I. Ursprung und Bedeutung der Mythologie im Allgemeinen

Inhalt der Mythologie. Alter derselben. Die Naturwissenschaften. Die Materialisten. Darwin und Häckel. Die Affen und die Menschen. Die geistige Anlage der Menschen und ihre Entwicklung. Das erste Ahnen eines Gottes. Anerziehung und Anlage. Das Gewissen. Die Religion und die Priester.

[3] Unter dem altgriechischen Worte »Mythologie« begreifen wir die »Sagengeschichte« der Menschheit oder den Inhalt der geistigen Vorstellungen, welche in alten Zeiten die Völker des Erdbodens, ehe sie in die »Geschichte« eintraten, von aussergewöhnlichen Wesen hatten und fortpflanzten, die Vorstellungen von Göttern und Göttinnen, Halbgöttern und Halbgöttinnen, Helden und Heldinnen, Riesengeschlechtern und Wundern. Man erkannte in ihnen unsichtbare und sichtbare Gestalten oder Erscheinungen. An der Spitze stehen vorzugsweise die Gebilde der Götter und Göttinnen, welche von diesem oder jenem Volke verehrt wurden, zufolge der Annahme eines Vielgötterreiches, das meistentheils ein Oberhaupt hatte: so können wir denn die Mythologie im Allgemeinen als die »Götterlehre« der frühsten Menschengeschlechter bezeichnen: eine Lehre, welche die zum Theil noch geltenden Religionen der verschiedensten Völker an den verschiedensten Orten seit der Urzeit umfasst, ehe das Christenthum seinen neuen Himmel brachte. Zu diesem Vielgötterthum rechnet man ausserdem noch Alles, was man sonst, im Laufe der Zeiten, für etwas Heiliges und über das alltägliche Mass Erhabenes, für etwas Wunderbares und Anstaunenswerthes erachtet, angebetet, gefeiert, gefürchtet hat, und was noch heutzutag bei manchen Völkern sein Ansehen fortbehauptet, bei wilden sowohl als solchen, die eine grössere oder geringere Civilisation aufzuweisen haben. Denn man war ehedem der Ueberzeugung, dass Alles, was durch offene oder geheimnissvolle Macht sich auszeichnete, mit Göttern und göttlichen Wesen in Verbindung stehen müsse.

Oberflächlich pflegt man aber zu sagen: das ist »Heidenthum«, was die alten Völker sich vorstellten! So nämlich drückt man sich seit der Erscheinung des Christenthums aus und nennt die Summe dessen, was die nicht zum Christenthum bekehrten Menschen lehren, schlechthin und verächtlich eine »Irrlehre«. Dabei vergisst[3] man indessen, dass auch diese Völker, die Heiden, für ihre Anschauungen das bedeutungsvolle Gepräge einer Religion beanspruchen, die man zu achten hat, mag sie immerhin eine blosse Naturreligion zu heissen sein. Denn in der That, der Name Naturreligion ist ein sehr würdiger Name, zwar dem Namen der »geoffenbarten« Religion der Christen gegenübergestellt, aber durchaus nicht zur Schmähung oder Beschimpfung der ersteren. Die Natur und die Begriffe von der Natur, wie wir endlich eingesehen haben, stehen viel zu hoch, als dass Jemand berechtigt wäre, einer aus der Quelle der Natur entsprossenen Vorstellung des Göttlichen übermüthige und achtungslose Blicke zuzuwerfen. Der Christ wäre sehr voreilig, das zu thun; im Gegentheil ist er verpflichtet, vor allen Dingen dasjenige, was andern Völkern wahrhaft ehrwürdig erschienen ist oder noch immer ehrwürdig erscheint, um seiner eigenen Religion willen mit keinen spöttischen Augen herabwürdigend zu betrachten. Aus dem Nachfolgenden wird diess für Jedermann deutlich erhellen.

Zunächst wenden wir uns zu der doppelten Frage: erstens, wie alt ist die Mythologie oder wann hat sie begonnen, und zweitens, wie ist sie entstanden? Denn mit ihrem Alter möchte wohl zugleich auch die Art und Weise ihrer Entstehung verknüpft sein. Die Antwort auf diese beiden Fragen ist schwierig, wie wir gleich sehen werden. Denn wir sind gezwungen, einen kleinen Versuch zu machen, in die fernsten, dunkelsten und unabsehbarsten Zeiträume zurückzuschauen und einzudringen.

Sagen wir kurz: das Alter der Mythologie zu bestimmen, würde einzig und allein dann möglich sein, wenn es uns gelingen sollte, die Frage über das Alter und den Ursprung des Menschengeschlechts selbst, wenigstens einigermassen zur Befriedigung unserer Wissbegierde, auf eine irgendwie wahrscheinliche Weise zu lösen. Freilich, die geringste Andeutung auf dem Gebiete der Menschenerschaffung setzt sich den mannigfaltigsten Zweifeln des Denkers aus, davon abgesehen, ob nicht vielleicht diese ganze Frage so beschaffen ist, dass sie in ein ewiges Räthsel für unser sterbliches Auge eingehüllt bleiben wird. Die heutigen Naturforscher nehmen allerdings die tiefsinnigsten und interessantesten Anläufe zur Ergründung des organischen Lebens auf diesem Erdball und zur Erklärung der Entstehung, Fortpflanzung und Umwandlung der Geschöpfe, in der Hoffnung, das allmälige Werden der Formen, Gattungen und Arten, die uns bis auf diesen Tag entgegentreten, schliesslich entziffern zu können. Allein trotz der Ausnützung aller seitheriger Erfahrungen, wie sie die Wissenschaft an die Hand giebt, sind sie in den wesentlichsten Punkten auf Vermuthungen (Hypothesen) angewiesen, und diese Vermuthungen begegnen immer und immer wieder vielfachen Einwendungen oder stossen auf unausfüllbare Lücken in dem Gewebe der kühnsten aller sterblichen Untersuchungen. Gelänge ihnen die erhabene Aufgabe, einen halbwegs sicheren Grund für ihre Annahmen zu entdecken, und den Schleier auch nur eines einzigen Punktes zu lüften, der von durchgreifender Wichtigkeit wäre, so würden wir uns auch in den Stand gesetzt sehen, die Anfänge dessen, was wir oben als den Inhalt der Mythologie zusammengefasst haben, mit grösserer Sicherheit zu beleuchten und besser als seither den Gang der frühsten geistigen Entwicklung der Menschen zu verfolgen, zu errathen und festzustellen. So lange aber die Schritte der Naturforschung nicht weiter vorgerückt sind, wird uns nichts übrig bleiben, als auf dem Gebiete der Mythologie gleichfalls vermuthungsweise zu verfahren, das Glaubliche mit leichten Strichen zu zeichnen, und zur Stütze die mündliche und schriftliche Ueberlieferung der Zeiten zu nehmen, im Uebrigen aber den Flug der Phantasie einzuschränken, selbst wenn sie von den Schwingen der Philosophie getragen würde.[4]

Die Naturforscher bieten uns ein Bild von den frühsten Zuständen der Erde. Wahrnehmung reihte sich an Wahrnehmung und man zog Schlüsse aus dem, was man gefunden hatte, mit einer Zuversichtlichkeit, als ob Augenzeugen zugegen gewesen wären in den langen Zeiträumen, innerhalb welcher, allem Anscheine nach, die Gestalt unseres Planeten sich entwickelte und so ausbildete, wie sie gegenwärtig vor uns tritt. Kühn genug sind diese Schlüsse, da es bisher kaum verstattet war, einige wenige Buchstaben in dem grossen und unerschöpflichen Buche der irdischen Dinge zu lesen und zu deuten. Das müssen wir uns bescheiden eingestehen, ohne dass wir damit die Erhabenheit des Zeitalters verkennen, in welchem wir leben, die riesenhaften Anstrengungen gelehrter Untersucher und die Ergebnisse, die sie schon erzielt haben, die gewaltigen neuen Entdeckungen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft und die Fortschritte der Kenntnisse für weitere Erfolge. Ebenso achten wir die Aufopferung zahlloser muthiger Männer zu Land und zu Wasser, die bemüht sind, die seither unerschlossenen Strecken der bewohnten und unbewohnbaren Erdtheile aufzuschliessen und zugänglich zu machen. Wie elend erscheinen diesem Bestreben gegenüber die wilden Bewegungen des Mittelalters, die wechselseitigen räuberischen Anfälle der Völker, die jammervollen, blutverschwendenden Kreuzzüge, die gesetzlosen Mordfehden im Innern und das Gebahren des Stärkeren im Niedertreten des Schwächeren. Die Menschen glichen damals weit und breit jenen Raubthieren, die einst unter einander wüthend die Erde überschwemmt hatten; nur waren sie schlimmer als Raubthiere und gefährlicher, weil sie höhere Kräfte besassen. Es kommt uns jetzt wahrlich vor, als ob die Sonne Jahrhunderte lang über Europa verfinstert gewesen wäre, dieselbe Sonne, die in antiken Zeiten so vielen Völkern ungleich heller geleuchtet hatte. Selbst die geographischen Gränzen früher bekannter Landstriche und wohlvertrauter Meere waren den Lebenden gleichsam unter den Händen wieder verloren gegangen. Die traurige Lage der Menschen änderte sich endlich durch die Entdeckungen des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts, die allbekannt sind; diesen Entdeckungen, welche nach und nach eine glückliche Morgendämmerung der Kultur zurückführten, stehen die gewonnenen, herrlichen Aufschlüsse unseres neunzehnten Jahrhunderts würdig zur Seite. Mit Recht bestaunen wir die tagtäglich sich mehrenden wundervollen Erfindungen im Reiche der Natur und die erweiterten Blicke des Geistes in die Wissenschaften. Wir sind an Erkenntniss dem Himmelsgewölbe mit seinen in weitester Ferne glänzenden Sternen und unserem eigenen Sonnensysteme näher getreten; wir haben die unter unsern Füssen rollende Erde weiter und weiter beschritten und die Zügel der Herrschaft über dieselbe straffer angezogen, als je zuvor und als man je geahnt hatte.

