VII.

[465] Ein Sachverhalt ist uns in den gelegentlich verwerteten Beispielen schon mehrfach begegnet und jetzt noch spezieller herauszuheben: der Fall nämlich, daß jemand »ohne sein Zutun« an einer Einverständnisgemeinschaft beteiligt wird und bleibt. Das ist bei einem amorphen Einverständnishandeln – etwa des »Sprechens« – etwas keiner weiteren Erörterung Bedürftiges. Denn jeder ist jeweilig an ihm »beteiligt«, dessen jeweiliges Handeln der von uns als Merkmal angenommenen Voraussetzung (Einverständnis) entspricht. Aber nicht immer so einfach liegt es im übrigen. Es wurde oben als Idealtypus der »Vergesellschaftung« der auf einer ausdrücklichen Vereinbarung von Mitteln, Zwecken, Ordnungen beruhende rationale »Zweckverein« hingestellt. Dabei wurde nun schon festgestellt: daß und in welchem Sinn ein solcher als ein trotz des Wechsels der Beteiligten perennierendes Gebilde angesehen werden kann. Immerhin war noch vorausgesetzt, daß die »Beteiligung« der Einzelnen: die im Durchschnitt begründete Erwartung, daß jeder sein Handeln an der Ordnung orientiere, auf besonderer rationaler Vereinbarung mit allen Einzelnen beruhe. Es gibt aber sehr wichtige Vergesellschaftungsformen, bei denen das Gesellschaftshandeln in weitgehendem Maße wie beim Zweckverein rational durch von Menschen geschaffene Satzungen nach Mitteln und Zwecken geordnet, also »vergesellschaftet« ist und innerhalb deren dennoch geradezu als Grundvoraussetzung ihres Bestandes gilt: daß der Einzelne normalerweise in die Beteiligung am Gesellschaftshandeln und also in die Mitbetroffenheit von jenen Erwartungen der Orientiertheit seines Handelns an jenen von Menschen geschaffenen Ordnungen ohne sein Zutun hineingerät. Das für sie konstitutive Gemeinschaftshandeln ist gerade dadurch charakterisiert: daß beim Vorliegen gewisser objektiver Tatbestände bei einer Person von dieser die Beteiligung am Gemeinschaftshandeln, insbesondere also die Orientierung ihres Handelns an den Ordnungen erwartet, und zwar im Durchschnitt deshalb mit Recht erwartet wird, weil die betreffenden Einzelnen empirisch als zur Teilnahme an dem für die Gemeinschaft konstitutiven Gemeinschaftshandeln »verpflichtet« gelten und weil die Chance besteht, daß sie eventuell auch gegen ihren Widerstand dazu (sei es auch in noch so gelinder[465] Form) angehalten werden durch einen »Zwangsapparat«. Die Tatbestände, an welche jene Erwartung in einem besonders wichtigen Fall: [dem] der politischen Gemeinschaft, sich knüpft, sind z.B. vor allem: Abstammung von bestimmten Personen oder Geburt und unter Umständen sogar bloßer Aufenthalt oder doch schon bestimmte Handlungen innerhalb eines bestimmten Gebietes. Die normale Art des Eintritts des Einzelnen in die Gemeinschaft ist dann: daß er in die Beteiligung »hineingeboren« und »hineinerzogen« wird. Wir wollen solche Gemeinschaften, bei denen dieser Sachverhalt – also: 1. im Gegensatz zum freiwilligen »Zweckverein«: die Zurechnung auf Grund rein objektiver Tatbestände unabhängig von Erklärungen der Zugerechneten, – 2. im Gegensatz zu den einer absichtsvollen rationalen Ordnung entbehrenden, in dieser Hinsicht also amorphen Einverständnisvergemeinschaftungen: die Existenz solcher rationaler von Menschen geschaffener Ordnungen und eines Zwangsapparates als einer das Handeln mitbestimmenden Tatsache, – [gegeben ist,] als »Anstalten« bezeichnen. Nicht jede Gemeinschaft also, in die man normalerweise hineingeboren und -erzogen wird, ist »Anstalt«: nicht z.B. die Sprachgemeinschaft oder die Hausgemeinschaft. Denn beide entbehren derartiger rationaler Satzungen. Wohl aber diejenige Strukturform der politischen Gemeinschaft, welche man als »Staat«, und z.B. diejenige der religiösen, welche man im strengen technischen Sinn als »Kirche« zu bezeichnen pflegt.

