Karaiben

[295] Karaiben (M. der). Wie alle rohen Völker, hatte auch dieses nur höchst oberflächliche Vorstellungen von einer Welterschaffung, Bevölkerung der Erde, und einem Leben jenseits. Nach dem Glauben der K. war der Himmel von Ewigkeit her vorhanden; er umschloss eine Erde, schöner und besser als die, welche später erst von einem Bewohner jener bessern Erde gemacht wurde. Diese letztere war Anfangs weich und in Ruhe, jener Fremdling, Louguo mit Namen, gab ihr Gestalt, Einrichtung und[295] Bewegung und bevölkerte das Meer mit Fischen, indem er grosse und kleine Maniokwurzelstücke hineinwarf, die sich in Meeresbewohner verwandelten; woher die Landthiere kamen, weiss man nicht anzugeben, die Menschen aber entstanden aus dem Nabel jenes Louguo, welcher die Erde als erster Mensch bewohnte, nach seinem Tode wieder auferstand und sich in jene bessere himmlische Welt zurückzog. - Die Menschen verschlimmerten sich nach und nach, so dass sie endlich von den Göttern gehasst wurden, und weil diese keine Opfer mehr bekamen, schickten sie eine gewaltige Wasserfluth über die Welt, wodurch der grösste Theil der K. umkam, und nur wenige sich in Kähnen retten konnten. Die ersten Menschen lebten sehr lange, ja, einige derselben, welche sich verdient gemacht hatten, ewig, indem sie in Sterne verwandelt wurden; allein nach der Sündfluth lebten Alle sehr elend, bis auf die Klagen eines alten Mannes ein Gott sich vom Himmel herabliess und ihn lehrte, mit den spitzen Steinen, welche am Meeresufer liegen, Holz zu fällen, sich Wohnungen zu bauen, die Maniokwurzel auszuziehen und, obgleich sie giftig ist, sie zu wohlschmeckenden, unschädlichen und nahrhaften Speisen zu bereiten, seit welcher Zeit die K. ein glückliches Leben führen, indem ihnen nichts mehr fehlt. Doch hoffen sie, dass es ihnen in dem obern Himmel, auf der dort befindlichen Erde, noch besser gehen wird, dass sie dort bessere Häuser, mehr Nahrung, mehr Frauen, keine Arbeit, keine Krankheiten, wohl aber ein ununterbrochenes Wohlleben haben werden. - Die K. verehrten Sonne und Mond, und das Erdbeben ist ihnen stets Veranlassung zu mehrtägigen Festen, denn diese furchtbarste aller Naturerscheinungen für den Bewohner fester Städte hat wenig Schreckliches für den, dessen Haus aus fünf dünnen Stecken, mit Baumblättern überdeckt, besteht; ihm stürzt kein Thurm, keine Kirche, kein Palast ein; so betrachten auch die K. das Erdbeben bloss als eine Mahnung an's Tanzen; die Erde nämlich hat sich bewegt, um sie zu erinnern, dass Bewegung der Gesundheit nöthig sei, und so folgen sie dann diesem Wink. - Sie bringen den Göttern nur selten Opfer, indem sie sagen, dass diese ihrer nicht bedürften; nur dem bösen Gott, welcher die Europäer geschaffen hat, schenken sie die Erstlinge der Früchte eines selbst gepflanzten Baumes. Unsittlichkeit und Goldgier machen ihnen die weissen fremden Menschen verächtlich; sie halten dieselben für Kinder eines bösen Meergeistes, welche mit ihrem Lande, d.h. den Schiffen, auf denen sie wohnen, aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen, um sie zu quälen zu berauben, und aus ihrem Lande zu verjagen.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 295-296.
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