Demungeachtet fehlt noch zu viel, als dass die heutigen Forscher pochen könnten auf das Erreichte und ihrer Ansicht nach schon Begründete. Die Weisesten gerade sind es, die nie vergessen, mit Zurückhaltung zu urtheilen, weil sie die Ungewissheit anerkennen, die ihre Fusstapfen umgiebt. Noch vieles ist ja wie mit sieben Siegeln verschlossen; Nordpol und Südpol des Erdkörpers, wie auch zahlreiche Striche des Festlandes sowohl, als der Inseln, sind uns noch vollkommen unbekannt, noch ist die Erdrinde kaum in ihrer alleräussersten Oberfläche und obendrein erst an wenigen Stellen aufgedeckt worden, während die Grundfeste des die Hochlande umfluthenden ungeheuren Wasserspiegels dem Untersucher fast ganz unzugänglich erscheint. Wie viel dürfte noch von der zwar weit gediehenen, aber noch nicht vollständigen Einsicht in die Beschaffenheit des fernen Sonnenlichts abhängen, wie viel möchte uns eine zuverlässigere Kenntniss der nahen Mondscheibe nützen, wie heilsam möchten so manche erst leichthin erkannten Naturkräfte auf die Loose der[5] Menschheit einwirken! Wie wenig andererseits ist der Geist selbst erforscht, der in unserem Innern lebt und waltet, und der unbestreitbar das Ding der Dinge ist, an welchem uns liegen kann! Genug, wir sehen daraus, dass für künftige Thätigkeit das weiteste, ja, unbegränzteste Feld offen steht, und wohl ist uns vergönnt zu hoffen, dass dermaleinst die jetzigen Ansichten, so weit sie vernünftig sind, eine immer festere oder genauere, oder auch vielleicht eine ganz andere Grundlage erhalten werden.

Darauf aber warten diejenigen nicht, die auf der Oberfläche schwimmen. Sie werfen das kecke Wort hin: »wir wissen bereits so viel und zugleich sicher und zuverlässig, dass es jetzt möglich ist, abzuschliessen mit allem seit Jahrtausenden Geglaubten, Gedachten, Gewähnten.« Sie rufen ohne Weiteres aus: »wir dürfen aus den neuen Untersuchungen abnehmen, dass jenes Ziel erreicht ist, welches uns nicht blos erlaubt, sondern sogar gebietet, alle vormaligen Ueberlieferungen als veraltete Irrthümer abzustreifen; Tröpfe sind jene, welche vor den jetzt bewiesenen Thatsachen die Augen verschliessen und die Konsequenz der aus ihnen ziehbaren Folgerungen länger abläugnen wollen.« Denn nach ihrer Behauptung »sind wir nun im Stande, die Tiefe jener Geheimnisse, die so lange für unergründlich galten, sattsam zu erleuchten, nachdem die Materie oder der Stoff, welcher mit dem Geiste seine Verbindung hat, so weit durchschaut und blossgelegt worden ist.« Von der Zukunft erwarten sie keine Widerlegung, sondern sie setzen vielmehr voraus, dass durch fortschreitende Forschung das von ihnen erkannte Ergebniss, unter Beihülfe neuer Thatsachen, die vollste Bestätigung erfahren werde. So bringen sie denn die bestimmtesten Schlüsse über Sein und Nichtsein zu Markte, stellen eine scheinbar hochgesetzliche, in Wahrheit aber verkehrte Weltordnung auf und tragen kein Bedenken, die Fortdauer des Menschengeistes zu verneinen, sintemal das Leben des Menschen an den irdischen Organismus geknüpft sei, mit diesem entstehe und zerfalle, auch überhaupt in seiner zeitweiligen Dauer an ihn gebunden sich offenbare. Also sei der Geist nichts Selbstständiges oder ausser dem Körper Denkbares, sondern hänge ganz und gar von der zufälligen Beschaffenheit des Organismus ab, namentlich des Gehirns, dessen Produkt er lediglich sei. Mit stolzer Zufriedenheit versichern sie: »das ist die Wahrheit, alles Andere Blendwerk und Selbsttäuschung.« Das Höhere und Höchste, was eine Menschenbrust ahnt und hofft, geben sie für lächerlich aus, für eitel und erlogen; sie wollen nichts von ewigen Dingen wissen, das Grosse ist in ihren Seelen erloschen und erstorben, vorausgesetzt, dass sie je befähigt waren, göttliche Gedanken zu fassen und den Himmel wie die Erde aus gesunden Sinnen anzuschauen, also wenigstens den Heiden gleichzukommen, die diese Fähigkeit hatten. Sie stehen daher den Heiden nach, da sie nichts gelten lassen wollen, ausser was sie, wie man zu sagen pflegt, mit Händen greifen können. Der Name Materialisten ist der Ehrenname, den sie selbst sich beilegen.

Erschreckliche Gedanken, müssen wir zugestehen; Gedanken, die uns bange machen würden, wenn sie neu wären und von gründlicher Seite ausgingen. Das ist aber nicht der Fall; denn diese Geistesrichtung ist alt und die modernen Anhänger derselben sind entweder leichte Vogelsteller oder einseitige Schatzgräber. Unter die tüchtigen und vollgültigen Naturforscher zählt keiner von ihnen. Wir haben uns also vor ihren Weisheitslehren nicht zu fürchten. Was sie vorbringen, ist das schwache Resultat ihrer unbeholfenen Folgerungen, und sie erfreuen sich an der Seifenblase ihrer Behauptungen wie spielende Kinder, während sie selbst in dem Wahne stecken, dass sie mannhaft mit Kanonen schiessen. Wenn man sich dabei über etwas wundern könnte, so wäre es die nicht alltägliche Anmassung, die diese[6] Flunkerer, ohne zu merken, dass sie flunkern, zur Schau tragen. Sie glauben die Wahrheit ihrer Aussprüche zu beweisen, wenn sie sich an gewisse Einzelnheiten anklammern, die theils unbedeutend sind, theils, wenn sie eine Wichtigkeit haben, in ihren Augen für vollständig erforscht gelten, obgleich sie der Forschung noch unterliegen. Dergleichen Einzelnheiten, aus ihrem Zusammenhange herausgegriffen, nehmen sie für das Ganze, um das Ganze über das Knie zu brechen und zu sagen, dass die Sache entschieden sei. Nach ihrer Meinung sind sie weiser als alle Vormenschen und pochen darauf, dass sie tausendjährige Irrthümer zerstören; die früheren Denker hätten nichts von der Natur gewusst, sondern wären im Ungewissen herumtappende Phantasten gewesen. Wir müssen daraus schliessen, dass sie ihr eigenes, modernes Gehirn für ein weit vollkommener organisirtes ausgeben, als dasjenige, welches in den Schädeln so vieler ausgezeichneter Personen, die man seit dem Anfange der Weltgeschichte kennt, gewohnt und gearbeitet hat. Denn um das Gehirn dreht sich, nach ihrer Entdeckung, die Hauptfrage. Ein Geist des Individuums, wie oben gesagt, existirt nicht, sondern jene millionenfachen Aeusserungen, worin wir einen ununterbrochen im Körper wirksamen und thätigen Geist erblicken, sollen die glücklichen oder unglücklichen Erzeugnisse der feingestalteten und vielverflochtenen Masse sein, die im Schädel eingeschlossen ist, des Gehirnes. Man sollte freilich meinen, dass diese kostbare Masse einen Urheber haben müsse. Aber von einem Schöpfer des genannten Organs ist bei den Materialisten keine Rede; ebenso wenig von einem Geiste, der hinter dem Gehirn stecke, ebenso wenig von einem selbsteigenen Leben innerhalb des gesammten Organismus, ebenso wenig von einem Fortbestand der Lebenserscheinung, nachdem der Organismus wieder zerbrochen ist, ebenso wenig von einer unsichtbaren Seele überhaupt. Man begreift dabei nicht recht, woher das spätere weise Gehirn seine Kräfte hergenommen haben soll, das frühere dumme Gehirn zu widerlegen. Wir wollen verschweigen, was man ausserdem aus diesen unsinnigen Anschauungen flacher Köpfe geschlossen hat. Ihnen zufolge giebt es keinen Gott, kein höchstes Wesen, keinen Geist ohne Körper; der Mensch selbst ist ein zufälliges Geschöpf ohne Zweck und Ziel, ein vorübergehendes Traumbild.

Leichtfasslich steht diese Hirngeburt der Materialisten da. Sie macht demjenigen, der sich mit ihr beschäftigt, kein Kopfzerbrechen. Heutzutag glauben an dergleichen Scheinentdeckungen, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeitlang Modegeltung erlangten, nur noch wenige Menschen von gleicher Oberflächlichkeit wie diejenigen, welche den ganzen Schwindel in Bewegung gesetzt haben. Einem jeden einfachen Urtheiler drängt sich die Frage auf, wie es komme, dass alle anders denkenden Sterblichen von Narrheiten besessen sein sollen, nur diese Materialisten selbst nicht, die doch auch ihrerseits nichts Besseres als das Instrument des Gehirnes haben, also gleichfalls der Spielball ihres Gehirnes sein müssen. Freilich, es bleibt ihnen eine sehr bescheidene Ausrede. Sie dürfen sich nur rühmen, dass gerade sie von der Natur mit dem feinsten Gehirn ausgestattet worden sind, mit einem Gehirn, welches dazu auserlesen war, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden! Sagen wir, das Vorhandensein alles Göttlichen zu verneinen!