Wie das an einer rationalen Vereinbarung orientierte Gesellschafthandeln zum Einverständnishandeln, so verhält sich die Anstalt mit ihren rationalen Satzungen zum »Verband«. Als Verbandshandeln gilt uns ein nicht an Satzungen, sondern an Einverständnis orientiertes, also: ein Einverständnishandeln, bei welchem 1. die Zurechnung des Einzelnen zur Teilnahme einverständnismäßig ohne sein eigenes darauf zweckrational gerichtetes Zutun erfolgt und bei welchem ferner 2. trotz des Fehlens einer darauf abgezweckten gesatzten Ordnung dennoch jeweils bestimmte Personen (Gewalthaber) einverständnismäßig wirksame Ordnungen für das Handeln der einverständnismäßig zum Verband gerechneten Beteiligten erlassen, wenn ferner 3. sie selbst oder andere Personen sich zu eventuellen Ausübungen von physischem oder psychischem, wie immer geartetem, Zwang gegen einverständniswidrig sich verhaltende Teilnehmer bereit halten.[466] Stets handelt es sich natürlich, wie bei allem »Einverständnis«, um durchschnittlich eindeutig verstandenen Sinngehalt und wandelbare Durchschnittschancen der empirischen Geltung. Die urwüchsige »Hausgemeinschaft«, bei welcher der »Hausherr«, – ebenso ein der rationalen Satzung entbehrendes »patrimoniales« politisches Gebilde, bei welchem der »Fürst«, – ebenso die Gemeinschaft eines »Propheten« mit »Jüngern«, bei welchen der erstere, – eine nur einverständnismäßig bestehende religiöse »Gemeinde«, bei welcher etwa ein erblicher »Hierarch«, – der Gewalthaber ist, sind »Verbände« von leidlich reinem Typus. Der Fall bietet prinzipiell sonst gegenüber dem anderweiten »Einverständnishandeln« keine Besonderheiten, und dessen ganze Kasuistik ist sinngemäß darauf anwendbar. In der modernen Zivilisation ist nun fast alles Verbandshandeln mindestens partiell durch rationale Ordnungen – die »Hausgemeinschaft« z.B. heteronom durch das von der Staatsanstalt gesatzte »Familienrecht« – irgendwie geordnet. Der Uebergang zur »Anstalt« ist also flüssig. Dies umsomehr, als es andererseits nur sehr wenige »reine« Typen von Anstalten gibt. Denn je vielseitiger das sie konstituierende Anstaltshandeln ist, desto regelmäßiger ist jeweils nicht dessen Gesamtheit zweckrational durch Satzung geordnet. Diejenigen Satzungen z.B., welche für das Gesellschaftshandeln politischer Anstalten – wir nehmen ad hoc an: durchweg zweckrational – geschaffen werden und den Namen »Gesetze« führen, greifen, in aller Regel wenigstens, zunächst nur fragmentarisch Tatbestände heraus, deren rationale Ordnung von irgendwelchen Interessenten jeweils erstrebt wird. Das tatsächlich den Bestand des Gebildes konstituierende Einverständnishandeln übergreift also nicht nur normalerweise ihr an zweckrationalen Satzungen orientierbares Gesellschaftshandeln, wie dies ja auch bei den meisten Zweckvereinen der Fall ist, sondern es ist auch normalerweise dem letzteren gegenüber das ältere. Das »Anstaltshandeln« ist der rational geordnete Teil eines »Verbandshandelns«, die Anstalt ein partiell rational geordneter Verband. Oder – der Uebergang ist soziologisch angesehen durchaus flüssig – die Anstalt ist zwar eine völlig rationale »Neuschöpfung«, aber doch nicht in einem gänzlich »verbandsleeren« Geltungsbereich. Sondern es wird schon vorher bestehendes Verbandshandeln oder verbandsgeregeltes Handeln, z.B. unter »Annexion« oder Vereinigung der bisherigen Verbände zur neuen[467] Gesamtanstalt, vermittels einer Serie von darauf gerichteten Satzungen entweder gänzlich neuen Ordnungen für das verbandsbezogene oder aber für das verbandsgeregelte Handeln oder für beides unterstellt; oder es wird nur ein Wechsel des Verbandes, auf den das Handeln nunmehr zu beziehen bzw. als durch dessen Ordnungen betroffen es anzusehen ist, oder nur ein Wechsel des Personals der Anstaltsorgane und speziell des Zwangsapparates vorgenommen.

