April, April!

[97] Aus dem Amerikanischen von Marie Jakoby.


»Ich wollte, meine Handschuhe wären geflickt,« seufzte Suschen Strahl und hielt ihre Fausthandschuhe in die Höhe, um Großmütterchen zu zeigen, wie begründet ihr Seufzer sei. In jedem Daumen war ein großes Loch, und vorn an der Spitze sah es auch sehr windig aus.

»Ja Herzchen,« sagte die Großmutter, »sehen kann ich die Löcher wohl, allein zum Stopfen sind meine Augen zu schwach.«

»O Großmutter! Ich will versuchen, es selbst zu thun, wenn du mir die Wolle dazu giebst.«[97]

»Sieh hier, Suschen, diesen Knäuel; ich habe keine andere Wolle.«

Suschen legte die Wolle zu den Handschuhen, um zu sehen, ob sie dazu passe, aber o weh, die Wolle war rot und die Handschuhe blau.

»Ach,« seufzte sie, »die blaue Stopfe würde am Ende noch mehr auffallen als die Löcher; dann lachen mich die Kinder in der Schule aus.«

»Laß nur gut sein,« tröstete die Großmutter, »es bleibt nicht mehr lange kalt; ich hoffe es wenigstens, denn unser Holz ist beinahe aufgebraucht.«

»Ja, aber jetzt frieren meine Hände noch schrecklich auf dem weiten Schulwege.«

Handschuhe mit so großen Löchern waren unangenehm, aber immer besser als gar keine. Suschen begriff dies bald, denn als sie eines Abends heim kam, hatte sie ihre Handschuhe verloren. Sie wußte nicht, ob sie ihr aus der Tasche gefallen waren, oder ob sie dieselben in der Schuleliegen gelassen hatte, als sie ihrer Mitschülerin, Annchen Pratt, die Hutbänder knüpfte, fort aber waren sie.

»Es macht nichts,« tröstete die Großmutter. »Lange hättest du sie doch nicht mehr tragen können. Vielleicht bekommst du nächste Weihnachten ein Paar andere in der Sonntagsschule.«

»Ach ja, und vielleicht sind es rote, dann kann ich sie ja mit der roten Wolle stopfen,« seufzte Suschen.[98]

»Es ist merkwürdig kalt für den letzten März,« sagte die Großmutter.

»Morgen ist ja der erste April,« rief Susie. »Den kann ich gar nicht leiden. Im vorigen Jahre spielten uns die Jungen schlimme Streiche. Ihnen machte das Spaß; aber wir Mädchen fanden es gar nicht lustig.«

Als Suschen an diesem Tag nach Hause ging, folgten ihr die Geschwister Tom und Elsie Stark.

»Da liegen ein Paar Handschuhe auf der Straße,« rief Tom plötzlich. »Das sind Susie Strahls Handschuhe,« sagte Elsie, »ich erkenne sie an den großen Löchern. Wir wollen sie mitnehmen und sie ihr morgen früh zurückgeben.«

»Pah, die Dinger sind des Aufhebens nicht wert!«

»Ich glaube, Susie hat nur diese und wird froh sein, wenn ich sie ihr wiederbringe.«

Elsie's Mutter fand die Handschuhe, als sie nach dem Abendessen die Stube aufräumte; sie bemerkte gleich die Löcher darin, und da sie eine ordentliche Frau war, holte sie etwas blaue Wolle und begann zu stopfen.

»O Mutter,« rief Elsie, »nun sehen die Handschuhe ja aus wie neue. Wie wird Susie sich freuen! Wenn ich groß bin, will ich auch so schön stopfen lernen, wie du, Mutter!«

»Ich habe diese Handschuhe im vergangenen Jahre selbst für die Sonntagsschule gestrickt,« sagte Frau Stark, »und dieses Restchen Wolle blieb übrig. Ich stecke es[99] hinein, damit Susie die Handschuhe selbst stopfen kann, wenn sie neue Löcher bekommen.«

Am nächsten, Morgen nahm Elsie die Handschuhe mit in die Schule. Einige der Kinder spielten schon vor dem Schulhause, allein da Suschen sich nicht unter denselben befand, hing Elsie die Handschuhe, welche mit einem Bande zusammengeknüpft waren, an die Thürklinke und gesellte sich zu ihren Gefährten.

»He,« rief ein großer Knabe, als er die Handschuhe erblickte, »das giebt einen köstlichen Aprilscherz; wir wollen die Dinger mit Schnee füllen.«

»Nein,« schrie ein anderer, »wir wollen ein Stückchen Pech hineinstecken, damit sie klebrig werden.«

»Ich weiß noch etwas Besseres,« sagte ein dritter, »ein paar Stecknadeln gehören hinein, dann sticht Susie sich, wenn sie die Handschuhe anzieht.«

Als aber der große Knabe die Handschuhe von der Thürklinke fortnehmen wollte, legte Elsie ihre kleine Hand darauf.