Die Materialisten selbst haben nichts entdeckt, was von irgend einer Wichtigkeit wäre. Sie beschränkten sich darauf, die Gärten der Philosophie, Erdkunde, Physiologie und Chemie zu plündern, um so viele Zweifel als möglich aufzusammeln, die sie für ihre Meinung brauchen konnten. Unbekümmert um dieses Treiben, hat die auf wissenschaftliche Grundlage gestützte ächte Naturforschung ihre erhabenen Bestrebungen glücklich fortgesetzt. Eingestehen müssen wir freilich wiederholt, dass[7] es den Meistern dieses weltumfassenden Faches auch bis heute noch nicht gelungen ist, jene allgemeinen und tiefen Fragen, die von jeher dem nachdenkenden Menschengeschlechte als Räthsel entgegengetreten sind, zu irgend einer Entscheidung zu bringen, wenn es auch nur eine vorläufige wäre. Ja, gerade diejenigen Fragen, welche dem Menschen allezeit mehr als andere Dinge am Herzen gelegen haben, sind absichtlich und mit weisem Vorbedacht von Seiten der besten Forscher übergangen worden, sei es, weil sie ihre Beantwortung für verfrüht ansahen, oder weil sie glaubten, dass der Sterbliche immerdar auf die Erhellung gewisser unbegreiflich erscheinender Dinge verzichten müsse. Diese Zurückhaltung gereicht ihnen nicht zum Vorwurfe, sondern zum Lobe. Denn sie weisen auf die Schranken hin, welche dem hochfliegenden Menschengeiste, was man ihm auch zutrauen möge, gesteckt scheinen: Schranken des Irdischen, deren Durchbrechung selbst im blossen Versuche sich strafen würde, sobald der Versuchende, seine Kraft überschätzend, zu weit ginge. Zerrüttung der Seelenkräfte würde wohl die Strafe allzuverwegenen Unterfangens unausbleiblich sein. Doch mögen wir diese Sachlage beklagen oder nicht beklagen, die einsichtsvollsten Naturgelehrten schweigen, wenn wir sie angehen mit den Fragen: woher oder woraus das Leben stamme, wann und auf welche Weise das Leben auf der Erde enstanden sei, und durch welche Kräfte es habe entstehen und in den Organismen auftreten können. Ferner verhalten sie sich stumm gegenüber den Fragen: »giebt es eine Fortdauer des in den Organismen vorhandenen und thätig gewesenen Lebens, eine Unsterblichkeit, eine Ewigkeit? Ist Alles ein kurzes Spiel? Ein flüchtiger Scherz? Besteht ein Wesen, das wir Gott nennen, ein Weltregierer, nach dessen Gesetzen das Grösste wie das Kleinste geht, ein allmächtiger Herrscher, wie er auch beschaffen sein möge, ein Richteramt desselben? Giebt es Belohnungen und Strafen in einem Jenseits, wo wir fortleben? Oder ist es mit dem geborenen und gestorbenen Menschen nach dem Tode aus?« Die bedächtigen Forscher kümmern sich neuerdings mit nichten um die sofortige Erklärung solcher Punkte, sondern fahren einfach in ihren auf Materie und Lebensentwicklung gerichteten Untersuchungen fort, soweit sie glauben vorrücken zu können. Ob in das jetzt Unergründliche jemals ein sterblicher Lichtstrahl hineinfallen wird oder nicht, lassen sie dabei ruhig dahingestellt sein.

Auch für uns wäre es zu weitläuftig, auf das Ebenerwähnte an diesem Orte näher einzugehen, zumal unser Zweck es nicht dringend erfordert. Nur eine einzige Laienbemerkung sei uns gestattet, um den Zweiflern an einem Fortleben zu antworten. Sicher und gewiss ist es freilich, dass auf dieser Erde der Geist ohne eine Körperhülle kein Dasein hat, nicht bestehen, nicht sich offenbaren kann. Aber wie nicht das kleinste Atom der Materie je vergeht, nämlich nie und unter keinem Machtdruck vollständig vertilgbar ist, so dass es nicht mehr bestände: so ist offenbar auch der geistige Theil, der in dem Organismus sich entfaltet, zum allermindesten ebenso stark an Urkraft, wie der materielle Theil, welcher ihn aufgenommen hat: also gleichunvertilgbar, wie dieser letztere. Eine Folgerung, sollte ich meinen, die obenhin zu missachten Willkür oder Leichtfertigkeit wäre. Denn die Annahme einer solchen Gleichstellung zwingt uns der gesunde Menschenverstand auf, der uns keineswegs lehrt, dass der Geist oder die den Körper belebende Seele ein blosses Nichts sei, die Materie dagegen Alles. Wer in aller Welt gäbe uns denn das Recht, den blossen Stoff so hoch zu stellen, oder vielmehr höher? Wenn der Leib zerfallen ist, so nimmt der darin wohnende Geist eine andere Hülle an. Eine neue Hülle, welcher Art sie immer sein möge! Was aus dem aufgelösten, getrennten, zerstobnen Organismus wird, kann uns bei dieser Frage ganz gleichgültig sein.[8] Vernichtbar in dem Grade, dass er nicht mehr vorhanden wäre, ist der Stoff nimmermehr. Keine Kraft des Menschen (sicherlich auch keine Kraft der Natur) reicht hin, ein Sandkorn oder ein Baumblatt so zu vernichten, dass nichts übrig bliebe; ein Rest muss schlechterdings greifbar, fühlbar, sehbar, wenigstens als ein Stäubchen oder als ein Hauch seiner Wesenheit, jeglichem Angriffe trotzen und seine Fortdauer auf irgend eine Weise behaupten. Wesshalb aber sollte es um den geistigen Inhalt des Organismus anders stehen? Auch er kann unmöglich einer vollständigen Vernichtung unterliegen!

Denn sobald die Meinung wahr wäre, dass es kein fortdauerndes Leben gäbe, sondern nur ein vernichtbares und bis auf den leisesten Hauch wieder verschwindendes, so würde alles und jedes Leben, das wir in den Organismen gewahren, eigentlich nichts anderes als eine oberflächliche und zeitweilige Gaukelei vorstellen, einen blossen Schein; in der Wirklichkeit gäbe es kein Leben, das diesen Namen verdiente. Daraus würde dann folgen, die Natur (die Schöpfung, wie sie gewöhnlich genannt wird) sei todt. Was aber wäre eine todte Natur? Eine bunte Masse von Stoffen, ohne allen Halt und Anhalt, ohne Gesetz und Ordnung. Aber wir sehen ja das Gegentheil vor sichtlichen Augen, so dass wir die Wirklichkeit greifen können! Alles in der Natur zeigt die wunderbarste und für unsere menschlichen Begriffe vollkommenste Gesetzlichkeit bis in das Geringste auf, so weit es uns sichtbar wird, eine stete, feste, unwandelbare Gesetzlichkeit überall und ohne Ausnahme. Wohin wir schauen, augenblicklich tritt uns die Wirksamkeit einer sich unabänderlich vollziehenden und stets gleichen Vorschrift wie von selbst entgegen, im Licht und Schatten, im Steigen und Versinken, in jeglicher Wendung der Dinge, der grössten wie der kleinsten.

Woher stammt aber diese unübertreffliche, nie wankende und nie fehlende Gesetzlichkeit? Augenscheinlich doch wohl von einer über Allem stehenden Gewalt, mögen wir sie Gott oder Schöpfer oder Herrn oder sonst mit einem Namen bezeichnen. Um den Wortausdruck wollen wir nicht hadern. Irgend Etwas, wie man es auch nenne, muss existiren, was der grosse Beherrscher des Stoffes ist, wie auch der Mittelpunkt alles Lebens, aller Bewegung, aller Kraft, aller Vernunft, Ordnung, Regel. Wer darf je aussprechen, dass das All todt sei? Was hätte eine todte, ohne Gesetz gelassene Natur (Schöpfung) zu bedeuten, wenn eine solche überhaupt möglich wäre? Nichts als ein Chaos, und selbst dieses müsste von Grund aus starr und regungslos erscheinen. Denn eine jede etwanige Regung der Materie, auch eine zufällige, würde ein unwiderlegbares Zeichen vorhandenen Lebens sein; denn selbst der angenommene Zufall verträte zum mindesten eine Aeusserung dessen, was Leben genannt werden muss, eine Art Herrschaft, wenn auch eine blinde. Ein todtes Chaos indessen wäre überhaupt etwas Unmögliches, etwas das nicht existiren könnte. Halten wir also daran fest, dass die Welt ein lebendurchdrungenes All ist, dessen Lenker am wenigsten der Zufall sein kann, der die Macht besitze, jene von unsern Augen angestaunte ewige Ordnung zu bewirken; denn sonst müssten wir unbedingt den Zufall als den Urheber dieser Ordnung betrachten, ihn den unvergleichlichen Meister der Natur nennen, welchem der Name Gott gebühren würde.