Die Entstehung neuer Anstalts-Satzungen jeder Art nun vollzieht sich durchweg, mag sie mit einem als »Neuschöpfung« einer Anstalt zu betrachtenden Hergang verbunden sein oder im normalen Verlauf des Anstaltshandelns geschehen, nur in den allerseltensten Fällen durch autonome »Vereinbarung« aller an demjenigen künftigen Handeln Beteiligten, für welches nach dem durchschnittlich gemeinten Sinn Loyalität gegenüber der Satzung erwartet wird. Sondern fast ausschließlich durch »Oktroyierung«. Diese bedeutet: Bestimmte Menschen proklamieren eine Satzung als für das verbandsbezogene oder verbandsgeregelte Handeln geltend, und die Anstaltsgenossen (oder der Anstaltsmacht Unterworfenen) fügen sich dem tatsächlich mehr oder minder vollständig durch mehr oder minder eindeutige sinnhaft loyale Orientierung ihres Handelns daran. Das besagt: die gesatzte Ordnung tritt bei den Anstalten in empirische Geltung in Gestalt von »Einverständnis«. Dies ist auch hier wohl zu unterscheiden von »Einverstandensein« oder so etwas wie »stillschweigender Vereinbarung«. Vielmehr ist es auch hier zu verstehen als die Durchschnittschance, daß die nach (durchschnittlichem) Sinnverständnis als von der oktroyierten Satzung betroffen »Gemeinten« sie auch tatsächlich – begrifflich einerlei, ob aus Furcht, religiösem Glauben, Pietät gegen den Herrscher, oder rein zweckrationaler Erwägung oder welchen Motiven auch immer – praktisch als »gültig« für ihr Verhalten behandeln, ihr Handeln also daran, im Durchschnitt im Sinn der Satzungsgemäßheit, orientieren werden. – Die Oktroyierung kann von »Anstaltsorganen« durch ihr spezifisches, kraft Einverständnisses empirisch geltendes, satzungsgemäßes Anstaltshandeln geschaffen werden (autonome Oktroyierung), wie etwa die Gesetze einer nach außen ganz oder teilweise autonomen Anstalt (z.B. eines »Staats«). Oder sie kann »heteronom«, von außen her, z.B. etwa für das Gesellschaftshandeln der Genossen[468] einer Kirche oder Gemeinde oder eines sonstigen anstaltsmäßigen Verbandes durch Oktroyierung seitens eines anderen, z.B. eines politischen, Verbandes erfolgen, der sich die an der heteronom geordneten Gemeinschaft Beteiligten in ihrem Gemeinschaftshandeln fügen.

