Verbrennen der Wittwen

[443] Verbrennen der Wittwen, eine sonderbare und schreckliche Sitte der Indier, erst seit dem Jahre 1827 von den Engländern gesetzlich verboten, doch noch immer nicht ganz unterdrückt. Man gibt vor, der Gebrauch sei erst später herrschend geworden, als die Frau eines Braminen ihren Gatten vergiftet habe, wesshalb festgesetzt wurde, dass jede Frau ihrem Manne in das Grab folgen müsse; allein es ist nicht wahrscheinlich, dass eine solche Ursache der schrecklichen Unsitte zum Grunde liege, vielmehr scheint im Cultus selbst schon die Bedingung dazu vorhanden zu sein. Sich selbst freiwillig opfern, ist bei den Indiern fast das höchste Verdienst, das ein dem menschlichen Geschlecht nicht mehr nützliches Mitglied sich erwerben kann. Die Wittwe ist aber ein solches unnützes Glied; zur Verheirathung ist Jungfräulichkeit der Braut wesentliche Bedingung; da die Wittwe sich also nicht mehr verehelichen kann, wird sie zur Vermehrung des menschlichen Geschlechts unnütz, den Ihrigen eine Last; sie ist diesen schuldig, sich zu opfern, was man jedoch nicht von ihr verlangt, wenn sich Jemand findet, der sie heirathen möchte. Das Alter hat diese Sitte geheiligt, so dass eine Frau, welche sich weigert, dem Gatten zu folgen, verachtet, aus ihrer Gesellschaft gestossen, in die Wälder vertrieben wird, wo sie ihr Verbrechen dadurch büssen kann, dass sie stets aus dem Schädel des Verstorbenen trinkt, und Alles, selbst das Scheusslichste, was man ihr hineinwirft, isst.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 443.
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