (irgendwelchen) »Gesamtheit« würde. –

Nicht jede vereinbarte Vergesellschaftung führt aber zum Entstehen eines Zweckvereins, für welchen nach der Definition 1. die Vereinbarung genereller Regeln und 2. die Existenz eigener Verbandsorgane konstitutiv sein sollen. Eine Vergesellschaftung (»Gelegenheitsvergesellschaftung«) kann auch einen ganz ephemer gemeinten Sinn haben, etwa einen sofort auszuführenden gemeinsamen Totschlag aus Rache, und es können also alle als Charakteristika der Zweckvereine erwähnten Bestandteile fehlen, bis auf die rational vereinbarte »Ordnung« des Gesellschaftshandelns, welche nach der gewählten Definition konstitutives Merkmal sein soll. Ein bequemes Beispiel für die Stufenfolge: von der Gelegenheitsvergesellschaftung angefangen bis zum Zweckverein in die der industriellen »Kartellierungen« von der einfachen einmaligen Verabredung von Unterbietungsgrenzen zwischen einzelnen Konkurrenten bis zum »Syndikat« mit großem eigenen Vermögen, Verkaufskontoren und einem umfassenden Apparat von Organen. Gemeinsam ist ihnen allen nur die vereinbarte Ordnung, deren Inhalt bei der hier idealtypisch vorauszusetzenden ausdrücklichen Festsetzung aller Punkte mindestens die Abmachung enthält: was unter den Beteiligten als geboten, oder umgekehrt: was als verboten, oder ferner auch: was als erlaubt gelten solle. Beim isolierten (unter Abstraktion von jeder Existenz einer »Rechtsordnung« zu denkenden) Tausch wird z.B. im idealtypischen Fall der vollen Explizität mindestens vereinbart: 1. als geboten: die Uebergabe und eventuell noch die Pflicht der Garantie des Besitzes der Tauschgüter gegen Dritte,[450] – 2. als verboten: die Zurücknahme, 3. als erlaubt: die beliebige Verfügung jedes Teils über das ertauschte Gut. – Ein solcher isolierter rationaler »Tausch« dieses Typus ist einer der Grenzfälle der »organlosen« Vergesellschaftung. Ihm fehlen, außer der vereinbarten Ordnung, alle jene Merkmale, welche dem Zweckverein eignen. Er kann heteronom geordnet sein (durch Rechtsordnung oder Konvention) oder ganz autonom dastehen, in seinen »Erwartungen« bedingt durch das beiderseitige Vertrauen, daß der andere Teil sich aus gleichviel welchen Interessen vereinbarungsgemäß verhalten werde. Aber er ist weder ein autokephales noch ein heterokephales Gesellschaftshandeln, weil er überhaupt nicht als perennierendes »Gebilde« auftritt. Und auch das Auftreten von Tauschakten als Massenerscheinungen, auch als in sich kausal zusammenhängender Massenerscheinungen (»Markt«), stellt natürlich keineswegs ein Zweckvereinsgebilde dar, sondern ist gerade umgekehrt von diesem grundsätzlich geschieden. Der Fall des Tauschs ist zugleich geeignet zu veranschaulichen: daß das die Vergesellschaftung herbeiführende Handeln (Vergesellschaftungshandeln) nicht notwendig nur an den Erwartungen des Handelns der sich Vergesellschaftenden selbst orientiert sein muß. Sondern, im Beispiel, außerdem an den Erwartungen: daß Dritte, Unbeteiligte das Resultat des Tausches: »Besitzwechsel«, »respektieren« werden. Insoweit ist es bloßes »Gemeinschaftshandeln« von der Art, die wir später »Einverständnishandeln« nennen werden.

Historisch finden wir die Stufenleiter der Entwicklung von der Gelegenheitsvergesellschaftung ausgehend und fortschreitend zum perennierenden »Gebilde« oft. Der typische Keim derjenigen Vergesellschaftung, welche wir heute »Staat« nennen, liegt in freien Gelegenheitsvergesellschaftungen von Beutelustigen zu einem Kriegszug unter selbstgewähltem Führer einerseits, in der Gelegenheitsvergesellschaftung der Bedrohten zur Abwehr anderseits. Es fehlt völlig das Zweckvermögen und die Dauer. Ist der Beutezug oder die Abwehr gelungen (oder: mißlungen) und die Beute verteilt, so hört die Vergesellschaftung zu bestehen auf. Von da bis zur Dauervergesellschaftung der Kriegerschaft mit systematischer Besteuerung der Frauen, Waffenlosen, Unterworfenen und weiter zur Usurpierung richterlichen und verwaltenden Gesellschaftshandelns führt in lückenlosen Uebergängen ein weiter Weg. Umgekehrt[451] kann aber auch – und das ist einer der verschiedenen bei Entstehung der »Volkswirtschaft« beteiligten Prozesse – aus den der Bedürfnisdeckung halber bestehenden perennierenden Vergesellschaftungen durch Zerfall das amorphe, ein »Gemeinschaftshandeln« darstellende Gebilde des »Markts« hervorgehen.

Das »psychische« Verhalten der Beteiligten, die Frage also: aus welchen letzten »inneren Lagen« heraus sie sich vergesellschaften und dann ihr Handeln an den vereinbarten Ordnungen orientieren, – ob sie sich ihnen lediglich aus nüchterner Zweckmäßigkeitserwägung oder aus leidenschaftlichem Attachement an die vereinbarten oder vorausgesetzten Vergesellschaftungszwecke, oder unter widerwilliger Hinnahme dieser als unvermeidlichen Uebels, oder weil sie dem Gewohnten entsprechen, oder warum sonst, fügen, – dies ist für die Existenz der Vergesellschaftung so lange gleichgültig, als, im Effekt, in einem soziologisch relevanten Umfang die Chance jener Orientierung an der Vereinbarung tatsächlich besteht. Mit ihrer Beteiligung am Gesellschaftshandeln können ja die einzelnen Beteiligten gänzlich verschiedene, entgegengesetzte, und gegeneinander gerichtete Zwecke verfolgen und tun dies sehr häufig. Der Kriegsvölkerrechtsverband, die Rechtsvergesellschaftung für das Gemeinschaftshandeln auf dem Markt mit seinem Tausch- und Preiskampf sind nur besonders deutliche Beispiele dieses überall wiederkehrenden Sachverhalts. Alles Gesellschaftshandeln ist natürlich Ausdruck einer auf die Orientierung des Handelns, des fremden und eigenen, an seinen Ordnungen, aber an sich auf gar nichts sonst gerichteten und daher sehr verschieden gearteten Interessenkonstellation bei den Beteiligten. Deren Inhalt läßt sich ganz allgemein nur rein formal dahin kennzeichnen, wie es schon mehrfach geschah: daß der Einzelne auf das durch die Vergesellschaftung vereinbarte Handeln des oder der Anderen rechnen und daran sein eigenes Handeln orientieren zu können ein Interesse zu haben glaubt.

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 442-452.
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