Die ganz überwältigende Mehrzahl aller Satzungen sowohl von Anstalten wie von Vereinen ist dem Ursprung nach nicht vereinbart, sondern oktroyiert, das heißt: von Menschen und Menschengruppen, welche aus irgendwelchem Grunde faktisch das Gemeinschaftshandeln nach ihrem Willen zu beeinflussen vermochten, diesem auf Grund von »Einverständniserwartung« auferlegt. Diese faktische Macht der Oktroyierung kann nun ihrerseits als gewissen, persönlich oder nach Merkmalen bestimmten oder nach Regeln (z.B. durch Wahl) auszulesenden, Menschen zukommend einverständnismäßig empirisch »gelten«. Dann kann man diese empirisch geltenden, weil im faktischen Durchschnitt hinlänglich das Handeln der Beteiligten bestimmenden, Prätensionen und Vorstellungen von einer »geltenden« Oktroyierungsgewalt die »Verfassung« der betreffenden Anstalt nennen. Sie ist in sehr verschiedenem Umfang in rationalen ausdrücklichen Satzungen niedergelegt. Oft [sind es] gerade die praktisch wichtigsten Fragen nicht, und zwar zuweilen auch, aus hier nicht zu erörternden Gründen, absichtlich nicht. Satzungen geben daher über die empirisch geltende, letztlich stets auf verbandsmäßigem »Einverständnis« ruhende, Oktroyierungsgewalt nur unsicheren Aufschluß. Denn in Wahrheit ist natürlich die jeweils nur abschätzbare Chance: welchen Menschen, inwieweit und in welchen Hinsichten, sich letztlich die nach der üblichen Deutung jeweils gemeinten Zwangsbeteiligten praktisch durchschnittlich »fügen« würden, der entscheidende Inhalt desjenigen »Einverständnisses«, welches die wirklich empirisch geltende »Verfassung« darstellt. Die Urheber zweckrationaler Verfassungen können durch diese die Oktroyierung von bindenden Satzungen auch z.B. an die Zustimmung der Mehrheit der Genossen oder der Mehrheit gewisser nach bestimmten Merkmalen bezeichneter oder nach Regeln auszulesender Personen knüpfen. Auch das bleibt der Minderheit gegenüber natürlich durchaus eine »Oktroyierung«, wie die vielfach auch bei uns im Mittelalter verbreitet gewesene und z.B. im russischen Mir bis an die Schwelle der Gegenwart herrschende Auffassung noch nicht vergessen[469] hatte: daß eine »gültige« Satzung eigentlich (trotz des offiziell schon bestehenden Majorisierungsprinzips) die persönliche Zustimmung aller derjenigen erfordere, die sie binden solle.

Der Sache nach aber beruht jegliche Oktroyierungsmacht auf einem spezifischen, in seinem Umfang und seiner Art jeweils wechselnden Einfluß – der »Herrschaft« – konkreter Menschen (Propheten, Könige, Patrimonialherren, Hausväter, Aeltester oder anderer Honoratioren, Beamter, Partei- oder anderer »Führer« von höchst wichtig verschiedenem soziologischen Charakter) auf das Verbandshandeln der anderen. Dieser Einfluß ruht wiederum auf charakteristisch verschiedenen Motiven, darunter auch auf der Chance der Anwendung von physischem oder psychischem Zwang irgendwelcher Art. Aber auch hier gilt: daß das bloß an Erwartungen (insbesondere: »Furcht« der Gehorchenden) orientierte Einverständnishandeln nur den relativ labilen Grenzfall bildet. Die Chance der empirischen Geltung des Einverständnisses wird auch hier unter sonst gleichen Umständen um so höher zu veranschlagen sein, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich »verbindlich« auch subjektiv ansehen. Soweit dies durchschnittlich oder annähernd der Fall ist, so weit ruht »Herrschaft« auf dem »Legitimitäts«-Einverständnis. Die Herrschaft als wichtigste Grundlage fast alles Verbandshandelns, deren Problematik hier einsetzt, ist notwendig ein Objekt gesonderter, hier nicht zu erledigender Betrachtung. Denn für ihre soziologische Analyse kommt es entscheidend auf die verschiedenen möglichen, subjektiv sinnhaften, Grundlagen jenes »Legitimitäts«-Einverständnisses an, welches überall da, wo nicht nackte Furcht vor direkt drohender Gewalt die Fügsamkeit bedingt, in grundlegend wichtiger Art ihren spezifischen Charakter bestimmt. Dies Problem kann aber nicht nebenbei erörtert werden, und daher muß hier der naheliegende Versuch, nun den hier beginnenden »eigentlichen« Problemen der soziologischen Verbands- und Anstaltstheorie nahezutreten, unterbleiben.