Sehen wir von einem Zufallsherrscher ganz ab und erklären weiter, dass der Mensch keine Wahl hat, als festzuhalten an dem von keinem wahren Weisen noch verworfenen Satze, dass die Vernunft das Zepter der Welt führe und ewiglich obenan stehe. Denn ein jeglicher Mensch würde sich selbst beschimpfen, wenn er der Vernunft diese Stellung in der Natur versagen wollte, weil er damit auch seine eigene Vernunft herabsetzte und ihre Würde läugnete. Ist doch das Höchste, was[9] der Mensch hat, die Vernunft. Nichts Anderes darf er ihr vorziehen, ohne von der gesunden Bahn abzuirren. So ist es auch mit der Forderung, dass die Welt durch die Vernunft regiert werde: wir müssen schlechterdings annehmen, dass die Vernunft das Ganze lenkt, wenn wir anders nicht den Zufall zum König erheben wollen. Des letztern Missgriffes aber können wir uns, wie oben dargethan worden, nicht schuldig machen; wir müssen vielmehr der Vernunft in der Natur die Krone zuerkennen, wie wir sie auch unserer eigenen Vernunft zuzuerkennen gezwungen sind, gemäss unserer unveräusserlichen Würde. Es wäre daher eine gränzenlose Thorheit, den Willen an die Spitze des Weltalls stellen zu wollen, wie es neuerdings versucht worden ist, in der Absicht, anscheinende Unvollkommenheiten der Dinge auf die leichteste und verständlichste Weise zu erklären. Gebrechen (Unvollkommenheiten) giebt es aber nur für unsere menschlichen Begriffe und bei einseitiger Auffassung. Denn auch in dem, was uns mangelhaft dünken mag, herrscht das unwandelbarste aller Gesetze, nach welchem der von uns erblickte Mangel sich erklärt und aufhebt, das Urgesetz. Nichts kann sich vollziehen ohne Gesetz, also muss auch dasjenige, was wir Sterblichen für gebrechlich ansehen, aus dem festen Gesetze folgen, welches unausweichlich seine Wirkung geltend macht. Der eintretende Fehler, den wir gewahren, ist ein durch das Gesetz bedingter, also natürlicher und unabwendbarer. Dem allmächtigen Handhaber der Bestimmungen, welche den Inhalt seines Gesetzes bilden, ist nicht zuzumuthen, dass er die Folge des von ihm Bestimmten abändere oder aufhebe. Wenn irgend eine Schwäche nach den festgesetzten Urbedingungen vorauszusetzen ist, so kann es nicht fehlen, dass diese Schwäche eintritt, also dasjenige, was wir das Böse, das Schlechte, das Leiden nennen; in das Gegentheil kann es vom Gesetzgeber nicht ausnahmsweise verkehrt werden, da er, ohne selbst in Schwäche zu verfallen, seine eigenen Gesetze nicht umstossen könnte: folglich wird er es auch nicht thun. Die Sonne sinkt am Horizont, also sinkt sie, wie es bestimmt ist. Niemand darf eine Veränderung ihrer Bahn fordern. Den Menschen erwartet, nachdem er geboren ist, Krankheit, Elend, Unglück, Tod. Von diesen Unannehmlichkeiten entspriesst die eine wie die andere aus den vorausbestimmten Gesetzen, welche die Erdenwelt beherrschen; sie sind demzufolge keine blinden Leiden, sondern nur natürliche Folgen. Aussergesetzlich trägt sich nichts zu; im Gegentheil wäre das Verlangen, die Uebel auszuschliessen, eine an den Gesetzgeber gestellte Forderung, derselbe solle auf ein ungesetzliches Gebahren sich einlassen. Dazu kommt, dass die Menschen selbst an vielem Unheil Schuld sind, an Krankheit, Schädigung, Verderben, Mord und frühzeitigem Untergange. Soll auch in diesen zahllosen Fällen die allmächtige Hand sich aussergesetzlich ausstrecken, um die Thorheiten der Menschen zu verhindern? Die Erfüllung einer solchen Zumuthung würde die Erde zu einem Schauplatz hohler Puppen erniedrigen, die offenbar nicht verdienten, geboren zu werden. Was haben die Menschen zu thun? Sie sollen die Augen selbst öffnen lernen, um die ewig bleibenden Gesetze zu erkennen und mit dieser Erkenntniss den ihrer Wohlfahrt drohenden Gefahren zu entgehen und zwar allen Gefahren so weit als möglich, nur den Eintritt des Lebensendes ausgenommen, den Tod, welcher in das irdische Reich eingeschlossen ist, weil dasselbe ein Reich ist, worin Alles aufblüht und wieder abblüht. Wie ein Baum frühzeitig verdorrt, wenn er einen Schaden leidet oder in irgend einem Punkte mangelhaft ausgestattet dasteht, ebenso ergeht es auch dem Menschen: andernfalls grünen Bäume wie Menschen bis zum regelrechten Ablauf ihres Organismus, welcher letztere auf Erden, wie gesagt, kein ewig dauerhafter sein kann, weil es das Urgesetz nicht mit sich bringt, dass hier die Unsterblichkeit eintrete! Wenn wir den Satz aufstellen: Alles[10] hienieden und die ganze sichtbare Welt ist schlecht, so sprechen wir nicht allein gegen unsere sinnliche Wahrnehmung und gegen unsere Erfahrung, sondern wir werfen zugleich jede Betrachtung und Philosophie kurzweg über Bord. Denn wozu sollte ein weiteres Nachdenken frommen? Wenn die menschliche Gesellschaft glaubte, dass Alles auf der Erde so schlecht sei als es nur sein könne (man hat es behauptet), so verdiente sie kein anderes Loos, als so schnell als möglich zu Grunde zu gehen; ja, sie würde sich auch nicht lange mehr halten. Denn ein höchstes Wesen zu läugnen, ein allvernünftiges, wäre der kürzeste Schritt, der die Menschen zu Thieren herabbrächte; die Menschen würden bald keine Menschen mehr sein, sondern gefährliche Raubthiere werden, um so gefährlichere Geschöpfe, da ihrer sonstigen Eigenschaften wegen Niemand so gefährlich sein könnte, wie sie. Die fernsten Jahrtausende werden ohne allen Zweifel diesen Ausspruch für richtig erklären.

Wiederholen wir das Letztgesagte in kurzer Uebersicht. Der von der Vernunft ausgehende Denker sieht das All anders an, als die Materialisten und diejenigen, welche an Gott und Unsterblichkeit zweifeln. Er findet, so weit der menschliche Verstand und die menschliche Erfahrung heutzutag blickt, überall Ordnung in allen Stücken, überall Gesetz und Richtschnur. Er findet eine vollkommene Natur nach festen und unwandelbaren Normen: er findet bei dieser Wahrnehmung auch ein vernünftiges Ziel der Dinge, so weit er dem Gange der Natur nachzurechnen vermag, ein Ziel, auf welches eine vernünftige, allwaltende Macht augenscheinlich hinsteuert, um diejenigen Zwecke zu erreichen, welche die besten sind. Wir haben bei solcher Anschauung nicht nöthig, den göttlichen Lenker des Alls in die Materie zu verstecken, wie es die neueren Materialisten zu thun pflegen, indem sie Stoff und Kraft amalgamiren, ohne sagen zu können, was der Stoff ist, und wie die Kraft mit dem Stoffe verfährt. Ferner, der vernünftige Denker jammert nicht über die menschlichen Loose. Was wir hier auf der kleinen Erde für Mängel ansehen oder für unerfreuliche Vorgänge halten mögen, die man Leiden nennt, das verschwindet gegen jene harmonische Erscheinung der nächsten wie fernsten Natur (Schöpfung) wie ein leichter Nebel. Denn zum Ganzen hat dieser Nebel nichts zu sagen, wenn wir uns nicht thörichterweise einbilden, der Menschen wegen existire die Gesammtheit des unendlichen Weltalls, und nicht anmassend daraus folgern, auch den armen Erdenbewohnern gegenüber hätte es das nicht geben sollen, was wir insgemein Unvollkommenheiten, Qualen, Uebel heissen, indem wir verlangen, das irdische Dasein hätte wenigstens ganz anders gestaltet sein müssen, als in der Weise, die uns so unbegreiflich wechselvoll oder so oft ganz zufällig däucht. Menschen, die an der regelrechten Gestaltung der Dinge zweifeln, übersehen muthwillig, dass auf allmächtigen und wandellosen Gesetzen Alles beruht, was in und unter dem Himmelsgewölbe sich zeigt, gedeiht, untergeht, sich wandelt und erneuert. Gerade weil diese Gesetze eine ewige Geltung haben und haben mussten, kann auch die Natur der Erde keine andere sein, als sie uns sich darstellt. Wankten und schwankten die Gesetze, oder würden sie willkürlich gehandhabt, so müsste eine fabelhafte Unordnung sowohl auf unserer Erde, als im weitesten Weltall hausen, während wir doch rings, in nächster Nähe wie in weitester Ferne, eine so klare Ordnung walten sehen, dass bei gleichen Verhältnissen der nämliche Fall, auch wenn er zum tausendsten und millionstenmale einträte, auf die nämliche Weise vor unsern Augen passirt, so genau wie zum ersten Male und mit unfehlbarer Pünktlichkeit; bei veränderten Verhältnissen dagegen sehen wir, dass augenblicklich auch derselbe Fall sich ändert und zwar jedesmal wiederum auf die gesetzmässigste Weise und sofort einer jeglichen Veränderung entsprechend. Zuletzt wiederholen wir, dass es ein Gebot unsers Verstandes[11] ist, die Fortdauer des Lebens vorauszusetzen, wie sie seit ältesten Zeiten schon vorausgesetzt worden ist; wir haben nämlich darauf hingewiesen, dass die zweifellose Gewissheit, der Stoff könne nicht unauslöschbarer sein als der Geist, der in dem Stoffe gewohnt hat, unserem Verstande den natürlichen Gedanken der Unsterblichkeit aufnöthigt.

Die ächte Naturforschung also strebt, wie gesagt, nicht dahin, das Wesen der Gottheit unmittelbar zu entdecken und jene obigen Fragen von unermesslicher Tragweite, zum Heile des Menschengeschlechts, ehebaldigst abzuschliessen. Sicher und gewiss ist es ausserdem, dass keine umsichtigen Denker die Hoffnung hegen, selbst in den fernsten Jahrtausenden werde sich einmal die Aufhellung der letzten Geheimnisse erreichen lassen. Demungeachtet sind die Ziele der wahren Forscher die erhabensten, welche je der Menschengeist sich stellen kann. Denn worauf ist diese Forschung, diese ununterbrochene Arbeit, diese unermüdliche Sorge gerichtet? Auf die tiefste Erkennung der Erde wie des Himmels, auf die Betrachtung der Erscheinungen des letztern und auf die Prüfung der grössten und kleinsten Organismen, deren Vorhandensein auf der Erdrinde und innerhalb derselben wahrgenommen wird. Ferner will der Forscher Alles aufgreifen und aufhellen, was immer die unorganische Materie in sich verborgen halten mag, um aus ihren Bestandtheilen jeden Funken herauszulocken, welcher dem Menschen dienlich sein kann und geeignet ist, seine Wohlfahrt, seine Bildung und seine von ihm angetretene Herrschaft über das Erdenrund zu erweitern. Eine Menge Räthsel giebt es, die noch nicht gelöst sind, ausserdem unzählige, an deren Lösung man noch nicht einmal gedacht hat: ja, sie häufen sich in das Endlose mit jeder neuen Lösung selbst. Dass Fortschritte gemacht werden, erkennen wir sattsam aus den Entdeckungen, die von Jahr zu Jahr sich mehren. Auf welcherlei Fortschritte aber dürfen wir uns berufen, die mit unserer Betrachtung der Mythologie in Verbindung zu bringen wären? Was verdanken wir der heutigen Naturwissenschaft, wenn es sich um Ursprung, Alter und Werthschätzung des mythologischen Reiches handelt? Eine äusserst wichtige Anschauung für das letztere.