»Edie,« sagte sie freundlich, »eigentlich sollte solch ein großer Junge, wie du, sich schämen, der kleinen Susie einen so schlimmen Streich zu spielen!«

Der große Junge starrte sie verblüfft an. Sie hatte in so liebevollem Ton gesprochen, daß er ihr nicht böse werden konnte. Elsie ahmte ihrer Mutter nach und versuchte überall, kleine Dienste zu leisten oder durch ein gutes Wort Streitigkeiten zu schlichten, so daß ihr nie jemand böse wurde.[100]

»Gewiß, du hast ganz recht,« sagte Edie nach einer kleinen Pause. »Weg da, ihr Jungens, mit euren Steck. nadeln. Sollten wir nichts Besseres zum Hineinstecken finden?«

»Was denn?« fragten mehrere.

»Hier ist etwas,« sagte Elsie.

Bei diesen Worten nahm sie einige kleine Kuchen aus dem Korbe, der ihr Mittagessen enthielt, und ließ sie in die Handschuhe fallen.

»Ist das nicht auch ein Aprilscherz, Edie?«

»Famos,« erwiderte dieser lachend, »das ist besser als alles andere.«

»Ich will auch etwas hineinstecken,« sagte Tom und brachte eine halbe Zuckerstange.

»Ich auch!«

»Und ich!« Und ein halbes Dutzend Kinder drängte sich mit einer kleinen Gabe herzu.

»Hier sind ein paar Kastanien.«

»Ich habe nichts als einen Marmelstein.«

»Da ist meine Pfeife.«

»Hier, ein Berliner Pfannkuchen!«

»Ein kleiner, roter Apfel.«

»Ein Pfennig.«

»Ein Griffel.«

»Heute ist mein Geburtstag, und ich habe sechs hübsche Taschentücher mit bunten Kanten geschenkt bekommen, hier ist eines davon,« sagte ein kleines Mädchen.[101]

Ein Bravo ertönte, als das zierliche Taschentuch zu dem übrigen ging.

Edie stand etwas abseits von der plaudernden Gruppe mit der Hand in der Tasche, auf deren Grunde ein blankes Zehnpfennigstück lag. Er wollte es gern in die Handschuhe stecken, aber – er hatte so selten Geld, und zehn Pfennige waren für ihn eine große Summe.

»Bst, bst, sie kommt!« rief einer aus der Schar. Die Kinder schauten auf und erblickten die kleine Gestalt, welche über die Wiese daherkam und beide Hände unter dem dünnen Mäntelchen verborgen hielt.

»Schnell, schnell, hinein in die Schule!«

Edie rief es und ließ im Vorbeigehen sein Geldstück in den Handschuh gleiten. Er hatte gerade noch Zeit, denselben zu schütteln, so daß die kleine Münze bis in die Spitze rutschte.

Susie konnte nicht begreifen, warum ihre Gefährten schon hineingingen, da sie das Glockenzeichen nicht gehört hatte. Sie dachte, es müsse sehr spät sein, und sah des. halb noch ängstlicher aus, als gewöhnlich.

Aber was war das? Da hingen ja ein Paar blaue Handschuhe! Das waren am Ende die verlorenen! Nein, sie konnten es nicht sein. Es waren ja keine Löcher darin, sie waren zugestopft mit passender Wolle. Das kleine Mädchen betrachtete die Handschuhe genau, den Tintenflecken, den Knoten im Band kannte sie schon lange. War es nicht doch möglich, daß sie ihr gehörten? Sie nahm die Handschuhe von der Thürklinke herunter.[102] Wie schwer sie waren! Es ging gewiß nicht mit rechten Dingen zu.

»Ach, der erste April,« schoß es ihr plötzlich durch den Kopf, und erschrocken ließ sie die Handschuhe fallen. Fort rollte der Apfel aus dem einen, und aus dem andern leuchtete eine Ecke des Taschentuches verräterisch hervor. Das sah nicht nach einem boshaften Streich aus, und Susie setzte sich auf die Stufen, um ihre Handschuhe zu untersuchen.

Die fröhlich erwartungsvollen Gesichter, welche die Fenster umdrängten, sahen mit großer Befriedigung, wie der ängstliche Ausdruck in Susies Gesicht bald einem glücklichen Lächeln Platz machte, und als sie mit Taschentuch, Pfeife, Griffel, Nüssen, Zuckerzeug, Kuchen, Marmel und Zehnpfennigstück im Schoß die Handschuhe anzog, lachte sie vergnügt und hielt die Hände in die Höhe, um die schöne Stopferei zu bewundern.

Leise ging die Thüre auf, und ein Chor fröhlicher Stimmen rief: »April, April!«

»Der erste April ist der schönste Tag im ganzen Jahr,« meinte Susie, als sie der Großmutter die wunderbare Geschichte erzählte.


Amalie M. aus Illinois.[103]

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 97-104.
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