Der Weg der Entwicklung führt zwar im einzelnen immer wieder – wie wir dies früher sahen – auch von konkreten rationalen zweckverbandsmäßigen Ordnungen zur Stiftung von »übergreifendem« Einverständnishandeln. Aber im ganzen ist, im Verlauf[470] der für uns übersehbaren geschichtlichen Entwicklung, zwar nicht eindeutig ein »Ersatz« von Einverständnishandeln durch Vergesellschaftung, wohl aber eine immer weitergreifende zweckrationale Ordnung des Einverständnishandelns durch Satzung und insbesondere eine immer weitere Umwandlung von Verbänden in zweckrational geordnete Anstalten zu konstatieren.

Was bedeutet nun aber die Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft praktisch? Damit ein Kontorist oder selbst der Leiter eines Kontors die Vorschriften der Buchführung »kenne« und sein Handeln an ihnen durch richtige – oder auch im Einzelfall, infolge von Irrtum oder Betrug, falsche – Anwendung orientiere, ist offenbar nicht erfordert, daß er die rationalen Prinzipien, an deren Hand jene Normen erdacht worden sind, gegenwärtig habe. Damit wir das Einmaleins »richtig« anwenden, ist nicht notwendig, daß wir die algebraischen Sätze, welche z.B. der Subtraktions-Maxime: »9 von 2 geht nicht, da borge ich mir 1«, zugrunde liegen, rational eingesehen haben. Die empirische »Geltung« des Einmaleins ist ein Fall der »Einverständnisgeltung«. »Einverständnis« und »Verständnis« sind aber nicht identisch. Das Einmaleins wird uns als Kindern ganz ebenso »oktroyiert« wie einem Untertan eine rationale Anordnung eines Despoten. Und zwar im innerlichsten Sinn, als etwas von uns in seinen Gründen und selbst Zwecken zunächst ganz Unverstandenes, dennoch aber verbindlich »Geltendes«. Das »Einverständnis« ist zunächst also schlichte »Fügung« in das Gewohnte, weil es gewohnt ist. Mehr oder minder bleibt es so. Nicht an der Hand rationaler Erwägungen, sondern an der Hand eingeübter (oktroyierter) empirischer Gegenproben stellt man fest, ob man einverständnismäßig »richtig« gerechnet hat. Dies findet sich auf allen Gebieten wie der: so wenn wir einen elektrischen Trambahnwagen oder einen hydraulischen Lift oder eine Flinte sachgemäß benutzen, ohne von den naturwissenschaftlichen Regeln, auf denen ihre Konstruktion beruhrt, irgend etwas zu wissen, in welche selbst der Tramwagenführer und Büchsenmacher nur unvollkommen eingeweiht sein können. Kein normaler Konsument weiß heute auch nur ungefähr um die Herstellungstechnik seiner Alltagsgebrauchsgüter, meist nicht einmal darum, aus welchen Stoffen und von welcher Industrie sie produziert werden. Ihn interessieren eben nur die für ihn praktisch wichtigen Erwartungen des Verhaltens dieser Artefakte. Nicht anders steht es[471] aber mit sozialen Institutionen, wie etwa dem Gelde. Wie dieses eigentlich zu seinen merkwürdigen Sonderqualitäten kommt, weiß der Geldgebraucher nicht, – da sich ja selbst die Fachgelehrten darüber heftig streiten. Aehnlich bei den zweckrational geschaffenen Ordnungen. Solange die Schaffung eines neues »Gesetzes« oder eines neuen Paragraphen der »Vereinsstatuten« diskutiert wird, pflegen wenigstens die praktisch besonders stark davon berührten Interessenten den wirklich gemeinten »Sinn« einer Neuordnung zu durchschauen. Ist sie praktisch »eingelebt«, so kann dieser ursprünglich von den Schöpfern, mehr oder minder einheitlich, gemeinte Sinn so völlig vergessen oder durch Bedeutungswandel verdeckt werden, daß der Bruchteil der Richter und Anwälte, welche den »Zweck«, zu welchem verwickelte Rechtsnormen seinerzeit vereinbart oder oktroyiert worden sind, wirklich durchschaut, winzig ist, das »Publikum« aber selbst die Tatsache des Geschaffenseins und der empirischen »Geltung« der Rechtsnormen und also der daraus folgenden »Chancen« gerade soweit kennt, als zur Vermeidung der allerdrastischsten Unannehmlichkeiten unerläßlich ist. Mit steigender Kompliziertheit