Wir knüpfen an das neue System an, dessen Urheber der Engländer Darwin und dessen vornehmster Vertreter unser Landsmann Häckel ist. Die beiden ausgezeichneten Forscher haben, um kurz zu reden, eine wissenschaftliche Grundlage geschaffen, welche über die Entstehung und Entwicklung der thierischen Organismen, also auch des Menschengeschlechts, den entscheidendsten und durchgreifendsten Aufschluss darbietet. Aus ihren Nachweisungen, die alle Gründe der Thatsachen und des Scharfsinns benützen, erhalten wir die sicherste Ueberzeugung, dass erstens die gesammten lebenden Geschöpfe, die Menschen nicht ausgeschlossen, in eine unendlich ferne Zeit zurückreichen, in jene frühe Epoche der Erde, wo die ersten Keime des Lebens aufgehen konnten. Zweitens erfahren wir, dass die Geschöpfe der Erde eine lange Reihe von Perioden, in welchen sie sich allmälig entwickelt haben, stufenweise durchlaufen sind. Drittens, dass die Geschöpfe im Allgemeinen körperliche sowohl als geistige Fortschritte machten und sich vollkommener ausbildeten, während sie theilweise »im Kampfe um das Dasein« untergingen oder auch von der früheren Ausstattung abfallend und zurückgerathen verkümmerten. Unter diesem Kampfe um das Dasein versteht man das Ringen der lebendig freien Organismen untereinander, entweder um sich gegen die durch Widersacher ihnen drohenden Angriffe zu wehren, oder Nahrung zu ihrer Erhaltung zu gewinnen. Die am vortheilhaftesten ausgebildeten Individuen siegten in diesem Streite über die geringeren, sei's mittelst ihrer Leibesstärke, oder ihrer vorzüglicheren Organe, oder weil sie überhaupt begabter waren. Die besten Arten, Geschlechter und Gattungen blieben übrig, erhielten sich[12] unversehrt und setzten, unter Bewältigung der ihnen entgegentretenden Hindernisse, ihre Nachkommenschaft, ihre weitere Bildung und Veredlung glücklich fort, von Epoche zu Epoche ihre Eigenthümlichkeiten entwickelnd, abwandelnd und ihre Formen umgestaltend. Die Wahl ihrer Geselligkeit führte diese und jene Geschöpfe zur Züchtung, nämlich zu einer vortheilhafteren Fortpflanzung, wodurch sie unter ihres Gleichen eines höheren Ranges theilhaftig wurden, einerseits eine grössere Sicherheit für ihr Fortbestehen, andererseits die Möglichkeit zu einer immer schöneren Entfaltung ihrer Anlagen empfingen. Daraus entsprangen auch mannigfaltige Unterschiede unter solchen Arten, die eigentlich nicht verschieden waren.

Der Laie hat keine Veranlassung, das Darwin'sche System an diesem Orte sorgfältiger zu schildern und näher zu beleuchten. Es kommt für ihn ebenso wenig darauf an, das Ganze wie die Einzelnheiten schon als sicher und erwiesen hinzunehmen. Aber es kann dem vorsichtigen Urtheiler keineswegs entgehen, dass die Riesenaufgabe nicht erschöpft ist, sondern dass mancherlei Lücken in jener ebenso sinnreichen als verwickelten Darstellung dieses Naturgebietes sich herausstellen, und dass nach mehrfacher Seite hin allerlei Bedenken erwachen, die selbst diesem und jenem erprobten Fachkenner und Mitforscher ein schwerer Stein des Anstosses sind. So hat denn schon Agassiz die Möglichkeit zurückgewiesen, dass eine Eigenart aus einer andern Eigenart entstehen könne: er hat die ganze Untersuchung Darwins und seiner Mitstreiter einen wissenschaftlichen Missgriff gescholten, der sehr nachtheilig wirken müsse. Der letztere Vorwurf dürfte sich jedoch als ein unverdienter ausweisen. Denn es ist leicht möglich, dass die Mängel der Darwin'schen Lehre sich durch spätere Berichtigungen ausgleichen lassen, und dass man den Fingerzeig findet, der schliesslich auf den rechten Weg hingeleitet.

Was uns an dem neuen System auffällt, ist Folgendes. Darwin hat angenommen, dass die ursprüngliche Erzeugung der freien Organismen (wenn wir so sagen dürfen), die erste Erzeugung derselben, aus etlichen wenigen Zellen vor sich gegangen sei; fabelte man doch früher sogar blos von einer einzigen Zelle! Beweisen lässt sich die Sache nicht, der grosse Gelehrte stellt eine wohlbedachte Hypothese auf. Wenn es indessen für die Richtigkeit einer Hypothese spricht, dass ihre Grundlage durchweg eine nothwendige sei, eine solche, die es gestattet, eine Menge weiterer Folgerungen mit Recht an sie anzuknüpfen und dieselben ebenso sicher festzustellen, so scheint es im vorliegenden Falle hier und da etwas misslich auszusehen. Vor Allem fühlt man sich versucht, die Voraussetzung, dass äusserst wenige ursprüngliche Zellen genügten, für eine willkürliche und an sich unwahrscheinliche Annahme zu halten. Warum sollen denn nicht mehr als etwa ein Halbdutzend Zellen das erstaunliche und unermessliche Werk begonnen haben? Warum nicht eine weit grössere Menge derselben? Der Erdkörper mit der Mutter Sonne fing seine erste natürliche Fruchtbarkeit schwerlich mit etlichen zerstreuten Urzellen an; eine solche Beschränkung der Macht darf man, weil es nicht den geringsten Grund dafür giebt, der Natur nicht zumuthen und aufbürden; denn das hiesse nichts anderes, als einen winzigen und blos menschlichen Massstab an das Unendliche anlegen. Wahrscheinlicher ist es bei den allmächtigen Kräften, die wir der Natur zutrauen müssen, weil sie unerschöpflich und unberechenbar wirkt, dass auf allen Punkten der Erdenmaterie, im Bereich des Festlandes wie im Wasser, unter mehr oder weniger günstigen Verhältnissen, eine Unzahl von Zellen nebeneinander und ziemlich zu gleicher Zeit sich gebildet und entwickelt habe. Wäre es wenigstens nicht einigermassen geboten, für die entschiedenen Eigenarten der Organismen, so weit sie uns als solche bekannt geworden sind, auch ebenso viele verschiedene Urzellen anzunehmen,[13] die zwar ähnlich, aber doch vielfach anders ausgestattet oder befruchtet waren? Und sollte aus dieser Verschiedenheit der letztern nicht der Stammbaum der werdenden und gewordenen Formen sich weit leichter, einfacher und zuverlässiger herleiten lassen, als wenn wir die unsäglichen Abweichungen zahlloser Organismen, mögen sie sonst noch so viele gemeinsame Zeichen ihres Erdenursprungs aufweisen, aus einer nahezu einheitlichen Quelle nicht ohne äussersten Zwang erklären wollen? Sträubt sich die Wissenschaft gegen diesen Vorschlag mit Recht? Auf gute Gründe mag sich wohl die Hypothese Darwins berufen; aber auf ausreichende und vollgültige Gründe, möchte sich doch bestreiten lassen. Der Satz, man müsse stets auf die möglichste Einfachheit zurückgehen, ist richtig und nicht genug zu schätzen; nur möchte es bisweilen gefährlich sein, dieses Prinzip zu übertreiben und auf den Kopf zu stellen. In besagter Untersuchung möchten wir denn rathen, den Horizont für den Ausblick nicht allzueng zu setzen; wir meinen, man solle sich hüten, diese oder jene Momente gering zu schätzen, damit man nicht gezwungen werde, das Ungleichartige ohne Noth für gleichartig aufzuführen. Auch die Erde macht auf uns Menschen häufig den Eindruck von etwas Unendlichem. In ihrem Körper liegt die Allmacht der Zeugung noch heutzutag. Gediegene Forscher behaupten sogar, einst sei diese Kraft der Erde noch ungleich frischer, jugendlicher, schneller und reicher aufgetreten; sie habe sich im Laufe der Jahrtausende aus mancherlei Ursachen abgeschwächt. Wenn sie Recht haben sollten, was nicht unwahrscheinlich ist, um so weniger hätten wir es dann nöthig, die Geburtsstätten für die Organismen auf eine so unerhört geringe Zahl von Zellen zu beschränken. Die Fläche der Erde, unterstützt von Sonne und Mond, grünte und blühte, lebte und webte in jener ersten Epoche, wo sie zeugungsfähig geworden war, vermuthlich allerwärts auf Höhen und in Tiefen über und über; hier traten diese Kräfte, dort jene hervor, mannigfaltig im weitesten Sinne, bald das Uebergewicht erringend, bald minder begünstigt und unterdrückt. Man braucht nicht allzukünstlich und allzuängstlich auszuholen, um den merkwürdigen Vorgang der ersten Zeugung begreiflich zu machen. Dieser Vorgang muss ein so gewaltiger und weitausgedehnter gewesen sein, dass es eine Spitzfindigkeit wäre, ihn so überaus winzig oder dürftig zu machen, damit man ihn ja sich als einen recht natürlichen vorstellen könne. Setzen wir daher eine unbeschränkte Zahl von dergleichen Lebenskeimen voraus, zumal da wir ungemein viele Geschöpfe noch nicht kennen, so verflachen wir einerseits die hohe Aufgabe keineswegs, deren man sich unterzieht zur Erklärung der Art und Weise, wie die thierischen Organismen aus dem Schoosse der Erde geboren worden sind; es bleibt noch genug der Mühe übrig, um die beständige Entwicklung der Arten im Kampf um das Dasein und die Ursachen ihres Untergangs bei schlechten und ihrer Fortpflanzung bei günstigen Verhältnissen so einleuchtend als möglich vorzuführen. Zweitens haben wir dann einen besseren Grund und Boden, um dem Charakter der Eigenarten nachzuspüren und den Wahn zu entfernen, dass es keine Eigenarten gebe, sondern nur Arten, die durch irgend eine unter ihnen stattgefundene Vermischung und Fortbildung eine neue, besondere, einigermassen verschiedene Art hervorgebracht hätten. Bei welcher letztem Ansicht man auf den allgemein angenommenen Satz sich beruft, dass in der Natur keine Sprünge vorkommen.