der Ordnungen und fortschreitender Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens wird dieser Tatbestand immer universeller. Am besten kennen zweifellos den empirisch geltenden Sinn von gesatzten Ordnungen, d.h. die durchschnittlich daraus, daß sie einmal geschaffen wurden und nun in einer bestimmten Art durchschnittlich interpretiert und durch den Zwangsapparat garantiert sind, mit Wahrscheinlichkeit folgenden »Erwartungen« gerade diejenigen, welche planvoll einverständnis widrig zu handeln, sie also zu »verletzen« oder zu »umgehen« beabsichtigen. Die rationalen Ordnungen einer Vergesellschaftung, sei sie Anstalt oder Verein, werden also von den Einen zu bestimmten unter sich wieder vielleicht sehr verschieden gedachten Zwecken oktroyiert oder »suggeriert«. Von den Zweiten, den »Organen« der Vergesellschaftung, werden sie – jedoch nicht notwendig in Kenntnis jener Zwecke ihrer Schaffung – mehr oder minder gleichartig subjektiv gedeutet und aktiv durchgeführt. Von den Dritten werden sie, soweit für ihre Privatzwecke absolut nötig, subjektiv in verschiedener Annäherung an jener Art der üblichen Durchführung gekannt und zum Mittel der Orientierung ihres (legalen oder illegalen) Handelns gemacht, weil sie bestimmte Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer (der »Organe« sowohl wie der Anstalts- oder[472] Vereinsgenossen) erwecken. Von den Vierten aber, und das ist die »Masse«, wird ein dem durchschnittlich verstandenen Sinn in irgendeiner Annäherung entsprechendes Handeln »traditionell« – wie wir sagen – eingeübt und meist ohne alle Kenntnis von Zweck und Sinn, ja selbst Existenz, der Ordnungen innegehalten. Die empirische »Geltung« gerade einer »rationalen« Ordnung ruht also dem Schwerpunkt nach ihrerseits wieder auf dem Einverständnis der Fügsamkeit in das Gewohnte, Eingelebte, Anerzogene, immer sich Wiederholende. Auf seine subjektive Struktur hin angesehen, hat das Verhalten oft sogar überwiegend den Typus eines mehr oder minder annähernd gleichmäßigen Massenhandelns ohne jede Sinnbezogenheit. Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und Rationalisierung bedeutet also, wenn auch nicht absolut immer, so im Resultat durchaus normalerweise, ein im ganzen immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im ganzen, verborgener zu sein pflegt wie dem »Wilden« der Sinn der magischen Prozeduren seines Zauberers. Ganz und gar nicht eine Universalisierung des Wissens um die Bedingtheiten und Zusammenhänge des Gemeinschaftshandelns bewirkt also dessen Rationalisierung, sondern meist das gerade Gegenteil. Der »Wilde« weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn »Zivilisierte«. Und es trifft dabei auch nicht universell zu, daß das Handeln des »Zivilisierten« durchweg subjektiv zweckrationaler ablaufe. Dies liegt vielmehr für die einzelnen Sphären des Handelns verschieden: ein Problem für sich. Was der Lage des »Zivilisierten« in dieser Hinsicht ihre spezifisch »rationale« Note gibt, im Gegensatz zu der des »Wilden«, ist vielmehr: 1. der generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Lift oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin, prinzipiell rationalen Wesens, d.h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien, – was für den Charakter des »Einverständnisses« gewisse gewichtige Konsequenzen hat, – 2. die Zuversicht darauf, daß sie rational, d.h. nach bekannten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauberer beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen »rechnen«, ihr Verhalten »kalkulieren«, sein eigenes[473] Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne. Und hier liegt das spezifische Interesse des rationalen kapitalistischen »Betriebes« an »rationalen« Ordnungen, deren praktisches Funktionieren er in seinen Chancen ebenso berechnen kann wie das einer Maschine. Davon an anderer Stelle.


Fußnoten

1 Außer auf die Darlegungen Simmels (in den »Probl. d. Gesch.-Philos.«) und eigne ältere Arbeiten (sie sind in diesem Band gesammelt) sei auf die Bemerkungen von Rickert (in der 2. Aufl. der »Grenzen«) und die verschiedenen Arbeiten von K. Jaspers (speziell jetzt: »Allg. Psychopathologie«) hingewiesen. Abweichungen der Begriffsbildung, wie sie sich gegenüber diesen Autoren und auch gegenüber F. Tönnies' dauernd wichtigem Werk (»Gemeinschaft und Gesellschaft«) und Arbeiten A. Vierkandts und anderer finden, müssen nicht immer Abweichungen der Ansichten sein. In methodischer Hinsicht kommen außer den Genannten die Arbeiten von Gottl (»Herrschaft des Worts«) und (für die Kategorie der objektiven Möglichkeit) Radbruch und, wenn auch mehr indirekt, von Husserl und Lask in Betracht. Man wird ferner leicht bemerken, daß die Begriffsbildung Beziehungen äußerer Aehnlichkeit bei stärkstem innerlichem Gegensatz zu den Aufstellungen R. Stammlers (»Wirtschaft und Recht«) aufweist, der als Jurist ebenso hervorragend, wie als Sozialtheoretiker unheilvoll verwirrungstiftend ist. Dies ist sehr absichtlich der Fall. Die Art der Bildung soziologischer Begriffe ist überaus weitgehend Zweckmäßigkeitsfrage. Keineswegs alle nach stehend (unter V bis VII) aufgestellten Kategorien sind wir genötigt zu bilden. Sie sind zum Teil entwickelt, um zu zeigen, was Stammler »hätte meinen sollen«. Der zweite Teil des Aufsatzes ist ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung, welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags (»Wirtschaft und Gesellschaft«) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen sollte und von welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden. Die pedantische Umständlichkeit der Formulierung entspricht dem Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen scharf zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode).


2 Die Art, wie die Relation zwischen dem Richtigkeitstypus eines Verhaltens und dem empirischen Verhalten »wirkt« und wie dies Entwicklungsmoment sich zu den soziologischen Einflüssen z.B. in einer konkreten Kunstentwicklung verhält, hoffe ich gelegentlich an einem Beispiel (Musikgeschichte) zu erläutern. Nicht nur für eine Geschichte der Logik oder anderer Wissenschaften, sondern ganz ebenso auf allen andern Gebieten sind gerade jene Beziehungen, also die Nähte, an welchen Spannungen des Empirischen gegen den Richtigkeitstypus aufbrechen können, entwicklungsdynamisch von der höchsten Bedeutung. Ebenso freilich der auf jedem einzelnen Gebiet der Kultur individuell und grundverschieden liegende Sachverhalt: daß und in welchem Sinn ein eindeutiger Richtigkeitstypus nicht durchführbar, sondern Kompromiß oder Wahl zwischen mehreren solchen Grundlagen der Rationalisierung möglich ist oder unvermeidlich wird. Hier können solche, inhaltliche, Probleme nicht erörtert werden.


3 Der Begriff ist hier nicht speziell zu erörtern. Es sei nur bemerkt: als »Recht« gilt uns soziologisch eine in ihrer empirischen Geltung durch einen »Zwangsapparat« (im bald zu erörterndem Sinn), als Konvention eine nur durch »soziale Mißbilligung« der zur »Rechts«- bzw. »Konventions«-Gemeinschaft vergesellschafteten Gruppe garantierte Ordnung. Die Grenze kann in der Realität natürlich flüssig sein.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 474.
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