Und da sind wir denn bei der Behauptung angelangt, dass die Menschen mit den Affen verwandt wären, und nicht allein verwandt, sondern aus den Affen, als ihren Vorvätern, entsprossen wären. So schlechtweg drücken sich die Forscher, an ihrer Spitze Darwin und Häckel, neuerdings zwar nicht mehr aus; aber sie glauben einen plausibelern Weg einzuschlagen, wenn sie die Hypothese aussprechen, dass die[14] Menschen nicht unmittelbar von den Affen abstammten, sondern nur einem Seitenzweige der äffischen Aeste angehörten und allerdings den vollkommensten Schössling derselben ausmachten. Es habe nämlich ehemals eine Zwischenart der heutigen Affen und Menschen gegeben; dieses zwischen beiden Arten vermittelnde Zwischenglied, besser als der Affe und geringer als der Mensch, sei indessen ausgestorben, untergegangen, kurz, nicht mehr vorhanden. Folglich nähmen wir heutzutag eine Lücke in der Entwicklung der obersten Thierorganismen wahr; eine solche Lücke müsse unbedingt statuirt werden, weil wir sonst in der Entwicklung einen Sprung vorfänden, ein Sprung aber im Gange der Natur nicht statuirt werden dürfe. Was richtig sein würde, wenn es nicht wahrscheinlicher wäre, dass besagter Sprung kein Sprung ist, sobald wir, einem angeblich verlorenen Zwischengliede gegenüber, zu jener einfachen Annahme einer Vielzahl von Urzellen greifen, wodurch eine jegliche Eigenart in ihrem selbstständigen Charakter geschützt wird, wie auch in ihrer besonderen Entfaltung. Wir brauchen dann, wenn das Menschengeschlecht unter die Eigenarten gehört, das Zwischenglied nicht mehr, um dem Vorwurfe zu entgehen, dass wir einen Sprung für möglich hielten. In den Urzellen lag gewisslich schon die verschiedene Begabung der verschiedenen Organismen; also in der Urzelle des Menschen eine Begabung, welche den Menschen von dem Affen gleich Anfangs getrennt hat, eine bessere Ausstattung von Seiten der Natur. Auf diese so glaubliche Voraussetzung gestützt, läugnen wir, dass jemals ein Uebergang der Affengeschlechter in Menschengeschlechter auf wahrscheinliche und natürliche Weise stattgefunden habe, oder dass ein solcher überhaupt habe stattfinden müssen. Wir wollen übrigens nicht fragen, wer das vermuthete Affenzwischenglied ausgerottet haben solle, ob das heutige Affengeschlecht, oder die einst mit den Affen und andern Thieren in Kampf verwickelten Menschenfäuste. Beides ist nicht im Entferntesten glaubhaft, nach dem Gesagten auch gleichgültig. Wir wollen nebenbei einräumen, dass eine gewisse Verwandtschaft zwischen Affen und Menschen bestehe, aber nur in einem einzigen Punkte, im Körper. Denn was den Geist anlangt, sind beide Arten himmelweit verschieden: der Affe steht, dem Menschen gegenüber, als ein blosser Schatten desselben da. Gewiss ist, von den kleinsten wie von den grössten Geschöpfen, auch von dem Affen, den man ihm am nächsten zu setzen wagt, scheidet sich der Mensch durch seine Begabung und durch das Bewusstsein dessen, was er ist, unermesslich ab; die Trennung ist so gross, dass wir sagen müssen: zwischen ihm und der gesammten Thierwelt findet sich eine unübersteigbare Scheidewand gezogen, die ihm gewordene Leuchte seines Innern, die höchste Zierde, die ihn vor jedem andern Organismus auszeichnet. Mögen immerhin jene Affenzwischenglieder, wenn es wirklich welche gegeben haben sollte, ihrerseits ausgerüstet gewesen sein mit einer grösseren geistigen Fähigkeit, als sie die gescheidtesten Affengeschlechter bis auf den heutigen Tag offenbaren, von dem Menschen würden sie immer so ungeheuer weit abgestanden haben, dass es äusserst unbesonnen wäre, in ihnen Zwischenglieder zu erkennen, die genutzt hätten, jene Lücke in geistiger Begabung auszufüllen und durch Fortzeugung einen sanften Uebergang zur Menschenseele zu bewirken. Selbst den Buschmännern und russischen Waldmenschen können sie an Talent nicht geglichen haben; denn die letztern werden wir doch für wirkliche Menschen halten müssen. Auch sie weisen zu viel Menschliches auf, als dass wir glauben könnten, eine Thierart habe jemals gleiche Vorzüge besessen. Doch auch sonst ist die Dazwischenschiebung höherer Affengattungen eine sehr bedenkliche Sache. Denn erstens würden dergleichen Affen, bei den ihnen zugeschriebenen reichen Gaben, wodurch sie sich dem Menschen genähert hätten, dem Menschen viel[15] gefährlicher gewesen sein als alle übrigen wilden Thiere, die von ihm bewältigt wurden und um seiner Selbsterhaltung willen bewältigt werden mussten: wie leicht konnte es in diesem Falle geschehen, dass der Mensch selbst den furchtbaren Affenvätern ganz und gar unterlag. Zweitens, und das ist viel bedeutsamer, sehen wir uns verwundert um, dass sich von gedachten Affen heutzutag nirgends auch nur die geringste Spur vorfindet. Wie kommt es, dass von ihnen nicht eine Anzahl Exemplare zur Gegenwart gerettet worden sind? Oder sollten wir es für möglich halten, dass sie von ihren ungleich reicher begabten Abkömmlingen, den Menschenkindern, sammt der Wurzel undankbar ausgerottet worden seien, als es den Kampf um das Dasein galt? Eine so vollständige Vertilgung eines angeblich so talentvollen Organismus, der auf so hoher Stufe gestanden hätte, ist durchaus unwahrscheinlich. Wenigstens etliche Subjekte dieser geistigen Ahnenschaft müssten doch irgendwo auf einem Winkel der weiten Erde übrig geblieben sein. Denn so viel Geist lässt sich nimmermehr ans der Welt fortschaffen. Das sehen wir an den Menschen bestätigt, die ein unausrottbares Geschlecht sind, wie schon Homer sagt; und an Kämpfen hat es ihnen, wie wir weiter unten finden werden, wahrlich nicht gemangelt.

Was indessen auch den Fachkenner wie dem Laien an dem Darwin-Häckelschen Systeme der Organismenentwicklung ungenügend erscheinen mag (erklärt sich doch auch unter anderm das Vorhandensein der zahllosen Infusorien daraus wohl kaum), anerkannt muss allseitig ohne Widerrede werden, dass auf diesem Gebiete durch jene beiden Forscher ein durchgreifender Fortschritt geschaffen und ein Ergebniss gewonnen worden ist, dessen Einflüsse auf die wahre Erkenntniss der Dinge vorläufig noch unberechenbar sind. Die allgemeine Grundlage der neuen Hypothese steht fest, dagegen treten die Gespinnste vorausgegangener und eine Zeitlang geglaubter Vermuthungen für immer aus ihrer bisherigen Geltung zurück. Was die Erfahrung hin und her tappend anstrebte, ist jetzt in der Hauptsache festgestellt, und was die Philosophie träumend zu ergänzen suchte, zerfliesst in Nebel und hat den Halt verloren, so dass sie, um wieder Fuss zu fassen, in die Lage gesetzt ist, eine andere Wendung zu nehmen. Vor allem Andern, um es wiederholt zu sagen, ist es klar geworden, dass erstens die thierischen Organismen und ebenso die menschlichen ohne Unterschied und Ausnahme in eine undenkliche Vorzeit zurückreichen, und zweitens, dass sie sammt und sonders erst durch unzählige Epochen der Zeugung, Mischung und Fortbildung so geartet sind, wie wir sie heute vor uns erblicken, nach Körperform, Charakter, Lebensentfaltung, Geist. Der Glaube, dass der Schöpfer des Weltalls zeitweise nach ganz, besonderer Absicht in dieses Gebiet eingegriffen habe, ist veraltet und für jeden besonnenen Denker augenscheinlich beseitigt; eigentliche neue Schöpfungen, solche, die durch eine höhere Hand von frischem gemacht worden wären, können niemals und in keiner Periode sich zugetragen haben. Alles auf dem Erdenrund ist von Anfang an seinen gesetzmässigen Gang gegangen, und zwar gerade so, wie es sicher und gewiss weiter gehen wird, so viel oder so wenig vor unsern Blicken sich zu verändern scheint oder in Zukunft sich verändert zeigen mag. Die Entwicklung der Dinge schreitet auf vorgeschriebenen Bahnen fort.

Das Licht jener Forschung nun, das auf den Ursprung der Menschen gefallen ist, dehnt sich auch über das Reich der Mythologie aus. Freilich, ein bestimmter Termin, auf welchen dieser Ursprung unseres Geschlechts zu verlegen sei, ist, wie schon oben gesagt worden, weder aufgefunden, noch dem Vermuthen nach jemals auffindbar. Die Zeit ist hierin für uns eine Ewigkeit. Aber eine strenge Fixierung des Momentes, wo die Menschen wurden, ist nicht gerade nothwendig; wir haben die sicherste Ueberzeugung erlangt, dass es keineswegs ein Zeitraum von[16] etlichen Jahrtausenden ist, seit welchem dieselben geboren worden sind und über den festen Boden sich verbreitet haben, sondern dass sie sammt allen thierischen Organismen in jene unabsehbare Urzeit hineingehören, wo es zuerst möglich war, dass sich ein selbstständiges Leben in freien Formen entwickelte. Sagen wir also, die Menschen sind so alt wie die Welt, wenn wir uns die Erde als eine Welt vorstellen dürfen. Mit den ersten Geschöpfen haben auch sie ihren Ursprung empfangen und alsdann die Stufen ihrer Entwicklung angetreten; wir ahnen die Schritte, die sie machten, aber kennen sie nicht, sondern gehen die Menschen nur vor uns, wie sie seit dem Eintritt in die Geschichte bis heute sich darstellen, ohne dass wir angeben können, wie sie das geworden, was sie sind, und nicht geworden, was sie vielleicht schon längst sein sollten. Das Ziel, welches, wie es scheint, vor ihnen liegt, lassen wir unberührt. Denn wir haben lediglich die frühe Vergangenheit unsers Geschlechts zu betrachten. Und selbst auf diese können wir nur vermuthungsweise hindeuten, allgemeine Umrisse über die Entfaltung des Menschen zeichnend, soweit es uns an diesem Ort angeht.

Wenn die Menschen, wie wir gesagt haben, so alt wie die Welt sind, dann wagen wir nichts, wenn wir die Behauptung aussprechen, dass die Mythologie ebenso alt ist. Denn die Reihen von Vorstellungen, welche den Inbegriff der Mythologie ausmachen, hängen unmittelbar mit dem geistigen Erwachen des Menschengeschlechts zusammen und gehen Hand in Hand mit diesem Erwachen, in der Seele sich einfindend und wachsend, sich vermannigfaltigend und vertiefend. Wie mag das zugegangen sein? Ein langer Prozess war es jedenfalls, indem das Erwachen des Geistes kein plötzliches sein könnte, sondern den Naturgesetzen, wie Alles, unterworfen war. Wie viele Jahrtausende mögen verlaufen sein, ehe sich der Anfang einer solchen innerlichen Bewegung zu bilden vermochte! welcher unübersehbare Zeitraum mag dazu gehört haben, einige wenige Einzelnheiten des Gedachten und Erkannten in halbwegs feste Umrisse zu bringen! Denn mächtige Hindernisse thürmten sich, wie der körperlichen, so auch der geistigen Entwicklung jenes Geschöpfes, welches zum obersten Range berufen war, Schritt vor Schritt entgegen! Geboren in gleicher Lage wie die Thiere, mussten die Menschen sich aus dem dunkeln Schlamme ihres Geburtsbettes, wenn ich mich so ausdrücken darf, zunächst herausarbeiten und einigermassen die Kräfte sammeln, welche die Natur in sie gelegt hatte. Alsdann harrte ihrer der schreckliche »Kampf um das Dasein,« worin sie den grausamsten Gewalten sich gegenüber befanden, dem anscheinend gesetzlosen Gebahren der unorganischen Natur und dem rohen Andrängen der mitgebornen thierischen Organismen, einem überaus bunten, unzähligen Heergetümmel; wir dürfen mit Sicherheit hinzufügen, auch die Menschen unter einander haderten und fochten, Art mit Art, Stamm mit Stamm. Das unbeschreibliche Wirrsal, wer möchte sagen, wie viele Zeitalter hindurch es angedauert hat, das blinde Rasen eines unaufhörlichen Krieges? Indessen hatte dieses entsetzliche Ringen für die menschlichen Streiter die glückliche Folge, dass sie von den Gaben, die ihnen angeboren waren, Gebrauch machen lernten und ihre Umsicht schärften; sie mussten es, um Sieger zu bleiben. Mit ihren Leibeskräften einzig und allein durften sie nicht hoffen, die Arten jener wilden thierischen Kolosse, die in der Urzeit neben ihnen lebten, in Schranken zu halten und niederzuschlagen; auch wenn wir voraussetzen, dass sie selbst einen gegen die heutigen Gestalten verhältnissmässig gigantischen Körperbau hatten, schwächer waren sie von Leibe jedenfalls, um den stärkeren Ungeheuern mit blosser physischer Gliederkraft auf die Dauer widerstehen zu können. Daher waren sie bald genöthigt, zu allen Waffen zu greifen, die ihnen der[17] Verstand darreichte, die überlegene Mitgift ihrer Geburt, die Klugheit, die List. Sie dachten nach, wie sie ihrer sonst übermächtigen Gegner sich am besten entledigten, sie merkten sorgfältiger auf die verderblichen Ausbrüche der Elemente, und wie sie jene zu schlagen sich bemühten, so wichen sie diesen aus, nach Massgabe ihrer Berechnung. So suchten sie wohl auch Verstecke auf oder wählten Wohnplätze von grösserer Sicherheit. Der gefährlichste Widersacher des Menschen mochte freilich der Mensch sein, weil im ausgebrochenen Hader und im Sturme wilder Begierden Ebenbürtigkeit gegen Ebenbürtigkeit stritt; doch ist es selbst in diesen Wuthschlachten wahrscheinlich, dass die edleren Arten seines Geschlechts sich durchschlugen, die schlechteren untergingen, zur Seite wichen und ihre Macht verloren. Jene Arten wuchsen, die letztern blieben verkümmert.

Die Nöthen des Daseins also waren die harte Schule der Menschen, die wesentlich dazu beitrug, dass sie geistig erwachten und die Fähigkeiten der Seele übten, erst zum äusseren Widerstand aufgerafft, dann zur ernstlichen Betrachtung angefeuert, endlich durch das Vergnügen geleitet, das sie im Nachsinnen fanden. Langsam ging denn anfänglich ihr Denken von Statten, auf den kleinen Kreis weniger Bedürfnisse gerichtet; überschauten sie doch in den ersten Zeiten gewiss nur ein winziges Stück unserer Erde, die für sie die Bedeutung einer unendlichen Erscheinung haben musste, da sie ihnen grösser sich darstellte, als der darüber gelagerte Himmel selbst. Allmälig aber vermehrten sich die Eindrücke, die sie von aussen schöpfend in die Seele aufnahmen und nach aussen zurückgaben. Gleichwie zuerst am frühen Osthimmel, wann die Sonne sich nähert, wenige vereinzelte helle Strahlen heraufschiessen, dann aber die Lichtstreifen dichter und weiter sich ausspannen, bis der ganze Morgenäther glänzt und zu lodern scheint, so tauchten auch, im Laufe von Myriaden Jahren, mühsam die ersten leuchtenden Funken im Innern der Menschen auf, Begriffe weckend, Betrachtungen und Gefühle anregend, worauf neue Gedanken folgten und zu einem immer helleren Lichtkreise sich ansammelten, je weiter die Linie des Horizonts vor den spähenden Augen gleichsam fliehend zurückwich. Die Bilder des Erdenbereiches, freundliche und unfreundliche, freudvolle und schreckliche, nahmen die gesteigerte Aufmerksamkeit nicht einzig und allein in Anspruch. Ausgezeichnet durch den aufrechten Gang, zu welchem ihr Körper vorzugsweise geschickt war, wandten die Menschen gleichzeitig ihr Antlitz aufwärts und prüften den Luftraum, seine Wetter und Phänomene, und darüber das Himmelsgewölbe und seine wundersamen Sterne. Sie suchten ein hohes, unbekanntes Etwas, das ihnen vorschwebte, als ob sie es hinter Bergen und Thälern oder im fernen All endlich anzutreffen hoffen dürften. Es war die geistige Sonne, nach der sie forschten, aber diese entschleierte sich vor ihnen so wenig, als wir Sterblichen wohl jemals auf Erden einen vollen Lichtstrahl derselben für uns zu erwarten haben.

Das erste Ahnen von dem Dasein eines Gottes, um deutlich zu reden, stieg in ihrem Innern auf, und ausser Zweifel steht es, dass schon in der Urzelle, aus welcher die Menschen mit ihrer Begabung hervorgegangen sind, auch die Anlage zu einem Gottesbewusstsein ihnen mitgegeben war. Denn sonst hätten sie niemals vermocht nach dem grossen Unbekannten zu suchen. Keine Lehre, keine Erziehung konnte ihnen den Trieb einflössen, einen Gottesbegriff zu gewinnen; woher sollte die Lehre, die Erziehung kommen? Es musste doch zuvor Menschen geben, die selbst bereits diese Lehre, diese Erziehung empfangen hatten, und von wem sollten denn die ersten unterwiesen und erzogen worden sein? Von Haus aus vielmehr hatte der Trieb in den Menschen gelegen, ein allgewaltiger Trieb, der seine Ausbildung folgerecht und vernunftmässig forderte. Und das ist der beste und stärkste Beweis[18] unter allen Beweisen für das Gottesdasein. Die Mythologie zeigt, dass ein solches Sachen schon durch die frühesten Menschengeschlechter gegangen ist.

Zuerst blieb es freilich bei blossen Ahnungen, bei blossen Träumen der Seele. Die Menschen kümmerten sich nach und nach um die Zwecke ihres Selbst, emsig bemüht, die erwachenden Fragen um Herkunft, Dasein, Tod und Fortdauer zu beantworten, so gut sie konnten. Das Diesseits deuchte ihnen doch in jeder Beziehung unzulänglich: so viel erkannten die meisten schon sehr lange vor der geschichtlichen Epoche, die heutzutag uns überschaubar ist. Das tiefe Bedürfniss irgend eines befriedigenden Anhalts drängte sich ihren gesunden Sinnen auf. Die einzelnen Stämme, die sich zusammengethan, pflanzten nun die Erfahrungen ihres eigenen Suchens auf spätere Geschlechter fort, diese hielten die Ueberlieferungen der Vorfahren fest, fügten neue Ideen hinzu, die einen änderten gelegentlich diesen, die andern jenen Zug, je nachdem es der Fortschritt ihrer innern Bewegung, ihr glücklicheres oder unglücklicheres Loos mit sich brachte. Die Mythologie führt uns dergleichen Wandlungen und Fortschritte vor.

Wie kam es aber, dass der Geist der Menschen so vieler und unermesslicher Zeit bedurfte, um irgend einen Gedankenkranz zu flechten? Abgesehen von den äusseren Hindernissen, auf welche sie stiessen, wie wir oben angedeutet haben, mussten sie erst mancherlei Hülfsmittel erringen, die es ihnen möglich machten, aus der Sphäre der mit ihnen entstandenen thierischen Organismen herauszutreten und höhere Bahnen einzuschlagen. Natürliche Urbegabung kam ihnen auch hier zu Statten. Eins der allerwichtigsten Hülfsmittel war die Sprache, die kunstvolle Weise, ein Verständniss unter ihres Gleichen herbeizuführen und mit möglichster Klarheit dasjenige, was in dem Innern unsichtbar lebte und webte, von Mund zu Mund sich wechselseitig zu jeder Frist mitzutheilen. Sicherlich eine der schwersten Aufgaben, deren allmälige Lösung ihnen nur durch eine ausgezeichnete körperliche und geistige Naturanlage gelingen konnte. Anfangs auf Geberden und einfache Töne (Schreien) beschränkt, gebrauchten sie allmälig Laute, die in Folge langer Uebung genauer und bestimmter wurden. So entstanden denn unter verschiedenen Gesellschaften, auch durch die Verschiedenheit der Zonen bedingt, mancherlei verschiedene Sprachen, in frühester Zeit roh und arm, bis die Zunahme der Bildung hier und dort das Gepräge der Worte verfeinerte und den Ausdruck bereicherte. Nichts wurde den Menschen heilsamer als diese Erfindung, das unsichtbare Reich des Geistes zu versichtbaren. Die Laute der Thiere konnten schon desswegen nicht mit der Sprache des höher begabten Geschlechts wetteifern, weil sie der blosse Ausdruck einer Natursprache blieben, die auf keiner ebenbürtigen geistigen Grundlage fusste. In diesem Punkte also hatten die Menschen, so nahe den Zellen anderer Geschöpfe sie entsprossen waren, einen unberechenbaren Vorzug nicht blos erhalten aus ihrer Urwurzel, sondern ihn auch auszubilden verstanden. Ein zweites Hülfsmittel, kaum unwichtiger für das Gedeihen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens, war der musikalische Ton. Welche Werkzeuge sie anfangs hatten, lässt sich ungefähr errathen. Das einfachste Ding versuchte man, ob es für irgend einen Klang taugte, und der schauderhafteste Schall, aus ihm hervorgelockt, mochte ihrem horchenden Ohre vormals wohllautend erscheinen. Der Ruf vermittelst einer Muschel oder eines Horns diente ihnen wohl zum Zeichen schneller Versammlung, sei's für kriegerische, sei's für friedliche Zwecke. Sie liefen aus Höhlen, Schluchten und Urwäldern herbei, am sich zu Haufen zu schaaren, und als sie nachmals gemeinsame Rotten bildeten, die eine zeitweilige Wohnstatt hatten, so genügten Instrumente aus kunstlosesten Bestandtheilen, um sie zur Geselligkeit zu locken, ihre Gefühle zu beleben und eine[19] harmonische Vereinigung der Seelen zu fördern. Auch ohne Instrumente versuchte man wenigstens eine oberflächliche Gesangesweise, wie sie noch heutzutag bei uncivilisirten Völkerschaften angetroffen wird, selbst bei solchen, die keine höhere Stufe der Kultur zu erklimmmen im Stande sind, da die klimatische Beschaffenheit ihrer Wohnorte eisern auf ihnen lastet.

Nicht befremdlich wäre es daher, wenn man in Folge dieser Betrachtung die Ansicht ausspräche: die Bildung ist dem Menschen nach und nach anerzogen worden, sowohl hinsichtlich des Körpers als des Geistes. Denn eine solche Meinung ist bis zu einem gewissen Grade richtig. Nur Eines darf dabei nimmermehr übersehen werden, das entscheidende Moment, dass Anfang und Fortschritt der Kultur einzig und allein den Menschen möglich wurde durch den wundervollen Kern, der in ihnen schon bei ihrem Werden lag. Das muss über allen Zweifel erhaben gelten! Aus nichts wird nichts; also, wie oben gesagt, ohne Anlage konnte es weder zu einer körperlichen Ausbildung, noch zu einer Unterweisung von Gott und Unsterblichkeit kommen. Ebenso steht es um das Gewissen. Wenn Virchow neulich die Behauptung aufgestellt hat, das Gewissen der Menschen sei nichts als etwas Anerzogenes, sintemal es viele Menschen ohne irgend eine Spur von Gewissen gebe, so können wir diesem nackten Satz ebenso wenig beitreten, als wir den Sätzen beitreten konnten, dass die Begriffe von Gott und Unsterblichkeit dem Menschengeschlechte blos nach und nach anerzogen worden. Eine jede Anerziehung setzt schlechterdings auch eine Anlage voraus, welche den Schüler befähigt, diess oder jenes sich anerziehen zu lassen. Welchem Menschen wird es je einfallen, einem Thiere, welches Thier es auch sei, die Begriffe von Gott und Unsterblichkeit anerziehen zu wollen? Warum wird es Niemandem einfallen? Weil Jedermann weiss, dass seine Mühe an der bodenlosen Ungelehrigkeit des Thieres in alle Ewigkeit scheitern würde. Nun sagt man zwar, die Menschen hätten die ersten Gottesideen aus der Natur abgeleitet, was ganz richtig ist, wie wir unten noch näher sehen werden; aber dieser Einwand hebt sich von Selbst auf, weil es am Tage liegt, dass den Menschen von jeher die Fähigkeit innewohnen musste, solche Ableitungen aus den Erscheinungen der Natur zu machen, wie sie kein einziges anderes Geschöpf machen konnte. Unumstösslich ist diese Folgerung, sollte ich meinen, und keine blosse Hypothese! Lassen wir die modernen Federfuchser fortfahren, das Gegentheil zu behaupten; sie haben keine Logik und vertheidigen desshalb oder verwerfen Alles in das Blaue hinein, um geistreich zu erscheinen und für die wahren Weisen zu gelten, wenn sie einmal Gelegenheit haben, in einem gelesenen Zeitungsblatt ihre tiefsinnigen Urtheile auszuschütten. Die Menschen sollen auf einmal nichts vor den Thieren voraushaben, damit ja die neuere Amalgamirung von Stoff und Kraft, welche kein denkender Mensch verstehen kann, für den Stein der Weisen erkannt werde.

Um auf das Gewissen zurückzukommen, erachten wir die Gabe desselben, das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ebenfalls für eine Mitgabe des Menschen, so hoch wie alle andern Mitgaben und selbst der angeborenen Fähigkeit gleich, einen Gottesbegriff zu erfassen. Es würde ebenso vergebens sein, das Gewissen durch eine Art von gesellschaftlichem Uebereinkommen in der Brust eines Menschen erzeugen und anfachen zu wollen, als es unmöglich sein würde, dem Thiere ein solches beizubringen. Alle Menschen, die Urahnen wie die heutigen Nachkömmlinge, besassen und besitzen die Anlage zu einem Gewissen; selbst der wildeste Indianische Häuptling, wie uns berichtet wird, trägt dieses geheimnissvolle Etwas mit sich, um zu fühlen und zu erkennen, dass er unrecht handelt, wenn er im Rausche blinder Leidenschaft eine schlechte Handlung begeht. Freilich, abschrecken lässt[20] sich der Indianer nicht immer durch die Stimme der Mahnung in seinem Innern. Denn es kommt lediglich auf die grössere oder geringere Ausbildung des Gewissens an, ob letzteres sich geltend macht oder nicht: kurz, als der Mensch geistig erwachte, so ward auch das Gewissen in ihm rege und verstärkte sich bei wachsendem Verstande und zunehmender Erfahrung. Nur die Rohheit unterdrückt es mit solchem Erfolg, dass der Rohe kein Gewissen zu haben scheint. Die Behauptung Virchows also läuft auf einen Scherz hinaus; er wollte offenbar die moderne Barbarei, welche dem Gewissen trotzt, und die Bosheit so vieler Individuen ironisch zeichnen.

Auf die Regung des Gewissens geht vielleicht die Annahme eines guten und bösen Princips in der Mythologie zurück. Die Weisen der verschiedensten Generationen haben ein solches Doppelwesen der Natur statuirt, welches bei den meisten Völkern eine Hauptrolle spielt. Die Aegypter, die Perser, die Germanen, auch die Inder entwickeln eine derartige Zweitheilung der Weltherrschaft. Bei den Griechen sind wenigstens die bestimmtesten Vorstellungen von den Folgen des Rechts und Unrechts, von Lohn und Strafe, von Glückseligkeit und Verdammniss, mit den hellsten Farben ausgemalt worden. Eine Reihe unkultivirter Völkerschaften sehen wir noch heutigen Tags an dem Glauben hangen, dass ein gütiger Geist über den Menschen schwebe und ein finsteres Wesen sie verfolge, dessen Macht ihnen Unheil bereite auf Schritt und Tritt.

Tiefere und tiefere Gedanken also erfüllten die aus Nacht sich losringenden Menschen, welche ihr Sehnen zu schildern suchten, ihr Hoffen und Fürchten. Getragen von den Flügeln einer schöpferischen Phantasie, arbeiteten sie ruhelos und unermüdlich darauf hin, das unbefriedigende Diesseits mit einem schöneren Jenseits zu verbinden. Sie ersannen ein Reich von höheren und höchsten Göttern, Geistern und Dämonen, welche in das Diesseits hineinragten, Einfluss ausübten auf den Ursprung von Sein und Werden, die Geschicke beherrschten, belohnten und straften und irgend ein Fortleben nach dem Tode erwarten liessen. Der endliche Sieg des Guten wurde fast ohne Ausnahme voraus verkündigt, besonders bei den Persern und Germanen. In der Wirklichkeit gab es freilich weder Götter noch Geister, aber man glaubte an sie, wähnte sie zu sehen oder gesehen zu haben, mit ihnen zu verkehren und ihre Hand zu empfinden. Man rief sie betend an, um die einen zu versöhnen, die andern zu beschwören und unschädlich zu machen. Selbst die äussere Natur glaubte man ihnen unterworfen, die Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Erde; Krankheit und Tod, Gesundheit und Leben, Sieg und Niederlage ruhten in ihren Entschliessungen und Befehlen, in ihrer Gnade und in ihrem Zorn. Das, was man Religion heisst, baute sich allmälig zusammen. Warnungen, Vorschriften und Gebräuche erhielten Geltung, allerlei theils sinnreiche, theils unsinnige Moden wurden gäng und gäbe, freiwillige Peinigungen, Opfer, heilige Einrichtungen, priesterliche Dienste, Bekenntnisse der Sünden und deren Vergebungsweisen. Es trat sehr frühzeitig eine religiöse Knechtung auf. Das schöne Trachten nach Entwilderung des Menschengeschlechts wurde durch eine willkürliche Beherrschung des Geistes häufig wieder zurückgedämmt. Der Glaube artete aus, die Finsterniss erneute sich, welche einst geherrscht hatte, und die Völker versanken in ihre vormalige Rohheit der Sitten zurück, um dem Untergange anheimzufallen, welchem ihre Ahnen zu entgehen bemüht gewesen waren, als sie über ihr Selbst nachsannen. Eine ähnliche Kampfperiode, wie jene, wo die Menschen mit der Ueberlegenheit der Bestien gefochten hatten, brach an; es gab schliesslich einen Kampf um die Kultur, in welchem die Barbarei beinahe abermals obsiegte, einen grausenhaften langen Kampf.

Das ist der Gang und Verlauf der Mythologie, welche mit dem ersten geistigen[21] Erwachen beginnt, und ein Produkt unzähliger Geschlechter ist. Ein weiter, ein sehr weiter Schritt war es, von der Verehrung irgend eines Dinges, das verehrungswürdig schien, bis zur erhabenen Annahme eines Gottes emporzusteigen oder sich ein unsichtbares Wesen vorzustellen, welches die Welt beherrscht.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. III3-XXII22.
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